Die Oslo-Connection - Thriller - Olav Njølstad - E-Book

Die Oslo-Connection - Thriller E-Book

Olav Njølstad

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Beschreibung

Packender Thriller aus SkandinavienUm Israel zu eigenen Atomwaffen zu verhelfen, führen norwegische Wissenschaftler vor der Küste Norwegens geheime Atomtests durch. Doch irgendetwas geht schief, wenig später stirbt die gesamte Besatzung eines Fischkutters an Schilddrüsenkrebs. Jahrzehnte später begibt die Ärztin Ulla Abildsø, Tochter des toten Fischkutterkapitäns, auf die Suche nach dem Grund der mysteriösen Todesfälle von einst. Dabei gerät sie in Konflikt mit dem isreaelischen Geheimdienst und wird plötzlich selbst zur Zielscheibe...-

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Olav Njølstad

Die Oslo-Connection - Thriller

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries

Saga

Die Oslo-Connection – Thriller ÜbersetztGünther Frauenlob und Maike Dörries Copyright © , 2019 Olav Njølstad und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726344127

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Für Vater

TEIL I

Freitag, 13. Februar – Donnerstag, 19. Februar

jerusalem, sørøya, oslo, ingøy, kjeller

1

Weiß, weiß, alles ist weiß: die Decke, die Wände, das Bettzeug, die Lilien auf dem Nachttischchen – weiß, alles weiß, wie Leinen, wie Schnee, wie die unberührte Brust unter der Bluse einer Pfarrerstochter. Ein mildes, fernes Weiß, das alles umfängt und in allem ist: Im Raum (welchem Raum?), auf den Möbeln (nicht meinen!), im Duft der Lilien (welche umsichtigen Hände mögen sie dort platziert haben?). Es liegt etwas Schläfriges in all dieser Farblosigkeit: Der Blick findet nichts, an dem er haften bleiben könnte, die Gedanken verblassen, ehe sie zu Ende gedacht sind. Plötzlich weiß ich: In solchen Räumen besiegen die Mumien die Zeit.

Ein Schrei! Zehntausend Meilen entfernt schreit jemand. Ein geprügelter Hund. Oder ein Mensch. Eine kurze Sekunde lang wünsche ich mir, es wäre Katarina. Aber Katarina schreit nie. Jedenfalls nicht in meiner Nähe. Selbst die Orgasmen sind ohne jeden Laut. Deshalb nenne ich sie im Stillen Wandjina, nach den australischen Höhlenmalereien von der Göttin ohne Mund. Aber was habe ich dann gehört? Mein eigenes Todesröcheln?

Die Frau am Fuß des Bettes steht reglos da, ehe sie sich langsam nach vorne beugt und mir mit ihrer schmächtigen Glashand über die Wange streicht. In der nächsten Sekunde ist sie verschwunden, um eine Minute, eine Stunde, ein Lichtjahr später, wieder auf der entgegengesetzten Seite des Bettes aufzutauchen. Auch dieses Mal nicht, um etwas zu sagen. Ihr Blick sucht nie den meinen. Ihre Hände sind immer irgendwo anders. Als sie sich umdreht, spüre ich einen stechenden Schmerz im Schenkel – oder ist das der Oberarm? Mein Gott, ich weiß nicht einmal mehr, was bei meinem Körper oben oder unten ist! Und nach dem Schmerz das wohlige Prickeln. Warme Winde in der Seele – warme Winde, weiße Segel.

Stille. Nirgendwo die vertrauten Laute geliebter Stimmen. Doch irgendwo in der Lautlosigkeit – und jetzt erlaube ich mir eine gewisse Feierlichkeit – harrt auch die Wahrheit über Katarina und mich selbst, die Ballade über die tausend verpassten Möglichkeiten für ein Leben ohne Lügen. Wie ich es begrüßen würde, wenn mir nur einfiele, wann Katarina und ich das letzte Mal ehrlich zueinander waren; wie sich das angefühlt hat? Was auf dem Spiel stand? Aber ich komme nicht darauf. Stattdessen versinke ich wieder in meinem eigenen Atem, meinen eigenen tiefen Atemzügen, die den Gezeiten folgen und alles an sich saugen, das mich umgibt: die Stille, die Schmerzen, den Sternenstaub. Halb betäubt sehe ich nackte, langbeinige Menschen durch den Raum tanzen, erst in der nächsten Umgebung – dicht über dem Bett –, dann im fernen, unendlichen Raum zwischen Fixsternen und Kometen. Matisse, denke ich träge, schon wieder Matisse. Es fehlen bloß eine Vase mit gelbem Geißblatt und ein roter Holzstuhl ...

Wer sind die alle? Was wollen sie? Die hagere, hoch gewachsene Gestalt, die sich über das Bett beugt und mich mit nervöser Neugier anstarrt, als sei ich ein bislang unbekanntes Milzbrandbakterium: Was will er? Was sagt er zu seinem murmelnden Gefolge? Ich höre Stimmen, aber keine Worte. Nur ein fernes, unverständliches Summen; Gesang in einer ausgestorbenen Tonart, Hieroglyphen aus einer verlorenen Zeit oder ... Dann, ja: Gelächter! Dann sind es definitiv lebende Menschen. Weiß gekleidet. Äther und Bandagen. Pfleger, vermutlich! Ärzte!

2

Der kleine Junge starrte in die weißen Schaumwirbel unter dem hölzernen Anleger. Er suchte nach seinem Fahrtenmesser. Er hatte es mit hinunter genommen, um seinen Namen in einen der Holzpfosten zu schnitzen, und jetzt war es verschwunden. Wie konnte er sich nur so dumm anstellen!

Er ärgerte sich darüber, dass er sich von seinem großen Bruder hatte verleiten lassen. Er hatte tags zuvor gesehen, wie Arnfinn seinen Namen in einen Kiefernstamm geritzt hatte, und wollte auch so was machen.

Nur dass er sich einen Pfosten am Anleger ausgesucht hatte und keinen Baum im Wald.

So blieb ihm das Gelächter seines Bruders erspart, wenn er seinen Namen falsch schrieb.

Buchstabieren fiel ihm so schwer. Er hieß Gerhard, und dieser Name erschien ihm ganz besonders tückisch. Manchmal war er sich sicher, dass man den Namen mit Doppel»r« schrieb, und dann vergaß er meistens das »h«: Gerrard. Dann lachten sich Arnfinn und seine Freunde immer halb kaputt. Und wenn er einmal an das »h« dachte, schlich es sich an die falsche Stelle. Manchmal schrieb er dann Gherard. Wie bei Ghepard? Oder noch schlimmer: Gerahrd. Das Lachen seines Bruders, als dieser einmal sein Aufsatzheft gefunden hatte, auf das er Gerahrd geschrieben hatte, dröhnte noch immer in seinen Ohren. »Hallo Gerahhhrd!«, hatte sein Bruder ihn am nächsten Morgen beim Frühstück begrüßt. »Gut geschlafen, Gerahhhrd?«

Deshalb war der Pfosten unten am Anleger der sicherste Ort. Das heißt, wenn er nicht so nass und glitschig gewesen wäre! Er war gerade bis zum schwierigen »h« gekommen, das dieses Mal am richtigen Platz war (der vierte Buchstabe, nicht vergessen!), als ihm das Messer aus den Fingern rutschte und mit einem idiotischen Plopp im Wasser verschwand.

Das Wasser war kalt und klar wie Glas, doch der Tang und der weiße Schaum an den Ufersteinen erschwerten es, bis auf den Grund zu gucken, obwohl Neumond und Niedrigwasser war. Wenn er das Messer entdeckte, würde es ihm bestimmt gelingen, es wieder herauszufischen.

Aber was war das?

Direkt unter dem Schaum lag etwas Großes, Dunkles im Wasser, das sich auf und ab bewegte. Ein erwachsener Mann mit rotbraunem Bart und kreideweißen Händen. Er trug eine Schwimmweste und große graue Wollsocken an den Füßen, er litt also keine Not. Seine Augen waren weit geöffnet und starrten Gerhard voller Ernst an. Fast als hätte er Mitleid, fand er. Und er trug ein Halsband, wie ein Hund. Vielleicht hatte er ja das Messer gesehen?

»Hallo«, sagte Gerhard. »Wer bist’n du?«

Es kam keine Antwort.

»Hast du mein Fahrtenmesser gesehen? Der Griff war aus Wurzelholz und ...«

Gerhard biss sich auf die Unterlippe. Die gleichen langsamen Manöver im Gehirn, die dafür verantwortlich waren, dass er als Zehnjähriger noch immer Schwierigkeiten hatte, seinen Namen zu buchstabieren, sagten ihm jetzt, dass er den Mann in Ruhe lassen und niemandem etwas sagen sollte. Sonst würden sie gleich fragen, was er auf dem Anleger zu suchen gehabt hatte, und dann müsste er es sagen, dass er das Messer verschlampt hatte. Vater würde bestimmt böse werden und fluchen und schimpfen und sagen, dass nur ein Idiot einem solchen Schussel wie ihm so ein Messer schenken konnte. Mutter würde protestieren, und schon hätten sie wieder den dicksten Streit, und Arnfinn würde ihn mit seinen dunklen Samojedenaugen anklagend ansehen und sagen: »Du Arsch! Immer machst du alles kaputt!« Ja, er wusste genau, was geschehen würde. Die Sonntagsstimmung wäre bereits vor dem Frühstück hinüber.

