Die Prinzen vom Birkensee - Lars Elling - E-Book

Die Prinzen vom Birkensee E-Book

Lars Elling

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Beschreibung

»Der Wald ist ein Heim. Nicht nur für die Bäume, sondern für alle Arten von Tieren: Vögel, Fische, Insekten und Menschen, und alle sind fest miteinander verbunden. Es gibt eine Ordnung im Wald.«

Filip ist neunzehn Jahre alt und verbringt seine Zeit damit, Fußball zu spielen und Bryan Ferry auf seinem Walkman zu hören. Er wohnt mit seinen Eltern und seinem Großvater Arnstein Zaun an Zaun mit dessen Bruder Truls. Doch die Brüder reden seit vielen Jahren nicht mehr miteinander. Etwas Dunkles ist tief unter diesem Schweigen begraben. Damals, als der Erste Weltkrieg aufzog, wurden die beiden Brüder von ihrem Vater jeden Sommer in die Nordmarka geschickt. Voller Staunen und Ehrfurcht erkunden sie die riesigen Wälder und fühlen sich wie deren Herrscher. Bis eines Tages ein unvorstellbares Unglück geschieht, das das Band zwischen den Brüdern zerreißen wird. Erst Filip kann viele Jahre später der Geschichte hinter dem Schweigen auf den Grund gehen.

»Ein Roman, der Lust macht, in einem Zelt zu schlafen und fischen zu gehen. Aber vor allem ist es eine Hommage an eine Welt, die verschwindet.« Aftenposten

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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2025

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»Der Wald ist ein Heim. Nicht nur für die Bäume, sondern für alle Arten von Tieren: Vögel, Fische, Insekten und Menschen, und alle sind fest miteinander verbunden. Es gibt eine Ordnung im Wald.«

Filip ist neunzehn Jahre alt und verbringt seine Zeit damit, Fußball zu spielen und Bryan Ferry auf seinem Walkman zu hören. Er wohnt mit seinen Eltern und seinem Großvater Arnstein Zaun an Zaun mit dessen Bruder Truls. Doch die Brüder reden seit vielen Jahren nicht mehr miteinander. Etwas Dunkles ist tief unter diesem Schweigen begraben. Damals, als der Erste Weltkrieg aufzog, wurden die beiden Brüder von ihrem Vater jeden Sommer in die Nordmarka geschickt. Voller Staunen und Ehrfurcht erkunden sie die riesigen Wälder und fühlen sich wie deren Herrscher. Bis eines Tages ein unvorstellbares Unglück geschieht, das das Band zwischen den Brüdern zerreißen wird. Erst Filip kann viele Jahre später der Geschichte hinter dem Schweigen auf den Grund gehen.

Lars Elling (geb. 1966) ist ein norwegischer Schriftsteller und bildender Künstler. Er ist der Autor von zwei Bilderbüchern und hat mehrere Kinderbücher illustriert. Zusammen mit Bjørn Sortland gewann er 1996 den Deutschen Jugendliteraturpreis für das von ihm illustrierte Kinderbuch »Rot, Blau und ein bisschen Gelb«. Elling hat in Berlin und New York ausgestellt, und seine Werke wurden vom norwegischen Nationalmuseum und dem Kulturrat erworben. »Die Prinzen vom Birkensee« ist sein erster Roman.

»Ein Roman, der Lust macht, in einem Zelt zu schlafen und fischen zu gehen. Aber vor allem ist es eine Hommage an eine Welt, die verschwindet.« Aftenposten

»Was mich an diesem gelungenen Debüt am meisten beeindruckt hat, ist, wie Ellings Beschreibungen des magischen Lebens des Waldes und der Insekten mit dem Hauptmotiv des Romans verbunden sind.« Morgenbladet

»Packen Sie das Buch zusammen mit Pfeifentabak und einer Taschenflasche in Ihren Rucksack und lassen Sie es Teil Ihrer eigenen Hüttenbibliothek werden – ob in den Bergen, am Meer, im Wald oder in der Stadt.« NRK Radio

www.penguin-verlag.de

Lars Elling

Die Prinzen vom Birkensee

Roman

Aus dem Norwegischen von Frank Zuber

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Fyrstene av Finntjern bei Forlag Oktober, Oslo.

Die Publikation der Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Lars Elling

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © Artwork: Lars Elling; fotografiert von Trond A. Isaksen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-31703-4V002

www.penguin-verlag.de

Für die Eintagsfliege zählt jede Sekunde.

Die Vorbereitungen für den Augenblick, in dem sie wird, was sie eigentlich ist, dauern zwei Jahre. Zwei Jahre in Kälte und Dunkelheit. Zwei Jahre zwischen Langeweile und Lebensgefahr. Wenn sie sich endlich, satt und ermattet von Minuten, auf dem Wasser niederlässt und befruchtete Eier in den Schlamm am Boden sinken lässt, hat sie ihr Leben in vollen Zügen gelebt.

Ihre Flügel, die wie glänzende Segel nach oben standen, senken sich und kleben auf dem Wasser, und so formt sie im Augenblick ihres Todes ein kleines Kreuz zur flüchtigen Erinnerung an sich selbst. Mikroskopische Eier, so leicht, dass sie nur ganz langsam in die bernsteinfarbene Dunkelheit trudeln, werden eines nach dem anderen von kleinen Fischen und Krebstieren gefressen. Aber nicht alle. Einige wenige erreichen den schlammigen Grund in der Tiefe. Irgendwann brechen sie auf, und heraus schlüpft eine winzige Nymphe. Blind und desorientiert kriecht sie in der sauerstoffarmen Unterwelt umher. Sie gräbt sich tiefer ein, um räuberischen Insekten zu entkommen. In relativer Sicherheit lebt sie von den pflanzlichen Überresten, die sie umgeben. Sie wächst, ihre Haut springt auf, sie krabbelt aus sich selbst heraus und bildet eine neue Haut. Dieser Prozess wiederholt sich viele Male, und jedes Mal wird sie größer und stärker. Denn das primitive Insekt hegt eine Ambition.

Das kann nicht alles sein. Das Leben findet an einem anderen Ort statt. Meine Zeit wird kommen.

Etwas lockt die Nymphe. Sie will hinauf, hinaus aus dem Morast, dem Licht entgegen – wo die Fliegenden leben.

Und das Wunder geschieht. Wenn das Wasser wärmer wird, verlassen die Nymphen ihr nachtdunkles Kindheitsheim und steigen unbeholfen hinauf, dem Tag entgegen. Inzwischen sind sie ein guter Mundvoll für hungrige Jäger, die auf ihrem Platz in der Nahrungskette bereitstehen. Nur wenige erreichen die Oberfläche.

Geblendet von der Sonne, liegt die Nymphe im Wasser und spürt, dass diese Verwandlung anders ist als alle früheren Häutungen. Ist das endlich die Wende? Ihr Rücken springt auf, und etwas zwängt sich durch den Spalt. Es sind Flügel! Feucht und zerknittert, aber trotzdem Flügel.

