Die Rabenkönigin - Michelle Natascha Weber - E-Book

Die Rabenkönigin E-Book

Michelle Natascha Weber

0,0

Beschreibung

Eine Königin, in deren Brust kein Herz schlägt. Ein Prinz, gefangen hinter Spiegeln. Das Spiel des Feenkönigs, das keine Sieger kennt. Ein mächtiger Fluch lastet auf der königlichen Familie, so munkelt man in Sorieska. Seit Generationen hat niemand ein Mitglied des uralten Geschlechtes zu Gesicht bekommen. Und wer das Schloss auf dem Hügel erblickt, auf dessen Türmen Schwärme von Raben sitzen wie eine unheilvolle Wolke, möchte nur allzu gern glauben, dass es der Wahrheit entspricht. Ein Jahr ist vergangen, seitdem Majas liebster Freund Elejas durch die Tore des Schlosses getreten und nicht wieder nach Hause zurückgekehrt ist. Und ebenso lange wispert das Blut der Feen in ihren Adern, dass ihm etwas geschehen sein muss. Gegen den Willen ihres Vaters macht sie sich auf, Elejas' Schicksal zu ergründen. Begleitet von einem sprechenden Raben entschlüsselt Maja nach und nach die Geheimnisse des alten Gemäuers und seiner sonderbaren Bewohner. Doch zugleich gerät sie immer tiefer in den Sog der Gefahr, die hinter den Spiegeln lauert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 653

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Rabenkönigin

Michelle Natascha Weber

Inhalt

Impressum

Widmung

1.Die Stimme des Windes

2.Feenzauber

3.Spiegel

4.Rabenaugen

5.Der Dornenwald

6.Kinder der Dämmerung

7.Meerschaum

8.Der Kuss der Rose

9.Dornen

10.Morgengrauen

11.Der Herr der Motten

12.Königssohn

13.Die Macht des Blutes

14.Träume aus Scherben

15.Die Wiederkehr des Königs

16.Die Rabenkönigin

17.Die Herrin der Dämmerung

18.Das Reich der ewigen Nacht

19.Das Herz der Königin

20.Das Ende der Nacht

Über die Autorin

Bücher von Michelle Natascha Weber

Copyright © 2016 by

Drachenmond Verlag

Astrid Behrendt

Rheinstraße 60

51371 Leverkusen

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Anna Milo

Korrektorat: Michaela Retetzki

Satz: Marlena Anders

Layout: Astrid Behrendt

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

www.alexanderkopainski.de

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-042-2

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-95991-042-2

Keine Nacht währt ewig

1

Die Stimme des Windes

Der Wind rief nach ihr. Sein klagender Ruf klang aus dem Rascheln der Blätter, dem Pfeifen, das durch den Kamin drang. Er ließ nicht zu, dass sie wieder in den Schlaf glitt. Ruhelos fasste Maja nach dem wollenen Tuch auf dem Stuhl und warf es sich über die Schultern. Der Mondschein fiel silbern herein und beleuchtete ihren Weg durch das Zimmer. Die Stürme, die das Schwinden des Sommers begleiteten, hatten sich gelegt. Der nahende Herbst hinterließ einen eisigen Hauch in der Luft, der in den Nächten stärker zu spüren war. Maja stieß das Fenster auf und ließ ihn über ihr Gesicht streichen. Es roch nach feuchtem Gras, Erde und Laub, nach den Rosen, die ihre Mutter einst gepflanzt hatte. Die Stimme des Windes wurde lauter. Sie vernahm ihren Namen darin, den verzweifelten Klang in den Worten. Sie war melodisch und dunkel. So vertraut … Sie kannte sie seit ihrer Kindheit.

»Elejas«, flüsterte sie heiser. Sie blickte suchend über den Garten, hin zu den Obstbäumen, die noch schwer an ihrer reifen Last trugen. Die Silhouette, die sich unter den gesenkten Zweigen eines Apfelbaums abzeichnete, schien ihren Blick aufzufangen und ihn zu erwidern. Beinahe meinte sie, glitzernde Augen zu sehen, schwarz wie Kohlestücke. Den dunklen Lockenschopf, der warm schimmerte, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Doch jetzt gab es keine Farbe, die ihn berührte. Der Mond raubte der Welt alle Wärme. Dennoch trieb der Anblick Hitze durch ihre Adern und ließ den kalten Herbsthauch weichen. Majas Finger klammerten sich fester um das Holz der Fensterbank. Sie öffnete die Lippen, um ihn zu rufen, und die Silhouette flackerte in einem scharfen Windhauch, der über den Garten fegte.

