Die Öffentlichkeit und ihre Probleme - John Dewey - E-Book

Die Öffentlichkeit und ihre Probleme E-Book

John Dewey

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Beschreibung

John Deweys Die Öffentlichkeit und ihre Probleme zählt zu den bedeutendsten Werken der amerikanischen politischen Philosophie. Vor dem Hintergrund der sozialen und technologischen Umbrüche der Moderne entwickelt Dewey hier nicht nur eine Theorie der Öffentlichkeit, sondern eine umfassende Theorie des Staates und der Demokratie. Die von ihm angestellten Überlegungen enthalten zahlreiche Anregungen für die heutige Diskussion um Demokratie und Öffentlichkeit und zeigen die Originalität und Aktualität seines Pragmatismus. Das arbeitet auch Martin Hartmann in seinem Nachwort zu diesem Klassiker heraus.

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Cover

Titel

3John Dewey

Die Öffentlichkeit und ihre Probleme

Aus dem Amerikanischen von Wolf-Dietrich Junghanns

Mit einem Nachwort von Martin Hartmann

Suhrkamp

Impressum

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Titel der Originalausgabe: The Public and Ist Problems. © 1984 by The Board of Trustees, Southern Illinois University

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2416

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77708-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Rezension von Walter Lippmanns ›Public Opinion‹

Praktische Demokratie. Rezension von Walter Lippmanns ›The Phantom Public‹

Die Öffentlichkeit und ihre Probleme

Vorwort [1927]

1. Die Suche nach der Öffentlichkeit

2. Die Entdeckung des Staates

3. Der demokratische Staat

4. Das Erlöschen der Öffentlichkeit

5. Die Suche nach der ›großen Gemeinschaft‹

6. Das Problem der Methode

Einleitung [1946]

Literaturverzeichnis

Editorische Notiz

Martin Hartmann: Nachwort

Register

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

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7Rezension: Public Opinion, Walter Lippmann.

New York: Harcourt, Brace and Co., 1922.

Mr. Lippmann hat ein Buch geschrieben, das den Leser so mitreißt, dass ein kritisches Urteil schwerfällt. Stil und Stoff sind darin verschmolzen. Ich kenne kein neueres Buch über Politik, in dem sie so völlig eins sind. Seine Brillanz beeindruckt daher nicht als gute Literatur; vielmehr scheint das behandelte Material durch. Die Lektüre ist eine Erfahrung der Erleuchtung: Kein Maler beherrscht Licht und Schatten besser oder nutzt Farbe so geschickt, um klare Konturen zu entwerfen. Die Figuren der Szene sind so komponiert und heben sich so sehr ab, die Art und Weise der Darstellung ist so objektiv und projizierend, dass man am Ende des Buches fast nicht bemerkt, dass es vielleicht die wirksamste Anklageschrift gegen die Demokratie, wie sie derzeit verstanden wird, ist, die je verfasst wurde.

Das Buch ist so sehr ein Ganzes, dass es seine eigene Zusammenfassung ist. Ein Rezensent befindet sich in einem Dilemma. Entweder muss er eine neue Zusammenfassung schreiben, die dann so trocken und formal sein wird, wie Mr. Lippmanns Buch lebendig ist, oder er muss annehmen, dass die Leser das Buch kennen, und sich auf seine eigenen impressionistischen Reaktionen beschränken. Gegenüber Mr. Lippmann scheint erstere Methode im Großen und Ganzen die fairere zu sein, zumindest unter der Bedingung, dass die Leser die Lücken des leeren Umrisses durch ihre persönliche Bekanntschaft mit dem Band ausfüllen. Ich beginne den Umriss mit einem Punkt, den Mr. Lippmann erst im sechsten Teil mit dem Titel »Das Bild der Demokratie« erreicht. Frühere Analysten haben die Existenz einer »Kraft, die Öffentliche Meinung genannt wird«, als selbstverständlich vorausgesetzt, sie waren hauptsächlich damit befasst herauszufinden, wie sie in politisches Handeln übersetzt wird. »Wie es ihren Traditionen entspricht, haben sie die Meinung entweder zähmen oder ihr gehorchen wollen«[1] 8– um die Regierung entweder reaktionsfähig zu machen oder die Meinung daran zu hindern, die Ziele der Regierung zu unterlaufen. Mr. Lippmann stellt die vorausgehende Frage: Worin besteht die eigentliche Natur der Meinung, wie wird sie gebildet, welche Kräfte spiegelt sie? Und das Ergebnis, das durch eine realistische Analyse erzielt wurde, ist sehr ungünstig. Es zeigt, dass die öffentliche Meinung unbeständig ist, das Produkt beschränkter Verbindung mit der Umwelt der Tatsachen und Kräfte, in der Meinung sich im Handeln manifestiert, und dass sie vorwiegend von Tradition, klischeehaften Bildern und Gefühlen sowie undurchdachten persönlichen Interessen geprägt ist.

Die Denker des 18.Jahrhunderts, die die Matrix der Demokratie entwarfen, waren damit beschäftigt, die Würde der menschlichen Natur gegen jahrhundertealte Vorurteile geltend zu machen. Um ihrer Lehre politische Wirkung zu verschaffen, mussten sie ein Dogma erfinden, nämlich dass der Mensch von Natur aus ein Gesetzgeber und Verwalter ist. Die öffentliche Meinung muss dann etwas sein, das spontan emporsteigt. Alle Menschen besitzen politischen Instinkt, und sie sollen die nötigen Tatsachen so aufnehmen, wie sie Luft holen. Diese Gründer ignorierten die Tatsache, dass »der Beobachtungsbereich«[2]  die wichtigste Prämisse der Politikwissenschaft ist. Folglich haben sie auf Sand gebaut, denn ihr ichbezogenes Individuum muss die ganze Welt durch das Medium einiger weniger Bilder in seinem Kopf sehen, während die Welt, in der sich das Handeln vollzieht, doch ungeheuer ausgedehnt und komplex ist. Unsere Begründer des demokratischen Dogmas, wie Thomas Jefferson, platzierten die ichbezogene Person in eine kleine eigenständige Gemeinschaft. Die Lehre von der Volkssouveränität, die in solchen Gemeinden gepflegt wurde, dehnte sich aus, um den Nationalstaat zu erfassen. »Das demokratische [Ideal] versucht daher ständig eine Welt zu sehen, in der sich die Menschen ausschließlich mit Angelegenheiten befassen, deren Ursachen und Wirkungen alle innerhalb des Gebietes liegen, das sie bewohnen. Niemals hat sich die demokratische Theorie im Zusammenhang einer weiten und 9unvorhersehbaren Umwelt sehen können.«[3]  Daher die Abneigung der Demokratie gegen ausländische Verwicklungen und sogar den Außenhandel. Daher ihr schlichtes Vertrauen auf Legalismus, auf statische politische Theorie. Jeder Instinkt sagte den Demokraten, dass Sicherheit ein einfaches und begrenztes Gebiet verlangt. Das Dogma »des omnikompetenten [Individuums]«[4]  machte eine solche Umwelt erforderlich, um anwendbar zu sein. Aber dieses elementare Bild im Kopf der Demokraten entspricht heute noch weniger den Realitäten des modernen Lebens als die meisten ihrer anderen Bilder. Daher das Versagen der Theorie einer Regierung, die von spontan gebildeter öffentlicher Meinung angetrieben wird; daher die Notwendigkeit, in einer organisierten Expertenintelligenz einen Ersatz für die öffentliche Meinung zu finden, wenn demokratisches Regieren funktionstüchtig gemacht werden soll. Das Problem besteht darin, den Glauben an die Würde der menschlichen Natur, die Notwendigkeit, dass jedes menschliche Wesen zu seiner vollen Größe aufsteigt, von dem Dogma zu lösen, dass die Individuen selbst das Wissen erlangen können, das benötigt wird, um demokratisches Regieren effektiv und kompetent zu machen.

