Die neun Monde der Miss Sith - Biljana Crvenkovska - E-Book
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Die neun Monde der Miss Sith E-Book

Biljana Crvenkovska

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Beschreibung

In ihrem ersten Erwachsenenroman verwebt Biljana S. Crvenkovska neun berührende Frauenschicksale, die an der Schnittstelle von Realität und Fantasie angesiedelt sind. Die Protagonistinnen stehen an Wendepunkten in ihrem Leben und müssen mutige Entscheidungen treffen. Eingebettet in eine einfühlsame Rahmenerzählung, reflektieren die Geschichten zentrale Themen wie häusliche Gewalt, Freiheit, Migration und Feminismus. Symbolisch wird die mythische Katze Cait Sith zur Wegweiserin: Sie erscheint, um den Frauen in Krisensituationen Beistand zu leisten und sie dazu zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu finden. Die Erzählungen sind rhythmisch mit den Phasen des Mondzyklus verbunden, worin sich Wandel und Neubeginn in den Leben der Frauen spiegeln. Der Titel, der 2019 als Finalist für den renommierten Literaturpreis „Roman des Jahres“ Nordmazedoniens nominiert war, ist sowohl poetisch als auch musikalisch und lädt die Leser*innen ein, die Komplexität weiblicher Lebensrealitäten zu entdecken.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Für Kire,

Weggefährte im Leben und im Traum.

INHALTSVERZEICHNIS

OUVERTÜRE

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

1 NEUMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

2 ZUNEHMENDER SICHELMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

3 ZUNEHMENDER HALBMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

4 ZUNEHMENDER DREIVIERTELMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

5 VOLLMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

6 ABNEHMENDER DREIVIERTELMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

7 ABNEHMENDER HALBMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

8 ABNEHMENDER SICHELMOND

FUGE

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

FUGE

9 FINSTERNIS

FUGE

DER BRIEF

FUGE

CODA

DANKSAGUNGEN

ÜBER DIE AUTORIN

ANMERKUNGEN DER ÜBERSETZERIN

„Wenn du dich intensiv auf ein Problem konzentrieren möchtest und besonders beim Schreiben, etwa bei einem Essay, solltest du dir eine Katze anschaffen. Wenn du mit der Katze allein in deinem Arbeitszimmer bist, wird sie ganz bestimmt auf deinen Schreibtisch klettern und sich ruhig unter der Lampe niederlassen. Das Licht der Lampe bereitet der Katze große Freude. Die Katze wird sich beruhigen, und sie wird still sein, mit einer Ruhe, die außerhalb unseres Verständnisses der Dinge liegt. Während du dort am Tisch sitzt, wird die Gelassenheit der Katze allmählich auf dich übergehen, und all die Dinge, die dich unruhig gemacht und daran gehindert haben, dich zu konzentrieren, werden zur Ruhe kommen, und dein Geist kann die Selbstbeherrschung wiedererlangen, die er verloren hatte. Du musst nicht die ganze Zeit auf die Katze aufpassen. Ihre Anwesenheit ist genug. Die Wirkung einer Katze auf deine Konzentration ist unglaublich und sehr geheimnisvoll.“

Muriel Spark, A Far Cry from Kensington

Traumtasie ist eine Kombination aus den Wörtern Traum und Fantasie und bezeichnet den Ort, an dem der luzide Traum die Fantasie des Träumers berührt, sich mit ihr verbindet und mit ihr verschmilzt, und dann verändert sich alles, je nach Wunsch des Träumers. Dieses Wort erwähnte erstmals die österreichische Schriftstellerin Rosa Lang 1913 in ihrer Kurzgeschichtensammlung Kleine Nacht-Traumtasien und schließlich 1915, in ihrer zweiten und letzten Sammlung Traumtasien in E-Miau.

OUVERTÜRE

09:00, 20.12.2019, Freitag

Café „Schwarze Katze“, Wien

Ich fühle mich schläfrig. Bin so unsagbar müde. Es ist noch verdammt früh am Morgen. Wirklich, ausgesprochen früh, besonders, wenn man in Wien in der Weihnachtszeit Urlaub macht. Nun ja, der Glühwein von gestern Abend ist auch noch nicht ganz verflogen.