Ihre Beine sitzen fest. Sie muss eines nach dem andern befreien. Die alte Haut ist dick und sperrig, es geht viel zu langsam. Was sind das für grüne Schatten überall? Der See ist voll mit Artgenossen in derselben Lage. Sie sind da, und plötzlich sind sie nicht mehr da. Manche steigen in die Luft und verschwinden auf mysteriöse Weise. Andere kommen kaum aus ihrer Kapsel heraus.

Die ausgewachsene Eintagsfliege zieht mit einem Ruck das letzte, widerspenstige Bein an sich. Sie ist frei. Die Flügel heben sie aus dem Wasser, und das wirkliche Leben beginnt. Vergessen sind die endlosen Tage, Wochen, Monate im trüben Schlamm. Sie fliegt, wenn auch auf schlingerndem Kurs, zum Schilf am Ufer. Licht und Farbe füllen ihre Facettenaugen. Sie hat es immer gewusst.

Das Leben findet an einem anderen Ort statt. Das Leben ist hier und jetzt.

Die männlichen Eintagsfliegen sitzen im Schilf wie verklemmte Teenager am Rand einer Tanzfläche. Dann wird aufgespielt, unhörbar für alle bis auf die Ephemera vulgata.

Andere schwirrende Insekten, ob selbstsichere, metallisch schimmernde Libellen oder bunte, kokette Schmetterlinge, müssen weichen, wenn die Eintagsfliegen tanzen. Das ist ihr Ball. Das ist der Augenblick der Weibchen. Perlmuttflügel halten sie in der Luft wie unsichtbare Schnüre eines Marionettenspielers. Sie hüpfen auf und ab, und sobald die filigranen Fäden an ihrem Hinterleib das Wasser berühren, steigen sie wieder auf. Ihr Menuett erweckt ein bis dahin unbekanntes Sehnen in den Männchen, die sich eines nach dem andern von ihrer Schilfbank erheben und in den Tanz stürzen.

Doch die Tänzer haben ein Publikum, mit dem sie nicht gerechnet haben. Unter Wasser, im bernsteinfarbenen Zwielicht, betrachten Forellen die Vorstellung mit Kennermiene. An sich sind sie keine Kunstliebhaber, aber dieses Schauspiel lassen sie sich nicht entgehen. Jedes Jahr läuft dasselbe Stück, die Premiere findet meist zwischen Ende Juni und Anfang Juli statt. Die jungen Fische, die es zum ersten Mal sehen, sind so aufgeregt, dass sie mehr Kalorien verbrauchen, als sie bekommen. Große Fische hingegen wissen, wie man Kräfte spart. Eine Nymphe, die noch schwimmt und mit ihrer Metamorphose kämpft, schickt verlockende Radiowellen an die aufmerksamen Zuhörer.

So hört neues Leben manchmal auf, ehe es begonnen hat.

Wer an einem Sommertag am Seeufer sitzt und zusieht, wie ein Insekt aus dem Wasser geboren wird, die Flügel ausbreitet und abhebt, nur um im nächsten Moment von einem silbern glänzenden Torpedo aus der Luft geholt zu werden, der mag sich wünschen, dass dieses Insekt – und somit auch die Forelle – an seiner Angel hängt, die er mit instinktiven Armbewegungen führt. Wer die Ephemera vulgata im Sonnenglast tanzen sieht und einem Fisch beim Festmahl erfolgreich vorgaukelt, dass genau deine Fälschung ein Leckerbissen sei, der versteht, dass Fliegenfischen die edelste und schwierigste aller Disziplinen des Angelsports ist.

Es gibt einen kleinen See, der so kalt und so tief ist, dass die Eintagsfliegen fast einen Monat später schlüpfen. Es heißt, er habe einen doppelten Boden oder sei gar bodenlos. Sicher ist nur, dass die Nymphen dort in größerer Tiefe leben. Sie werden größer und dicker, ehe die Fliegen schlüpfen, weil das kalte Wasser die Entwicklung der Nymphen und ihren Weg an die Oberfläche verlangsamt. Man sagt, dass dort schon zu Zeiten des großen Jägers Bernhard Herre Fische ausgesetzt wurden. Ferner wird ausdrücklich davor gewarnt, sich donnerstagabends an dem See aufzuhalten – warum auch immer.

Wie der See heißt und wo er liegt? Nun, er hat im Lauf der Zeit mehrmals seinen Namen gewechselt, so viel kann man verraten. Auf der Karte ist er irgendwo südlich von Lunner, östlich des Ringkollen und nördlich des Skjennungen verzeichnet. (Das ist nicht sehr genau, man bittet um Verständnis.)

Jemand hat Interesse daran, dass dort nicht ständig Menschen herumlaufen. Sie haben keinen Pfad ausgetrampelt, sondern nehmen bei jedem Besuch einen anderen Weg. Diejenigen, die seit Generationen dort fischen, hüten den See wie einen Schatz, und wer das Geheimnis verrät, dem ergeht es übel. Im Grunde ist es nur ein unansehnlicher Tümpel, umgeben von Dickicht und einem Moor, das selbst in den wärmsten Sommern nie austrocknet. Es gibt weder andere Fischgewässer noch gute Pilz- oder Beerengründe in der Nähe, keinen brauchbaren, von der Sonne beschienenen Lagerplatz und erst recht keinen Fahrweg. Der Wald besteht aus verkrüppelten, moorsiechen Tannen, ewig angefault und von Bartflechten erstickt. Eine Quelle am Grund speist den See, der Ablauf besteht aus einem Rinnsal, das man nur findet, wenn man die Ohren spitzt und dem Gluckern folgt. Die Oberfläche ist mit Seerosen bedeckt, in deren Wurzeln der Angelhaken hängen bleibt. Auf den letzten Metern zum Wasser ist das Moor so weich, dass alles, was schwerer als ein Lemming ist, darin versinkt.

Wer jedoch unbedingt dort angeln will und trotzig wie ein Kleinkind in seinen Wathosen halb steht und halb schwimmt, wird beim ersten Wurf seinen Köder verlieren, weil sich die Schnur im Dornengestrüpp am Ufer verfängt. Kurz, es gibt keinen vernünftigen Grund, den tjern aufzusuchen.

Dennoch liegt dort, verborgen zwischen buschigen Birken und Rauschbeersträuchern, ein kleines Boot kieloben über einem Paar kurze Ruder. Es ist mit einem Vorhängeschloss neueren Datums an einen rostigen Ring gekettet, und der Rumpf glänzt frisch geteert.