»Nicht, Elejas! Bleib hier!« Sie hob die Hände, als könnte sie nach ihm greifen und ihn festhalten. Elejas’ Gestalt verblasste vor ihren Augen, als hätte es ihn niemals gegeben. Einmal mehr entglitt er ihr, ohne dass sie es zu verhindern vermochte. Ein Trugbild, zum Leben erweckt von der Magie der Nacht und ihren eigenen Wünschen. Sie hatte ihn aus ihren Träumen erschaffen, so wie sie es unzählige Male getan hatte, seitdem er verschwunden war. Enttäuschung breitete sich in ihr aus und Majas Kehle wurde eng. Plötzlich sehnte sie sich nach der Freiheit des Nachthimmels über ihrem Kopf. Die Wände ihres Zuhauses hielten sie fest wie ein Gefängnis. Fesseln, die sie banden, damit sie nicht dem Ruf des Windes folgte, der in jeder Nacht erklang. Sie wusste, er würde nicht verstummen, bis sie zu ihm ging.

Aber sie konnte es nicht.

Hilflos presste sie die Handballen auf ihre Augen, dann fasste sie nach dem Türknauf und drehte ihn leise. Ihr Vater mochte es nicht, wenn sie in der Nacht das Haus verließ. Trotzdem tat sie es oft, wenn sie sich danach sehnte, Ruhe in ihre wirbelnden Gedanken zu bringen. Majas Herz schlug schneller, als sie sich aus ihrem Schlafgemach schlich, hin zu der weiten Treppe, die bis zur Eingangshalle führte. Ihre bloßen Füße verursachten keinen Laut auf dem dicken Teppich. Vorsichtig begann sie den Abstieg, doch sie hatte kaum die ersten Stufen hinter sich gelassen, als eine argwöhnische Stimme in ihrem Rücken erklang. »Wohin gehst du, Maja?«

Sie erstarrte.

Eliana war wach. Sie hätte es ahnen müssen. Ihre Finger krampften sich um das Treppengeländer. »Shh, du wirst Vater aufwecken. Ich bin bald wieder zurück.«

»Es ist mitten in der Nacht!« Die Frauenstimme klang streng und unnachgiebig. Maja wusste, dass der Protest nicht verstummen würde, ehe sie sich erklärt hatte.

Widerstrebend wandte sie sich um und sah in die Höhe. »Ich brauche frische Luft, Großmutter. Ich kann nicht schlafen.«

Ihr Blick glitt sehnsüchtig zur Tür, dann zurück zum Antlitz der Frau, die aus dem goldenen Bilderrahmen auf sie heruntersah. Sie biss sich auf die Unterlippe, während Eliana Carjesan nach ihrem Augenglas griff und sie einer genauen Musterung unterzog. »Jetzt, zur Stunde der Geister, wenn das Feenvolk unter dem Mond tanzt?«

Maja lächelte beschwichtigend. »Die Feen machen mir keine Angst.«

Es war eine Lüge und Elianas Brauen hoben sich. »Aber das sollten sie, mein Kind. Dein Leichtsinn wird dich eines Tages um Kopf und Kragen bringen.« Die Frau in dem Bild ließ das Monokel sinken und lehnte sich mit einem Seufzen auf ihrem Stuhl zurück. Sie verhielt sich häufig wie eine alte Frau, obgleich sie wirkte, als sei sie nur wenig älter als Maja selbst. Eliana Carjesan war zu ihrer Zeit eine der schönsten Frauen Sorieskas gewesen. Das Bild zeigte noch den Glanz ihrer Schönheit, in der Blüte ihrer Jahre von einem Maler festgehalten, damit er niemals verblasste. Sie war vor Majas Geburt gestorben und doch kannte sie das Abbild ihrer Großmutter besser als ihre eigene Mutter. Sie hatte unter ihrem wachsamen Blick gespielt, kannte jede Welle ihres kastanienfarbenen Haars und das fröhliche Funkeln in ihren meerblauen Augen. Jetzt blickten sie resigniert auf sie herab.

»Das Feenblut in meinen Adern ist dünn, Großmutter. Sie werden mich nicht holen kommen«, antwortete Maja mit mehr Zuversicht, als sie empfand. Sie legte den Kopf schief und zwinkerte dem Porträt munter zu. »Und ich bin mir sicher, dass sie nicht in unserem Garten tanzen.«

Der Blick der älteren Frau ging ins Leere. »Das hat Lyane auch geglaubt und sieh, was mit ihr geschehen ist.« Ein Stirnrunzeln verdüsterte Elianas Gesicht, als sie versuchte, nach Erinnerungen zu fassen, die weit außerhalb ihrer Reichweite lagen. Maja wusste, dass sie sie nicht erhaschen würde. Das Bildnis ihrer Großmutter mochte einen Funken ihrer Persönlichkeit besitzen, das Wissen über die Vorgänge im Haus, seitdem es fertig an die Wand gehängt worden war. Doch in Wirklichkeit war sie nichts als ein magisches Abbild, das sie als Kind unbewusst zum Leben erweckt hatte. Die tatsächliche Vergangenheit von Eliana Carjesan blieb ihr verschlossen.