Diese Darstellung seiner Schlussfolgerung übergeht die Analyse der öffentlichen Meinung, durch die Mr. Lippmann zu ihr gelangt ist. Der beschränkte Platz erlaubt nur eine Aufzählung der Überschriften des brillantesten und überzeugendsten Teils des Buches: »Die äußere Welt und die Bilder in unseren Köpfen« – eine bessere Formulierung des wahren »Problems des Wissens«, als unsere professionellen Erkenntnistheoretiker sie zustande gebracht haben; »Annäherungen an die äußere Welt« – eine vernichtende Beschreibung der Beschränkung der Meinung durch ständige Zensur, wodurch wichtige Überlegungen geheim gehalten werden, auch der begrenzten Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen und der kurzen Zeit, die für das Lesen über das Weltgeschehen aufgewandt wird; »Stereotype« – eine Beschreibung der Traditionen und Denkgewohnheiten, welche die bestehenden »Kategorien« formen, durch die Tatsachen empfangen werden; Illusionen, die mit Abwehr, Prestige, Sitte zusammenhängen; Defizite in der Erkennung ausgedehnter Räume und großer Zeitspannen, so dass der »wirkli10che Raum, die wirkliche Zeit, die wirklichen Zahlen, die wirklichen Verbindungen, die wirklichen Gewichtsmaße verlorengegangen sind; die Perspektive, der Hintergrund und die Dimensionen der Handlung sind im Stereotyp beschnitten und erstarrt«.[5] 

Darauf folgt ein Teil, der das Verhältnis des Interesses zum Bereich der Beobachtung behandelt, den Umstand, dass ein Bild [»]so lange nicht bedeutsam für uns ist, solange es nicht einen Akzent unserer eigenen Persönlichkeit berührt hat, […] bis wir uns [damit] identifiziert haben[«].[6]  In diesem Zusammenhang malt Mr. Lippmann ein schönes Bild von der Art und Weise, in der Politiker derzeit den Bedarf an dramatischer Identifikation sicherstellen – Methoden, die der Klarheit und Richtigkeit des Denkens alles andere als zuträglich sind. Er bietet auch eine der besten Kritiken der Lehre von der ökonomischen Determination des Interesses, die ich je gelesen habe. Ausgehend von Erkenntnissen der modernen Psychologie über die Komplexität des Charakters und von dem Scheitern der Pädagogik bei der Erfüllung der Aufgabe, Individuen darauf vorzubereiten, verschiedenen Charaktertypen zu begegnen und sie zu erkennen, ihren eigenen eingeschlossen, geht er weiter zur Behandlung der falschen Vereinfachungen des Dogmas vom Eigeninteresse. Wenn Letzteres den Einfluss ausüben würde, den es der Theorie zufolge ausüben sollte, wäre das Problem der öffentlichen Meinung viel einfacher, als es ist. Die wirtschaftliche Position würde die Menschheit in klar abgegrenzte Klassen scheiden und jede Klasse hätte ihren eigenen passenden und kohärenten Code. Doch in Wahrheit gibt es nichts, worüber die Menschen verwirrter sind als über ihre Interessen.

Der fünfte Teil befasst sich mit der Herstellung eines gemeinsamen Willens und zeigt auf unbarmherzige Weise, wie Stereotype eingesetzt und Gefühle benutzt werden – mit Appellen und Symbolen, die, statt die Meinung zu formen (wenn Meinung irgendetwas mit Denken zu tun hat), für eine Art Waffenruhe zwischen Ideen und mangelndem Verständnis stehen. »[W]er sich […] der Symbole bemächtigt, die für den Augenblick das öffentliche Gefühl beherrschen, beherrscht hierdurch in starkem Maße die Ansätze der öffentlichen Politik.«[7]  Er hebt dann hervor, dass die Masse sich 11in Wirklichkeit keine Streitfragen ausdenkt; nachdem sie sich in der Kindheit an Autorität gewöhnt hat, sagt sie vielmehr bloß Ja oder Nein zur Formulierung von Problemen, die von einigen wenigen Personen stammen, die den Apparat bilden. Denn der Apparat ist eine Notwendigkeit, nicht einfach eine Perversität, weil durch »Massenaktionen nichts aufgebaut, geplant, ausgehandelt oder regiert werden kann«.[8]  Der Apparat formt und benutzt das Symbol, das »sowohl ein Mechanismus der Solidarität als auch ein Mechanismus der Ausbeutung« ist.[9]  »[W]ichtig ist lediglich, dass das Programm zu Beginn in Wort und Gefühl mit dem verbunden ist, was in der Menge laut geworden ist.«[10]  Das tiefer liegende Problem bleibt möglicherweise verborgen und die Masse kann an der Nase herumgeführt werden, wenn der richtige Beginn gemacht wird – wie die Kriegsfragen reichlich bezeugen. Teil sechs wurde bereits erwähnt; er enthält auch ein Kapitel, das die Rolle von Gewalt, Patronage und Privileg bei der Erzeugung des Anscheins von öffentlicher Meinung und gemeinsamem Willen zeigt. Diese Kapitel sind ein unschätzbarer Beitrag zur Technik der Politik.

Wie bereits angedeutet, ist Mr. Lippmanns unerbittliche und realistische Analyse der Beschränktheiten der Bilder von der Umwelt in unseren Köpfen und seine Beschreibung der Methoden, mit denen eine privilegierte Minderheit so geschickt Supplemente und Substitute liefert, dass die Masse immer noch denkt, ihre Meinungen seien gültig und spontan, unbestreitbar der gelungenste Teil seines Buches. Die Analyse ist so leidenschaftslos wie die Diagnose eines Klinikers und nutzt auf unaufdringliche Weise alle Ressourcen der modernen Psychologie. Sie zerlegt die meisten unserer Illusionen, und dieser spezielle Humpty Dumpty kann von niemandem, der diese Kapitel unvoreingenommen liest, wieder zusammengesetzt werden. Der letzte Abschnitt des Buches behandelt mögliche Heilmittel und dieser konstruktive Abschnitt ist der Teil, bei dem die Zustimmung ins Stocken geraten kann.