Teil 1 Der Apfelkrieg

Ein Apfel fällt. Weit vom Stamm. Er landet mit einem feuchten Seufzer auf dem verwahrlosten Herbstrasen, zwischen anderen Äpfeln in verschiedenen Stadien der Fäulnis. Er prallt gegen einen anderen kürzlich gefallenen Neuankömmling und reiht sich am Rand des Grabens ein, der 8A und 8B trennt. Völlig unbedarft kullert der Apfel der Sorte Starholm auf die Demarkationslinie des Geier-Zauns zu. Ins Niemandsland. Der Baum ist alt. Er wird nur auf einer Seite beschnitten, vom Bruder des Alten in 8B, doch er bedankt sich nicht für die Pflege. Die Äste auf der anderen Seite sind krumm, knotig und schorfig, und ihre wenigen Blüten werden beim ersten Windstoß abgetrieben. Über den Zaun und dem Rasen von 8A hingegen wächst ein wahrer Bizeps von einem Ast. Im April explodiert dort eine blassrosa Blütenpracht, und im Herbst hängt er voller kleiner, grüner und säuerlicher Äpfel. Sie schmecken am besten direkt vom Baum, kurz bevor sie ganz reif sind, wenn die Kerne noch weiß sind und das Fruchtfleisch beim Hineinbeißen knackt.

Turid und Filip hüten sich, sie anzurühren. Jedenfalls dürfen sie sich dabei nicht erwischen lassen. Weder von denen in B noch von denen in A. Der Baum steht unbestreitbar im Kvartsveien 8B. Aber seine Wurzeln wachsen wild und sind nicht wählerisch. Sie trinken sowohl das kontaminierte, schmutzige Wasser im Erdreich von 8B als auch das saubere, rechtschaffene bei uns in 8A.

Großmutter Jennifer mäht das Gras rund um den wachsenden Haufen. Die Äpfel rührt sie nicht an. Das Gewicht der Neuankömmlinge drückt die älteren Falläpfel platt, die ihrerseits die völlig verfaulten am Boden zermatschen. Rund um den Haufen wächst ein Kranz aus ungemähtem Gras. Er formt ein Fass, das an warmen Tagen gärt und siedet und immer voller wird, je mehr der Wind an dem Baum rüttelt. Erst wenn der letzte Starholm den Ast losgelassen hat und das gärende Fass voll ist, holt Großmutter den Rechen.

Die langen Beine gehen. Über ihnen türmt sich Filip auf. Die Knie seiner Cordhose schrubben aneinander, aber er hört es nicht. Er hat einen Kopfhörer auf, Bryan Ferry schmachtet leise von Boys and Girls. Die kühle Stimme kommt aus einem Land, von dem Filip träumt. Nicht England, sondern ein fiktives Land, wo ein junger Mann im hellen Leinenanzug aus einem Bentley steigt. Er steckt eine Hand in die Tasche und zieht einen handgeschriebenen Brief heraus, mit der anderen beschattet er die Augen und blickt zu einem Anwesen am Ende einer endlosen Auffahrt hinüber, wo sich die Silhouette einer Frau im Gegenlicht abzeichnet. Bis auf diese Fantasie haben der Cocktailcrooner aus Durham und der Achtzehnjährige aus Bekkelaget nicht viel gemeinsam. In Filips Jackentasche steckt höchstens eine Busfahrkarte oder eine Bleistiftskizze, aber kaum der Liebesbrief einer verschmähten Liebhaberin.

Die schwere, sepiabraune Stirnlocke fällt ihm ständig in die Augen. Filips lange Finger streichen sie aus der Stirn. Genau wie Bryan Ferry.

Ich gehe von der Schule direkt nach Hause. Wie jeden Tag, seit Mama vor über zehn Jahren krank wurde. Obwohl »direkt« in meinem Fall nicht ganz zutrifft. Wenn ich etwas nicht kann, ist es gerade gehen. Als ich aus meiner sperlingszarten Mutter heraus sollte, blieb ich in ihrem Becken stecken. Bestimmt weil die andere Hälfte meines Genmaterials von meinem ungelenken, hoch aufgeschossenen und dürren Vater stammt. In der Natur könnten ein Spatz und ein Elch nie Nachkommen zeugen, aber beim Homo sapiens ist Inkompatibilität offenbar kein Hindernis für eine Befruchtung. Deshalb kann es passieren, dass man bei der Geburt etwas zu lange feststeckt, und das wiederum kann einen kleinen Nervenschaden verursachen oder was auch immer der Grund dafür ist, dass ich mit dem linken Bein größere Schritte mache als mit dem rechten. Das könnte die Erklärung für mein Gebrechen sein. Jedenfalls nach meiner Theorie.

Mein Gang ist leicht elliptisch, mit einem Drall nach rechts. Wenn ich tief in Gedanken bin oder den Walkman aufhabe, lande ich manchmal im Graben. Wenn ich mit einem Freund unterwegs bin, achte ich stets darauf, dass er rechts von mir geht, damit seine Schulter mich bremst, wenn ich ausschere. Zum Glück haben wir keinen Linksverkehr hier – in England wäre ich wahrscheinlich längst überfahren worden.

Mein kleines Handicap hat bisweilen komische Auswirkungen. Zum Beispiel beim Fußball. Meine Technik ist okay, ich kann einen Ball mit vollem Körpereinsatz annehmen und weiterspielen. Selbst knallharte Pässe auf Schritthöhe nehme ich an und lege sie mir auf den Spann. Aber der Ball muss zu mir kommen. Wo ich stehe. Dann geht alles gut. Wenn ich zum Ball muss, ist das eine Herausforderung. Wenn ich eine lange Flanke vom anderen Flügel bekomme, kann es passieren, dass ich meine Ellipse falsch berechne und auf spektakuläre Weise den Ball verfehle. Muss ziemlich bescheuert aussehen: Ich nehme Kurs auf den Ball, mache dabei einen Bogen und kreuze seine Flugbahn. Der Ball zischt ins Aus, ich starre ihm verzweifelt hinterher. Dann kommt das Gelächter. »Flipp! Hahaha!« Ich stehe da, knallrot, es gibt Einwurf, und meine Mannschaft schüttelt kollektiv den Kopf.

Aber ich werde nicht gemobbt. Alle verstehen es. Der Deal ist, dass ich ihr Gelächter ertrage. Doch sobald einer aus der gegnerischen Mannschaft lacht, ist der Spaß vorbei. Dann wird das Tackling old school.

Auch auf Schlittschuhen habe ich etwas Talent. Kein Eishockey, sondern Eisschnelllauf. Mein Abstoß ist kräftig und ich halte die Balance. Auf den Geraden läuft es super. Aber man läuft ja Runden. Leider gegen den Uhrzeigersinn. Ich starte prinzipiell auf der Innenbahn, aber ehe ich mich versehe, bin ich auf dem Weg zur Tribüne. Manchmal ist es nicht leicht, seine Würde zu wahren.

Ich bin eine Rarität. Eine geschützte Spezies. Ein Albinoelch im Wald. Selten, aber ohne mich wäre der Wald nicht derselbe. Deshalb versuche ich stets, mein Handicap positiv zu sehen. Die besten Bowlingspieler haben ihre eigene, individuell angepasste Kugel. Ihr Schwerpunkt liegt nicht in der Mitte, sondern ist leicht verschoben. Sie geben der Kugel einen Drall, sie vollführt beim Rollen Ellipsen und knallt hinter den vorderen Pin. Nur so wird ein Strike daraus. Wenn du eine solche Kugel gerade wirfst, landet sie in der Rinne.