»Tschüs«, sagte Gerhard und nickte dem Mann im Wasser zu. Und dann fügte er hinzu, obwohl er längst wusste, dass der Mann tot war: »Du, du hättest ins tiefere Wasser schwimmen sollen.«

Sie hatten gerade den Frühstückstisch gedeckt und warteten darauf, dass Mutter mit der Kaffeekanne aus der Küche kam, als Vater sagte:

»Was hast du unten am Anleger gemacht, Gerhard? Du weißt, ich will nicht, dass du dich da unten allein rumtreibst, besonders nicht jetzt, wo das Wasser so kalt ist.«

»Äh, ich war nur ganz kurz da unten.«

»Aber du sollst da nicht hin.«

»Äh, ich weiß, Vater, hatt ich vergessen.«

»Du hättest ins Wasser fallen können, und dann wäre niemand dort gewesen, um dir zu helfen.«

»Doch, da war jemand.«

Die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet, dass er dieses Mal entschlossen war, sich zu verteidigen.

»Widersprich mir nicht, bitte. Ich habe dich durch das Fenster gesehen. Du warst mutterseelenallein. Und länger als nur einen kurzen Moment.«

»Ich war nicht allein, Vater.«

»Red keinen Unsinn.«

Mutter kam herein.

»Was ist jetzt schon wieder los?«

»Gerhards Fantasien«, sagte Vater kurz. »Ich habe ihn daran erinnert, dass er nicht allein unten zum Anleger gehen soll, und er hat mir geantwortet, dass er nicht allein gewesen wäre. Dabei haben wir deutlich gesehen, dass da außer ihm niemand war.«

»Das stimmt, Gerhard«, sagte die Mutter mild. »Wir haben am Fenster gestanden.«

»Da war aber trotzdem ein Mann«, wiederholte er hartnäckig. »Nur dass ihr ihn nicht sehen konntet.«

Der Vater seufzte laut, wie er es immer tat, wenn er langsam die Geduld verlor. Arnfinn kicherte erwartungsvoll am Kopfende des Tisches. Nur Mutter war unverändert ruhig. Sie lächelte, als sie die Vanillesoße in die Schale goss. Sie dachte sicher, dass es irgendwie auch schön war, einen mit Fantasie in der Familie zu haben.

»Was für ein Mann? Erzähl doch, Gerhard.«

»Na, der im Wasser.«

Es wurde vollkommen still am Tisch.

»Mein Gott«, sagte Vater schließlich. »Willst du damit sagen, dass da wirklich ein Mann im Wasser lag?«

Gerhard nickte eifrig. Endlich glaubten sie ihm. Und keiner dachte mehr daran, nach seinem Messer zu fragen.

»Ja, so ein alter mit weißen Händen. Und mit einem Bart.«

»Und das sagst du uns erst jetzt? Das ist nicht klug, Gerhard. Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«

Sein Vater nahm sich nicht die Zeit, die Antwort abzuwarten. Er war längst vom Stuhl aufgesprungen und nach draußen gerannt – mit Arnfinn im Schlepptau.

Gerhard blickte unglücklich zu seiner Mutter.

»Der war doch erwachsen. Und Erwachsene können doch schwimmen und auf sich selbst aufpassen, oder?«

»Ja, doch«, sagte Mutter. »Aber nicht, wenn sie im Winter ins Wasser fallen. Wir sind hier in der Finnmark, weißt du. Nicht auf den Kanarischen Inseln.«

Sie stand am Fenster und sah ihrem Ehemann nach, der mit langen Schritten zum Anleger hinunterlief. Ein Blick ins Wasser reichte. Er richtete sich auf und rief seinem ältesten Sohn etwas zu. Der Junge machte kehrt und rannte, so schnell ihn seine dünnen Beine durch den Schnee trugen, zurück zum Haus.

Sie verstand.

Sie mussten die Polizei anrufen. Und dann sollte sie sich wohl warme Sachen anziehen und nach unten gehen, um den Unglücklichen an Land zu ziehen.

»Du, Mama«, rief Gerhard ihr nach. »Darf ich aufstehen?«

3

»Fechten ist ein fantastischer Sport«, erklärte der Außenminister, während der dunkelblaue Quattro aus dem Stadtzentrum in Richtung Bygdøy rauschte. Es war ein schöner Wintertag: Die Sonne strahlte auf dick verschneite Hausdächer, Bäume und Wiesenflächen herab. Mitten auf dem vereisten Frognerkil räumten ein paar Jugendliche eine Eishockeyfläche frei, und über die Promenade zwischen Fjord und Autobahn schob sich ein Strom zufriedener Spaziergänger.

Aber jetzt ging es also ums Fechten!

»Es gibt drei Wettkampfformen beim Fechtsport«, dozierte Fridtjof Bremer in seiner leicht pompösen Art, »Säbel, Degen und Florett. Hier in Norwegen kämpfen wir nur mit dem Degen, leider. Eine Stichwaffe. Ich habe in meiner Jugend ein wenig Florett gefochten, als ich in Paris Wirtschaft studiert habe. Eine anspruchsvolle Waffe. Was für ein Gefühl, wenn man sie zu meistern versteht! Aber auch der Degen ist gut. Fechten Sie, Hartmann?«

Polizeikommissar Jørgen Hartmann vom Polizeilichen Sicherheitsdienst, PST, antwortete höflich, dass er das nicht tat. Abgesehen von einer missglückten Boxkarriere in seiner Jugend und dem obligatorischen beruflichen Selbstverteidigungstraining, hatte er wenig Erfahrung mit Kampfsport. Er ritt im Sommer ein bisschen draußen in der Natur und spielte hin und wieder mit einem seiner Kollegen Tennis, doch dessen Returns waren genauso schwach wie seine. Und er hatte sich einmal im Bogenschießen versucht. Aber Degen, nein. Leider, sollte er vermutlich sagen?

»Sie haben ja keine Ahnung, was Sie verpassen. Die ganze Zeit über volle Konzentration. Erst ein paar kleine, abwartende Bewegungen, während man den Gegner beobachtet und seine Angriffe pariert. Dann ein kleiner Scheinangriff. Und schließlich: Attacke!« Bremer warf sich nach vorne, aber der Gurt katapultierte ihn wieder zurück in den Sitz. »Habt ihr das gesehen, ein echter Siegesstoß!« Er lächelte aufgedreht. »Ein Siegesstoß«, wiederholte er, »setzt perfekte Balance, blitzschnelle Auffassungsgabe und den gnadenlosen Willen zum Angriff voraus. Verstehen Sie das Bild, Hartmann? Das ist Sicherheitspolitik, verkleidet als sportliche Ertüchtigung!«

Hartmann murmelte eine undeutliche Antwort. Er war nicht wirklich am Fechten interessiert, und seine Gedanken kreisten schon seit Minuten um etwas anderes. Er hatte wieder von Rita geträumt. Sie war jetzt seit mehr als neun Jahren tot, doch er kämpfte noch immer darum, sie endlich zu vergessen. Jedes Mal, wenn er zu glauben begann, dass er es geschafft hatte, tauchte sie wieder in seinen Träumen auf. Es konnten helle, muntere Träume sein, reine Erotik, oder wie in dieser Nacht, eine einfache Fabel mit blauen, traurigen, sehnsüchtigen Untertönen. Der Effekt war immer der gleiche. Er wachte zwischen drei und vier Uhr mit klammen Händen auf und konnte nicht wieder einschlafen. Meistens endete es damit, dass er aufstand, sich den gestreiften Morgenmantel überwarf, sich ein Glas Scottish Pride eingoss und sich in den Sessel vor dem Fenster fallen ließ. Dort konnte er stundenlang sitzen, ohne das Licht oder das Radio einzuschalten, während er resigniert in die Winternacht starrte und darauf wartete, dass der Rest der Stadt endlich erwachte.

Bremer redete unverdrossen weiter.

»Ich war gestern Abend in der Oper, Hartmann, und habe dem Gekraxel der norwegischen Pantoffeltenöre zum hohen C beigewohnt. Mein lieber Gott! Jede Arie klang wie eine Studie über Höhenangst, ein unabsichtliches Vertigo aus Tönen! Und für diese Amateure bauen wir ein neues Opernhaus für 7 Milliarden Kronen!«

Hartmann teilte Bremers Vorliebe für die Oper ganz und gar nicht (er hatte eher einen Hang zu Fred Astaire, Gene Hackman und den französischen Filmen der sechziger Jahre) und versuchte, sich stattdessen auf die Arbeit dieses Vormittags zu konzentrieren: die Sicherheit des Außenministers zu gewährleisten. In gewisser Weise eine absurde Situation. Hartmann verfolgte Bremers Karriere seit fünfundzwanzig Jahren aus nächster Nähe mit, seit der junge Radikale nach ein paar Steinwürfen vor der amerikanischen Botschaft im Drammensveien zum ersten Mal ins Visier des Sicherheitsdienstes geraten war. Während der christlich motivierte Sozialist Bremer gegen die amerikanische Bombardierung Nord-Vietnams protestierte, lautete der erste Überwachungsauftrag des Sozialdemokraten Hartmann, der gerade zum Kommissar des Überwachungsdienstes ernannt worden war, genau diesen Menschen unter Aufsicht zu halten. Jetzt waren die Rollen in vielerlei Hinsicht vertauscht: Bremer war der Anführer einer sehr amerikafreundlichen Auslandspolitik, während Hartmann mit den Jahren immer kritischer über das eigensinnige Auftreten der Amerikaner bei internationalen Konflikten dachte. Was das Steinewerfen anging, so war die längst in Vergessenheit geratene Episode wieder aufgetaucht, als Bremer zum Außenminister ernannt wurde. Die Zeitung Dagbladet hatte ein Foto des jungen Bremer abgedruckt, mit einem Pflasterstein in der Hand und kriegerischem Gesichtsausdruck. »Ja doch, den habe ich auf dem Bürgersteig gefunden, aber ich habe ihn nicht geworfen!«, sagte Bremer in einem Kommentar, der viele Journalisten an Bill Clintons legendäre Marihuana-Leugnung denken ließ: »Geraucht ja, aber nie inhaliert.«

Oper, Fechten. Bremers Freizeitinteressen waren eigentlich eine Farce, dachte Hartmann. Sie alle hatten ihre Wurzeln in einer vergangenen Zeit, in der sich sowohl die ethischen als auch die ästhetischen Ideale von denen der Jetztzeit unterschieden. Er hatte den alten Berufsdemonstranten unter Verdacht, diese Hobbys adoptiert zu haben, um sich in Kreisen Respekt zu verschaffen, zu denen er sonst nur mit Mühe Zugang gefunden hätte. Die weitsichtige Investierung eines jungen Radikalen für eine in ferner Zukunft liegende Gunst der Konservativen.

