Die Prophezeiung von Bad Löwenau - Sven Görtz - E-Book

Die Prophezeiung von Bad Löwenau E-Book

Sven Görtz

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Beschreibung

Bad Löwenau ist in Aufruhr: Sind die toten Vögel, der Sturm und der Regen die Zeichen dafür, dass sich eine mittelalterliche Prophezeiung erfüllt? Als ein geheimnisvoller Fremder auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse. Denn mit ihm kommt der Tod in die Stadt. Wie immer bewahren Rubin und Bernstein klaren Kopf und bringen auf ihre bewährt unkonventionelle Weise Licht in das Dunkel des Wahnsinns.

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1967 geboren, verbringt Sven Görtz seine Kindheit im Westerwald und studiert danach Philosophie in Gießen. Er ist Autor, Hörbuchsprecher und Sänger. Mit über 300.000 verkauften Hörbüchern zählt er zur ersten Riege der deutschen Hörbuchsprecher. Seit 2008 ist er die deutsche Stimme des Weltbestsellerautors Paulo Coelho. Er ist seit Jahren mit verschiedenen Live-Programmen im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. 2013 erschienen »Da liegt ein Toter im Brunnen« und »Da haben wir den Salat«, die ersten Bände seiner Krimiserie um die Ermittler Christoph Rubin und Carl Bernstein.

www.svengoertz.de

www.facebook.com/dieseitevonsvengoertz

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lisa Bitzer eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-576-1 Originalausgabe

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Willkommen in Bad Löwenau!

Der Schauplatz

Irgendwo in Deutschland liegt Bad Löwenau, eine Stadt, wie sie im Buche steht. Ein touristisches Idyll mit historischen Kopfsteinpflasterstraßen und schön renovierten Fachwerkbauten, mit teuren Boutiquen, feinen Hotels, Cafés und Kneipen.

Wahrzeichen ist der Löwenbrunnen am Marktplatz mit seinem kostbaren Inhalt: sprudelndes Heilwasser, das frei zur Verfügung steht und aus dem sogar das Bad Löwenauer Bier gebraut wird.

Einige Bad Löwenauer

Christoph Rubin

Fünfundvierzig Jahre, verheiratet, Kriminalhauptkommissar und Leiter der Polizeiinspektion. Er kehrt nach fünfundzwanzig Jahren Dienst in der Großen Stadt in seine Heimat Bad Löwenau zurück und kann sich nur wundern, was in der Zwischenzeit so alles passiert ist – und was heute so passiert.

Carl Bernstein

Vierundvierzig Jahre, unverheiratet, Journalist. Autor der legendären Kolumne im Bad Löwenauer Anzeiger. Er kleidet sich extravagant und spricht auch so. Bernstein hat nur zwei Schwächen: die Frauen und – die zweite hat er vergessen.

Freitag

Zwei Jahre, unverheiratet, Golden Retriever und der treue Begleiter von Hauptkommissar Christoph Rubin. Er bändelt gern mit Hundedamen an, bringt am liebsten Stöckchen und tapst ansonsten sehr zufrieden durchs Hundeleben.

Ricardo

Einundfünfzig Jahre, verheiratet, Besitzer des italienischen Ristorante »Da Ricardo« am Marktplatz. Nur zwei Dinge können ihm die Suppe versalzen: schlechte Pasta und eine Niederlage von Inter Mailand. Ein Lächeln seiner Frau Caterina versüßt ihm das Leben aber wieder.

Franziska von Roth

Ungeklärtes Alter, geschieden, Bürgermeisterin von Bad Löwenau, auch »Die Fürstin« genannt, weil sie die Geschäfte der Stadt nach Gutsherrenart führt. Wenn es um die Bewahrung des guten Rufs von Bad Löwenau geht, kennt sie weder Freund noch Feind.

Buchhändler Weimar

Zweiundsiebzig, verheiratet, versorgt die Bad Löwenauer mit guten Büchern und genauen Beobachtungen. Er ist ein klassischer Bücherfreund und liebt es, seine Bemerkungen zum Stand der Dinge in Reimform zum Besten zu geben.