Ich hasse es zu arbeiten, wenn ich im Urlaub bin. Und in den letzten Jahren gab es keinen Urlaub, in dem ich nicht gearbeitet hätte. Ich sollte wohl irgendwann einmal auch dazu etwas schreiben: Der Fluch des Freiberuflerinnen-Lebens.

Ich bestelle einen Kaffee. Einen kleinen Schwarzen. Keine Wiener Melange oder solchen Unsinn. Einen Mokka ohne Zucker, um schneller in den Tag zu starten.

Ich öffne meinen Laptop. Die Kellnerin kommt mit dem Kaffee, ich frage nach dem Passwort für die WLAN-Verbindung … Ein Klassiker, immer der gleiche Ablauf. Ich durchsuche meine E-Mails. Hier ist sie – die Bestellung für ein Drehbuch, mit der Abgabefrist: bis vorgestern. Auch das ist ein Klassiker. In jeder anderen Jahreszeit, aber ausgerechnet jetzt? … Kurz vor Neujahr? Unglaublich.

Während ich die Buchstaben und Wörter in der E-Mail durchgehe, beginnen diese zu hüpfen, sich zu vermengen, zu bündeln und miteinander zu flüstern. Ich kann es verstehen, für sie ist ebenso Weihnacht, denn schließlich haben auch sie eine Seele.

Vergeblich versuche ich, sie in die ursprüngliche Reihenfolge zu bringen, sie zumindest für einen Moment zu besänftigen, damit ich die E-Mail lesen kann. Doch es hat keinen Zweck, sie drehen sich nicht um und kehren auch nicht mir zuliebe an ihren ursprünglichen Platz zurück. Ihnen ist nach Feiern zumute.

Ich seufze.

In dem bequemen Sessel (ich suche mir immer Hipster-Lokale mit bequemen Sitzgelegenheiten aus) lehne ich mich zurück.

Meine Gedanken fliegen umher wie kopflose Fliegen. Ich bestelle einen zweiten Kaffee. Mein Blick bleibt bei der Kellnerin hängen. Schwarze Haare, verrückte Frisur, Tätowierungen, Gothic-Stil. Sie sieht irgendjemandem ähnlich, habe ich das Gefühl, doch wem – daran kann ich mich nicht erinnern. Ich bin müde, mein Gehirn funktioniert noch nicht so, wie es sollte.

Die Kellnerin bringt den Kaffee. Ich trinke ihn auf ex und wende mich wieder dem Bildschirm zu. Die Buchstaben beruhigen sich zum Glück allmählich wieder.

Ich setze meine Kopfhörer auf und höre Musik, um die störenden Geräusche zu übertönen.

Das wird ein langer, arbeitsreicher Tag!

FUGE

„Frrr“, schnurrt mich der Kater leise an und weckt mich aus dem Traum, in dem ich an unzähligen Orten war, nur nicht HIER.

„Warum hast du mich geweckt, du Räuber?“, sage ich zu ihm. „Weißt du, wie schön es dort war, wohin ich gereist bin.“

Der Kater schnurrt weiter und reibt seinen Kopf an meiner Hand:

„Damit du das nächste Mal nicht vergisst, mich mitzunehmen.“

BEI DER „SCHWARZEN KATZE“

Sie trinkt einen Schluck Kaffee und starrt wieder auf den Laptop. Eine schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust döst auf ihrem Schoß, wackelt mit ihren Schnurrbarthaaren und vergräbt dann ihr Mäulchen tief unter den Pfoten. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, legt sie die Hand in den Schoß und berührt das schöne, weiche Fell. Sie weiß, dass sie weiterarbeiten sollte, doch sie kann mit dem Streicheln nicht aufhören. Sie klappt den Laptop zu, starrt durch die riesigen Fenster hinaus … und seufzt tief.

Der Seufzer war lang, vielschichtig und zitternd. In ihm schwangen mehrere, ganz unterschiedliche Gedanken mit, und jeder dieser Gedanken ergab sein eigenes Geräusch …, als würden ein paar kurze Seufzer eine Sinfonie bilden.

Die Sinfonie erzählte vor allem von den Minuten und Sekunden, von dem Tag, der schnell seinen Höhepunkt erreichte und drängte und es nicht zuließ, seinen bevorstehenden Tod für einen Moment zu vergessen. Es ging um das Gefühl, das man hat, wenn man viele Dinge zu Ende bringen muss, doch zugleich zu nichts Lust hat, sondern nur in Gedanken versinken will, in die unerträgliche Schönheit des Müßiggangs … Und es ging um die Unruhe, die die unterdrückten Verpflichtungen, Pläne und Ambitionen im Innern hervorrufen, während man dasitzt und mit offenen Augen träumt.