Natürlich hatte nichts von alledem zur Folge, dass Hartmann seinen Auftrag auf die leichte Schulter nahm. Sollte eine bedrohliche Situation entstehen, oblag es seiner Verantwortung, den Außenminister in Sicherheit zu bringen oder im schlimmsten Fall gegen einen eventuellen Attentäter zu verteidigen. Nach den Drohungen von Al-Qaida gegen Norwegen und dem Terroranschlag auf den unter norwegischer Flagge fahrenden Supertanker im persischen Golf wollte man kein Risiko eingehen.

Dabei war es in diesem Augenblick eigentlich Hartmann selbst, der Unterstützung gebraucht hätte – gegen den Schlaf. Er unterdrückte ein Gähnen und ärgerte sich, dass er sich vor Jahren hatte überreden lassen, an einem Grundkurs für Personenschutz teilzunehmen. Normalerweise arbeitete er in der Abteilung für Terrorabwehr des Sicherheitsdienstes, wo er die Verantwortung für die Abwehr von Terrordrohungen islamischer Extremisten hatte. Doch er musste ein wenig hinzuverdienen, um die Raten für sein Auto zu bezahlen – es war nicht gerade billig, in einem nagelneuen Range Rover herumzufahren –, und die Überstunden im Personenschutz hatten sich als eine Abkürzung zu schnell verdientem Geld erwiesen. Als Teil einer größeren Umstrukturierung des Sicherheitsdienstes im Jahr 2002 wurde der Personenschutz an die jeweiligen Polizeidienststellen übergeben. Hartmann hatte damals gefürchtet, dies würde das Ende seiner angenehmen Extraeinnahmen bedeuten, doch glücklicherweise wurde nach einer Weile beschlossen, dass Regierungschef und Außenminister weiterhin das Recht haben sollten, sich zusätzlich von den besonders ausgebildeten Spezialisten des PST schützen zu lassen. Seit dieses Spezialarrangement eingeführt worden war, hatte Bremer immer häufiger darum gebeten, dass der PST ihm dafür einen ganz bestimmten Beamten abstellte. Dieser Beamte war, paradoxerweise, sein früherer Schatten Jørgen Hartmann.

Sie hatten das Wikingschiffmuseum passiert und bogen vor dem Bygdøyhaus ein, einem großen, etwas verblichenen Steinhaus in der Huk Aveny 45, in dem der Bygdøy Fechtclub beheimatet war. Obwohl sie früh dran waren, standen bereits zahlreiche Autos vor dem Zaun der benachbarten Tennisanlage. Ein paar Mercedes, ein BMW, zwei teure Geländewagen amerikanischen Fabrikats. Fechten war vielleicht ein altmodischer, einfacher Sport, doch diejenigen, die ihn ausübten, schienen noch immer dem Geldadel der Gesellschaft anzugehören. Es war sicher kein Zufall, dass der wichtigste Fechtclub des Landes gerade hier auf Bygdøy lag. Ohne Zweifel der Postbezirk des ganzen Landes mit den meisten registrierten Millionären.

Hartmann war nicht wohl in seiner Haut. Seine Vorstellung von Sport war untrennbar mit den einfachen Trainingsverhältnissen der fünfziger Jahre im Boxclub der Arbeiterjugend verbunden, und er war der Ansicht, dass sich der Außenminister des Landes in einer Umgebung wie dieser nicht wohl fühlen sollte.

Aber was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Bremer war kein Snob und bestand darauf, seine Tasche mit den Sportsachen selber zu tragen. Der Degen war nicht dabei. Der wurde im Clubhaus aufbewahrt, erklärte er, eingeschlossen in einem Schrank mit einem speziellen Schlüssel. Hartmann folgte ihm zögernd in die Garderobe. Es missfiel ihm aufs Äußerste, wenn sein Personenschutzauftrag es notwendig machte, in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen. Manchmal hatte er seine »Objekte« sogar bis auf die Toilette begleiten müssen. Er erinnerte sich noch, wie peinlich es gewesen war, als er einen finnischen Staatsminister begleitet hatte, der extreme Schwierigkeiten beim Wasserlassen hatte. Minuten waren vergangen, ohne dass er das geringste Geräusch vernommen hatte, und schließlich hatte Hartmann all seinen Mut zusammengenommen und gefragt, ob alles in Ordnung sei. »Was glauben denn Sie, Sie Idiot?«, hatte der Staatsminister gedonnert. »Ich würde wohl kaum hier im Scheißhaus stehen und Luft pissen, wenn ich nicht ein Scheißproblem hätte!«

Sie waren in den Männerumkleideraum gekommen.

Einen Augenblick lang dachte Hartmann, Bremer geniere sich, weil er mit dabei war. Statt sich Mantel und Jacke auszuziehen, blieb er nämlich vor einem Garderobenschrank stehen und wartete. Die Sekunden vergingen. Nach einem Blick auf die Uhr sagte er erklärend:

»Wir sind ein bisschen früh.«

Im gleichen Moment hörten sie draußen ein Auto halten, dann das Klacken einer ins Schloss fallenden Tür.

»Da haben wir ihn«, sagte Bremer, begann aber noch immer nicht, sich umzuziehen.

Ein paar Sekunden später flog die Tür auf, und herein stürmte ein Mann, den Hartmann sofort erkannte. Das war Bremer! Oder etwas genauer: ein Mann, der Bremer beim ersten Hinsehen zum Verwechseln ähnlich sah, der aber trotzdem nicht Bremer war. Die Haare waren dunkler und die Nase kräftiger. Der Gang eine Spur geschmeidiger. Die Kerbe im Kinn nicht ganz so tief. Aber ansonsten war das meiste wie bei Bremer: die buschigen Augenbrauen, die klaren blauen Augen, das spitze Kinn und die vollen, fast femininen Lippen.

»Mein kleiner Bruder Christopher«, sagte Bremer mit einem Lächeln. Ganz offensichtlich genoss er den überraschten Gesichtsausdruck des erfahrenen Polizisten. Doch Hartmanns Überraschung war einstudiert: Es musste mehr als zwanzig Jahre her sein, dass er unfreiwillig Bekanntschaft mit dem Zwillingsbruder gemacht hatte, nachdem er einen ganzen langen Abend im Club 7 damit vergeudet hatte, die falsche Person zu observieren. »Chris war so liebenswürdig, mir anzubieten, heute Vormittag für mich den Degen zu führen.«

Der Bruder nickte und nahm Bremers Sporttasche. Ohne ein Wort zog er sich aus und streifte sich den Fechtanzug seines Bruders über. Als er fertig war, waren die beiden Männer beinahe identisch, und das bisschen, was es noch an Unterschieden gab, würde garantiert verschwinden, sobald erst die Netzmaske aufgesetzt worden war.

Bremer nickte seinem Bruder anerkennend zu.

»Eigentlich schade, dass du nicht ich bist! Wenn du ein bisschen gebildeter wärst, könnte ich dich als Stand-in für meinen nächsten Staatsbesuch in Libyen nutzen!«

»Du hast ihn doch eingeweiht?«, fragte der Bruder. »Schließlich ist es nicht er, den du mit diesem Possenspiel in die Irre führen willst.«

»Nicht in erster Linie, nein.« Bremer zwinkerte ihm zu. »Aber wer kann schon der Verlockung widerstehen, Isachsen einen Streich zu spielen?«

Der Bruder zuckte resignierend mit den Schultern und murmelte, dass das mal wieder typisch sei. Dann zog er sich die Netzmaske halb vor das Gesicht und ging zur Tür.

»Ich mache nur Witze«, rief ihm Bremer nach. »Natürlich weiß Isachsen, dass du nicht ich bist. Aber er weiß auch, dass er das nicht zeigen darf. Du solltest es ihm so leicht wie möglich machen!«

Der Bruder streckte den Daumen siegessicher nach oben und verschwand in den Trainingsraum, in dem Isachsen, ein früherer NATO-Botschafter mit reichlich Erfahrung, Staatsgeheimnisse zu bewahren, ungeduldig darauf wartete, die unerwartete Ehre zu haben, seinen Degen gegen den Doppelgänger des Außenministers zu erheben.