Irmgard Rathenow

Einundachtzig, pensionierte Schullehrerin. Allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, betreibt sie gleichzeitig historische Studien der Stadt. Wenn ihre ehemaligen Schüler Rubin und Bernstein zu Besuch kommen, lässt sie es nie an einem hochprozentigen Willkommenstrunk fehlen.

Iris Adler

1

Aus den Augenwinkeln hatte er es kommen sehen. Etwas Dunkles, undeutlich wie ein Schatten, der blitzschnell auf ihn zuschoss.

Unaufhaltsam, mit tödlicher Präzision.

Er zuckte zusammen und zog den Kopf ein. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, die Zeit stehe still, und wie aus weiter Ferne hörte er sich rufen: »Vorsicht, Bernstein!«

Im nächsten Moment wurde er nach vorn katapultiert, und etwas schnürte ihm die Luft ab.

Bernstein war mit aller Kraft auf die Bremse getreten. Sein alter Jaguar E-Type V12 kam zum Stehen. Doch zu spät.

Es gab einen dumpfen Schlag. Dem folgte eine tiefrote Blutspur, die sich von links oben nach rechts unten über die Windschutzscheibe erstreckte.

Bernstein fuhr rechts ran. Er und der noch immer leicht benommene Rubin stiegen vorsichtig aus. Freitag, der Golden Retriever, der vom Rücksitz aus mit aufgestellten Ohren die Szene verfolgt hatte, sprang ins Freie und nahm sogleich Witterung auf.

Auf der Motorhaube des Wagens lag ein Vogel, offensichtlich ein Spatz. Er blutete vom Köpfchen her und war zweifelsohne tot. Der Aufprall musste den Vogel augenblicklich ins Jenseits befördert haben.

»Weidmannsheil und Weidmannsdank.« Bernstein schüttelte den Kopf. »Da hat ein motivierter Jäger ganze Arbeit geleistet, Halali!«

Außer ihnen war niemand auf der Landstraße unterwegs. Rubin richtete seinen Blick in die Ferne, in der ganzen Gegend war keine Spur einer Jägerei zu finden, keine Schüsse, kein Hochsitz, nichts. Als er den Vogel näher betrachtete, vermochte er kein Schrot im Gefieder zu entdecken, erst recht keine Kugel.

»Nein, Bernstein, dieser Vogel ist nicht erjagt worden«, widersprach er und versuchte gleichzeitig Freitag zu beruhigen, der in dem leblosen Tier ein neues Objekt zum Apportieren erblickte.

»Armer Spatz«, bemerkte Bernstein nachdenklich. »Glaubst du, Rubin, er ist wie einst der übermütige Ikarus vom Himmel gefallen, weil seine Flügel der Sonne zu nahe gekommen sind?«

»Sonne? Welche Sonne?« Rubin blickte zum farblosen Herbsthimmel hinauf. Er spürte die Kühle des Windes an den Schläfen und auf der Stirn.

Bernstein zerrte ein Stofftaschentuch aus der Innentasche seiner schwarzen original Pilotenjacke mit Lammfellkragen, die er über einem Tweedsakko in derb gewirktem grün-lila Fischgratmuster trug, und legte das Vögelchen darauf. Er trug es sanft, ja ehrerbietig, und bettete es in den Straßengraben, nachdem Rubin Freitag wieder auf den Rücksitz des Jaguars befohlen hatte.

»Ruhe in Frieden, kleiner Himmelsstürmer«, flüsterte Bernstein und breitete zuletzt das Taschentuch über den Vogel.

Wieder hinter dem Steuer, betätigte er als Erstes die Scheibenwischanlage, die er erst am Morgen aufgefüllt hatte. Dann trat Bernstein aufs Gas, und der alte Jaguar flog durch die Kurven der Landstraße, vorbei an Feldern, Wiesen und Wäldern. Bürgermeisterin Franziska von Roth hatte wie in jedem Jahr eine handverlesene Gruppe von Angestellten, Stadtabgeordneten und Vertretern der Wirtschaft zum Stadtgipfel in das beliebte Ausflugslokal »Waldesruh« geladen.