Meine Beine sind also gleich lang, aber das linke macht größere Schritte. Ich kann es nicht steuern. Mein Gehirn glaubt, die Schritte seien gleich lang. Wenn ich gerade gehen will, muss ich mit rechts übertrieben ausschreiten, was äußerst mühsam ist. Der Schularzt sagt, dass ich bestimmt vom Wehrdienst befreit werde. Ich stelle mir ziemlich verrückte Silly-walk-Situationen beim Ausmarsch (oder wie das heißt) vor. Bald ist Musterung, aber ich werde versuchen, mein Gebrechen zu verbergen, sonst werde ich noch für untauglich erklärt und komme niemals hier raus.

Großmutter Jennifer dreht den Rechen, sodass die Zinken nach oben zeigen und nicht im Gras hängen bleiben. Vorsichtig stupst sie den Apfelhaufen an, der einen klebrigen Seufzer von sich gibt, aber sich nicht bewegt. Der Rechen, eigentlich mehr eine Harke, ist alt. Sie haben ihn irgendwann von einer Baustelle geliehen und nie zurückgebracht. Ein langer Hickory-Schaft und gusseiserne Zinken. Schwer. Jennifer ist wie immer perfekt falsch gekleidet für den Anlass. Bürgerkrieg und Gartenarbeit in einem gelben Fünfzigerjahrekleid und Filips Skistiefeln.

Sie hält den Rechen am oberen Ende des Schafts, wie ein Ritter eine Lanze. Ein Ritter in drag. Das Fruchtfass hält Stand. Jennifer stemmt sich dagegen, die Skistiefel graben sich in den Rasen. Die dürren, weißen Beine gehören zu einem anderen Menschen als das Gesicht, das kupferbraun von der Hochgebirgssonne und so von Furchen durchzogen ist, dass es Pergament aus vorchristlicher Zeit sein könnte. Ein Gesicht aus einem Lehmkrug, gefunden in der Wüste Sinai. Die kräftigen Schultern und die Hände, die fingerdicke Rosenstämme mit der Küchenschere abschneiden, bekommen allmählich Oberwasser. Der Apfelberg gibt in der Mitte nach, wo noch immer frisches Obst auf gärendes Mus trifft und die Reibung am schwächsten ist. Langsam und träge setzt er sich in Bewegung. Sie gibt alles, und als die Lawine endlich rollt, liegt Lady Lancelot in einem Winkel von fünfzig Grad zu dem Haufen, während ihre mädchenhaften Beine in Skistiefeln Größe 46 zittern. Ein Schwarm Fliegen erhebt sich in die Luft. Für einen Moment sieht es aus, als würde Jennifer mit ihrer eigenen Apfellawine ins Niemandsland rutschen, aber sie gewinnt die Balance wieder und hält sich auf den Beinen. Sie streckt den Rücken und betrachtet zufrieden ihre Arbeit.

Sie richtet sich auf, das Ziel vor Augen, wie es auf einem Propagandaplakat der Arbeiterpartei heißt, das in Filips Sozialkundebuch abgebildet ist. Genauso sieht sie aus. Als würde sie gerade das Land aufbauen. Zitronengelbes Doris-Day-Kleid, die Harke in der Hand, das Gesicht zur Sonne gewandt.

Jennifer vollendet den Job. Es geht nun leichter. Sie recht Apfelmus an die Grenze. Es leistet Widerstand und klebt zwischen den Zinken wie nasser Schnee an einer Schaufel. Sie kratzt es mit der Spitze der Skistiefel ab. Im Rasen eröffnet sich ein großes, rundes Loch.

Nun beginnt Phase zwei. Die Apfelgrütze soll dahin zurück, wo sie herkam. Jennifer stützt sich auf den Rechen und steigt die Böschung hinab. Passt auf, dass sie nicht abrutscht. Der Geier-Zaun hat unten fünfzehn Zentimeter Luft. Das reicht gerade so. Sie schiebt die Apfelgrütze hinüber.

Dann hört sie das Gartentor quietschen und Schritte auf dem Kies. Ein Junge mit kurzem Mantel, gelbem Wildlederranzen über einer Schulter und einer langen Stirnlocke über dem Auge betritt das Grundstück. Wiedererkennen, ausschließen, identifizieren. Sie geht die Liste der Verdächtigen im Geiste durch und landet einen Treffer.

»Filip! Wo warst du so lange?«

Der Junge wirft den Kopf nach hinten.

»Sind das meine Skistiefel?«

»Ich bin gleich fertig. Kannst du schon mal den Rasenmäher für mich anwerfen?«

Filip zeigt es ihr zum x-ten Mal. Ein paar Mal auf den weichen Knopf da drücken, sodass Benzin in den Motor läuft, und dann den Hebel anziehen, damit er im Leerlauf steht, wenn man an der Schnur zieht.

»Du warst schon immer ein kluger Junge, Filip«, sagt Jennifer ins Blaue.

Der Rasenmäher springt an und steht tuckernd bereit.

»Es geht mal wieder los, wie ich sehe«, sagt der Junge und zeigt auf die Schleimspur.

»Jetzt hab ich’s ihr gezeigt, der verdammten, alten Fotze!« Jennifer grinst höhnisch, aber sie bereut es sogleich. »Meine Güte, Filip, was für böse Worte. So was darfst du nie sagen, versprich mir das.«

Filip trottet den Kiesweg zum Eingang des blassgelben Hauses hinauf. Er bleibt stehen, wie so oft an dieser Stelle, verschnauft und sieht sich um. Das Haus ist im funktionalistischen Stil der Dreißigerjahre gebaut. Es besteht aus zweieinhalb Etagen, weil das Grundstück so steil ist. Einen Dachboden hat es auch. Rechts und links des Kieswegs ist der Garten üppig bepflanzt. Alle möglichen Ziersträucher und Beeren, umrahmt von Steinen, die der Alte von seinen vielen Angelplätzen in der Marka mitgebracht hat.

Bloß der Starholm ist auf der falschen Seite gelandet, als das Grundstück geteilt wurde. Alles andere, die Pflaumen und Stachelbeeren, die Pfingstrosen und der achtzig Jahre alte Geißblattstrauch, steht auf der richtigen Seite. Allein die Heckenrose wuchert diplomatisch über beide Parzellen und grenzt sie zur Straße hin ab.

Über vierzig Jahre lang hat der Alte den Garten nach dem Vorbild seines Vaters gepflegt. Bis seine verstaubten Lungen keinerlei Anstrengung mehr ertrugen und Pollen und Pilzsporen lebensgefährlich für ihn wurden. Jetzt pflegt Jennifer den Garten und erstattet regelmäßig Bericht über seinen Zustand. Der Alte will nicht nur genauestens wissen, was wann blüht. Er verlangt auch, dass die Außentemperatur während der Wachstumsperiode sechsmal täglich abgelesen wird, damit er entscheiden kann, welcher Dünger der richtige ist und wie viel Wasser Jennifer den Pflanzen geben soll. Einmal fragte Filip Großmutter Jennifer, warum sie nicht einfach eine Temperatur erfinde, anstatt jede Nacht um Punkt vier Uhr das Thermometer abzulesen.