Er enthält zwei Teilstücke, wovon das eine bestreitet, dass Zeitungen jemals die Aufgabe der Aufklärung und Lenkung der öffentlichen Meinung erfüllen können, während das andere eine mögliche Organisation der Expertenintelligenz skizziert, welche die Weni12gen, die die tatsächliche Kontrolle ausüben, mit den notwendigen Daten für die Ausarbeitung politischer Programme versorgen soll. Diese beiden Stücke sind zwei Seiten desselben Arguments. Nach populärer Ansicht ist die Presse das Organ direkter Demokratie. Sie ist der [»]Gerichtshof der Öffentlichen Meinung, der Tag und Nacht geöffnet ist, [bereit,] für alles und zu jeder Zeit Vorschriften zu erlassen[«].[11]  Eine solche Auffassung hält Mr. Lippmann nicht nur für nicht praktikabel, sondern für undenkbar. Die Zeitung ist bestenfalls ein Scheinwerfer, der sich rastlos hin und her bewegt, der hier und da eine Episode ans Licht bringt. Die Gesellschaft kann aber nicht mit »Episoden, Begebenheiten und Eruptionen«[12]  regiert werden. Die Zeitung muss Anzeigenkunden akquirieren, denn die Leser werden für die Nachrichten nicht zahlen; um Anzeigenkunden zu bekommen, muss sie Leser bekommen. Um Leser zu gewinnen, muss sie sich nach deren Erfahrungen und Vorurteilen als Maßstab richten; sie muss sich ihren Stereotypen anpassen.

Der tiefere Grund für das Unvermögen der Presse, das Organ für die Bildung und Verkündung der öffentlichen Meinung zu sein, liegt darin, dass sie es nicht mit der Wahrheit, sondern mit Nachrichten zu tun hat. »Die Funktion der Nachrichten besteht darin, auf ein Ereignis aufmerksam zu machen, die Funktion der Wahrheit ist es dagegen, verborgene Fakten zutage zu bringen, sie miteinander in Beziehung zu setzen und ein Bild der Wirklichkeit zu entwerfen, nach dem Menschen handeln können. Nur in den Punkten, wo soziale Bedingungen erkennbare und messbare Gestalt annehmen, fällt der Kern der Wahrheit mit dem Kern der Nachricht zusammen.«[13]  Die Presse existiert in einer Gesellschaft, in der die regierenden Kräfte unvollständig erfasst werden; sie kann die Kräfte nicht erfassen; sie kann nur aufzeichnen, was die Arbeit der Institutionen bereits für sie erfasst hat. Solange die Institutionen nicht besser sind, solange nicht mehr an objektiver Aufzeichnung und Messung in die Angelegenheiten eingebracht wird, wird die Presse weiterhin über irgendeinen sich selbst aufdrängenden Aspekt der tiefer liegenden Bedingungen und Kräfte berichten und sich auf die den Interessen und der Bequemlichkeit der Leserschaft angepasste Darstellung einfacher und auffallender 13Tatsachen beschränken. »Das Übel liegt tiefer als in der Presse, und das Heilmittel auch. Es liegt in der sozialen Organisation, die auf einem System von Analyse und Aufzeichnung fußt, und in allen natürlichen Folgen dieses Prinzips; in der Aufgabe der Theorie des omnikompetenten Bürgers, in der Dezentralisierung der Entscheidungsfindung, in der Koordination von Entscheidungen durch vergleichbare Aufzeichnung und Analyse.«[14]  Ohne diese Grundlage werden in der Presse »Voreingenommenheit, Apathie, Bevorzugung des seltsam Trivialen gegenüber dem langweiligen Wichtigen, Hunger nach Nebenschauplätzen und das dreibeinige Kalb«[15]  weiterhin die Rollen spielen, die sie im Leben spielen.

Das führt uns zum positiven Heilmittel. Durch den Druck der Umstände und natürliche Selektion haben sich die leitenden Köpfe und Verwalter in der Industrie bereits mit Statistikern, Buchhaltern, Revisoren, Wissenschaftsmanagern, Forschern usw. umgeben. Tatsächlich sind alle außer dem Sozialwissenschaftler hinzugezogen worden. Der Sozialwissenschaftler wird Würde und Selbstvertrauen erlangen, wenn er eine Methode entwickelt, mit der die Leiter der Gesellschaft sich von ihm Analyseinstrumente beschaffen können, durch die »eine unsichtbare und erstaunlich schwierige Umwelt greifbar gemacht werden kann«.[16]  Der Keil ist vorhanden, er muss nur ganz hineingetrieben werden.[17] 

Der erste Schritt besteht in der Organisation von Experten in Politik und Industrie, die Material sammeln, analysieren und koordinieren. Diese Funktion ist gänzlich unabhängig von der Entscheidung auszuüben, ja sogar mit absichtlicher Gleichgültigkeit gegen die Entscheidungen, die auf der Basis ihrer Daten getroffen werden. Das Konzept des Nachrichtendienstes der Armee ist zu universalisieren. Jedes der zehn Ressorts des Kabinetts in Washington sollte seine eigene Informationsabteilung haben, mit allen Vorkehrungen für sowohl Wettbewerb als auch Koordination zwischen 14ihnen. Diese Methode ist auch auf die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten, die Städte und ländliche Landkreise anwendbar. Das Ergebnis wäre eine Berichterstattung über die ungesehene Umwelt, die den Subjektivismus überwindet und vorurteilsfrei ist. Voreingenommenheit, Unwissenheit und Subjektivismus stellen dem richtigen Umgang mit einer ungesehenen Umwelt Hindernisse in den Weg und diese bilden die zentrale Schwierigkeit der Selbstregierung. Die Organisation von Intelligenz wird erreichen, was keine Reform der Wahlverfahren, keine Verschiebung der Repräsentationsbasis vom Territorialen zum Beruflichen und keine Veränderung des Eigentumssystems bewirken kann. Die auf den Grenzen von Kontakt, Tradition und Interesse beruhende Subjektivität menschlicher Erfahrung ist der wirkliche Feind, und solange dieser nicht überwunden ist, verschieben »Reformen« die zu schwere Bürde nur von einer Stelle zur anderen.