Es war zwanzig Minuten nach zwölf. Rubin und Bernstein waren spät dran.

2

Für die Bürgermeisterin und ihre Gäste war das frisch renovierte und mit Jagdtrophäen geschmückte Kaminzimmer eingedeckt worden. Es war eine geschlossene Mittagsgesellschaft. Ein loderndes Feuer, das auf den schweren Buchenscheiten tanzte, wärmte den Raum. Beim Eintreten schlug Rubin ein Geruchsgemisch aus Ruß und Rauch, würzigen, weinhaltigen Küchendüften und einem Durcheinander von Parfums entgegen.

Bürgermeisterin Franziska von Roth stand mit schulterlangem blondiertem Haar, schwarzem Rollkragenpullover und Perlenkette am Kopfende vor der mit rund zwanzig Personen besetzten Tafel, ein Manuskript in der rechten Hand.

Bernstein und Rubin mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie die Letzten waren.

»Die Presse und die Polizei bitten die gemeinsame Verspätung gnädig zu entschuldigen«, sagte Bernstein. »Eine unverhoffte himmlische Begegnung hat uns kostbare Minuten gekostet. Haben wir etwas verpasst?«

Von Roth unterdrückte eine giftige Erwiderung auf Bernsteins Worte und nickte nur unbestimmt in Richtung Rubin. Die Freunde steuerten mit Freitag auf die letzten leeren Stühle am hinteren Ende der Tafel zu, während die Bürgermeisterin mit ihrer Ansprache fortfuhr.

»… denn, wie gesagt, was unsere Stadt vor allen anderen Städten auszeichnet, das ist das Engagement ihrer Bürger. Und es ist eine lieb gewonnene Tradition unseres Stadtgipfels, dass wir …«

Die Gäste verfolgten vor leeren, mit kunstvoll gefalteten Serviettentürmchen verzierten Tellern und halb vollen Weißwein- oder Biergläsern mehr oder weniger aufmerksam die Ansprache.

»Und deshalb möchte ich an dieser Stelle allen danken, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass Bad Löwenau das ist, was es ist. Ich weiß, dass die Arbeit …«

Gerade hatten sich Rubin und Bernstein so leise wie möglich auf ihren Stühlen niedergelassen, da wurde die Bürgermeisterin ein zweites Mal gezwungen, ihre Rede zu unterbrechen. Diesmal war es ein gellender Schrei, ausgestoßen von der Wirtin der »Waldesruh«, die mit bleichem Gesicht in das Kaminzimmer schwankte: »Der Wilfried, der Wilfried, der … der liegt da im Garten!«

Persönlich gekränkt und mit spitzen Lippen erkundigte sich die Bürgermeisterin, was geschehen sei.

Rubin und Bernstein verloren keine Zeit.

»Wie kommen wir am schnellsten in den Garten?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

Die am ganzen Körper zitternde Frau zeigte mit dem Finger hinter sich. Rubin, Bernstein und Freitag eilten hinaus. Die anderen folgten zögerlich. Mit Ausnahme der Fürstin. Sie zerknüllte ihr Manuskript und warf es wutschäumend zu Boden.

3

Der Garten war von einer hüfthohen Bruchsteinmauer umgeben und grenzte an eine Wiese. In seiner Mitte stand ein Birnbaum. Von den Ästen herab hingen drei schwere geräucherte Schinken. Unter dem Baum lag ausgestreckt auf dem Rücken Wilfried Bauer, der Wirt der »Waldesruh«, in grauem Anzug und weißem Hemd, das Gesicht mit überraschtem Ausdruck zum Himmel gerichtet.