»Sag doch einfach das Wahrscheinlichste. Ungefähr wie gestern. Er kann es doch nicht nachprüfen.«

Jennifer sah ihn verständnislos an.

»Die Temperatur muss nachts um vier abgelesen werden. Sonst wird Arnstein richtig sauer.«

Filip betrachtet den Kubus, der die Szenografie des Stückes darstellt, in das er unfreiwillig hineingeschrieben wurde. Die Fenster liegen ganz außen an den Seiten der Fassade. Wenn sie Augen wären, sähen sie aus wie die einer Flunder. Das Dach hat so gut wie keinen Vorsprung. Es sieht eng aus. Geizig. Wie eine Mütze, die fest über einen zu großen Kopf gezogen ist.

Waagerechte Holzverkleidung. Alles stramm und präzise. Die Form soll der Funktion folgen, nach diesem Prinzip ist das Haus gebaut. Jede unnötige Ornamentik wird vermieden.

Das Haus der Urgroßeltern im Schweizer Stil, auf dessen Grundmauern das neue Haus gebaut ist, stand für die Eitelkeit der alten Welt. Jeder Erker und jede geschnitzte Säule zeugte von einem Markierungsbedürfnis. Der neue Baustil hingegen hat mehr Selbstvertrauen. Seine strenge Schönheit kommt von innen. Die Raumaufteilung ist den Bedürfnissen des modernen, freien Menschen angepasst, was man bereits an der Schlichtheit der Fassade erahnen soll, die man wie die Knochenstruktur eines wirklich schönen Menschen bewundert. Eine Schönheit, die man unter der Schädeldecke findet, nicht in der flüchtigen Maske der Haut und der Weichteile, und die nie vergeht. Beide Eckfenster haben Markisen, die man an sonnigen Tagen herablassen kann. Diese schelmischen Wimpern sind der einzige kokette Kompromiss der strengen Fassade.

Ein Generationskonflikthaus im dysfunktionalistischen Stil, wie Turid es einmal genannt hat.

Filip kneift die Augen zusammen, und zwar so, wie es seiner Meinung nach Künstler vor einem Motiv tun. Das Haus wird unscharf. Dann nimmt er mit beiden Daumen und Zeigefingern vorsichtig die Fassade ab und entblößt die Zimmer. Genau wie bei Turids Puppenhaus, als sie noch mit so etwas spielte und er alles vergötterte, was sie tat. Er kann in jedes einzelne Zimmer schauen, sieht alle Bewohner und was sie treiben.

Auf dem Dachboden, im Licht des Dachfensters sitzt Guy mit einem Lötkolben und einer Leiterplatte. Er bastelt eine Lichtorgel, die man an die Stereoanlage anschließen kann, damit Discostimmung aufkommt, wenn man im Dunkeln Musik hört. Er hat riesige Jamo-Lautsprecher, die an einem Blaupunkt-Autoradio hängen. Er dreht gerne auf, nicht nur die Lautstärke. Die Bassmembrane flattern wie Dachpappe im Sturm und die Höhen beißen in den Ohren. Er spielt verbilligte LPs, mit abgeschnittenen Cover-Ecken. Boney M und Gloria Gaynor. Village People. Er ist musikalisch rückständig, er ist 1976 stehen geblieben.

Guy ist der Untermieter von Jennifer und dem Alten. Er wohnt günstig, dafür geht er ein bisschen einkaufen und erledigt ein paar Hausmeisterdienste. Guy ist Totalverweigerer. Zuerst hat er aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigert, dann hat er auch den Zivildienst verweigert, weil dieser auch ein Teil der rechtslastigen norwegischen Totalverteidigung sei.

Bei so etwas wird dir der Prozess gemacht, und du landest im Gefängnis, aber Guy wurde aufgrund nervlicher Probleme für haftuntauglich erklärt, und nun wohnt er hier auf dem Dachboden. Seit sechs Jahren. Auch bei den Hausmeisterdiensten ist er inzwischen zur Totalverweigerung übergegangen. Es scheint eine Gewohnheit zu sein. Er geht selten raus. Aber wenn er sich auf einen Schemel stellt und das Dachfenster öffnet, kann er an klaren Tagen bis nach Abildsø und dem Østensjøvann schauen.

Filip besucht Guy nicht mehr, doch als er jünger war, lief er jeden Tag nach der Schule die Treppe zum Dachboden hinauf. Mama saß wie immer in der Küche. Ein kurzer Blick und ein Hei reichten aus, um zu bestätigen, dass alles normal war. Und dann direkt nach oben und angeklopft. Warten, bis die Tür aufgeschlossen wird. Guy schließt sie immer ab, weil er private Dinge tut. Heute ist er noch angespannter als sonst, er schaut nach rechts und links, als wolle er sich versichern, dass niemand Filip auf der Treppe folgt. Im Wohnzimmer, das auch sein Schlafzimmer ist, steht ein alter Filmprojektor auf einem Stapel aus den zehn Bänden von Brehms Tierleben und summt elektrisch.

Guy ist Feuer und Flamme. Am vorderen Arm des Projektors hat er eine volle Filmspule eingelegt. Er beißt sich auf die Unterlippe und steckt einen schmalen Filmstreifen zwischen klitzekleine Gummiwalzen. Er dreht an einem Rädchen, bis der Streifen am anderen Ende des Projektors herauskommt, und fädelt ihn in die hintere, leere Spule ein.

»Super 8«, sagt er.

»Gucken wir einen Film?«

»Richtig«, antwortet Guy. »Kannst du Deutsch?«

Das kann Filip nicht, weil es in der fünften Klasse der Karlsbråten Schule noch keinen Deutschunterricht gibt.

»Ich kann für dich übersetzen«, sagt Guy, und es ist lustig gemeint, weil er eine ganze Weile vor sich hin grinst. Filip lächelt auch. Es herrscht gute Stimmung.

»Cola?« Guy wühlt in einer Schublade und sucht nach etwas, das er als Flaschenöffner benutzen kann. Film und Cola! Der Projektor bringt die Wand zum Leuchten. Ein Quadrat mit unscharfen Kanten auf der Raufasertapete. Plötzlich erinnert sich Filip an einen alten Trick. Er hält die Hand in den Lichtstrahl, und an der Wand erscheint ein bellender Hund. Dann spreizt er die Finger, und der Hund wird zu einem Vogel mit breiten Schwingen.

»Guck mal, Guy!« Aber Guy ist sauer. Filip versteht nicht, warum. Er setzt sich auf den Küchenhocker und trinkt seine Cola. Lieber nichts mehr sagen. Guy zieht die Rollgardine am Dachfenster zu und versichert sich, dass die Tür abgeschlossen ist.