Zudem lag darin die ganze Melancholie, die bewölkte, regnerische Tage wie dieser mit sich bringen. Die schweren, tiefhängenden Wolken, die nur ein paar spärliche, mühsam herausgepresste Regentropfen über der kochenden Stadt fallen ließen. Wolken in den Bergen – das ist ein vollkommen anderes Gefühl, ein anderer Anblick. In den Bergen sind die gleichen Wolken riesig, mächtig, bedrohlich, sie kommen schnell mit dem Wind und tragen einen starken Sturm mit sich, der schließlich unter der Frühlingssonne explodiert. Aber in der Stadt werden sie schwer, was von den Abgasen, den vielen Problemen und Schicksalen herrührt, die sie träge und bewegungslos machen. Sie haben genauso zu kämpfen wie die Bewohner der lärmenden Metropole. Der Seufzer erzählte auch diese Geschichte.

Und hier, tief verflochten in der Sinfonie der Seufzer, verbarg sich die Liebe. Keine konkrete Liebe wie so oft, sondern die Liebe zu den Dingen, die nicht mehr da sind. Dinge, die verschwunden, zerstört und unwiederbringlich verloren gegangen sind, oder die sich so sehr verändert haben, dass sie verzerrt und nicht mehr wiederzuerkennen sind. Die Liebe ist geblieben, ohne ein reales Objekt, auf das sie ausgerichtet wäre. Trostlos, traurig und hungrig, wie eine frisch entbundene Nachbarshündin, der ihre Welpen weggenommen wurden.

Und schließlich war da noch der Schmerz im Magen, der allmählich stärker und unerträglicher wurde. Die Sinfonie erscholl am lautesten, wenn es um ihn ging, denn er war der einzige reale, physische Schmerz. Oder war er das etwa nicht? Wo ist er hergekommen? Was war der Grund, dass er sich so plötzlich meldete, dass er so klammerte und heulte und nagte und grub ohne Unterlass?

Das Handy klingelt. Laut, durchdringend, verstörend. Der Magenschmerz wird immer stärker, nagender und beunruhigender. Es ist schrecklich. Sie streckt die Hand aus und packt verzweifelt das Telefon. Sie schaltet es auf stumm und seufzt erneut tief. Noch länger, noch schwerer als zuvor.

Die Katze auf ihrem Schoß hebt den Kopf und sieht sie mit ihren gelben Augen an, als ob sie ihr etwas sagen wolle. Etwas sehr Wichtiges und Dringendes. Sie beginnt zu schnurren. Dieses leise, beruhigende Schnurren, das Frieden schafft, den Kopf frei macht und eine seltsame, ansteckende Energie ausstrahlt. Ja, es ist, als ob diese Energie in sie einströmen, ihr Kraft geben und ihren Kopf von sämtlichen Gedanken endlich befreien würde. In diesem Moment liegt alles glasklar vor ihr. Klarer denn je. Sie weiß genau, was sie jetzt zu tun hat, sofort, ohne jeglichen Raum dafür zuzulassen, dass irgendetwas sie stören könnte … Hektisch öffnet sie den Laptop und beginnt schnell, fast atemlos, eine Nachricht zu schreiben:

Sehr geehrter Herausgeber,

ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich heute nicht auf Arbeit kommen werde. Morgen auch nicht. Auch nicht übermorgen. Genauer gesagt, rechnen Sie nicht mehr mit mir. Ich habe beschlossen, das Leben zurückzugewinnen, das ich vor sehr, sehr langer Zeit verlor …

Das Schnurren der schwarzen Katze wird im Takt des Tippens auf der Tastatur immer fröhlicher und energischer. Gleichzeitig lassen die Magenschmerzen langsam nach …

1

NEUMOND

New shores descried make every bosom gay;

And Cintra’s mountain greets them on their way

Diese Verse gingen ihr immer wieder und wieder durch den Kopf wie ein Gebet. Wie das lateinische Ave Maria, das sie jedes Mal in ihrem Kopf murmelte, wenn sie mit einem Flugzeug flog. Selten waren Verse so hartnäckig. Okay, vielleicht etwas von Dylan Thomas oder Frost … oder Kiplings If … und jetzt also auch – Byron.