In welcher Beziehung steht diese Expertenorganisation, die hauptsächlich zum Nutzen des Administrators und der leitenden Beamten arbeitet, zur Öffentlichkeit und ihrer Meinung? Sie ist, in Mr. Lippmanns Worten, »eher ein Hilfsmittel zur besseren Bewältigung öffentlicher Angelegenheiten als ein Hilfsmittel zu der Erkenntnis, wie schlecht öffentliche Angelegenheiten erledigt werden«.[18]  Indirekt jedoch wird die Methode das Verfahren von Regierung und Industrie zu einer sichtbaren und zugänglichen Sache machen und so die Öffentlichkeit befähigen, intelligentere Urteile über die Leitung geschäftlicher und öffentlicher Angelegenheiten zu fällen. Das wirkliche Interesse der Öffentlichkeit liegt darin, darauf zu bestehen, dass die Probleme ihr nicht vorgelegt werden, bis sie nicht ein bestimmtes Analyse- und Berichtsverfahren durchlaufen haben. So wie die Dinge jetzt liegen, ist jede Angelegenheit hoffnungslos in einem Knäuel von Emotionen, Stereotypen und irrelevanten Erinnerungen und Assoziationen verfangen. Werden die Angelegenheiten jedoch in einer kritisierten und objektiven Form präsentiert, sind sie von diesem Durcheinander von subjektiv verwirrendem Kontext befreit. »[D]er gewaltige zensierende, stereotypisierende und dramatisierende Apparat wird liquidiert.«[19]  Darüber hinaus wird allmählich ein Korpus von Konzeptionen wie denen 15der Wissenschaft aufgebaut, die für Bildungszwecke zur Verfügung stehen. Zukünftig können die Bürger dann während ihrer Schulzeit in effektiver politischer Psychologie und Wissenschaft unterrichtet werden. Erstere wird sie gegen die Fehlerquellen in Alltagsmeinungen wappnen, Letztere wird die Begeisterung für den Sieg über die abergläubischen Vorstellungen des Geistes vermitteln und der Vernunft die Kraft der Leidenschaft schenken.

Ich beende diese Besprechung so wie die Lektüre des Buches: mit dem Gefühl, dass trotz seiner lehrreichen, scharfsinnigen und umfassenden Analyse sein kritischer Teil gelungener ist als sein konstruktiver. Es ist ein Gefühl und wird als solches vermittelt; vielleicht ist es nur ein Überbleibsel meines eigenen Subjektivismus in Sachen Demokratie, von dem selbst Mr. Lippmanns Behandlung mich nicht befreien konnte. Doch ich riskiere zwei Anregungen: Die eine ist, dass organisierte Intelligenz, um wirksam zu sein, sogar noch mehr auf die Nachrichten ausgerichtet sein muss als auf die Administration. Mr. Lippmann scheint mir die Sache der Presse zu schnell aufzugeben – er scheint zu einfach vorauszusetzen, dass die Presse das, was sie ist, auch weiterhin sein muss. Es ist richtig, dass die Nachrichten es eher mit Ereignissen zu tun haben als mit Bedingungen und Kräften. Auch ist richtig, dass Letztere, für sich genommen, zu entfernt und abstrakt sind, um Anklang zu finden. Ihre Aufzeichnung wird zu langweilig und nicht sensationell genug sein, um die Masse der Leser zu erreichen. Aber es bleibt die Möglichkeit, Nachrichtenereignisse im Lichte kontinuierlicher Untersuchung und Aufzeichnung der zugrundeliegenden Bedingungen zu behandeln. Die Vereinigung von Sozialwissenschaft, Zugang zu Fakten und der Kunst literarischer Darstellung ist nicht leicht zu erreichen. Doch ihre Verwirklichung scheint mir die einzige echte Lösung des Problems einer intelligenten Lenkung des gesellschaftlichen Lebens zu sein. Wenn das Wort »sensationell« in einem guten Sinn genutzt werden kann, dann kann man sagen, dass eine kompetente Behandlung der neuesten Nachrichten, eine, die auf kontinuierlicher Forschung und Organisation beruht, sensationeller wäre als das, was die gegenwärtigen Methoden leisten. Zu sehen, wie die zugrundeliegenden Kräfte scheinbar beiläufig und unzusammenhängend in Ereignissen und durch sie hindurch wirken, wird für einen Nervenkitzel sorgen, den kein auf das oberflächliche und abgetrennte Vorkommnis begrenzter Bericht gewähren kann. Wenn 16man die Möglichkeit hätte, würde man sich bevorzugt der Aufgabe zuwenden, objektive Berichterstattung, eine Ordnung des Geistes und künstlerisches Können dem ganzen Volk anzubieten, denn dieses wird niemals von der relativ versteckten Arbeit von Experten, die mit Verwaltungsbeamten zu tun haben, angezogen werden. Die Aufklärung der öffentlichen Meinung scheint mir noch immer den Vorrang gegenüber der Aufklärung von Beamten und Direktoren zu haben.

Natürlich ist die Expertenorganisation, nach der Mr. Lippmann ruft, grundsätzlich wünschenswert. Diese Tatsache ist unbestreitbar. Aber sein Argument scheint mir die Wichtigkeit von Politik und politischem Handeln zu übertreiben und außerdem das Problem zu umgehen, wie Letzteres von organisierter Intelligenz effektiv gelenkt werden soll, wenn es keine begleitende direkte Aufklärung der öffentlichen Meinung sowie eine nachträgliche indirekte Instruktion gibt. Wenn Mr. Lippmann die Gefahr des Amtsschimmels, die eine fachkundige, technische und verborgene Organisation begleitet, darlegt – »Papierkrieg, Berge von Papier, Fragebögen bis zum Erbrechen, sieben Durchschläge pro Dokument, Bestätigungen, Verzögerungen, verlorene Papiere, den Gebrauch des Formulars 136 statt 29b«[20]  usw. –, dann nimmt er dem Kritiker den Wind aus den Segeln. Aber die einzig sichere Garantie gegen diese Gefahren ist die ständige Berichterstattung der Nachrichten als Wahrheit, über Ereignisse, die zwar signalisiert werden, doch als Signale von verborgenen Tatsachen, von Tatsachen, die in Beziehung zueinander gesetzt werden, ein Bild von Situationen, auf dessen Grundlage die Menschen auf intelligente Weise handeln können. Mr. Lippmann hat die fundamentale Schwierigkeit der Demokratie deutlicher als jeder andere Autor in den Vordergrund gerückt. Aber die Schwierigkeit ist so fundamental, dass ihr meiner Ansicht nach nur durch eine noch fundamentalere Lösung begegnet werden kann, als er sie zu geben gewagt hat. Wenn die Not drängt, können Erfindungsreichtum, Geschick und Leistung auf erstaunliche Weise eine Antwort geben. Demokratie erfordert eine gründlichere Bildung als die Bildung von Beamten, Verwaltern und Firmenvorständen. Weil diese fundamentale allgemeine Bildung zugleich so notwendig und so schwer zu erreichen ist, ist das Unternehmen der Demokratie 17eine so große Herausforderung. Es auf das Problem der Aufklärung von Verwaltern und Führungskräften zu reduzieren bedeutet, etwas von seiner Reichweite und seiner Herausforderung zu verfehlen.

18Rezension: Praktische Demokratie The Phantom Public, Walter Lippmann.

New York: Harcourt, Brace and Co., 1925, 205 Seiten. $2.