Neben ihm, im laubbedeckten Gras, befanden sich ein Tranchiermesser, eine angeschlagene weiß-blaue Emaille-Schüssel und ein umgekippter dreifüßiger Schemel.

Der Koch und drei Küchenhilfen starrten mit leeren, fassungslosen Blicken im Halbkreis auf den bewegungslosen Mann, auf den Rubin zielstrebig zusteuerte. Bernstein hingegen wahrte Distanz und hielt Freitag durch Stöckchenwerfen davon ab, sich auf ungestüme Weise ins Geschehen einzumischen.

Der Hauptkommissar nahm den Puls des Mannes. Er spürte ihn nicht. Er registrierte auch keinen Atemzug, der Brustkorb bewegte sich nicht einen Millimeter. Doch die Haut des Mannes war noch warm.

»Oh mein Gott, ist er …?«, rief eine der Küchenhilfen, die in ihrem dünnen T-Shirt schlotterte.

»Ich bin kein Mediziner, aber ich fürchte … Hat jemand den Notarzt benachrichtigt?«

»Jawohl, Herr Rubin«, antwortete der Koch der »Waldesruh«, der den Hauptkommissar sofort erkannt hatte.

Rubin entdeckte Blutspuren am Hinterkopf des Wirtes.

Nach und nach trudelten die anderen Gäste in den Garten. Hausmeister Schulte, der in Bad Löwenau die Schlüsselgewalt über alle öffentlichen Gebäude hatte, und sein zeitweiliger Gehilfe Ansgar Ott, den man nur »den verrückten Ansgar« nannte. Stadtrat Peter Röder verzog sein übliches Dauergrinsen zu einer aufgesetzten kläglichen Miene.

Seltsam, es schien, als erzeugten die Schritte der Herantretenden keinerlei Geräusche auf dem Gras, auch wagte keiner zu sprechen. Wie in stiller einsamer Andacht, wie auf einem Friedhof vor offenem Grab, traten sie vor den leblosen Mann, das Rauschen des Windes in den Ohren.

»Oh gütiger Gott, er hat sich das Genick gebrochen!« Auf dem Antlitz der Wirtin lag der grausam bittere Ausdruck des Entsetzens.

Judith Silberpfennig, die Sekretärin und seit Kurzem auch persönliche Assistentin der Bürgermeisterin von Roth, nahm sich ihrer an. Es war ihre Großtante mütterlicherseits.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Rubin und ließ seinen Blick prüfend über die Anwesenden schweifen.

Eine Küchenhilfe meldete sich schüchtern.

»Und wer hat Herrn Bauer zuletzt gesehen?«

»Ich habe Wilfried vor zwanzig Minuten in den Garten geschickt, um ein paar Stücke Schinken zu schneiden«, antwortete der Koch.

Bernstein, der die ganze Zeit über mit gesenktem Blick und auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab spaziert war, schaltete sich jetzt mit Blick auf den Birnbaum in die Befragung ein. »Bei Lukullus und allem, was lecker ist! Wieso hängt Wilfried die schönen Schinken ins schlechte Wetter? Muss ein Schinken nicht trocken lagern?«

»Spezialrezept«, erwiderte der Koch.

»Hat Wilfried den Schinken immer persönlich geschnitten?«, wollte Bernstein weiter wissen.

»Klar, nur er darf da ran.«

Bernstein zeigte auf den umgekippten Schemel. »Und auf diesem Wackelpudding von einem Melkstuhl hat er regelmäßig den kulinarischen Balanceakt vollzogen?«

Der Koch nickte.

Rubin und Bernstein knieten sich neben dem Mann ins Gras, während Freitag, der unterdessen mit der Dalmatinerdame der Wirtsfamilie angebändelt hatte, fleißig Stöckchensuchen spielte.

»Was meinst du, Rubin? Donnerkeilschlag auf den Hinterkopf? Oder klassischer Genickbruch aus dem Lehrbuch für fortgeschrittene Tollpatsche?«, fragte Bernstein.