Für einen Augenblick schwieg Maja und das Lächeln auf ihren Lippen erlosch. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mutter war anfällig für das Feenreich. Sie hat ihre Nähe gesucht. Ich habe keine Sehnsucht danach, das Reich hinter den Spiegeln zu besuchen. Ich bin zu fest in unserer Welt verwurzelt.«

Nein, sie hegte keine Faszination für die kalten Kreaturen, die ihr die Mutter genommen hatten. Der Feenwahn war wie ein Messer, das über ihrem Kopf schwebte, seit sie den ersten Atemzug getan hatte. Manchmal kamen die Feen zu jenen, die nach ihnen riefen, und zogen sie durch die Spiegel in ihre Welt. Und wer einmal mit ihnen getanzt hatte, kehrte verändert wieder. Lyanes Geist weilte nicht mehr unter ihnen, seitdem sie das Reich der Feen betreten hatte. Nur ihre verwirrte Hülle war zurückgeblieben. Es war der Grund dafür, dass es im Haus ihres Vaters keinen einzigen Spiegel mehr gab. Sie kannte ihr eigenes Antlitz nur von dem schwachen Abbild, das ihr die Fensterscheiben anderer Häuser zeigten, der Oberfläche des kleinen Gartenteiches, den Pfützen, die der Regen hinterließ. Nachdem ihre Mutter durch die Spiegel getreten war, hatte Cosmyr Carjesan dafür Sorge getragen, dass nichts spiegelndes im Haus verblieben war. Die Buntglasscheiben ihres Zuhauses offenbarten wenig und selbst die Löffel, von denen sie aßen, waren stumpf. Sie sprachen beinahe nie über Majas Erbe, aber das Feenblut, das ihre Mutter in die Familie gebracht hatte, war allgegenwärtig. Es war wie ein Fluch, der sie verfolgte, seitdem sie alt genug war, um seine Bedeutung zu verstehen.

Eliana hatte es aufgegeben, nach fremden Erinnerungen zu forschen. Sie fasste müßig nach dem Spitzenfächer, der in ihrem Schoß geruht hatte, und fächelte sich damit Luft zu. Ihre freie Hand nestelte am Kragen ihres Kleides, um sich Erleichterung zu verschaffen. Das Bild war im Winter entstanden und Eliana litt im Sommer unter der Hitze. Noch immer trug die Leinwand dort aufgequollene Flecken, wo die kindliche Maja einen Becher Wasser darüber geleert hatte, um sie abzukühlen. »Ich denke trotzdem, dass du bleiben solltest«, sagte sie ernst. »Bei Vollmond liegt ihre Magie stärker in der Luft. Ich kann es fühlen. Sie sind nah. Und du bist nicht so fest in dieser Welt verwurzelt, wie du vorgibst, Maja. Das wissen wir beide.« Nachdenklich hob sie den Kopf und sah die Treppe hinab, als erwarte sie, gleich den Feenkönig über die Schwelle der Eingangstür treten zu sehen.

Maja konnte es nicht leugnen. Nicht, wenn es ihre eigenen Hände waren, die das Bildnis zum Leben erweckt hatten. Aber es war lange her. Sie nutzte ihre Gabe nur dann wissentlich, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ihr Vater hatte es ihr verboten, als sie noch ein einsames Kind gewesen war, das sich Freunde erschaffen hatte. Sie seufzte innerlich und lächelte über die bekümmerte Miene der brünetten Frau. »Ich werde nicht lange bleiben. Ich bin wieder im Haus, ehe du dir Sorgen machen kannst.«

Sie drehte sich um, doch ihre Großmutter hatte nicht vor, die Angelegenheit dabei bewenden zu lassen. »Du solltest ihn aufgeben, Maja. Er kommt nicht zurück. Wahrscheinlich ist er längst in die Welt gezogen und hat sein Glück gefunden.« Eliana sagte es sanft und der Fächer sank wieder herab. Ihre Augen ruhten mitfühlend auf ihrer Enkelin, wohl wissend, dass sie an ihrem Schmerz gerührt hatte.

Herzschläge verstrichen in Schweigen, während Maja auf den roten Samt des altmodischen Kleides ihrer Großmutter starrte. Es waren Worte, die sie zu oft gehört hatte. Sie senkte den Blick auf ihre verschlungenen Finger. »Nein, Großmutter, das hat er nicht. Und ich weiß, dass er mich braucht, auch wenn ihr alle es nicht glauben wollt.«

Sie wartete nicht auf eine Erwiderung. Maja wandte sich ab und ihre Schritte trugen sie schnell über die Stufen, zur Küche, von der aus man den Garten erreichen konnte.

»Aber … Maja! So warte doch!« Elianas Ruf verhallte in ihrem Rücken, gefolgt von einem unwirschen Murmeln.