Dann beginnt der Film. Schwarze Zahlen auf weißem Hintergrund zählen von zehn bis null herab, und man sieht eine Straße in einem Land, das nicht Norwegen ist. Am Straßenrand stehen alte Autos. Von Weitem kommt ein Junge auf einem Fahrrad mit zwei Gepäcktaschen. Er hält an jedem Hauseingang. Er zieht einen Stapel Zeitungen aus den Taschen, legt ihn auf die Treppe und fährt weiter zum nächsten Eingang. Keine Musik, kein Verkehrslärm. Nun ist er deutlicher zu erkennen, es ist ein Jugendlicher mit Schlaghosen und Hippiefrisur, und in diesem Moment erscheint ein Schriftzug.

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Filip kann nicht lesen, was dort steht. Muss wohl Deutsch sein, aber die Buchstaben sehen irgendwie anders aus. Wie Russisch.

»Verdammte Scheiße!« Guy wird knallrot im Gesicht. »Ich muss den Film spiegelverkehrt eingelegt haben. Die Tonspur muss nach innen, wo der Tonkopf sitzt. Wie kann das sein? Dann gibt’s halt keinen Ton, Filip, kein Stöhnen.«

»Dann musst du wenigstens nicht übersetzen«, sagt Filip, um die Situation zu retten, was Guy jedoch wenig tröstet.

Sie sehen den Jungen nun in Nahaufnahme. Er hat einen Pickel am Kinn und eine breite Lücke zwischen den Schneidezähnen. Offenbar ruft jemand nach ihm, denn er hält die Hand über die Augen und schaut auf. Im zweiten Stock steht eine Dame im Bademantel am Fenster und winkt. Wahrscheinlich will sie die Zeitung nicht selbst hereinholen. Ihr Mund bewegt sich wie im Stummfilm, aber man kann erahnen, was sie sagt, obwohl sie Deutsch spricht.

Der hilfsbereite Junge springt rasch die Treppe hinauf. In der Wohnung nimmt die Dame die Zeitung entgegen und wirft sie auf den Boden. Wenn er schon einmal hier ist, könnte er ihr vielleicht einen Gefallen tun? Auf dem Flur muss eine Glühbirne ausgewechselt werden. Die Dame ist wahnsinnig fett. Sie hat Lockenwickler im Haar und viel zu viel Lippenstift aufgetragen. Als sie einen Klapptritt holt, damit er an die Birne herankommt, geht ihr Bademantel auf und enthüllt ein Paar richtig schwere Hängetitten. Nicht nur Filip, sondern auch der Junge im Film macht große Augen.

Der Junge schraubt die kaputte Birne aus der Lampe und wechselt sie aus. Plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck von konzentriert zu überrascht. Während er sich zur Decke gestreckt und die Birne ausgetauscht hat, hat die Dame begonnen, seinen Schwanz zu lutschen. Filip spürt, wie sein Pulsschlag in den Ohren hämmert, ihm wird ganz heiß, und die Röte steigt ihm ins Gesicht. Er wagt kaum zu atmen, ihm wird flau im Magen, wie bei einer Autofahrt oder in der Achterbahn. Guy neben ihm lacht leise und heiser, aber es klingt, als wäre er weit entfernt. Die halb leere Colaflasche klebt an Filips schweißnasser Hand. Zwischen den Beinen des Jungen bewegt die Dame den Kopf wie ein Specht, ihr Lippenstift ist über beide Wangen verschmiert. Der Schwanz des Jungen ist inzwischen doppelt so groß. Jetzt hat sie den Bademantel ganz ausgezogen, kniet vor ihm und greift sich mit einer Hand zwischen die Beine.

»Schau gut hin«, flüstert Guy. Der Junge zieht eine Grimasse, als müsse er gleich niesen, die Dame hebt ihre Hängetitten an, und plötzlich spritzt eine weiße, zähe Flüssigkeit wie Zuckerguss darüber. Zuerst ganz viel, dann immer weniger, bis es aufhört.

»Na, wie findest du das, Filip?«

Filip findet überhaupt nichts in diesem Moment, aber er weiß, dass er den ersten Pornofilm seines Lebens sieht. Man ist ja nicht dumm.

Plötzlich ertönt ein jämmerlicher Klagelaut aus dem Projektor, und der Film bleibt stehen. Er klemmt in der vorderen Spule, und das Bild ruckelt bedenklich.

»Scheiße! Schnell zurückspulen, sonst reißt er«, ruft Guy und legt einen Schalter um. Das Ruckeln hört auf und die Bilder bewegen sich wieder.

In diesem Moment geschieht ein Wunder. Der Schwanz des Jungen saugt den ganzen Zuckerguss wieder von den Riesenbrüsten, bis zum letzten Tropfen. Filip macht noch größere Augen. Seine Bauchmuskeln, die so lange angespannt waren, entkrampfen sich, und das Lachen blubbert aus seinem Mund. So etwas Abartiges hat er noch nie gesehen. Ein Schwanz als Staubsauger. Und dann steckt der Junge ihn wieder in den Mund der Alten, die ihn auf halbe Größe herablutscht. Als er die kaputte Birne wieder einschraubt und der Dame die Zeitung wieder abnimmt, kann auch Guy sich nicht mehr halten. Er brüllt vor Lachen, und endlich kann Filip ihm in die Augen sehen, und sie können den Augenblick gemeinsam genießen. Sie lachen, bis der Film ganz zurückgespult ist und das Ende bei jeder Umdrehung auf der Spule flattert.

Guy, knallrot im Gesicht, wischt sich die Tränen aus den Augen und stellt sich in den Lichtstrahl. Nun macht er ebenfalls Schattenbilder. Eine Hand formt ein Rohr, in das er den steifen Zeigefinger der anderen steckt. Filip weiß, was es darstellen soll, aber als Schattenbild funktioniert es nicht besonders. Trotzdem lacht er, zur Sicherheit und aus Erleichterung, weil das Ganze gut ausgegangen ist.

Dann trinkt er den letzten Schluck Cola und geht rückwärts zur Tür.

Im Erdgeschoss herrscht der Alte. Großvater, sagen die anderen.

Großvater? Was für ein unpassendes Wort, jedenfalls meiner Meinung nach. Es besteht aus zwei Teilen, die überhaupt nicht zusammenpassen. Soviel ich weiß, war der Alte nie groß gewesen, schon gar nicht als Familienoberhaupt. Und dieses Vater, was bedeutet das eigentlich? Mein eigener wurde vor einigen Jahren vom treuherzigen Papa der Kindheit zum Vadder befördert. Er fand es zwar traurig und fühlte sich eher degradiert, aber es ist einfach praktischer. Auf die Geburtstagsgeschenke schreibt er noch immer »von Papa«, aber ich beiße nicht an.

»Danke, Vadder«, sage ich und packe Bergstiefel oder Skihandschuhe in Größen aus, denen ich längst entwachsen bin. Großvater hat mich nie auf Touren mitgenommen, sagt er oft, um zu erklären, warum er mir immer Ausrüstungsgegenstände schenkt.

»Du gehst doch auch nie mit mir auf Tour«, sage ich.