»Und somit wären wir wieder allein«, sagte Bremer und wandte sich Hartmann zu. »Kommen Sie, ich habe eine wichtige Verabredung hier im Haus. Im Sitzungszimmer im Obergeschoss. Unsere ausländischen Freunde warten schon seit Stunden; sie sind gestern Abend in Arlanda gelandet und haben die ganze Nacht im Auto gesessen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir haben das Gebäude für eine knappe Stunde für uns, es gilt also, keine Zeit zu verlieren. Sie müssen heute Vormittag noch nach Jerusalem zurück. Über Stockholm, Wien und Zypern. Aber in Oslo waren sie an diesem Wochenende nicht, nur, damit Sie mich richtig verstehen.«

Hartmann zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Wie Sie wünschen«, sagte er. »Und egal, was die Zeitungen schreiben, Sie haben an diesem schönen Vormittag nichts anderes getan, als mit Ihrem alten Freund Guttorm Isachsen im Bygdøyer Fechtclub zu trainieren!«

4

Sie fand Fliegen wunderbar. Nicht, weil es ihr das Gefühl gab, frei wie ein Vogel zu sein. Sie war kein freier Vogel. Aber während eines Fluges waren alle an ihren Sitzen festgeschnallt, und für das Erlebnis spielte es keine Rolle, ob man ein künstliches Bein hatte oder nicht. Und dann war da natürlich noch die Sache mit den Engeln, ihr neuestes Steckenpferd: Engel waren weder an Zeit noch Raum gebunden und bewegten sich frei in der Ewigkeit. Das würde auch ihr gefallen, dachte sie – und amüsierte sich im Stillen über einen Satz ihres neu entdeckten Helden Thomas von Aquin: »In uns findet sich nicht nur die Lust, die wir mit den Tieren gemein haben, sondern auch die Lust, die wir mit den Engeln gemein haben.« Das Vergnügen am Fliegen gehörte offensichtlich zur letzteren Kategorie.

Weit unter ihr erstreckte sich der Küstenstreifen der Finnmark mit seinen weißen Bergen und tiefblauen Fjorden. Sie wandte das Gesicht der niedrig stehenden Sonne zu, die knapp über die Berggipfel reichte. Man musste das gute Wetter nutzen, solange es währte. Der Wetterbericht hatte für den Süden kräftige Schneefälle vorhergesagt.

Sie war mit gemischten Gefühlen auf dem Weg nach Oslo, um für ihre Doktorarbeit zu recherchieren. Einerseits genoss sie den seltenen Luxus, dem alltäglichen Trott der Landarztpraxis zu entkommen, ohne an etwas anderes als sich selbst denken zu müssen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen war. Andererseits graute ihr davor, fremde Leute und Einrichtungen aufsuchen zu müssen, die ihr wenig Vertrauen einflößten: Bürokraten, Physiker, Offiziere. Sie rechnete mit dem einen oder anderen ungemütlichen Zusammenstoß, weil sie in einer Angelegenheit Auskünfte von ihnen haben wollte, an die unter Garantie keiner von ihnen gern erinnert wurde. Es ging um den viel zu frühen Tod ihres Vaters und zweier naher Verwandter Ende der Siebziger. Damals war sie knapp sechs Jahre alt gewesen.

Wie viel Zeit sie schon investiert hatte, um diesem Mysterium auf den Grund zu gehen! Die drei Männer waren im Laufe von nur anderthalb Jahren aus dem Leben gerissen worden. Zuerst Onkel Sverre, der Bruder ihrer Mutter, mit gerade mal 40 Jahren, kurz darauf sein drei Jahre jüngerer Bruder Trond, und am Ende Ståle, ihr Vater, der damals ein paar Jahre älter als Trond war. Die Diagnose hatte für alle drei gleich gelautet: Krebs. Niemand aus der Familie hatte herauszufinden versucht, an welcher Art von Krebs sie gestorben waren. Wahrscheinlich, weil sie zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr am selben Ort wohnten. Onkel Sverre hatte ein Mädchen aus Sunnmøre geheiratet und war nach Ålesund gezogen. Sein jüngerer Bruder Trond hatte in Amerika sein Glück gesucht und war als Kapitän eines Garnelentrawlers zu Geld gekommen. Nur ihr Vater war in Bakfjordeid geblieben. Zum Zeitpunkt ihres Todes waren die drei in alle Winde verstreut, und wahrscheinlich war die Diagnose Krebs an sich schon so erschütternd, dass keiner aus dem engeren Familienkreis darauf kam, nachzufragen und Details in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, über mögliche Ursachen zu spekulieren.

Erst viele Jahre später, als sie in Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit das Datenmaterial des Krebsregisters durchging – speziell von Krebserkrankungen bei Männern, die nach dem Krieg in der Finnmark geboren und aufgewachsen waren –, wurde ihr bewusst, dass ihr Vater und die beiden Onkel nicht nur ungefähr zum gleichen Zeitpunkt gestorben, sondern darüber hinaus auch noch von exakt der gleichen Krebsart befallen worden waren: Schilddrüsenkrebs, der auf andere lebenswichtige Organe übergegriffen hatte.

Ihrem ersten Impuls folgend, suchte sie Rolv Bremnes auf, pensionierter Distriktsarzt in Bakfjordeid, der die beiden Brüder ihre gesamte Jugend hindurch behandelt hatte, und der am Ende auch die Krankheit bei ihrem Vater festgestellt hatte. Bremnes war inzwischen ein rotwangiger Mann mit leicht getrübtem Blick, der gern einen über den Durst trank. Aber an seinem Gedächtnis war nichts auszusetzen. Er war aufrichtig erstaunt, als sie ihm ihre Vermutung mitteilte. Das sei ihm vollkommen neu, sagte er, und fügte amüsiert hinzu, dass er sich allerdings auch nie die Mühe gemacht habe, sich über den Gesundheitszustand der Weggezogenen auf dem Laufenden zu halten, geschweige denn, woran sie gestorben waren. Er räumte allerdings ein, dass es in diesem Fall durchaus interessant wäre, auf eine entsprechende Statistik zurückgreifen zu können. Auf ihre Frage, ob er zwischen den drei Todesfällen einen Zusammenhang sehe, antwortete er, dass alle drei dem gleichen Laster gefrönt hätten: dem Kautabak.

Sie hatte nur schwerlich ernst bleiben können, als er das sagte. Der alte, angetrunkene Mann konnte einem Leid tun. Das war die typische Diagnose nach jahrelanger, beruflicher Isolation und ebenso langer, nicht hundertprozentiger Kompensation durch den Genuss von Gin Tonic. Aber in einem Punkt war sie geneigt, ihm zuzustimmen: Es musste einen Zusammenhang geben. Eine gemeinsame Ursache. Etwas, das sie gegessen oder eingenommen hatten oder dem sie alle drei ausgesetzt waren, während die übrigen Bewohner des Bezirks davon verschont geblieben waren. Die Tatsache, dass niemand sonst in dem Bezirk erkrankt war, legte nahe, dass die Erklärung wohl kaum in dem radioaktiven Fallout der Atombombentests in den 60er und 70er Jahren zu finden war. Andererseits war es schlicht und ergreifend unwahrscheinlich, dass drei Männer gleichen Alters, die gemeinsam in einer kleinen Küstengemeinde in Ost-Finnmark aufgewachsen waren, rein zufällig von der gleichen, tödlichen Krankheit befallen worden und im Laufe von knapp achtzehn Monaten dahingerafft worden waren. Ende der 70er Jahre wurden landesweit pro Jahr weniger als 50 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Männern registriert, warum ausgerechnet diese Ballung in ihrem engsten Familienkreis? Sie hatte sich vorgenommen, die Antwort zu finden, und sie hatte ihre Vermutungen, wo es zu suchen galt. Darum auch der Ausflug nach Oslo und der damit verbundene Besuch im FFI, dem Militärischen Forschungsinstitut in Kjeller. Sie machte sich keine Illusionen, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber irgendwo musste sie schließlich anfangen, wenn sie die vielen losen Fäden bis zum Ende verfolgen wollte.

Nach Oslo wartete noch eine andere, längere Reise, auf die sie sich schon lange freute: Sie wollte nach Moskau.

Sie öffnete die Aktentasche und nahm das Antragsformular für das Visum der russischen Botschaft heraus. Es war gestern mit der Post gekommen, und sie wollte es während ihres Aufenthaltes in Oslo abgeben. In dem Begleitschreiben stand, dass der Antrag bei persönlichem Erscheinen zügiger bearbeitet werden könne.

Da sie ein systematischer Mensch war, füllte sie die Spalten der Reihe nach aus, von der ersten Zeile bis zur Unterschrift auf der untersten Linie. Den Ordnungssinn hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Ihr Vater, den sie über alles auf der Welt geliebt hatte, war ein begnadeter Chaot gewesen.

Sie füllte die erste Zeile aus.

Present citizenship: Norwegian.

Surname: Abildsø. Das war der Name der kleinen Insel in Nordland, wo die Familie ihres Vaters gelebt hatte, bevor der Ururgroßvater im ausgehenden 19. Jahrhundert weiter in den Norden gezogen war, nach Ingøy in West-Finnmark, um in der Walfangindustrie in Mafjord zu arbeiten. Sie war stolz auf ihren Nachnamen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass jemand ihn gestohlen und eine U-Bahn-Station in Oslo danach benannt hatte.

First name: Ulla.

If changed, your surname, name (names) and patronymic before the change: Leerstelle. Es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, ihren Nachnamen zu wechseln.

Nachdem sie die Kästchen für Geburtsjahr und Geschlecht ausgefüllt hatte, wurde sie aufgefordert, den Zweck ihrer Reise nach Russland darzulegen. Sie dachte an die Warnung in der linken oberen Ecke, dass falsche Angaben ein Einreiseverbot oder die Ausweisung von russischem Territorium zur Folge haben könnten. Das kleine freie Kästchen hinter der Frage ließ keine längeren Ausführungen zu. Ein Wort musste reichen: »Business«, schrieb sie. Sollte sie an der Passkontrolle gefragt werden, würde sie erklären, dass sie zu einem Kongress über gesundheitliche und genetische Auswirkungen radioaktiver Strahlung eingeladen war. Sie war Ärztin und hatte mehrere Jahre über die medizinischen Langzeitwirkungen der Atombombentests in den 60er und 70er Jahren für die Bevölkerung in Nord-Norwegen geforscht, speziell bei den Rentiersamen.