Die Uhr im Salon ihres Vaters schlug zwölf Mal. Um diese Zeit herrschte Stille im Haus. Die wenigen Dienstboten, die verblieben waren, ruhten schon in ihren Betten. Sie schob den Riegel zurück und atmete tief die süße Nachtluft ein. Den würzigen Geruch der Kräuter, die Ijona, die Köchin, gepflanzt hatte. Drei Stufen trennten sie von dem kleinen Steinweg und Maja trat hinab, spürte die klamme Feuchtigkeit, die ihre nackten Füße berührte. Grashalme streichelten über ihre Zehen, sie waren so lang, dass sie bis auf den Weg wuchsen. Die Stimme des Windes wurde unvermittelt lauter. Die Büsche raschelten in seiner kalten Liebkosung und trieben Blütenduft zu ihr herüber. Sie hob den Kopf, um seiner Richtung zu folgen. Es war wie ein Sog, der ihre Augen auf das Bauwerk lenkte, das sich hoch über ihr in den Himmel reckte. Auf der Spitze eines Hügels, von dichten Tannen umgeben, die es schützend wie eine Leibgarde rahmten. Maja hatte es aufgegeben, zu zählen, wie viele Male sie in den letzten Monden hinaufgeblickt hatte. Es war der Ort, an den Elejas gegangen war, um nicht mehr zurückzukehren.

Maja strich über ihre Arme, als sie in ihrem dünnen Nachtkleid fröstelte. Schloss Rabenschwinge ragte über Sorieska auf wie ein Ungeheuer. Eine schwarze Silhouette mit spitzen Türmen, von einem vollen Mondauge beleuchtet, das ihren Blick ungerührt und spöttisch erwiderte. In der Nacht konnte man die Raben nicht erkennen, die das Dach besiedelten. Dennoch war es, als ob ihre Obsidianaugen sie aus der Ferne beobachteten.

Ein Jahr war verstrichen, seitdem Elejas davongelaufen war, um im Schloss eine Anstellung zu finden. Und tatsächlich hatte sie ihn in ihre Dienste genommen. Melysan, die unsichtbare Königin von Serijsa aus dem Geschlecht der Raben. Ein Bote hatte den Brief gebracht. Seine flüchtige, geschwungene Handschrift, Spuren aus Tinte auf einem Bogen Pergament, in denen sie seine Begeisterung spüren konnte. Die Raben von Serijsa waren dafür bekannt, dass sie seit jeher die Künste gefördert hatten. Es war Elejas’ einzige Hoffnung, dem Leben zu entkommen, das sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Er wollte Musiker sein, kein Goldschmied, der das Geschäft seiner Familie übernahm. Er wollte den Zauber seiner Stimme und seine Melodien hinaustragen, über die Grenzen von Sorieska, damit sie unsterblich wurden. Doch sein Vater wollte sein Talent nicht sehen. Elejas hatte sein Elternhaus heimlich verlassen, um seinem Herzen zu folgen, und er hatte erlangt, was er sich erträumt hatte. Aber Maja fragte sich seit Langem, welchen Preis er dafür hatte zahlen müssen.

Sie zog das Wolltuch enger um ihre Schultern, ohne den Blick abzuwenden. Seit vielen Jahren hatte niemand ein Mitglied des Königshauses zu Gesicht bekommen. Das königliche Geschlecht überließ Sorieska den Händlergilden und mischte sich selten ein. Man munkelte von einem Fluch der Feen, der die Königsfamilie getroffen und ihre Mitglieder so entstellt hatte, dass sie wie Monstrositäten wirkten. Ein gebrochenes Versprechen, das den Zorn des Feenkönigs herausgefordert hatte. Die Dienstboten, die in die Stadt kamen, schwiegen eisern über das Schicksal ihrer Herrn. Niemand wusste wirklich, warum sich die Raben von Serijsa nicht mehr zeigten und jene, die ihren Vorteil daraus zogen, kümmerten sich darum, dass keiner sie vermisste.

Vielleicht wusste Elejas, was im Schloss geschehen war. Es war seine Stimme, die im Wind nach ihr rief, sein Gesicht, das ihr in grauenvollen Albträumen erschien. Es hatte vor drei Monden begonnen und es wurde mit jedem Mal schlimmer.

Ein Jahr …

Alle sagten, dass er sie vergessen hatte und dass auch sie ihn vergessen musste. Aber Maja wusste, dass er niemals gegangen wäre, ohne sich von ihr zu verabschieden. Er war ihr engster Freund, ihr Vertrauter seit den Tagen ihrer Kindheit. Sie waren unzertrennlich, seitdem sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Und er war noch dort. Sie war sich sicher, dass er das Schloss nicht verlassen hatte. Das Feenblut in ihren Adern verriet es ihr. Wie konnte sie Elejas im Stich lassen, wenn er ihr immer beigestanden hatte? Wie konnte sie ihn allein lassen, ohne zu versuchen, ihm zu helfen und ihn von dem zu erlösen, was ihn quälte?

Doch ihr Vater würde sie niemals gehenlassen.

Maja blickte auf die Sterne, die über ihr am Himmel standen, die dunklen Wolkenfetzen, die der erstarkende Wind über Sorieska trieb. Sie schloss die Augen und überließ es ihm, die heißen Tränen zu kühlen, die über ihre Wangen flossen.