Walter Lippmann ließ seiner Analyse der Öffentlichen Meinung einen kürzeren und, sofern möglich, sogar noch prägnanteren Essay über Die Öffentlichkeit selbst folgen – jenes Wesen oder Werkzeug, das die Meinung formt und ausdrückt und von dem es heißt, dass es den Staat regiert. Seine Beurteilung dieses Wesens hat sich im Titel niedergeschlagen: Die Phantom-Öffentlichkeit. Am Ende zeigt sich jedoch, dass die Öffentlichkeit der Demokratietheoretiker das Phantom ist und dass Mr. Lippmann glaubt, es gebe eine Öffentlichkeit oder eher viele Öffentlichkeiten, die, obwohl flüchtig, schwer fassbar, unwissend und scheu, mit geeigneten Mitteln eingefangen, fixiert, geformt und informiert und so dazu bewegt werden können, gelegentlich sozusagen öffentlich in Erscheinung zu treten. Und er ist überzeugt, diese Öffentlichkeiten können bei richtiger Behandlung und Umerziehung mit einem beachtlichen Maß an Wirksamkeit und Nutzen in die Klärung politischer Fragen, das heißt in die Ausübung der Regierung, eingreifen. Obgleich man einige Passagen zitieren kann, die, wenn aus dem Zusammenhang gerissen, den Eindruck erweckten, dass Mr. Lippmann mit der Demokratie für immer »fertig« war, ist sein Essay in Wirklichkeit ein Bekenntnis zu einer gestutzten und gemäßigten Demokratietheorie und eine Vorstellung von Methoden, mit welchen ein vernünftiger Demokratiebegriff zum Funktionieren gebracht werden kann – nicht in Vollkommenheit, aber zumindest besser, als die Demokratie unter einer übertriebenen und undisziplinierten Vorstellung von der Öffentlichkeit und ihrer Macht funktioniert.

So ist, wenigstens meiner Meinung nach, sein Beitrag ein konstruktiver. Der Umfang, auf den der romantische Demokratiebegriff in seiner Beschreibung verringert wird, ist so, dass die Öffentlichkeit – selbst unter weit verbesserten Bedingungen – nicht zu regieren, sondern zu intervenieren hat, und zwar nicht kontinuierlich, sondern nur an kritischen Punkten. Trotzdem kann ich mir ein Buch ähnlich dem von Mr. Lippmann vorstellen, das zu einer 19Zeit geschrieben wird, da die allgemeine Atmosphäre nicht von Ernüchterung, Angst vor Betrügereien, Protesten gegen Anmaßung und Pomp und von der Überfütterung mit unverdaulichen Fragen gekennzeichnet ist, und das dennoch als ein hervorragender positiver Beitrag zur Arbeitsweise demokratischer Regierungsformen angenommen werden würde. Kurzum, das Buch ist nicht Ausdruck einer Revolte gegen die Demokratie, sondern einer gegen jene Theorie der Demokratie, welche, um ein Bentham-Zitat am Ende des Buches abzuwandeln, den Verstand abgelenkt und die Leidenschaften aufgestachelt und dadurch die Schwierigkeiten demokratischen Regierens ungeheuer vermehrt hat.[1]  Denn um funktionieren zu können, braucht die Demokratie gezügelte Leidenschaften und klaren Verstand.

Wiewohl es fundamentale und kontroverse Fragen aufwirft, ist das Buch außerordentlich klar. Selbst wenn hier eine Zusammenfassung seiner Argumentation verlangt wäre – Mr. Lippmann hat bereits eine die Hauptpunkte umfassende gegeben, die besser ist als alles, was der Rezensent liefern könnte. Nachdem er bestimmte Tests vorgestellt hat, von denen die öffentliche Meinung sich in der Ausübung der von ihm zugewiesenen Funktion leiten lassen kann, weist Lippmann darauf hin, dass er auf diese speziellen Tests zwar wenig Wert legt, der Natur dieser Tests aber große Bedeutung beimisst, denn diese hänge von den zugrundeliegenden Prinzipien ab. Die negativen Seiten dieser Tests werden zuerst behandelt, und in ihnen ist seine Kritik der enthusiastischen, ungezügelten Demokratietheorie zusammengefasst. Weder exekutives Handeln noch die Beurteilung der entscheidungserheblichen Umstände einer Frage noch die intellektuelle Vorwegnahme eines Problems, seine Analyse und Lösung stehen der Öffentlichkeit zu. Auch die spezifisch technischen, genauen Kriterien, die für die Behandlung einer Frage erforderlich sind, gehören nicht zu ihren Angelegenheiten. Die Begründung dieser Schlussfolgerungen und eine Darstellung dessen, was der Öffentlichkeit in solch einer Situation noch zu tun übrigbleibt, nehmen die ersten zwei Drittel des Buches ein.

20Die Beweisführung beruht im Wesentlichen auf der Unterscheidung zwischen den wenigen Eingeweihten und den vielen Außenseitern, wobei Erstere die aktiven Kräfte und Letztere die Zuschauer, die danebenstehenden Augenzeugen sind. »Das eigentliche Regieren besteht aus einer Vielzahl von Abmachungen zu spezifischen Fragen zwischen einzelnen Individuen.«[2]  So wird nicht nur regiert, sondern so muss regiert werden. Dinge werden nicht im Allgemeinen getan, sondern von jemandem im Besonderen. Die notwendigen Regierungsangelegenheiten sind zum größten Teil technischer und fachlicher Art. Sie sind hinreichend komplex, so dass sie die Hauptaufgabe bestimmter Personen sein müssen. Der moderne Staat ist so groß, dass die getroffenen Entscheidungen und die veranlassten Durchführungen mit der Masse der Bürger notwendigerweise wenig zu tun haben; die moderne Gesellschaft ist nicht nur nicht sichtbar, sondern auch kontinuierlich und als ein Ganzes nicht zu verstehen. Und selbst gelegentlich kann die Mehrzahl ihrer spezifischen Probleme von einem Außenstehenden nicht begriffen werden, der schließlich sein eigenes Leben zu führen hat und mit seinen eigenen persönlichen und häuslichen Problemen zurechtkommen muss. Sogar im Stadtstaat zu Aristoteles’ Zeit bestand das Problem, wie die Kluft zwischen den beschränkten Fähigkeiten des Bürgers und der Komplexität seiner Umwelt überbrückt werden sollte. Aristoteles’ Antwort, »das Gemeinwesen muss einfach und klein gehalten werden«,[3]  ist nicht mehr zu verwirklichen – und auch nicht der andere Teil seiner Lösung, so hätte Mr. Lippmann gut ergänzen können, dass nämlich das effektive Bürgerrecht den Männern, die ein Leben der Muße führen können, vorbehalten bleiben soll. Das ältere demokratische Dogma ist ebendeshalb zusammengebrochen, weil es den omnikompetenten Bürger[4]  und das unbegrenzte Einsichtsvermögen der öffentlichen Meinung voraussetzte. Das Ausmaß des Scheiterns dieser Doktrin ist an der Tatsache abzulesen, dass in den vergangenen dreißig Jahren das Verhältnis von Wählenden zu Wahlberechtigten von acht zu zehn auf fünf zu zehn gesunken ist.