Kein Wunder, dass sie gerade hier auftauchten, so stark und unnachgiebig, denn sie saß genau dort, an der Stelle, an der Byron stand – er schrieb voller Bewunderung darüber. Und so beschloss er damals, eine Pause von seinen Reisen durch fremde Länder einzulegen und für kurze Zeit in die Schönheiten von Sintra einzutauchen.

Aber alle Schönheiten und Worte von Byron waren verschwunden. Wahrscheinlich wäre sie zu jeder anderen Zeit ebenfalls darin versunken und hätte sich in diesem Stück Paradies verloren. Früher vielleicht schon, doch nicht jetzt. Nicht mit diesem Kloß in ihrem Hals und all den Tränen, die sie stundenlang zurückgehalten hatte. Die Verse blieben hartnäckig, doch sie gab nicht auf. Sie erlag der Schönheit nicht. In ihr waren zu viele Sorgen und Ängste, als dass sie sich daran hätte erquicken können …

Oh, Christ! it is a goodly sight to see

What Heaven hath done for this delicious land!

What fruits of fragrance blush on every tree!

What goodly prospects o’er the hills expand!

Nein! Daran konnte sie jetzt nicht denken. Sie musste entscheiden, was sie tun wollte. Sollte sie zurück ins Hotel gehen? Sollte sie die Qual fortsetzen oder nicht?

Was wäre, wenn er ginge? Er sagte, er würde gehen. Nein, sie brauchte diese Reise nicht, nicht jetzt, da die Dinge nicht liefen … Weder liefen sie, noch drängten sie, und geschweige schleppten sie sich auch bloß dahin.

Doch was wäre, wenn er wirklich gegangen wäre? Was würde sie tun? Wohin würde sie gehen – allein? Sie musste sich sofort um ein Rückflugticket kümmern … verdammt, verdammt!

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Tränen schnürten ihr die Kehle zu und drängten hinaus, sie wollten auf einmal hervor platzen wie eine verstopfte Quelle … Aber sie gab ihnen nicht nach. Sie fing an, tief zu atmen, um das heftige Pochen in ihrer Brust zu besänftigen.

Ihr Blick schweifte umher. Das Grün beruhigte sie. Und die Stille. Dies war wirklich der schönste Ort, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Es war einer jener Orte, deren Schönheit dir folgt und dich niemals verlässt.

Lo! Cintra’s glorious Eden intervenes

In variegated maze of mount and glen.

Hau doch ab! – dachte sie, lass mich in Verzweiflung versinken! Mich selbst bemitleiden. Lass mich leiden. Siebenunddreißig. Sie war weder alt, noch wirklich jung. Was war nur los? Schon gut!

Was wäre, wenn er fort wäre? Das Herz raste wieder, als wollte es ihr entkommen und sich in den feuchten, ineinandergreifenden Tunneln unter dem dichten Laub des Berges verstecken.

The tender azure of the unruffled deep,

The orange tints that gild the greenest bough,

The torrents that from cliff to valley leap,

The vine on high, the willow branch below,

Nein! Sie kroch die Treppe hinab, auf der sie gesessen hatte und die den Namen Byron trug, und dann rannte sie sie verzweifelt wieder hinauf. Sie würde ins Hotel zurückkehren. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte keine Wahl, sie würde es schlucken, aushalten müssen …, zumindest bis sie beide zusammen zurückkehrten, und danach … danach … – wer weiß …

Ihr wurde klar, dass sie bereits die Straße entlanglief, die zum Hotel führte. Ihr Gesicht brannte, ihr Herz – es klopfte wie verrückt. Abrupt blieb sie stehen. Sie begann, nur noch zügig zu gehen, statt immer weiter zu rennen. Die Sonne ging irgendwo hinter dem Berg unter. Ihr wurde kalt. Sie zitterte, vor Kälte oder Anspannung oder beidem. Schnell lief sie weiter und entdeckte schon bald das Hotel. Sie blieb am Eingang stehen und spähte bang zu dem Fenster hinauf, das sie für das ihre hielt. Dunkelheit. Er war weg. Vielleicht schlief er. Vielleicht war er ausgegangen. Auf einen Drink natürlich, in irgendeiner Bar in der Nähe. Doch vielleicht … vielleicht ist er auch abgereist.