Der Husten ihres Vaters schallte durch das Haus. Maja blieb stehen und lauschte besorgt. Er war in der letzten Nacht schlimmer geworden, seine Stimme inzwischen so rau, dass sie klang, als hätte man sie mit einem Reibeisen malträtiert. Onkel Vijctors klarere Tonlage ertönte. Cosmyrs Bruder war früh eingetroffen, um die Geschäfte mit ihm zu besprechen. Wahrscheinlich bedeutete es, dass er sich nicht wohl genug fühlte, um sich selbst um die anstehenden Aufgaben zu kümmern. Es geschah selten und es war ein schlechtes Zeichen. Sie würde Ijona später darum bitten müssen, ihr einige lindernde Kräuter aus dem Garten zu überlassen, damit sie ihm einen Kräutersud daraus brauen konnte. Fetzen des Gespräches drangen durch die halb geöffnete Tür des Salons. Maja achtete kaum darauf und ließ ihre Gedanken abschweifen. Das Geschäft ihres Vaters war nichts, woran sie einen Anteil besaß. Er hielt daran fest, dass sie eines Tages verheiratet sein würde und es gab nichts, was Maja weniger wünschte. Besser, sie blieb als alte Jungfer in ihrem Elternhaus, als dass sie eines Tages dem Feenwahn anheimfiel und ihre Familie ins Unglück stürzte. Wer Feenblut in den Adern trug, tat gut daran, allein zu bleiben. Es war eine Lektion, die sie schmerzhaft hatte lernen müssen und sie würde sie niemals vergessen.

Majas Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Sie umfasste das Porzellantablett mit dem Teegeschirr fester. Ihre Schritte hallten über den polierten Holzboden, während sie sich dem Salon näherte. Die Tassen klirrten aneinander und Cosmyrs unwirsch hervorgebrachte Worte erhoben sich über den zarten Laut. »… frage mich, welcher arme Narr diesmal auf sie hereingefallen ist. Ohne Zweifel wird ihm kein langes Leben beschieden sein.«

Vijctors Antwort war zu leise, als dass Maja sie verstehen konnte.

»Unsere Königin? Mach dich nicht lächerlich, Vijctor!« Ihr Vater schnaubte spöttisch. »Sie hat jeden ihrer Männer in ein frühes Grab gebracht. Und wahrscheinlich erwartet sie, dass wir ihr die Stoffe für ihr Hochzeitskleid als Geschenk an das Königshaus überlassen.«

Sie hielt inne. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Die Königin wollte wieder heiraten? Maja spürte, dass ihre Hände feucht wurden. Hastig überwand sie den Rest des Weges und zwang sich zu einer gleichmütigen Miene, während sie die Tür mit der Schulter aufdrückte. Vijctor sah auf und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Die hellen Augen hinter den bläulich getönten Augengläsern leuchteten erfreut. »Guten Morgen, Maja.«

»Guten Morgen, Onkel«, antwortete sie munter, ehe sie zu dem kleinen Tisch hinüber trat und das Tablett darauf abstellte. Sonnenlicht strahlte durch die Buntglasscheiben und warf vielfarbige Flecken auf den weichen Teppich des Salons. Ihr Vater saß trotz der Spätsommerhitze auf dem samtbezogenen Sessel, der nah ans Kaminfeuer geschoben worden war. Eine Decke lag über seinem Schoß. Schweißtropfen durchfeuchteten sein kastanienfarbenes Haar und seine Augen wirkten fiebrig. Dennoch war er tadellos gekleidet. Die dunkelblaue Brokatweste kontrastierte hart mit dem weißen Hemd und seinem bleichen Gesicht.

Maja seufzte. »Du solltest im Bett bleiben, Vater. Du siehst nicht gut aus. Und je länger du dich weigerst, desto länger wird es dauern, bis du wieder gesund bist.« Sie stellte die Tassen auseinander und goss die dampfende Flüssigkeit in das feine Porzellan.

Cosmyr gab ein mürrisches Brummen von sich und nahm die Tasse von ihr entgegen.

»Hör auf deine Tochter, Cosmyr«, mahnte Vijctor mit einem schelmischen Lächeln. »Sonst geht es dir wie dem jungen Andros, der noch immer seine Wunden leckt. Er schwört, dass sie eine Dämonin sein muss, die den feurigen Abgründen von Nikara entsprungen ist.«

Er zwinkerte ihr gut gelaunt zu und Maja stöhnte. »Oh bitte, Onkel Vijctor! Andros Lauryn ist ein arroganter Dummkopf, der es nicht ertragen kann, wenn nicht jeder Frau vor Verzückung die Sinne schwinden, sobald sich seine Augen auf sie richten. Ich habe versucht, an seinen Verstand zu appellieren. Es ist nicht meine Schuld, dass er keinen besitzt.«

»Ein arroganter Dummkopf und eine gute Partie«, murmelte Cosmyr in seine Tasse. Der Husten unterbrach ihn, bevor er erneut zu einer Strafpredigt ansetzen konnte, die sie bereits zu hören bekommen hatte. Andros’ Vater handelte mit exotischen Waren und sein Sohn würde eines Tages sein Geschäft übernehmen. Allerdings war ihm der Reichtum früh zu Kopf gestiegen. Andros war ein Aufschneider, der keinen hübschen Rock unberührt ließ. Maja war sich sicher, dass es keineswegs ernsthaftes Interesse gewesen war, das ihn zu ihrem Vater getrieben hatte. Für eine Weile hatten es die Junggesellen Sorieskas zu einem Wettbewerb erkoren, sich zu ihm aufzumachen und um die Hand seiner zänkischen Tochter zu buhlen. Maja hatte sich häufig gefragt, was sie getan hätten, wenn sie einem von ihnen tatsächlich nachgegeben hätte. Sie hatte davon abgesehen, es auf die Probe zu stellen.