Sie faltete das Antragsformular vorsichtig zusammen und schob es mit drei Passfotos und einer Kopie des Einladungsbriefes der russischen Wissenschaftsakademie in einen braunen Umschlag. Die Einladung war vom Akademiemitglied Dr. Svetlana Jegorova unterzeichnet, einer herausragenden Radiologin mit dem Ansatz eines Oberlippenbartes. Ulla hatte sie vor ein paar Jahren bei einer Konferenz in Boston kennen gelernt. Dr. Jegorova hatte jüngst eine Studie über die Bewohner Majaks durchgeführt, eines kleinen Ortes in Nord-Russland, wo seit Mitte der 50er Jahre Plutonium für die sowjetische Kernwaffenindustrie produziert wurde und wo es mehrere größere Strahlenunfälle gegeben hatte. Die beiden Frauen hatten statistische und medizinische Daten ausgetauscht und im vergangenen Jahr in regelmäßigem Kontakt gestanden. Ulla war gespannt, zu welchen Ergebnissen Jegorova gekommen war.

Aber bis zur Moskaureise waren es noch drei Wochen. Jetzt wollte sie nach Oslo, um in alten Unterlagen zu wühlen – voller Lügen, befürchtete sie – und einige Schlüsselfiguren zu interviewen, solange sie noch lebten. Zeitzeugen, sozusagen. In ihren Albträumen starben sie an Altersschwäche, Langeweile oder Furcht um den eigenen Ruf, bevor Ulla die wichtigen Informationen aus ihnen herausquetschen konnte.

Das Flugzeug neigte sich zur Seite. Unter ihr zeigte sich die karge Küstenlandschaft in sonnenvergoldeter Pracht. Zwischen den Inseln waren Fischkutter auf dem Weg zu oder von den Fischgründen auf dem offenen Meer. An einigen Stellen mussten sie die großen, kreisförmig angelegten Fischfarmen umfahren, die wie gigantische Handschellen vor den Fjordmündungen lagen.

Sie wusste, dass das Leben dort unten auf dem Boden längst nicht so idyllisch war, wie die wunderschöne Landschaft es einem vorgaukelte. Dort unten gab es Grenzen und Sperren, die aus der Luft nicht zu sehen waren.

Allein der Gedanke daran stimmte sie traurig.

Ihre eigene Kindheit war von einem mentalen Hochspannungszaun zerschnitten gewesen, den niemand sehen konnte, der einen aber umhaute, sobald man ihn berührte. Anfang der siebziger Jahre brach in der kleinen Gemeinde Bakfjordeid in Ost-Finnmark, wo sie aufgewachsen war, ein unversöhnlicher Streit zwischen den so genannten »Freunden«, konservativen Læstadianern, und einer Gruppe Abtrünniger, den »Tabernaklern«, aus. In dem vorrangig religiösen Streit schwangen deutlich politische Untertöne mit: Die Læstadianer unterstützten die Arbeiterbewegung, die Tabernakler die Christliche Volkspartei. Der endgültige Bruch kam mit dem Abtreibungsgesetz und der Emanzipationsbewegung. Die Tabernakler weigerten sich, mit einer Partei zusammenzuarbeiten, die straffreie Abtreibung und Geschlechterquotenregelung in ihrem Programm hatte, weil sie sich damit gegen Gottes Willen auflehnte. Ihr Vater wiederum und mit ihm seine Glaubensgenossen bei den »Freunden« warfen den Tabernaklern vor, von Solidarität mit den Schwachen zu reden, zugleich aber aus Prinzip jede unglückliche Frau zu verdammen, die sich nicht in der Lage sah, ein Kind in die Welt zu setzen.

Es waren Fragen wie diese, die die vormals zusammengeschweißten Læstadianergemeinden in Nord- und Ost-Finnmark spalteten. In Ullas Familie waren die Grenzpfeiler mitten ins Ehebett der Eltern geschlagen worden; ihre Mutter und ihr Vater standen in dem Streit auf verschiedenen Seiten. Erstaunlicherweise war ihre Mutter die konservative Verteidigerin der existierenden Ordnung. Für sie war Abtreibung eine Todsünde und die Frauenbewegung ein Missverständnis. In ihren Augen bedeutete Freiheit, die Möglichkeiten zu ergreifen und die Pflichten zu erfüllen, die einem in der von Gott gegebenen, sozial-religiösen Hierarchie zugeteilt worden waren.

In den Jahren vor Ullas Geburt hatten ihre Eltern sich mehr und mehr auseinander gelebt. Der kritische Punkt war erreicht, als ihr Vater 1973 für die Arbeiterpartei kandidierte, die im gleichen Jahr beschlossen hatte, das freie Recht auf Abtreibung in ihr Programm aufzunehmen. Wenige Monate nach der Parlamentswahl war ihre Mutter schwanger geworden, und ihre Eltern hatten einen letzten, tapferen Versuch unternommen, wieder zueinander zu finden. Es musste für beide eine schreckliche Zeit gewesen sein. Denn ihrer großen Liebe zum Trotz, die sie füreinander empfanden, war ihre Beziehung zwischen den stummen Anklagen und misstrauischen Fragen erdrückt worden.

Das Flugzeug beschrieb einen Bogen nach Osten. Die märchenhafte Schönheit der Küstenlandschaft traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Der Anblick war so harmonisch und friedlich, dass sie sich auf die Unterlippe beißen musste, um sich zu vergewissern, dass es wahr war.

Und dann wurde ihr klar: Es war nicht wahr. Die Wirklichkeit war eine andere. Die Naturidylle machte es einem schwer, die unversöhnlichen religiösen, sozialen und persönlichen Widersprüche zu erkennen, die das Leben in den vielen kleinen Insel- und Küstenorten prägten, die sie gerade überflog. Aber das bedeutete nicht, dass es sie nicht gab. Es war ein wenig wie beim radioaktiven Fallout nach Atomtests, auf dessen Erforschung sie so viel Zeit und Kraft verwendet hatte. Der war auch nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen, weder aus der Luft noch vom Boden aus. Aber für all die, die an Orten lebten, wo die Wind- und Wetterverhältnisse ungünstig gewesen waren, konnte das unsichtbare, geruchs- und geschmacksfreie Gift, das keine Schmerzen verursachte, äußerst tragische Konsequenzen haben.

Ohne die zerstörerische Kraft der Religion auf die Liebe, dachte sie, hätten ihre Eltern nie aufgehört, einander zu lieben. Und ohne die zerstörerische Kraft der Radioaktivität auf alles organische Leben wäre ihr Vater vielleicht noch am Leben.

Sie wurde von der Stewardess aus ihren finsteren Gedanken gerissen, die lächelnd fragte, ob sie Tee oder Kaffee haben wolle.

»Keins von beiden, danke«, antwortete sie. »Ich trinke vor dem Abend nie etwas Warmes. Aber wäre es möglich, dass Sie mir vielleicht ein Glas Rotwein zum Frühstück bringen?«

Die Stewardess zögerte gerade lange genug, dass Ulla erklärend hinzufügen konnte:

»Ich versuche nur, mich an eine der weisesten Empfehlungen des heiligen Thomas von Aquin zu halten: ›Wenn einer vorsätzlich so große Enthaltsamkeit vom Weine übt, gegen seine Natur, dann kann er nicht frei von Sünde sein!‹«

Die Stewardess lächelte und versprach, ihr eine Viertelliterflasche Casillero de Diablo zu bringen.

5

Der Polizist ist in Ordnung, dachte Gerhard, auch wenn er keine Uniform trägt und eher wie ein wohlgenährter Bäcker aussieht. Er hatte alle möglichen Dinge gefragt, aber manches hatte ihn gar nicht interessiert. Zum Beispiel das mit dem Messer. Nicht eine Frage zu dem Messer hatte er gestellt, obwohl er mehrere Stunden da gewesen war, um sie auszufragen. Erst den Vater. Dann die Mutter. Dann Gerhard. Das muss man sich mal vorstellen. Sie waren zu ihm gekommen, bevor sie zu seinem großen Bruder Arnfinn gegangen waren. Und mit Arnfinn, dem Armen, haben sie sich höchstens ein paar Minuten abgegeben.

Sie, das waren der Polizeibeamte und sein Assistent. Und der Distriktsarzt, Doktor Frihagen. Der Polizist hieß Moe, Svein Moe. Er arbeitete schon ewig in diesem Bezirk, alle Kinder kannten ihn und wussten seinen Namen. Aber der Assistent war neu. Er hieß Karlsen, oder so ähnlich. Gerhard konnte sich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Er war jung, auf alle Fälle jünger als Vater, hatte aber bereits eine Glatze. Und einen Bart hatte er auch nicht. Er war nicht sehr gesprächig und hatte Gerhard nur eine Frage gestellt:

»Hast du keinen Schreck gekriegt, als du ihn gefunden hast?«

»Einen Schreck?« Gerhard war sich nicht ganz sicher, ob er verstand, wie die Frage gemeint war. »’n bisschen vielleicht. Aber der hat ja nichts gesagt.«

»Ich dachte eher, weil du ihn vielleicht kanntest?«

Gerhard schüttelte den Kopf.