Rubin deutete auf den Hals des Mannes. »Siehst du die roten Striemen unter dem Kehlkopf, die Blutergüsse?«

Bernstein nickte mit großen Augen, und Rubin beugte sich über den Wirt, um mehr Details erkennen zu können, doch es gab sonst nichts zu entdecken. Allerdings nahm seine sensible Nase eine Vielzahl von Gerüchen wahr. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, der Wirt stank. Rubin identifizierte so etwas wie abgestandene Zwiebelsuppe, was, wie er wusste, nichts anderes als alter Schweiß war. Dazu kamen wirkliche Küchendünste, die sich in den Kleidern festgesetzt hatten. Außerdem Nikotin und der säuerliche Geruch von Hochprozentigem.

Rubin fiel ein weiterer Geruch auf, etwas Herbes, beinahe Blumiges stieg ihm in die Nase, das gar nicht zu dem Wirt passte. »Seltsam«, murmelte er.

Das Sakko des Wirtes war vom Wind zurückgeschlagen worden, aus der linken Innentasche lugte ein Zettel zur Hälfte heraus. Rubin wusste, dass er streng genommen die Untersuchung des Mannes und seiner Kleider der Spurensicherung überlassen musste. Aber er stand auf dem Standpunkt, was er hatte, das hatte er.

Rubin entblätterte den zweifach gefalteten, reichlich abgewetzten DIN-A4-Zettel, der sich als Lieferschein entpuppte.

»Eine Gemüselieferung«, bemerkte Bernstein.

Rubin drehte den Zettel um. Jetzt sahen sie mit Bleistift notiert:

Fettsack – Nutte ✓

Mutter – 10.000

Schnösel – Weihnachtsfeier

Rubin steckte den Zettel ein.

Der Himmel über dem Garten hatte sich während der Untersuchung verdüstert, über den Horizont fegten gewaltige Wolkenformationen.

Rubin griff zum Telefon und informierte die Spurensicherung.

Plötzlich schlug Freitag mit hellem, durchdringendem Bellen an, etwa drei, vier Meter von der Leiche des Wirts entfernt. Er hatte einen Ast entdeckt. Rubin musste ihn beruhigen. Doch Freitag gab keine Ruhe, bellte weiter, bis Rubin den Ast aufgenommen hatte. Was war so Besonderes daran, worauf wollte Freitag ihn hinweisen? Der Ast stammte offensichtlich vom Birnbaum und war frisch abgebrochen, nach den beiden hellen Enden zu urteilen. Sonst war nichts daran.

Doch halt, was war das? Der Ast verströmte einen Duft. Doch nicht allein nach Harz oder frischem Holz. Er erinnerte Rubin an das seltsame Aroma, das er eben an dem Wirt wahrgenommen hatte. Er wusste zwar noch nicht, um was es sich handelte, nur bei einem war er sich sicher: Es war zweifelsfrei derselbe Geruch.

»Gut gemacht, Freitag«, lobte Rubin und streichelte das Fell des Golden Retrievers, der schon wieder etwas im Gras entdeckt hatte – diesmal etwas Kleines, braun, blutig und tot: einen Vogel, nicht größer als der Spatz, der vor nicht allzu langer Zeit auf der Windschutzscheibe von Bernsteins Jaguar gelandet war.

»Heute muss Spatzentag sein«, grinste Bernstein. »Das ist schon der zweite gefiederte Freund, der tot vom Himmel gefallen kommt.«

Kaum hatte Bernstein diese für alle Schaulustigen trotz des Windzuges deutlich vernehmbaren Worte gesprochen, löste sich unvermittelt ein ganz in Schwarz gekleideter Mann aus der Mitte der Menschenmenge und trat schwankend und mit kleinen Schritten vor. Er reckte den spindeldürren, knochigen Zeigefinger seiner linken Hand in die Höhe und verkündete mit heller metallischer Stimme: »Das ist das erste Zeichen!«

4

Es war der verrückte Ansgar, der Gehilfe von Hausmeister Schulte, der diese Worte sprach, entgegen seiner sonstigen Natur überraschend klar im Ton, deutlich, laut und für alle unmissverständlich.