Und wie wolltest du ihm erklären, dass seine Gemahlin in keinen Spiegel blicken darf? Dass er jede spiegelnde Fläche in seinem Haus zu verdecken hat, damit die Feen sie nicht finden und zu sich holen? Es war eine Frage, die sie nur im Stillen an ihren Vater richtete. Ihre Lippen blieben verschlossen. Er würde ihr nicht antworten. Letztlich wusste er selbst, dass die Suche nach einem Mann für seine Tochter nicht mehr war als der verzweifelte Versuch, den Anschein einer Normalität aufrechtzuerhalten, die es nicht gab.

Ungerührt löffelte sie Zucker in die zweite Tasse und brachte sie zu ihrem Onkel, der neben dem Fenster stand. Vijctor nahm sie dankend an und Maja sandte ihm einen erbosten Blick dafür, dass er ihren Vater an die unglückselige Geschichte erinnert hatte. Vijctors Lippen zuckten und er neigte in einer stummen Entschuldigung den Kopf, aber Maja wusste, dass es ihn amüsierte. Er mochte sein, wie ihr Vater gewesen war, bevor der Feenwahn ihre Familie getroffen hatte. Offen, charmant und für jeden Scherz zu haben. Er war der jüngere der beiden Brüder, ein ewiger Junggeselle, der seine Freiheit liebte und das Leben genoss. Es war an seiner modischen Kleidung zu erkennen, der Art, wie sein Haar lockig bis in seinen Nacken fiel. Vijctor Carjesan war einer der Mittelpunkte der Gesellschaft von Sorieska, wenngleich er sich wenig aus der Bewunderung machte, die ihm entgegengebracht wurde. Wenn man von ihrem Äußeren absah, glichen sich die Carjesan Brüder kaum.

»Die Königin wird wieder heiraten?«, fragte Maja beiläufig, während sie zum Tisch zurückkehrte und die Zuckerdose schloss. Ihre Finger waren fahrig. Die kleine Blume, die den Deckel zierte, entglitt ihren feuchten Händen und er klirrte laut. Sie fasste danach und ein winziges Kribbeln tanzte über ihre Finger. Ein Schimmern ging von ihrer Handfläche aus und ergoss sich über das Gefäß.

Oh nein! Nicht jetzt! Hastig unterdrückte sie den Fluss, der in ihr anschwoll, aber es war beinahe zu spät. Sie spürte, wie die Blütenblätter sacht über ihre Haut streiften. Weich. Der Aufruhr in ihrem Inneren hatte ihre Magie in Gang gesetzt, ohne dass sie es wollte. Sie wagte es nicht, nach unten zu sehen, wohl wissend, dass sie eine lebendige Blüte vorfinden würde, wo vorher reines Porzellan gewesen war.

Ihr Vater blickte stirnrunzelnd zu ihr herüber und Maja bedeckte sie instinktiv mit der Hand. Wenn er sah, was sie darunter verbarg, würde es ihn kaum milder stimmen. »Ja. Vijctor wird ihr ein großzügiges Geschenk der Carjesan Brüder überbringen, nicht wahr? Mit den besten Wünschen für eine lange und glückliche Ehe - und einem Angebot für den Stoff ihres nächsten Trauerkleides.« Cosmyrs Stimme klang beißend.

»Sie ist die Königin, Cosmyr«, erinnerte ihn sein Bruder ernst. »Wir können froh sein, dass wir es sind, die das Schloss mit Stoffen für ihre Gewänder beliefern. Es hat dem Geschäft nie geschadet.« Vijctor verließ seinen Platz am Fenster und ließ sich auf dem zweiten Sessel nieder, der neben dem Tischchen stand. Er schlug die Beine übereinander und rückte seine Augengläser zurecht.

»Eine Geisterkönigin, die in einem verfluchten Schloss sitzt und ihre Ehemänner zur Schlachtbank führt, kaum dass sie wenige Monde verheiratet sind.« Das Gespräch besserte Cosmyrs Stimmung nicht.

»Vielleicht ist es der Familienfluch, der ihr die Männer raubt, und sie ist nur ein unschuldiges Opfer.« Vijctor blieb gelassen. Er kannte Cosmyrs Launen gut genug, sodass sie ihn nicht mehr beeindruckten.

Maja biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe, um die Worte zurückzuhalten, die über ihre Zunge rollen wollten. Noch nicht, ermahnte sie sich. Warte.

»Gewiss. Oder sie erschrecken sich in der Hochzeitsnacht zu Tode, wenn sie sehen, dass sie ein missgestaltetes Ungeheuer geheiratet haben, das sich nur bei Nacht herauswagt.« Cosmyrs meerfarbene Augen wurden düster wie eine sternenlose Winternacht.