»Nö, darum nich.«

Aber was ihm Angst gemacht hatte, wollte er nicht sagen: dass der Mann womöglich noch lebte und seinem Vater erzählen könnte, wie schlampig Gerhard mit dem Messer umgegangen war.

»Schon gut«, sagte der Assistent. »Wir können uns ja ein andermal weiter unterhalten.«

Dazu hatte Gerhard keine Lust, aber das sagte er nicht laut. Er nickte nur, und damit war das Gespräch beendet.

Da war der Polizist schon netter, obwohl der schrecklich neugierig war. Er wollte genau wissen, wie der Mann im Wasser gelegen hatte, als Gerhard ihn fand. Und dann wollte er noch wissen, was nach Gerhards Meinung geschehen war, und darauf antwortete Gerhard wahrheitsgemäß, dass er es nicht wüsste.

»Aber was glaubst du?«, bohrte der Polizist nach. »Dass er am Ruder eingeschlafen und über Bord gegangen ist?«

Nein, das glaubte er nicht.

»Warum nicht?«, fragte der Polizist.

»Die Augen«, erklärte Gerhard. »Die war’n so groß und ängstlich. Ich glaub, der hatte dolle Angst.«

In dem Augenblick hatte Doktor Frihagen gerufen, Moe solle zum Ende kommen, es handele sich ganz sicher nicht um einen Unfall.

»Der Mann wurde erschossen, zum Teufel«, triumphierte er. »Das Projektil ist hier eingedrungen!« Er zeigte auf einen Fleck am Haaransatz im Nacken. »Verflucht, der hatte noch nicht mal Zeit zum Erfrieren, bevor er tot war!«

»Kannst du einigermaßen sicher sagen, wann das war?«

Nein, über den genauen Todeszeitpunkt wollte der Doktor nicht spekulieren. Wenn das Wasser so kalt war wie jetzt, schritt die Verwesung nur langsam voran. Der Tote konnte einen Tag im Wasser gelegen haben, vielleicht auch zwei. Oder nur ein paar Stunden.

»Er muss obduziert werden, ehe wir etwas Genaueres sagen können.«

Der Polizist nickte. Aber dann wollte er erst einmal etwas anderes wissen. »Was meinst du, Doktor, wurde der Schuss aus nächster Nähe abgegeben oder von weiter weg? Gibt es Hinweise auf einen Kampf?«

Auch dazu wollte der Distriktsarzt noch nichts Endgültiges sagen. Die Haut war über dem einen Wangenknochen zwar etwas dunkler, und das könnte durchaus von einem Schlag herrühren. Es konnte sich aber auch um eine natürliche Hautveränderung handeln. Andererseits gab es bei einem plötzlichen Temperaturabfall selten nennenswerte Blutergüsse.

»Wir werden den Rettungshubschrauber anfordern müssen«, sagte Frihagen entschieden. »Diesen Burschen muss sich der Gerichtsmediziner vornehmen.«

»Ist das wirklich nötig? Wozu braucht ein Toter einen Rettungshubschrauber?«

»Ich dachte da eher an was anderes«, sagte der Distriktsarzt. »Vernichtung von Beweismaterial. Bei Raumtemperatur dauert es nicht lange, bis die Verwesung einsetzt.«

»Dann sollten wir ihn vielleicht besser in den Schuppen legen. Da ist es kalt und trocken.«

Sie waren sich einig, dass das wohl die beste Lösung wäre. Niemand wusste, wie lange es dauern würde, bis der Helikopter vor Ort war. Er kam den weiten Weg aus Alta. Die eigentliche Flugstrecke betrug eine halbe Stunde, aber sie mussten damit rechnen, dass gerade kein freier Helikopter aufzutreiben war. Der Polizist rief seinen Assistenten zu sich, der in der Küche mit Gerhards Eltern sprach. Nachdem die drei Männer eine Weile konferiert hatten, riefen sie den Vater zu sich.

»Vier Männer sind besser als drei«, erklärte der Polizist.

Sie bückten sich und wollten den Toten gerade hochheben, als der Assistent sagte:

»Sollten wir nicht vorher noch seine Kleider durchsuchen? Ich mein ja nur, um nicht zu riskieren, dass beim Transport was rausfällt und verschwindet.«

Moe bekam einen scharfen Zug um den Mund. Seine Augenbrauen schoben sich über der Nasenwurzel aufeinander zu. In seinem Versteck im Sessel kam es Gerhard so vor, als wäre der Polizist sauer, als er antwortete.

»Und was, bitte schön, soll er in der Tasche haben?«

Dennoch gab Moe mit einem Nicken das Zeichen, den Toten wieder auf den Boden zu legen. Er begann mit der Leibesvisitation der Leiche. Kleidungsstück für Kleidungsstück, Tasche für Tasche. Eine Weile sah es so aus, als würde er Recht behalten. Die Taschen des Mannes gaben nicht viel her, und das wenige, was er bei sich trug, war weder besonders außergewöhnlich noch sonderlich geeignet, Licht in die Sache zu bringen: ein gelbes Plastikfeuerzeug, ein Päckchen Teddy ohne Filter, ein Schlüsselring mit zwei Schlüsseln, ein paar zusammengeklebte Lutschbonbons, ein Zahnstocher aus weißem Kunststoff.

»Keine Brieftasche?«, fragte der Assistent.

Der Polizist schüttelte den Kopf.

»Nein, wozu braucht man auf dem Meer eine Brieftasche?«

»Die meisten Fischer haben ja wohl irgendeine Plastikkarte bei sich, wenn sie unterwegs sind. Davon kann man ausgehen. Die Leute müssen sich doch ausweisen, falls irgendwas passiert.«

»Die ist dann wohl im Boot.«

Der Polizist legte die Gegenstände in einen Gefrierbeutel, den Gerhards Vater aus der Küche geholt hatte. Er schob den Beutel in die Außentasche der Steppjacke und bückte sich, um die Plane wieder hochzuheben, als der Assistent ihn ein zweites Mal zurückhielt.

»Sie haben die Brusttasche vergessen, Chef«, sagte er. »Sieht aus, als wäre da noch was drin, wenn Sie mich fragen.«

Er hatte Recht. In der Brusttasche steckte etwas.

Gerhard konnte sehen, dass der Polizist bis an die Ohren rot wurde, aber er wusste nicht, ob aus Verlegenheit oder Wut. Jedenfalls zog er den Reißverschluss der Brusttasche auf und nahm eine runde Metalldose heraus, ein bisschen größer als die für Schuhcreme. Er klopfte mit den Knöcheln darauf, als wollte er den anderen zeigen, wie solide sie war.

»Stahl«, sagte er. »Oder Blei. Schwer jedenfalls. Fühlt mal ...«

Er gab die Dose weiter – nicht an seinen Assistenten, sondern an Doktor Frihagen.

»Sieh doch bitte mal nach, was drin ist. Karlsen ist so gespannt, dass er kaum still stehen kann.«

»Bestimmt nur eine Prise Kautabak«, sagte der Assistent. Er war plötzlich gar nicht mehr so an der Sache interessiert. Wahrscheinlich hatte er was anderes erwartet. Eine Brieftasche oder einen Flachmann. Oder vielleicht ein Messer.

Die Dose hatte einen Schraubdeckel, der sich problemlos öffnen ließ, ohne dass Frihagen sich anstrengen brauchte.

»Was ist denn das?«, rief er überrascht und hielt die Dose so, dass die anderen es auch sehen konnten. »Rauschgift?«

Der Polizist schnappte blitzschnell zu und hielt den kleinen durchsichtigen Plastikbeutel gegen das Licht. Von Gerhards Aussichtsposten sah es aus, als enthielte der Plastikbeutel winzige, silbrig glänzende Schmucksteine.

»Was meinst du, Doktor?«, fragte Moe, offenbar im Unklaren darüber, worum es sich handeln könnte.

Frihagen rieb den Beutel vorsichtig zwischen den Fingern.

»Jedenfalls kein organisches oder pflanzliches Material, so viel ist sicher. Eher ein Metall, würde ich sagen. Hart wie Flint.«

»Darf ich auch mal«, sagte der Assistent. »Mir geht da grad was durch den Kopf.«

Der Polizist nickte gemessen, als Zeichen, dass Karlsen den Beutel auch mal anfassen durfte. Gnädigerweise.

»Verflixt«, platzte Karlsen aufgeregt heraus. »Fällt Ihnen was auf? Die sind warm!«

Das mussten die anderen natürlich sofort nachprüfen.

»Eigenartig«, sagte Moe. »Ich glaube fast, Sie haben Recht.« Er blickte verwirrt zum Doktor. »Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass wir sofort Hammerfest anrufen müssen«, erklärte Frihagen. Nach der großen Umstrukturierung 2002 war der Polizeipräsident von Hammerfest der offizielle Repräsentant des polizeilichen Sicherheitsdienstes in West-Finnmark. »Einverstanden, Karlsen?«

Der Assistent nickte ernst.

»Wenn ich das, was ich im letzten Jahr im Kurs zur Proliferation gelernt habe, nicht falsch verstanden habe, enthält dieser Beutel einen der begehrtesten Giftstoffe, die wir kennen. Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung ist es nicht gefährlich, mit dem Stoff in Berührung zu kommen. Schlucken ist sehr viel gefährlicher. Aber der wahnsinnige Marktwert dieses Stoffes hat nichts damit zu tun, dass es sich um Gift handelt.«

»Sondern?« Moe kam offensichtlich nicht ganz mit.

Sein Assistent klopfte ihm auf die Schulter.