»Ja, das ist eine lange und stolze Tradition bei uns. Generationen von Vätern, die ihre Söhne nicht auf Touren mitnehmen.«

Vadder klingt mehr wie ein Angestellter in einem Familienbetrieb, wie einer, der zur Verfügung steht, als nach der wenig delikaten Genmischung aus Fleisch und Knochen, die uns beide ausmacht. Er gehört zu den Menschen, die dir beim Reden nicht in die Augen sehen. Er schaut an dir vorbei und spricht weder mit dir noch zu dir. Seine Worte fallen auf dich herab wie Pollen, und du musst sie abbürsten, ehe sie sich festsetzen. Er spricht leise und freundlich, in einem vertrauenserweckenden Celloton, von dem seine Patienten sicher abhängig sind. Und er vermeidet Konflikte. Wenn eine Konfrontation droht, begibt er sich seitwärts hinein, wie eine Krabbe, aber ohne Scheren. Nur offene Handflächen, so groß wie Schneeschuhe.

Er ist Psychiater und Neurologe und weiß deshalb, was in den Leuten vorgeht. Sein Beruf hat ihm eine Art Weitsichtigkeit verliehen, durch die er andere Menschen aus gewissem Abstand am schärfsten beobachten kann. Die Familie hingegen, die ihm immer dicht auf der Pelle hängt, verwirrt ihn. In unserer Nähe kneift er die Augen zusammen und blinzelt, als sähe er uns unscharf und mit diffusen Konturen.

»Du machst es dir zu schwer, Filip«, sagt er manchmal. »Denk einfacher. Das Leben ist wie ein Hammerbrett: Der runde Klotz muss durch das runde, der viereckige durch das viereckige Loch.«

Er würde nie darauf kommen, dass der eckige Klotz auch durch das runde Loch passt, wenn man es nur will. Man muss bloß fester draufschlagen.

Ich habe Freunde, die ihren Vater Papa nennen, einer nennt ihn sogar Vater.

»Darf ich das Auto nehmen, Vater?«, fragt er und versucht, besonders verantwortungsvoll auszusehen, während er mit dem Schlüssel klimpert. So etwas ist mir peinlich. Bei uns müsste schon einiges geschehen, ehe ich »Vater« zu Vadder sage. Ich brauche auch Abstand. Für ihn wäre es eine Beförderung, für mich eine Degradierung.

Nein, kommt nicht infrage. Vadder muss genügen.

Mama ist ein Vogel. Filip stellt sich vor, dass sie in Gefangenschaft geboren ist und kein anderes Leben kennt. Das kann zwar nicht sein, aber so ist es weniger traurig. Ihr Käfig steht in der blauen Küche, dem einzigen Zimmer, das nie renoviert wurde. Auch in den anderen Zimmern hat sie Käfige, aber dort ist sie selten. Welcher Art sie angehört, ist schwer zu sagen. Filip glaubt, dass sie in ihrer Jugend ein exotischer Vogel war. Er hat Bilder gesehen. Die sind zwar schwarz-weiß, aber man kann deutlich erkennen, dass sie tiefgrüne Augen mit einer schwarzen Maske drumherum hatte, einen kleinen, glänzenden Schnabel und lange, viel zu lange, rote Krallen. Und einen prächtigen, seidengelben Schwanz. Heute sitzt sie oft wie auf einer Hühnerstange am Rand der Spüle, in die der Alte früher gepinkelt hat, wenn er es nachts nicht mehr die Treppe hinunter schaffte. Ihr Federkleid ist verblichen. Sie rupft sich ständig, und wo früher weiche Daunen waren, ist heute an vielen Stellen nackte Gänsehaut. Seit Filip sich erinnern kann, haben sie immer darauf geachtet, die Fenster und Türen geschlossen zu halten. Und wenn sie es einmal vergaßen, blieb sie trotzdem drinnen. Sie verlässt nie das Haus. Dafür müssen die anderen immer sagen, wohin sie gehen und wann sie wiederkommen. Nur so fühlt sie sich sicher. An guten Tagen fliegt sie zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Dann sitzt sie auf der Lehne des grünen Sessels mit dem Hibiskusmuster. Oder auf der Nähmaschine. Man sieht immer, wo sie war, wegen der Tabakkrümel und der Sherrygläser. Sie singt nie in Gegenwart anderer, aber Filip glaubt, dass sie singen kann. Oder konnte, und heute sieht sie keinen Sinn mehr darin. Das kleine Herz in ihrer Brust schlägt nie im Takt mit den anderen Herzen in 8A.

War das früher anders? Ist vielleicht dieses Haus der Käfig?

Sie kann die Freude der anderen fühlen. Manchmal singt Filip ihr mit wackliger Baritonstimme etwas vor, oder er fegt Körner und Dreck auf und gibt ihr frisches Wasser, und dann fliegt sie graziöse Ellipsen in der Küche. Oder er neckt sie liebevoll, zum Beispiel, indem er ihre Flaschen zum Spaß versteckt. Dann zwitschert sie nervös und schlägt mit ihren zerzausten Flügeln nach ihm. Sie ist wie eine alte Armbanduhr. Wenn man sie nicht aufzieht, bleibt sie stehen, setzt sich auf den Rand der Spüle und rupft sich.

Filip lässt seinen Röntgenblick von Guys schummrigem Junggesellennest in den hellen ersten Stock schweifen. Wand an Wand mit der blauen Küche, in der Mama immer sitzt, befindet sich Turids Zimmer. Leer, natürlich. Turid ist entkommen. Die kluge Turid. Sie ist eine Lilie. Sie ist eine weiße Calla. Sie ist ein Silberreiher. Auf Familienbildern sieht sie aus, als wäre sie irgendwo ausgeschnitten und über die anderen geklebt worden. Auch auf Klassenbildern wirkt sie fehlplatziert. Ein wenig, als hätte man den Hintergrund mit Korrekturstift übermalt. Egal, wie präzise man arbeitet, es sieht nicht echt aus. Sie war der Typ Mädchen, in den sich selbst die härtesten Jungs der Klasse nie verliebt hätten. Sie hätten nicht mal ein Nein bekommen, sondern nur Verwunderung und ein nachsichtiges Lächeln. Ihre Fantasie stellte eine Grenzüberschreitung zwischen zwei Arten dar, das sollten sie begreifen. Jede Anmache, und wenn sie noch so listig und durchdacht oder spontan und unbeholfen war, wurde zu sinnlosem Gestammel. Ich habe neu zugezogene Jungs erlebt, die keine Ahnung von den hiesigen Jagdgründen hatten und versuchten, irgendetwas Interessantes zu ihr zu sagen. Als ihre Zunge festfror und sie wie stumme Idioten vor der Eisprinzessin standen, lachte ich nur triumphierend. Turid bringt Vadders Kollegen zum Stottern, obwohl sie professionelle Schwätzer sind, die ihre Patienten in geschlossene Anstalten sperren. Bei Turid werden erwachsene Männer zu tollpatschigen Jungs und Jungen zu Kleinkindern. Sie ist genauso groß wie ich, ihre Beine sind genauso lang, aber ob sie geht oder läuft, redet oder singt oder auch nur denkt, alles verläuft in geraden Linien.