Ohne noch einen Moment zu zögern, rannte sie die Treppe hinauf. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und trat ein. Dunkelheit. Sie wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Nein, er war nicht da. Schnell schaltete sie die Lampe an und sah sich um. Alles war an seinem Platz. All seine Dinge, die Kleidung, die Taschen …

Das heißt, er ist nicht abgereist. Er war noch irgendwo hier in der Stadt. Sollte sie ihn suchen gehen? Nein, sie konnte ihm nicht gegenübertreten, wenn er betrunken war. Mit den Blicken, der Verrücktheit, dem unangenehmen Lächeln, den Beleidigungen… Die gab es immer, wenn er betrunken war. Manchmal waren es nicht nur Beleidigungen … Manchmal wurde er auch grob. Er wusste, wie man sie wegschleifte, wie man sie stieß … Eines Tages hatte sie Angst, er würde sie sogar schlagen …

Vielleicht sollte sie sich diesmal umdrehen und wirklich fortgehen. Wie sie es schon hunderte Male hätte tun sollen. Fortgehen und nie wieder zurückkommen.

Was tun? Was tun? Was tun? Ihr Herz raste, panisch. Sie versuchte, zu Atem zu kommen. Es gelang ihr nicht. Die Panik verstärkte sich und sie konnte sie nicht zum Schweigen bringen, nicht beruhigen. Sie atmete tief durch. Einmal, zweimal, dreimal … Es wurde nur noch schlimmer.

Sie verspürte eine Übelkeit im Magen, die sie sich nicht zu erklären vermochte. Als ob etwas Lebendiges im Magen wäre, etwas, das brodelte und kochte, etwas, das hinauswollte! Sie rannte ins Badezimmer, stolperte jedoch und fiel auf die Knie. Ihr Magen hob sich, und das Monster kam aus ihrem Mund: ein dunkler Schatten, eine Vogelscheuche, ein Kind der Angst und des Zögerns. Es rollte wie eine Kugel vor ihr her und verschmolz mit den Schatten im Raum.

Jetzt verfolgte es sie aus den Schatten heraus und wartete, was sie tun würde. Es wartete darauf, dass sie einen Fehler machte. Ein falscher Schritt, und es würde sie wieder packen. Es würde sich in ihr einnisten, nur dieses Mal viel tiefer!

Sie wusste, dass sie den Raum verlassen musste, musste, musste! Rasch warf sie ein paar Dinge in eine kleine Tasche, sah sich dabei ständig um, schlüpfte dann vorsichtig auf Zehenspitzen hinaus und schloss die Tür hinter sich. Es ist okay, die Kreatur ist dringeblieben.

Wenige Minuten später stand sie wieder vor dem Hotel, mit der Tasche über der Schulter. Draußen war es schon fast dunkel. Wohin sollte sie gehen? Sie lief die Straße hinunter und wieder zurück, zu Byron. Verrückt, schlecht, und es war gefährlich, ihn zu kennen. Diese Attribute galten für beide, sowohl für Byron als auch für ihn. Als sie um die Ecke bog, schien sie aus dem Augenwinkel etwas zu bemerken …, etwas, das sich in einem Schatten bewegte. Doch als sie genauer hinsah, war da nichts. Sintra versank langsam in Ruhe.

Sie begegnete kaum Leuten auf der Straße, und es gab auch keine Kneipen. Sei kein Dummkopf, sagte sie zu sich selbst, was machst du denn bloß, geh doch besser zurück? Eine zitternde Stimme schüttelte sie, aber die Verse wurden lautstark aus den Blätterdächern der hundertjährigen Eichen herausgebrüllt:

Lo! Cintra’s glorious Eden intervenes

In variegated maze of mount and glen.

Sie versuchte, anzuhalten, umzukehren, zum Hotel zu gehen, zu den Bars, zu ihm … Aber ihre Beine weigerten sich, ihr zu gehorchen. Sie liefen Richtung Byron, tief in den Ort Sintra hinein, ins Unbekannte.

Oh, Christ! it is a goodly sight to see

What Heaven hath done for this delicious land!

Schließlich blieb sie energisch stehen, aus Trotz. Sie blickte auf ihre ungehorsamen Füße und hätte ihnen am liebsten etwas Schlimmes angetan. Kehr zurück!, sagte eine störrische, schrille Stimme. Wohin gehst du so alleine? Bist du etwa verrückt?