»Gut, dass Sie die Kleider untersucht haben, Chef. Das hätte einen schönen Eindruck gemacht, wenn wir den Kerl mit der Brusttasche voll Plutonium zur Obduktion geschickt hätten!«

6

Plötzlich war alle Welt gekommen und hatte nach ihm gesehen. Katarina – das war keine Überraschung, nach all der Zeit, die sie neben ihm im Flugzeug aus Oslo gesessen und seine Hand gehalten hatte, bis er in den Operationssaal geschoben worden war. Aber die anderen! Mein Gott, was sie nicht alles unternommen hatten, um ihm eine Freude zu machen! Sie waren alle gekommen: Carl-Christian, ihr Ältester. Alex, also Alexander Bonnevie, der schwedische Zauberer und Forscherkollege, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Borgar, Fürst von Kretsen. Einar Westerlund, sein bester Freund seit der Schulzeit. Und natürlich Professor Yaacov Adler, die Antwort des Nahen Ostens auf Dr. Barnard; eine ganze Gruppe von Medizinstudenten, deren Anblick ihn nicht gar so erbaute – der Wissensdurst in ihren Augen verriet, dass sie ihm vielleicht nicht wirklich gute Besserung wünschten – sowie drei kastanienbraune Verlockungen in weißblauen Uniformen. Besonders die Brünette mit dem russischen Akzent – Naomi Hirsch stand auf dem Namensschild auf ihrer Brust – schien ein herzensguter Mensch zu sein, den man gern näher an sich heranließ. Doch allen voran: Dr. Abrasha Schwartz. Oder Abby, wie ihn Werner und die anderen Studienkollegen des Massachusetts Institute of Technology in Boston genannt hatten. Auch das lag schon ein ganzes Leben zurück. Doch Abby war und blieb derselbe. Und jetzt hatte er sein Leben gerettet. Genauer gesagt: dafür gesorgt, ihn hierher zu bringen, wo es Hilfe gab, damit er nicht zu Hause in der Warteschlange auf ein neues Herz sterben musste. Einen kurzen Moment lang hatte er Augenkontakt mit Abby, und dieser Blick hatte alle Worte überflüssig gemacht. Sie waren seit der Studienzeit befreundet, hatten große Dinge gemeinsam erreicht und kannten einander von Grund auf. Beide wussten, dass der Dienst des einen des anderen wert war, und dass wirkliche Freunde nie miteinander quitt waren, sondern sich gegenseitig lebenslange Dankbarkeit schuldeten.

Auf einmal begannen alle, durcheinander zu reden. Die einen auf Englisch, die anderen auf Norwegisch, und hinten an der Tür flüsterten die Studenten auf Hebräisch. Wenn er darauf vertrauen konnte, was die Menschen in seiner Gegenwart sagten, war er in verblüffend guter Form. Gesünder als ein gewöhnlicher Blinddarmpatient, meinte einer der Pfleger, während Carl-Christian wie gewöhnlich übertreiben musste und behauptete, er sähe jünger aus als auf seinem Hochzeitsfoto. Das war so albern, dass es ihn nicht einmal wütend stimmte. Die Fotografie stand in einem Silberrahmen zuhause in Frogner auf dem Kaminsims. Auf dem Foto war er dreiundzwanzig Jahre alt, sonnengebräunt und strotzend vor Kraft nach ein paar guten Jahren bei den Wettkampfruderern des MIT. Der Smoking saß perfekt und passte wie maßgeschneidert zu dem freimütigen Schnurrbart und dem blauschwarzen Bürstenschnitt. Wenn er nur einen Teil dieser draufgängerischen Vitalität bewahrt hätte, wäre er niemals hier gelandet – auf dem Rücken in einem Krankenbett in einem fremden Land mit dem Herz eines fremden Menschen in seiner Brust.

Katarina nickte zustimmend zu der absurden Übertreibung ihres Sohnes – auch wenn mit dicken Lettern auf ihrer Stirn zu lesen war, dass sein elender Zustand sie beunruhigte.

»Carl-Christian hat Recht«, stimmte sie ihm zu, »nur der Bart fehlt!«

Er erinnerte sie daran, dass es nicht gut war, zu lügen, insbesondere nicht vor Kranken und Alten. Katarinas Schultern sackten bei seinen Worten etwas nach unten, doch sein bester Freund, Einar Westerlund, der ewige Schlichter, war sogleich zur Stelle.

»Wenn es einen Ort gibt, an dem man lügen darf, Fritz, dann vor dem Krankenbett einer postoperativen Abteilung. Habe ich nicht Recht, Dr. Adler?«

Doktor Adler, der sonst immer so auf die Ehrlichkeit zwischen Arzt und Patient pochte, brachte es nicht übers Herz, ihm zu widersprechen. »Lassen wir es mal so stehen«, sagte er entwaffnend. »Bei kranken Menschen bewirkt eine fromme Lüge oft größere Wunder als ein ausgestelltes Rezept.«

Alle lachten, doch da schien Katarina auf einmal der Ansicht, die Stimmung sei zu gelöst. Schließlich befänden sie sich nicht auf der Entbindungsstation, sondern in einem Überwachungsraum der Herzchirurgie.

»Wir sollten ein wenig leiser sein«, sagte sie. »Das sollte doch eine Art Ruhezone sein.«

Obwohl er nicht verstand, was das jetzt damit zu tun hatte, widersprach ihr Werner nicht. Katarina hatte ihm damit den willkommenen Vorwand gegeben, dem allgemeinen Besuch ein Ende zu setzen. Die Narkose steckte ihm noch in den Gliedern, und er fühlte sich elend. Während des Gesprächs hatte er gespürt, wie wenig es brauchte, um ihm Gefühle zu entlocken; das Lachen saß locker, und seine Augen wurden feucht. Es gelang ihm gerade noch, die Tränen zurückzuhalten, als sich Katarina vor aller Augen auf seine Bettkante setzte, die Mundbinde nach unten streifte und ihm einen feuchten Kuss auf das Kinn gab (Mund und Lippen waren aufgrund der Infektionsgefahr tabu).

»Lieber Fritz, jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen, ob dein Herz für mich schlägt«, sagte sie. Eine seltene Innerlichkeit war in ihrer Stimme, als sie das sagte. »Ich muss einfach nur meine Hand auf deine Brust legen – so –, und dann spüre ich, dass es stimmt!«

Doch, das alles war wirklich schön. Seine geliebte Katarina war eine Meisterin der Verstellung und der eingeübten Spontaneität. Nicht einmal an einem solchen Tag, an dem er auf dem Präsentierteller des Todes lag, gelang es ihr, sich von der Rolle der hingebungsvollen Ehefrau zu befreien. Sie beide waren unverbesserlich. Hätte sie nicht einfach ein paar mutige Tränen weinen können und sagen, was wahr war: dass sie sich freute, bald herausfinden zu können, wie weit ihn sein krankes Herz im Bett gehemmt hatte!

Es war im Übrigen ein ungewöhnlich großes Herz, hatte Doktor Adler gesagt. Eine der zahlreichen unerklärlichen Abnormitäten der Medizin – ein so genanntes Ochsenherz.

»Und draußen«, hörte er sich selbst fragen, wobei er unmerklich in Richtung Fenster nickte. »Hat das Morden ein Ende?«

Es wurde still um ihn herum. Durch die Stille drangen die fernen Geräusche der Stadt. Das Brummen von Motoren. Sirenen. Wütende Rufe. Eine plötzliche Gewehrsalve, die nicht beantwortet wurde.

»Oh, es geht noch immer weiter. Sieht ganz so aus, als verfolge die Roadmap für den Frieden ein ganz anderes Ziel: nämlich Israelis und Palästinenser noch mehr gegeneinander aufzuhetzen. Zwei neue Selbstmordaktionen allein am heutigen Tag«, sagte Adler. »Und heute Nacht werden wir das sicher mit Bombenangriffen auf ausgewählte palästinensische Ziele vergelten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das Ganze ist eine einzige Katastrophe.«

»Die bekommen, was sie verdienen«, sagte Abrasha Schwartz. »Wenn sie keinen Frieden wollen, dürfen sie sich nicht beschweren, wenn sie Krieg bekommen.«

»Die toten Kinder sind so schrecklich«, seufzte Katarina. »Aber wir wissen ja, wer der Schuldige ist. Wir wissen, wer es seit zehn Jahren in der Hand hat, einfach ›Stopp‹ zu sagen, ›Werft nicht den ersten Stein, bleibt zu Hause‹, es aber nie getan hat.« Sie drehte sich schnell zu Doktor Adler um. »Gott verbietet mir solche Worte, aber ihn hättet ihr erschießen sollen!«

Borgar Fürst breitete resigniert die Arme aus.

»Und Norwegen hat ihm den Friedensnobelpreis verliehen!«

»Erinnern Sie mich nicht daran«, sagte Katarina.

»Halten Sie mich da heraus, bitte«, sagte Adler plötzlich. »Ich habe den Oslo-Prozess unterstützt. Und ich glaube, Arafat wollte niemals, was jetzt passiert. Die Frage ist bloß, ob er noch Einfluss hat.«

Wieder waren draußen in weiter Ferne Gewehrsalven zu hören.

»Worin wir uns wohl alle einig sind«, sagte Schwartz, »ist, dass unser lieber Freund, Fritz Emil, Ruhe braucht. Verschonen wir ihn deshalb mit dieser Diskussion, die uns so oder so nicht weiterbringt. Im Übrigen bin ich sicher nicht der Einzige, der denkt, dass der Oslo-Prozess nicht gerade Norwegens wichtigster Beitrag zum Frieden im Nahen Osten war.«

Es entstand eine kleine Pause, doch dieses Mal waren weder Schüsse noch Schreie zu hören.