Turid ist mein gewesen. Oder ich bin ihr gewesen, von Anfang an. Wir sind einander Zeitzeugen. Oder sie ist meine Zeitzeugin. Ich erzähle ihr alles, sie erzählt mir nichts. Sie hört nur zu, mit verklärter Miene, die zugleich offen und verschlossen ist. Nickt und versteht, sieht mir in die Augen und neigt den Kopf, sodass ihr langes, blondes Haar nach einer Seite fällt, sofern sie es nicht mit einem meiner Aquarellpinsel hochgesteckt hat.

Aber letztes Jahr im Frühling ist sie ausgezogen. Ich wusste nichts davon, bis es geschah. Eines Abends kreuzte sie zusammen mit einem Typen bei uns auf, noch dazu mit einem ganz gewöhnlichen. Mama und Vadder waren genauso überrascht wie ich. Ich erinnere mich an nichts, was der Typ sagte. Ich erinnere mich kaum an seinen Namen. Oder doch, aber er sagte nichts Bemerkenswertes. Turid, die kaum beeindruckt gewesen wäre, wenn sie den Ausbruch des Vesuv in Pompeji vom eigenen Balkon aus gesehen hätte, hing dem Typen bei jedem seiner mittelmäßigen Worte an den Lippen! Das war ein Schlag ins Gesicht, ich fühlte mich wie Rocky, der mit herabhängendem Unterkiefer unverständliches Zeug lallt, nachdem sein Gegner ihn fast k. o. geschlagen hat. Aber Turid grinste blöde und sah uns an. Ist er nicht toll? Sie legte ein Bein über seines. Durch die Risse in den Jeans sah ich, dass beide sonnengebräunt waren, und plötzlich begriff ich, dass sie nicht mit Carina auf Teneriffa gewesen war. Vadder dozierte freundlich herablassend über das Studienfach des Typen, und der Typ streichelte abwesend Turids Knöchel und nickte. Ich traute meinen Augen nicht. Er berührte sie wie selbstverständlich. Schon jetzt! Das war die reinste Blasphemie.

»Der Biber hat zwei Paar Lippen«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte. »Ein Paar außen und eins innen. Wisst ihr, warum? Er schwimmt mit schweren Stöcken im Maul herum, nicht wahr, und da würde er ja ertrinken, wenn sein Maul offen wäre. Deswegen kann er das Maul hinter den Zähnen verschließen.«

Der Typ runzelte die Stirn und sah mich freundlich an. Turid schickte mir ihren telepathischen Blick.

»Ich liebe dich, kleiner Filip, aber nun trennen sich unsere Wege. Ich muss weiter in meinem Leben, ohne dich«, sagten ihre klaren, huskygrünen Augen. Mir wurde eiskalt vor Schreck. Nie hätte ich gedacht, dass dies geschehen könnte. Dass es nicht mehr sie und ich hieß. Einmal, als ich fünf Jahre alt war, malte ich alle Zimmer ihres Puppenhauses an. Da machte sie die Tür zwischen unseren Zimmern zu, die wie in einem amerikanischen Motel en suite liegen. Aber sie schloss nicht ab. Ich lag wie ein Welpe vor der Tür und wartete, bis mir vergeben wurde. Mama legte ein gutes Wort für mich ein, aber ich wusste, dass ich die Strafe aussitzen musste, und rührte mich nicht vom Fleck. Es war das einzige Mal, dass ich bei ihr in Ungnade gefallen war.

Der Alte liegt ständig im Sterben. Er stirbt und stirbt seit Jahren. Die Sanitäter haben ihn schon zweimal für tot erklärt.

»Wolf! Wolf!«, rufen wir. Der Krankenwagen kommt mit lauten Sirenen und weckt Aufsehen in der Nachbarschaft.

Doch dann wird der Alte mit Adrenalin und Sauerstoffmaske wiedererweckt, der Krankenwagen fährt wieder weg, und Vadder muss den neugierig besorgten Nachbarn erklären, warum der Alte noch lebt, und sich für ihre Anteilnahme bedanken. So etwas geht zwei oder höchstens drei Mal gut, aber es darf nicht zur Gewohnheit werden. So viel Aufmerksamkeit vertrage ich nicht. Zum Glück sind die meisten anderen Todesfälle des Alten diskreter. In der Regel kapitulieren die kaputten Lungen im Stillen, und er hört einfach auf zu röcheln. Wenn es plötzlich still wird, muss Jennifer ihn aus seinem Sessel zerren, auf den Bauch legen und ihm mit der Handfläche fest auf den Rücken klopfen, wie sie es gelernt hat. Dann kommt alles, was festsitzt, hoch und heraus. Als ich klein war, stellte ich mir vor, dass er durch einen alten Duschvorhang atmet. Schmutzig und zerschlissen, wie im Bad vor der Renovierung. Ich stellte mir vor, wie er den Vorhang einatmet und fast daran erstickt, doch dann bläht er sich wieder auf, feucht und schleimig. Und dann fällt er wieder in sich zusammen. Auf und nieder, auf und nieder, bis er irgendwann stecken bleibt.

Der Alte träumt von Luft. Arnstein liegt oder sitzt im Bett, beschwert von einer dicken Lammwolldecke. Einmal war sein Körper wie der Ast einer Weide. Er konnte ohne Anstrengung ein frisch geschossenes Reh schultern. Jetzt ist er ein rostiges Wrack. Ein wackliges Stativ, dessen einzige Aufgabe darin besteht, den Kopf und das Bewusstsein zu tragen. Sein langes Gerüst wird nur von Knorpel und Sehnen zusammengehalten, die Muskeln sind auf ein Minimum geschrumpft, mit Ausnahme der Bauchmuskeln. Die langen Hustenanfälle, die den gebrechlichen Körper schütteln, spannen die Bauchmuskulatur an, sodass der Alte ein beinahe jugendliches Sixpack unter der eingefallenen Brust vorweisen kann. Arnsteins Lungen sind wie alte Eichen nach einem Blitzeinschlag. Verkohlt und hart stecken sie in seiner Brust, eingezäunt von den Rippen und bedrängt von den anderen Organen. Das Herz, das unerschütterliche Arbeitspferd, pumpt und pumpt. Die Leber ist rein wie die eines Vierzehnjährigen, sagen die Ärzte, geschont durch ein Leben in Enthaltsamkeit. Nicht einen Schnaps hat sie abbekommen. Aber die Lungen sind verbraucht. Silikose heißt die Krankheit. Es ist eine permanente Entzündung. Das frische, rosa Gewebe wird verstopft, und die Lungen werden zu dunklen Schatten. Viele Grubenarbeiter bekommen eine Staublunge als Dank für ihre langen und treuen Dienste. Doch der Alte hat nie in einer Kohlengrube gearbeitet. Seine Lungen sind voller Steine. Verschiedene fein gemahlene Steine. Marmor und roter Granit. Die große Schleifmaschine, die Arnstein über die Bauplätze der Stadt geschoben hat, die ihren Sklavennamen Christiania abgelegt hatte und zum modernen Oslo wurde, hat Steinstaub über seine Alveolen gestreut und seinen langen Todesmarsch ausgelöst.