Der oft gezeichnete Gegensatz zwischen der Effizienz privaten 21Handelns im Geschäftlichen und der Laxheit und Trägheit des staatlichen Handelns ist in Wahrheit kein Gegensatz zwischen privaten und staatlichen Unternehmungen, sondern einer von »Menschen, die spezifische Dinge tun, und Menschen, die versuchen, allgemeine Ergebnisse zu verfügen«.[5]  Letzteres ist in Wirklichkeit unmöglich; der Gesellschaft mangelt es an Einheit; es fehlt an ausreichendem gemeinsamen Wissen; und selbst wenn es vorhanden wäre – Handeln im Allgemeinen ist Nonsens. Das Vortäuschen eines gemeinsamen Geistes und allgemeinen Handelns für Dinge im Allgemeinen hat nur Fiktionen hervorgebracht, und diese Fiktionen haben die Verwirrung vermehrt, sie haben Betrug und Propaganda lohnend gemacht. »Die Verfertigung eines allgemeinen Willens aus einer Vielfalt allgemeiner Wünsche ist kein hegelsches Mysterium […], sondern eine Kunst, die Führern, Politikern und Lenkungsausschüssen gut vertraut ist. Sie besteht im Wesentlichen in der Verwendung von Symbolen, die Emotionen auf sich vereinen, nachdem diese von ihren Ideen getrennt wurden.«[6]  In der Folge wird das Handeln natürlich wie eh und je unter Ausschluss der Öffentlichkeit von einigen wenigen Eingeweihten bestimmt. Doch Verfälschungen haben sich eingeschlichen; während sie zum eigenen Nutzen handeln, behaupten sie, die Vertreter eines öffentlichen Willens zu sein und öffentliche Unterstützung und Zustimmung zu besitzen, und um Letztere als Druckmittel zu gewinnen, wickeln sie die Öffentlichkeit ein.

Das Wachstum der Gemeinwesen in Größe und Komplexität hat Organisation in einem gewaltigen Ausmaß erzwungen. Die Folge war, »Entscheidungen in zentralen Regierungen zu konzentrieren, in entfernten Verwaltungsbehörden, in Wahlvorversammlungen und in Lenkungsausschüssen«.[7]  Auf der einen Seite stehen also diejenigen, die tatsächlich Beschlüsse fassen, aber die Tatsache, dass sie Entscheidungen treffen, worin diese bestehen und wie sie gefällt werden, verbergen können und vorgeben, nur einen öffentlichen Auftrag auszuführen; auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die politisch verwirrte, schwankende, mehr oder weniger einflusslose und entmutigte Wählerschaft. »Die Vergrößerung des Abstands zwischen Verhalten und Erfahrung, zwischen Ursache und 22Wirkung, hat einen Kult des Selbstausdrucks genährt, bei dem jeder Denker über seine eigenen Gedanken nachdenkt und subtile Gefühle bezüglich seiner Gefühle hat. Dass er in der Folge den Gang der Dinge nicht wesentlich beeinflusst, ist nicht überraschend.«[8] 

Die positive Funktion der Öffentlichkeit ist es dann also, von Zeit zu Zeit in die Arbeit der Eingeweihten einzugreifen, indem sie Partei für einige der Eingeweihten gegen andere ergreift, gewöhnliche und offenliegende Handlungen zu beurteilen und anhand einiger musterhafter Phasen von äußeren Handlungen zu lernen, ihren Einfluss für die eine oder die andere Eingeweihtengruppe geltend zu machen. Zur Bewältigung ihrer Aufgabe braucht die Öffentlichkeit Kriterien; diese sind in der Absicht entworfen, ihr die Unterscheidung zwischen der Gruppe, deren Politik wirklich das öffentliche Interesse befördert, und jenen, welche die Öffentlichkeit für eigennützige Ziele benutzen, zu ermöglichen. Um zu dieser Unterscheidung zu gelangen, ist es wesentlich herauszufinden, welche der Eingeweihtengruppen am wenigsten gewillt ist, ihre Ansprüche einer offenen Untersuchung auszusetzen, und am wenigsten gewillt ist, sich an das Ergebnis angemessener Publizität zu halten. Denn der Weg der Vernunft ist der Weg der Bereitschaft, einer rechtmäßigen Regelung zu folgen; während ihr die Einsicht in den rationalen Kern der verschiedenen Anträge fehlt, kann die Öffentlichkeit wenigstens über deren Form, Methode und Geist urteilen. Der Unwillen, einen Fall der Untersuchung zu unterwerfen, ist ein sicheres Zeichen der Aversion gegen die Rechtmäßigkeit der Vernunft und des Gesetzes.

Das ist nur eine Zusammenfassung und dazu eine recht trockene, während Mr. Lippmanns vollständige, obgleich knappe Erörterung voller Saft und Kraft ist. Ich hoffe jedoch, sie kann den Geist der Beschränkungen andeuten, die Mr. Lippmann der Öffentlichkeit zur Einhaltung auferlegen würde; zur Einhaltung, weil sie in der Natur der Sache liegen: namentlich in der spezifischen und vielschichtigen Natur der Probleme, der Entferntheit der Öffentlichkeit von diesen und dem Inanspruchgenommensein ihrer Mitglieder durch eigene Arbeit und Vergnügungen. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist der Zusammenfassung hinzuzufügen, dass Mr. Lippmann unter den »Eingeweihten« noch etwas anderes als poli23tisch Eingeweihte versteht, mehr als Staatsbeamte und Manager von Maschinen. Denn diese sind in vielerlei Hinsicht Außenseiter. In industriellen und wirtschaftlichen Fragen sind, wie ich es sehe, die aktiven Wirtschaftsführer, ob nun Kapitalisten oder Arbeiterführer, die Eingeweihten, und so fort. In Wirklichkeit ist also Mr. Lippmanns Argumentation ein aus einem neuen Blickwinkel vorgetragenes kraftvolles Plädoyer für die Dezentralisierung der Regierungsgeschäfte; ein Plädoyer für die Erkenntnis, dass die eigentliche Regierung, ob uns dies nun gefällt oder nicht, von nichtpolitischen Behörden ausgeübt werden muss, von Organen, von denen wir gewöhnlich nicht meinen, dass sie mit dem Regieren zu tun haben.

Trotz einiger Verweise auf die sinkende Aktivität der Wählerschaft liegt die wirkliche Bedeutung von Mr. Lippmanns Kritik meines Erachtens darin, dass die Wählerschaft insgesamt noch immer zu viel erreichen will; in der Sprache der alten Laisser-faire-Schule: sie neigt zur Einmischung.