Nach einer Pause, in der betretene Stille unter den Zuhörern herrschte, fügte er leiser im Ton, doch drohender in der Gebärde hinzu: »Die Vögel fallen tot vom Himmel und fällen die Menschen. So geht die Geschichte. Seit alters her. Die Prophezeiung von Bad Löwenau!«

Mit einem Mal löste sich die gespenstische Stille auf. Die Zuhörer zeigten Reaktionen. Vereinzeltes überraschtes Auflachen durchdrang die Luft, undeutbares Gemurmel folgte, auch Kopfschütteln.

Bernstein bemerkte trocken: »Der süße kleine Spatz wird unseren gestandenen Wirt wohl kaum erschlagen haben.«

Rubin zog es vor zu schweigen und kümmerte sich um Freitag, dem der Mann mit dem strähnigen Haar und dem dürren Drohfinger nicht geheuer war.

Manch einer der im Garten Anwesenden, ein Stadtrat oder ein Innungsvertreter, entrüstete sich im Namen der Vernunft über die Ungeheuerlichkeit. Die Worte »ausgemachter Blödsinn« und »Was für ein pietätloser Unsinn« fielen. Aus den hinteren Reihen erklangen vermehrt die Rufe »Ammenmärchen!« und »Kinderkram«.

Und so hätte es weitergehen können, bis die Aufregung wie eine Seifenblase im Wind zerstoben wäre. Doch es kam anders. Hausmeister Schulte, der nicht weit von seinem Gehilfen Ansgar entfernt stand, stöhnte plötzlich laut auf. Grauenvolle und dunkle Laute entrangen sich seiner Kehle.

Alle Blicke waren nur auf Schulte gerichtet. Das hatte den Ausschlag gegeben: Hätte er, der handfeste anerkannte Mann, dem die Bad Löwenauer seit Jahrzehnten die Sicherheit ihrer öffentlichen Gebäude anvertrauten, nicht gestöhnt, die Worte des verrückten Ansgar hätten nichts weiter als eine Peinlichkeit oder eine dreiste Anmaßung bedeutet.

Doch so ging jetzt ein Raunen durch die Reihen.

»Das ist das erste Zeichen, sage ich. Schlimmeres Unglück wird folgen!«, fuhr Ansgar mit aufgerissenen Augen und einem monoton kalten Klang in der Stimme fort. »Not und Schrecken werden mit dem zweiten Zeichen über die Stadt kommen. Die Menschen werden keuchen und husten, und es werden wilde Winde wehen. Dann setzt der große Regen ein, unerbittlich wie die Sintflut. Doch damit nicht genug! Mit dem Regen wird ein geheimnisvoller Fremder in die Stadt kommen. Niemand wird wissen, von woher er kommt. Niemand wird wissen, wohin er geht. Und mit diesem Fremden wird das Unheil unaufhaltsam seinen Lauf nehmen. Bis zum Ende! Bis zum Ende! Bis zum bitteren Ende!«

Niemand wagte es, den verrückten Ansgar zu unterbrechen. Jeder war ganz Ohr, meist wider Willen.

Nach Ende seiner Verkündigung blickte der schwarze Prophet mit den stechenden Augen lange zum Himmel und schien eine bestimmte düstere Wolke anzuvisieren. Er keuchte kurz und kräftig, wischte sich die Stirn, dann wankte er davon, wortlos an den Reihen der verwirrten, bewegungsunfähigen Menschen vorbei.

Hausmeister Schulte, noch immer mit Leidensmiene, musste von zwei Männern gestützt werden.

Nun richteten viele der Anwesenden ihre Augen zum schwarzen Himmel empor. Konnte das, was sie erblickten, eine Täuschung sein? Hatte sich der Himmel in den letzten Minuten nicht tatsächlich verändert, verwandelt, verdüstert, schweres Wetter, Regen, ja tödliche Stürme ankündigend?