Vijctor lachte. »Seit wann gibst du so viel auf das Gerede in der Stadt, Bruder?«

»Seitdem du nichts mehr darauf zu geben scheinst.«

Der Jüngere zuckte die Schultern. »Ich sehe nur, dass es nichts nutzt. Sorieska besitzt eine königliche Familie und es wäre unklug, ihren Unmut herauszufordern. Solange es Narren gibt, die Melysan heiraten wollen, ist es nicht an mir, ihre Entscheidung infrage zu stellen. Sie will die besten Stoffe für ihr Kleid und wir müssen sie liefern, wenn wir sie nicht brüskieren wollen, ob es dir gefällt oder nicht.«

Cosmyr starrte abwesend ins Feuer. »Tu, was du willst, Vijctor. Ich halte dich nicht auf. Aber es ist Verschwendung, sonst nichts.«

»Also kommst du wirklich nicht mit?« Vijctors Tonfall zeigte, dass er es nicht erwartete. Cosmyr hatte das Schloss nicht mehr aufgesucht, seitdem seine Gemahlin dem Feenwahn anheimgefallen war.

»Nein. Meine Gesundheit lässt es nicht zu. Und außerdem ist deine Erscheinung dem Hof angemessener als meine. Sei vorsichtig, dass das Auge der Königin nicht auf dich fällt. Wenn sie es befiehlt, wird dir nichts anderes übrigbleiben, als dein Junggesellenleben an den Nagel zu hängen.« Er hustete, räusperte sich und stellte seine Tasse ab, ehe er nach seiner Taschenuhr griff. Ein Blick darauf und er schlug die Decke zurück, offenbar in der Absicht, den Salon zu verlassen.

»Ich könnte dich an Vaters Stelle begleiten, Onkel Vijctor«, stieß Maja hastig hervor, bevor sich ihr Vater erheben konnte. Ihre Hände krampften sich um die Serviette, die sie vom Tablett genommen hatte, und zerknitterten den Stoff.

Cosmyr versteinerte. Seine Augen waren stechend, als er den Blick auf sie richtete. »Nein, das kannst du nicht. Du wirst hier gebraucht.«

Majas Herz fühlte sich an, als ob ein Brocken Eis an seiner Stelle in ihrer Brust saß. »Bitte, Vater. Ich würde Elejas so gerne wiedersehen. Es ist ein Jahr her und Onkel Vijctor wird dabei sein. Mir kann nichts geschehen.«

»Elejas.« Er schnaubte abfällig. »Glaubst du das wirklich? Der Junge ist wie seine Mutter. Er hat sich aus dem Staub gemacht. Wahrscheinlich zieht er längst in den bunten Wagen seiner Leute übers Land und singt an irgendeinem Lagerfeuer. Er ist genauso unstet und ruhelos wie alle seines Volkes. Sein Vater hätte es wissen sollen. Das Wandervolk bleibt nie lange an einem Platz.«

»Nein, er ist noch dort. Ich weiß es«, beharrte sie starrköpfig. Maja ließ die Serviette auf das Tablett fallen. »Was kostet es dich, Vater? Ein einziger Tag und ich bin nicht allein. Mehr verlange ich nicht. Lass mich hinaufgehen und ich verspreche dir, dass ich nie mehr ein Wort darüber verlieren werde.«

»Ich würde eher einen Dämon aus dem Abgrund herbeirufen, als dich wegen eines Hirngespinsts in dieses verfluchte Schloss gehen zu lassen, Maja.« Der bittere Zug, der seit der Wandlung ihrer Mutter um seinen Mund lag, verstärkte sich. Seine Miene war wie aus Stein. Unnachgiebig und streng. Sie kannte den Ausdruck in seinen Augen zu gut. Er würde sie nicht gehenlassen.

Verzweiflung kam über sie und gab ihr den Mut, sich ihm in den Weg zu stellen, als er aufstand, um das Gespräch zu beenden. »Vater, bitte. Ich …«

»Nein! Das ist mein letztes Wort.« Cosmyrs Stimme hallte laut durch den Salon. Er trat an Maja vorüber, ohne ihr noch einen weiteren Blick zu schenken. Ihre Hände sanken herab. Sie hatte kaum bemerkt, dass sie sie in einer flehenden Geste gehoben hatte. Enttäuschung wallte in ihr auf. Sie schmeckte wie Galle.

»Er ist so streng zu dir, weil er dich beschützen möchte.« Vijctor hatte ihre Konfrontation von seinem Sessel aus verfolgt, aber er war klug genug, sich nicht einzumischen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er damit selten etwas besser machte.

Maja schluckte den Kloß, der in ihrem Hals steckte und ihre Stimme ersticken wollte. »Ich weiß. Aber man kann niemanden vor den Feen beschützen, Onkel Vijctor. Sie nehmen sich, was sie wollen.« Sie hob den Kopf, um ihren Onkel anzusehen. Seine Miene war düster geworden. Er strich sich über das glattrasierte Kinn, eine jüngere Version seines Bruders, die nicht seine Bitterkeit besaß. Dennoch war nichts von seiner Fröhlichkeit geblieben.