Man ist, en passant gesagt, erstaunt, dass Mr. Lippmann keinen Bezug zu den Theorien herstellt, die verschiedene gesellschaftliche Tätigkeiten funktional organisieren würden, nach Berufstätigkeiten und Interessen. Wahrscheinlich brächte das eine zu weite Abschweifung in entlegene und spekulative Materien mit sich, um ihn zu reizen. Es ist aber schwer einzusehen, wie selbst gelegentliches Intervenieren der allgemeinen Öffentlichkeit auf die von ihm geforderte Art Wirkung erzielen kann, solange nicht die Gruppenaktivitäten, welche sie beeinflussen soll, besser organisiert und offener für Nachforschungen sind, also mehr jener »[Identifikation des Parteigängers]«[9]  und seiner Absichten ausgesetzt sind, die das Ziel des demokratischen Verfahrens ist. Man kann durchaus die Meinung vertreten, Mr. Lippmanns Konzeption sei nicht durchführbar ohne etwas, das einer »Gilden-« oder »Sowjet-« – man beachte bitte, dass ich nicht sage: »bolschewistischen« – Organisation nahekommt.

Man mag sich fragen, ob Mr. Lippmanns Kritiken nicht bis zu einem gewissen Grade gegen einen Strohmann gerichtet sind. Ich würde nicht sagen, dass nie jemand die Demokratietheorie vertreten hat, welche er für die orthodoxe Theorie hält. Doch man kann mit Sicherheit behaupten, dass solche Vorstellungen zum größten Teil der Wirklichkeit nachgestellt sind; sie sind, in heutigem Jargon, 24»Rationalisierungen« eines erreichten Zustandes. Um eine Anleihe bei der Sprache James Harvey Robinsons aufzunehmen: Die Demokratie entstand nicht als die Verwirklichung eines Ideals, eines guten oder schlechten.[10]  Was Volksherrschaft genannt wird, ist eher die Folge einer großen und gemischten Zahl einzelner Ereignisse. Es war Carlyle – kein Freund der Demokratie –, der sagte, dass mit der Existenz der Druckerpresse die Demokratie unvermeidlich ist.[11] 

Es ist fraglich, ob die Wortführer der Demokratie sich deren Funktionen jemals sehr verschieden von Mr. Lippmanns Gedanken darüber vorstellten. Der Richter und der Schiedsrichter letzter Instanz zu sein, erzwingen zu können, dass wichtige Fragen dem öffentlichen Urteil unterworfen werden, die Regierenden von Zeit zu Zeit dazu zu nötigen, vor dem Gericht ihrer Wähler zu erscheinen, um Rechenschaft über ihre Amtsverwaltung abzulegen: solcher Art, denke ich, waren die hauptsächlichen, nicht unbescheidenen Ansprüche der Männer, die wirklich die Demokratisierung des Regierungswesens vorantrieben.

Zweifelsohne haben die Schwierigkeiten einer verständigen Ausführung selbst derart beschränkter Aufgaben in der letzten Zeit unendlich zugenommen, und diese Veränderung macht genau solche Neuüberlegungen, wie Mr. Lippmann sie für uns anstellt, notwendig. Aber sie ist es auch, welche seine Revision (wenn man von der in logischer Hinsicht unerheblichen offenkundigen Abneigung Mr. Lippmanns gegen einige der jüngsten fehlgeleiteten Aktivitä25ten der Öffentlichkeit – von ihm illustriert an der Prohibition und der Gesetzgebung in Tennessee – absieht) eher zu einem Beitrag zur Technik demokratischen Regierens macht als zu einer weitreichenden Kritik dieser. Es wäre ebenso erhellend wie interessant, aus Mr. Lippmanns Feder eine eingehende Analyse der Beziehung der prohibitiven Gesetzgebung zur öffentlichen Meinung und zu Volksbefragungen zu erhalten. Eine Erörterung über die Eignung der Affäre für einen Volksentscheid würde den ganzen Gegenstand klären. Richtet sich der Einwand dagegen, dass die nationale Öffentlichkeit sich überhaupt mit der Frage befasst, oder gegen die Art der getroffenen Maßnahmen? Wahrscheinlich gegen das Erstere, denn wenn er sich gegen Letztere richtete, bestünde der naheliegende Ausweg in der fortgesetzten Aufforderung an die demokratische Praxis, ihre vorhergehende Entscheidung abzuändern. Wenn es aber das Erstere ist, dann wäre interessant, welche Art von Schutz die einzelnen Theorien gegen extreme und pauschale Maßnahmen von Seiten derer, die an der Macht sind, vorschlagen, wenn diese zu einer beliebigen Frage entschiedene Ansichten haben. Die Luxusgesetzgebung ist sicherlich keine Erfindung des demokratischen Staates; und es sind die nichtpolitischen Merkmale der modernen Gesellschaft, Dinge wie die schnelle und komplexe wechselseitige Kommunikation durch Eisenbahnen und Tageszeitungen, welche die gegenwärtige ausgedehnte Art von Luxusgesetzgebung ermöglichen. Mr. Lippmann wäre bestimmt der Letzte, der den Geboten und Ermahnungen der Regierenden bezüglich ihres eigenen Verhaltens den Schutz vor unkluger Gesetzgebung anvertraute. Doch welchen Ausweg gibt es? Ich sehe nicht, dass das Problem für die Demokratie eine größere Bedeutung besäße als für jede andere Regierungsform. Wenn es sich nun verschärft hat, so liegt das an der Großen Gesellschaft.[12] 

Den Unverstand zum Beispiel der Prohibition und der Gesetzgebung über den wissenschaftlichen Unterricht einmal vorausgesetzt, ist es kaum glaubhaft, dass das Vertrauen in die Allmacht des Wählers, in das Vorhandensein einer unfehlbaren öffentlichen Meinung und in das göttliche Recht der Mehrheit viel mit der Sache zu 26tun haben. Keine bestimmte Theorie der Demokratie, sondern die Abneigung gegen den Schnapshandel trieb die Prohibitionisten an, eine Abneigung, die von dem einen Standpunkt aus von den Moralisten gehegt wurde, welche Kartenspiel, Trinken und Tanzen für eine Erfindung des Teufels halten; von einem anderen Standpunkt aus von jenen, deren Gott Sparsamkeit oder Reichtum heißt, von großen Arbeitgebern und von jenen, welche die politische Macht des Saloons fürchten – und auch von vielen anderen Standpunkten aus. Und es ist eine Art glühender theologischer Überzeugung, die jene beseelt, die Gesetze gegen die Evolutionstheorie verabschieden.

Wenn gesagt wird, die demokratischen Institutionen gäben den betreffenden Öffentlichkeiten die Möglichkeit, Gesetze durchzusetzen, so lautet die Erwiderung, dass diese Feststellung wahr ist, ihre Folgerungen jedoch den Zufall für das Wesen nehmen. Die katholische Kirche kann man kaum eine demokratische Körperschaft nennen und trotzdem steht Darwin auf dem Index; und wenn die Kirche die vollständige Kontrolle über die Schulen besäße, wären ihre Beschlüsse nicht weniger extrem als die der Fundamentalisten in Tennessee. Für jene, die glauben, das Gottesgnadentum, welches einst die Ekklesiasten besaßen und dann von den Königen geerbt wurde, sei nun zu den Volksmassen heruntergestiegen, ist es zweifellos ein Gewinn zu erfahren, dass die Demokratie keinen automatischen Schutz gegen Machtmissbrauch gewährt. Aber in jedem Fall scheinen die Schwierigkeiten von Dummheit, Intoleranz, Starrköpfigkeit und schlechter Erziehung herzukommen, ob diese Züge nun einen Monarchen schmücken, eine Oligarchie zieren oder die moralischen Insignien der Volksmassen bilden.