Franziska von Roth, die Fürstin, hatte während Ansgars Ansprache abseits in der Nähe der Mauer gestanden und alle Versammelten aufs Genaueste beobachtet; die graue, verunsicherte Menschenmenge, den leidenden Hausmeister Schulte, den verrückten Ansgar, Rubin und Bernstein. Die Miene der Bürgermeisterin zeigte nicht mehr die versteinerte Wut von eben. Auf ihrem Antlitz zeichnete sich kaum merklich die Andeutung eines Lächelns ab, das überlegene, wissende dunkle Lächeln eines Menschen, der mehr gesehen hat und mehr gehört zu haben scheint als alle anderen.

5

Als der Notarzt erschien, brachte seine Anwesenheit so etwas wie Normalität ins Geschehen zurück. Ein Toter, ein Sanitäter, der Versuch einer Wiederbelebung – all das waren die bekannten Bestandteile eines Vorgangs, den jeder erwartete, wirklicher und greifbarer als die Prophezeiungen einer alten Sage durch einen strähnigen Handlanger.

Auch das Erscheinen der Spurensicherung besaß etwas Normales, wenn auch die in weiße Schutzanzüge gehüllten Männer reichlich bizarr wirkten, wie zwei ferngesteuerte Gespenster bei der Arbeit, die Blicke stier, die Abläufe reine, stumpfe Routine.

Rubin übergab dem älteren der beiden Männer den Ast vom Birnbaum, den Freitag entdeckt hatte, als Beweisstück. Er bat um eine Untersuchung auf eventuelle synthetische Duftstoffe.

»Sie tragen keine Handschuhe, Herr Hauptkommissar«, rügte der Beamte. »Wie üblich halten Sie das nicht für nötig.«

Rubin entschied sich, nicht auf die Zurechtweisung einzugehen. Er wunderte sich schon lange nicht mehr über die Kollegen, über ihren Missmut und die ständigen Vorwürfe. Womöglich gehörte die Übellaunigkeit zu den Einstellungsbedingungen für Spurensucher.

»Ich melde mich bei Ihnen wegen des Ergebnisses«, sagte Rubin.

»Nein, wir rufen Sie an, sobald wir etwas wissen«, entgegnete der andere.

»Also gut. Und wann rechnen Sie mit dem Ergebnis der genauen Todesursache?«

»Sobald die Untersuchung abgeschlossen ist, Herr Kollege«, antwortete der Beamte barsch und kehrte Rubin den Rücken. Er machte sich an die Untersuchung der Leiche.

Rubin dachte nach. Wie sollte er jetzt vorgehen? Sollte er alle Anwesenden befragen, die hier im Garten versammelt waren? Das würde Stunden dauern. Und das Küchenpersonal? Er beschloss, sie später zu befragen, nachdem die erste Welle des Schocks abgeebbt sein würde. Er wollte den Mann einer Befragung unterziehen, der diese seltsamen Worte gesprochen hatte: der verrückte Ansgar.

»Ich kann ihn nirgends entdecken«, sagte Bernstein.

Also gut, dann würde eben auch das später folgen. Rubin zog den Zettel des Wirtes aus der Tasche und stellte sich so neben Bernstein, dass die Männer von der Spurensicherung ihn nicht sehen konnten.

»Fettsack – Nutte«, sagte er zögerlich und sah dabei Bernstein in die Augen. Dann las er langsam die anderen Worte vor. »Was hat das zu bedeuten, Bernstein?«

»Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Fingerübung experimenteller Lyrik. Unser Wirt wollte an Buchhändler Weimars Gedichtwettbewerb teilnehmen und hat geübt.«

»Dazu fehlen die Reime.«

»Teufel noch eins! Das ist allerdings richtig. Doch ›Fettsack – Nutte‹ besitzt zumindest eine gewisse poetische Anschaulichkeit.«

»Ich kann mir noch keine Vorstellung machen.«