Alle warteten darauf, dass Werner etwas sagte, doch nachdem eine Minute vergangen war, ohne dass er die Augen geöffnet oder ein Wort gesagt hatte, erkannten sie, dass er schlief.

7

Doktor Frihagen war zu einem Krankenbesuch zu einer alten, allein stehenden Frau im Inselinneren gefahren, doch sowohl der Polizeibeamte als auch sein Assistent waren geblieben, um auf den Helikopter zu warten. Jetzt saßen sie in dem kleinen Wohnzimmer und genossen eine Tasse Kaffee und die Reste der vorjährigen Weihnachtsbäckerei, die die Mutter mit Gerhards Hilfe auf den Tisch gestellt hatte. Von den ursprünglich sieben Kekssorten waren nur noch die Sorten übrig, die Gerhard am wenigsten mochte, weshalb er durchtrieben grinste, als er sah, wie die Gäste zugriffen.

»Ist vielleicht eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen?«, fragte Moe. »Wenn der Mensch seit gestern oder vorgestern im Wasser gelegen hat, sollte man doch annehmen, dass er bald von jemandem vermisst wird.«

Nein, Karlsen konnte sich an keine Vermisstenmeldung erinnern, und eine rasche Nachfrage in der Nachbargemeinde ergab, dass er sich richtig erinnerte. Es waren keine neuen Vermisstenmeldungen registriert.

»Wenn er vermisst wird, dann in einem anderen Teil des Landes«, sagte er. »Falls er nicht bereits vor längerer Zeit verschwunden ist und sich versteckt gehalten hat, bis er ermordet wurde.«

»Morgen früh müssen wir das Register überprüfen«, sagte Moe. »Mit etwas Glück kriegen wir vorher noch eine Vermisstenmeldung rein. Wenn die Menschen über das Radio erfahren, dass ein Toter im Meer gelegen hat, werden sie sich wohl beeilen, uns mitzuteilen, wo und wann jemand nicht zum Essen gekommen ist.«

Sie schwiegen ein paar Minuten und knabberten Weihnachtsgebäck. Schließlich lehnte sich Moe zurück und wischte sich ein paar Krümel vom Schoß.

»Gab es nichts an dem Toten, das Sie merkwürdig fanden? Etwas, das Sie stutzig gemacht hat?«

Karlsen dachte lange nach. Nach der missglückten Durchsuchung der Leiche hatte er einen gewissen Vorteil gegenüber seinem Vorgesetzten, doch jetzt spürte er, dass dieses Gefühl nicht lange andauern würde.

»Nun, da war dieses Zeug in seiner Brusttasche ...«

»Natürlich. Ich meine, abgesehen von dem, worüber wir bereits gesprochen haben.«

»Nein, äh, was soll ich sagen ... er hätte vielleicht eine Mütze aufhaben sollen, bei der Kälte, die wir in den letzten Tagen hatten.«

Moe nickte langsam.

»Das kann man wohl sagen. Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Menge Fischer, die nicht einmal bei Sturm eine Mütze aufsetzen. Aber wir wissen nicht, ob er die nicht einfach im Wasser verloren hat. Das wäre eigentlich logisch, wenn er sie nicht unter dem Kinn festgebunden hatte.«

»Nein, ansonsten ist mir nichts aufgefallen«, sagte Karlsen resigniert. »Wenn Frihagen nicht die Einschusswunde entdeckt hätte, hätte ich nichts Ungewöhnliches an ihm gefunden.«

Moe nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, ehe er sie mit einer jähen, beinahe heftigen Bewegung in der Kaffeetasse ausdrückte. Er versuchte aufzuhören und hatte sich selbst versprochen, von jeder Zigarette, die er sich anzündete, nur zwei Züge zu nehmen. Auf diese Weise hoffte er, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass das Rauchen wirklich sinnlos war. Wenn es ihm nicht gelang, aus Rücksicht auf seine eigene Gesundheit aufzuhören, gelang es ihm vielleicht mit Blick auf seine Finanzen.

»In dieser Hinsicht sind wir einer Meinung«, sagte er. »Aber da sich nun doch herausgestellt hat, dass der Mann ermordet worden ist, und überdies vielleicht in kriminelle Machenschaften verwickelt war, müssen wir neu ansetzen. Und dann erscheint mir die Sache mit den Stiefeln auch höchst seltsam.«

»Stiefel? Aber er hatte doch gar keine Stiefel ...«

»Eben deshalb.« Moe wedelte den Zigarettenrauch weg. »Ist nicht gerade das seltsam?«

Jetzt war es Karlsen, der nicht ganz mitkam.

»Tja«, versuchte er sich, »die hat der Arme wohl verloren. Auf die gleiche Weise wie die Mütze.«

Moe schüttelte den Kopf.

»Haben Sie jemals versucht, im Wasser kniehohe Stiefel auszuziehen? Dazu braucht man eine ganz bestimmte Technik und viel Kraft – die gehen nicht einfach so von selbst ab, wenn sie nicht mindestens ein paar Nummern zu groß sind. Und wenn man um sein Leben kämpft und genug damit zu tun hat, sich über Wasser zu halten, fängt man nicht ausgerechnet mit den Stiefeln an. Das kann ich Ihnen garantieren. Insbesondere, wenn einer ohnehin schon tot ist!«

Gegen das letzte Argument konnte Karlsen kaum etwas einwenden. Tote zogen sich im Wasser nicht die Stiefel aus, egal wie schnell sie untergingen.

»Aber ist es denn so sicher, dass er Stiefel anhatte, als er ins Wasser fiel?«

»Sie haben genau das Gleiche gesehen wie ich. Die Wollstrümpfe waren bis zu den Knien über die Hose gezogen. Wenn das nicht auf Stiefel hindeutet, dann weiß ich auch nicht.«

Karlsen sagte nichts.

»Der Punkt bei den Stiefeln ist natürlich«, fuhr Moe schließlich fort, »dass es so aussehen kann, als hätte er keine Stiefel getragen, als er ins Wasser stürzte. Und dann muss die Frage lauten: warum nicht?«

»Vielleicht lag er im Bett und hat geschlafen?«

»Möglich«, sagte der Polizist zustimmend. Er hatte sich eine neue Zigarette angezündet und inhalierte den ersten der beiden zulässigen Lungenzüge mit sichtbarem Genuss. »Aber es kann auch sein, dass ihm jemand bewusst die Stiefel ausgezogen hat, ehe er ihn über Bord warf.«

Karlsen sah seinen Chef neugierig an. Manchmal überraschte ihn Moe mit scharfsinnigen Beobachtungen oder, wie jetzt, mit unerwarteten Hypothesen. Moe war ein gerissener Fuchs, auch wenn er wie ein gutmütiger Teddybär aussah.

»Warum sollte das jemand tun?«

»Tja, das ist die Frage. Das macht auch nicht mehr Sinn, oder? Wenn nicht ...« Er nahm einen neuerlichen Zug von der Zigarette und blieb still sitzen, während der Rauch durch die Atemwege glitt und die Kapillaren mit Nikotin erfüllte. Was ihm am Rauchen am besten gefiel, war das beinahe unmerkliche Erstickungsgefühl, das aufkam, wenn der Körper die verminderte Sauerstoffzufuhr realisierte. Das schärfte das Bewusstsein ein wenig, wie wenn man sich ein paar Sekunden zu lange unter Wasser aufgehalten hat und sich an die Oberfläche drängen muss, um Luft zu bekommen.

»Was?«

Die Neugier Karlsens kippte allmählich in Verärgerung um.

»Woran ich denke«, sagte Moe und atmete den Rauch durch die Nase aus, »ist, dass wir mit Hilfe der Stiefel vielleicht den Leichnam identifizieren können. Manche Menschen schreiben ja ihre Initialen in die Innenseite ihrer Stiefel, um Verwechslungen zu vermeiden, insbesondere, wenn man sich in einem Milieu bewegt, in dem viele das gleiche Schuhwerk tragen. Zum Beispiel an Bord größerer Fischtrawler.«

»Vielleicht waren sie auch Arbeitskollegen, und der Mann hatte sich die Stiefel von demjenigen geliehen, der ihn später umbrachte«, gab der Gehilfe zu bedenken. »Dann wären die Stiefel ja so etwas wie eine Visitenkarte.«

Moe meinte, dass sie damit sicherlich an einem wichtigen Punkt seien, die Erklärung könne so oder so sein, doch dass die Stiefel fehlten, sei bestimmt kein Zufall.

»Ich sollte das wohl in meinem Bericht erwähnen«, murmelte er. »Die Leute beim PST haben keine Erfahrung mit solchen Mordfällen.«

»Wird sich denn nicht die Kriminalpolizei darum kümmern? Mord fällt doch in deren Zuständigkeit?«

»Nicht so ein Mord, Karlsen. Wenn Sie Recht haben mit Ihrer Vermutung, was da in der Bleidose ist, wette ich darum, dass das ein Fall für den PST ist, in enger Zusammenarbeit mit der Polizeidienststelle in Hammerfest.« Er lachte trocken. »So bleiben die Ermittlungen in der Familie, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Karlsen verstand ihn ausgezeichnet. Er hatte erst kürzlich an einem dreitägigen Kurs der Polizeibehörde in Hammerfest teilgenommen, bei dem es gerade um die Art Kriminalität gegangen war, mit der sie es hier möglicherweise zu tun hatten: Schmuggel von spaltbarem Material aus Russland und anderen exsowjetischen Staaten.