Ich nehme auf keinen Fall an, dass diese Anmerkungen gegen den großen Wert von Mr. Lippmanns Untersuchung sprechen. Aber vielleicht verdeutlichen sie die Notwendigkeit weiterer Analysen; diese sollten dann hauptsächlich die der großen Gesellschaft innewohnenden Probleme und Gefahren in Betracht ziehen, im Vergleich zu denen die Schwäche der Demokratie eher symptomatisch als kausal zu sein scheint. Sie legen nahe, dass, so hilfreich die Verbesserung der gegenwärtigen Praktiken nach solchen Kriterien, wie sie Mr. Lippmann andeutet, auch sein mögen, dennoch der einzig sichere Ausweg in der weiteren Organisation der Gesellschaft selbst besteht. Sie verweisen außerdem auf die Notwendigkeit einer weiteren Erforschung der Publizität in ihrem Verhältnis 27zur Öffentlichkeit. Die ethische Besserung der Presse würde das Problem immer noch weit verfehlen. Die grundlegende Frage ist wissenschaftlicher und künstlerischer Art: nämlich wie die Presse zu einer kontinuierlichen, systematischen und wirksamen Enthüllung der gesellschaftlichen Bewegungen werden kann, einschließlich der Wünsche und Absichten der verschiedenen Eingeweihtengruppen. Das ist ein künstlerisches und auch ein intellektuelles Problem, denn es setzt nicht allein eine wissenschaftliche Organisation für die Entdeckung, Aufzeichnung und Interpretation alles Verhaltens von öffentlicher Tragweite voraus, sondern auch Methoden, welche die Darstellung der Untersuchungsergebnisse fesselnd und gewichtig machten. Ich nehme nicht an, dass die meisten Menschen Zucker wegen des Glaubens an seinen Nährwert kaufen; sie kaufen ihn aus Gewohnheit und um den Gaumen zu erfreuen. So muss es auch mit dem Erwerb derjenigen Tatsachen sein, die verschiedene Öffentlichkeiten im Besonderen und die größere Öffentlichkeit im Allgemeinen darauf vorbereiten, private Handlungen in ihren öffentlichen Bezügen zu erkennen und mit diesen auf der Grundlage des öffentlichen Interesses umzugehen.

Ich habe jeden Verweis auf jenen Zug von Mr. Lippmanns Buch unterlassen, der den Rezensenten in seiner Eigenschaft als professioneller Philosoph am meisten ansprach. Mr. Lippmann macht wirkungsvollen und scharfsinnigen Gebrauch von den pluralistischen Tendenzen des gegenwärtigen Denkens, einschließlich der Theorie, dass Intelligenz nicht aus eigenem Antrieb wirkt, sondern um Konflikte zu schlichten und spezifische Schwierigkeiten zu lösen. Dieser philosophische Hintergrund gibt seinem Buch eine Reichweite und Kraft, die es von fast aller anderen zeitgenössischen Literatur auf dem Gebiet der Politik unterscheidet und welche diese Besprechung angemessen zu betrachten versäumt. Aber diese Notiz ist bereits zu lang und mit Erlaubnis des Herausgebers hoffe ich, auf diesen Teil der Materie später zurückkommen zu dürfen.

29Die Öffentlichkeit und ihre Probleme

31Vorwort [1927]

Dieses Buch ist das Ergebnis von Vorlesungen, die im Januar 1926 mit Unterstützung der Larwill Foundation am Kenyon College, Ohio, gehalten wurden. Indem ich mich für die vielen empfangenen Ehrenbezeigungen bedanke, möchte ich auch gegenüber den Autoritäten der Hochschule meine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck bringen, dass sie eine verspätete Veröffentlichung zugelassen haben. Die dazwischenliegende Zeit hat eine vollständige Überarbeitung und Erweiterung des ursprünglichen Vorlesungstextes gestattet. Dieser Umstand erklärt die gelegentliche Bezugnahme auf inzwischen erschienene Bücher.

J.D.

321. Die Suche nach der Öffentlichkeit

Wenn man sich den Abstand bewusstmachen möchte, der zwischen »Tatsachen« und der Bedeutung von Tatsachen liegen kann, so betrete man das Feld der sozialen Diskussionen. Viele Menschen scheinen anzunehmen, dass Tatsachen ihre Bedeutung ins Gesicht geschrieben steht. Man sammle nur genug davon und ihre Deutung wird einem ins Auge springen. Von der Entwicklung der physikalischen Wissenschaft glaubt man, dass sie diese Vorstellung bestätigt. Doch die Macht physischer Tatsachen, Überzeugungen zu erzwingen, liegt nicht in den nackten Phänomenen. Sie entsteht aus der Methode, aus der Technik der Untersuchung und Berechnung. Niemand ist jemals durch das bloße Sammeln von Tatsachen gezwungen worden, eine bestimmte Theorie über ihre Bedeutung zu akzeptieren, solange man noch über eine andere intakte Theorie verfügt, mit der man sie ordnen kann. Nur wenn den Tatsachen zum Zwecke des Vorbringens neuer Gesichtspunkte freies Spiel gelassen wird, ist hinsichtlich ihrer Bedeutung ein signifikanter Überzeugungswandel möglich. Man nehme der physikalischen Wissenschaft ihren Laborapparat und ihre mathematischen Verfahren, und die menschliche Phantasie kann ihren Interpretationstheorien freien Lauf lassen, selbst wenn wir annehmen, dass die rohen Fakten dieselben blieben.

Auf jeden Fall weist die Sozialphilosophie eine ungeheure Kluft zwischen Tatsachen und Doktrinen auf. Man vergleiche zum Beispiel die Tatsachen der Politik mit den bestehenden Theorien über die Natur des Staates. Wenn Forscher sich auf die beobachteten Phänomene beschränken, auf das Verhalten von Königen, Präsidenten, Gesetzgebern, Richtern, Sheriffs, Assessoren und allen anderen öffentlichen Beamten, dann ist ein vernünftiger Konsens sicherlich nicht schwer zu erreichen. Man stelle dann diesem Einverständnis die Meinungsverschiedenheiten gegenüber, welche in Bezug auf die Basis, das Wesen, die Funktionen und die Rechtfertigung des Staates bestehen, und beachte die scheinbar hoffnungslose Uneinigkeit. Wenn man nicht nach einer Aufzählung von Tatsachen, sondern nach einer Definition des Staates fragt, ist man schon mittendrin in den Kontroversen, in einem Potpourri einander widersprechender 33