Er ließ die Hand sinken und nahm seine Augengläser ab, um sie am Ärmel seines Gehrocks abzuwischen. Im Gegensatz zu Cosmyr, und sehr zu seinem Verdruss, hatte er die schlechten Augen seiner Mutter geerbt. »Ich rede mit ihm, wenn er sich abgekühlt hat. Vielleicht lässt er sich umstimmen, aber ich kann es dir nicht versprechen.«

Es war verlockend, sein Angebot anzunehmen. Wenn es jemand vermochte, ihren Vater umzustimmen, war es Vijctor. Früher oder später brachte er ihn immer zur Einsicht, wenn sein älterer Bruder sich gegen die Vernunft sperrte. Dennoch … wenn es um seine Tochter ging, war Cosmyr Carjesan aus Stahl. Selbst Vijctor würde seine Mauern nicht durchdringen. Maja sah schweigend auf die bunten Glasscheiben, die Silhouetten der Bäume, die sich dunkel dahinter abzeichneten, dann schüttelte sie den Kopf. »Danke, Onkel, aber ich muss es selbst tun.«

Vijctor nickte nachdenklich. »Vielleicht hat er recht, Maja. Elejas’ Mutter hat seinen Vater sehr geliebt, aber sie war wie der Wind. Du kannst niemanden einsperren, der dem Wandervolk entstammt. Er hat es versucht, so wie er versucht hat, seinen Sohn in Fesseln zu legen, um ihn zu halten. Es kann sein, dass du ihn niemals wiedersehen wirst, weil er längst an einen fernen Ort gegangen ist. Es bedeutet nicht, dass er dich vergessen hat, aber er kann nicht anders, als dem Ruf des Windes zu folgen. Er ist eines seiner Kinder.«

»Ich trage Mutters Erbe, erinnerst du dich?« Maja lächelte freudlos. »Auch wenn wir vorgeben, dass es nicht so ist, spüre ich Dinge, die anderen verschlossen bleiben. Vater kann Großmutters Bildnis ignorieren, wenn sie ihm einen guten Morgen wünscht. Er kann wegsehen, wenn sich die Blumengeister im Sonnenschein im Garten versammeln, weil sie meine Nähe anzieht, und sagen, dass es nur Schmetterlinge sind. Aber es ändert nichts an der Wirklichkeit. Elejas ist dort.« Und er braucht mich. Sie behielt es für sich. Selbst wenn ihr Onkel geneigt war, ihr beizustehen, würde er es nicht mehr sein, wenn er eine Gefahr witterte.

Vijctor seufzte und schob die Augengläser an ihren Platz zurück. Dann stemmte er sich aus dem Sessel. »Ich muss zum Lager, um die Stoffe für das Brautgewand der Königin auszusuchen. Rede mit ihm. Morgen früh muss ich zum Schloss, wenn wir nicht wollen, dass sie sich beleidigt fühlt. Cosmyr mag denken, dass es nicht von Belang ist. Aber wenn das Gerücht aufkommt, dass wir die Königin vor den Kopf gestoßen haben, wird halb Sorieska darauf warten, dass uns ein Fluch trifft. Sie werden uns meiden wie die Rachegeister des Dämonenherrn.« Er lächelte und legte die Hand auf Majas Schulter. »Ich warte bis zum neunten Glockenschlag auf dich.«

»Danke, Onkel Vijctor. Ich werde da sein.« Ob Vater es will oder nicht, schwor sie sich stumm. Es mochte die einzige Möglichkeit sein, herauszufinden, was mit Elejas geschehen war.

»Mach keine Dummheiten, Maja.« Vijctor zwinkerte ihr zu und sein spitzbübisches Grinsen vertrieb die Reste der Düsternis von seiner Miene.

Maja erwiderte es, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Das würde ich niemals, Onkel.«

Vijctor hob die Brauen, zog es jedoch vor, ihre Lüge nicht zu kommentieren. Er kannte sie gut genug. Er drückte ihre Schulter flüchtig und strebte auf die Tür des Salons zu, um das Haus seines Bruders zu verlassen.

Maja lauschte seinen verhallenden Schritten nach, bis er die Treppe hinter sich gelassen hatte. Dann trat sie zu dem runden Tischchen hinüber, auf dem sie das Teegeschirr abgestellt hatte. Gewohnheitsmäßig sammelte sie die geleerten Tassen ein und stellte sie auf dem Tablett ab. Ihr Blick glitt über die Wände des Salons, die Porträts ihrer Ahnen, die dort aufgehängt waren, bis er am Gesicht ihrer Mutter hängenblieb. Es war eine Fremde, die von dem riesigen Gemälde über dem Kamin auf sie herabsah. Zauberhaft und fröhlich, mit wachen Augen und geröteten Wangen. Das rosenfarbene zarte Seidenkleid mit der feinen Spitze war makellos, frei von Flecken und Rissen. Es war nicht die Frau, die sie kannte. Nicht die Frau, die sie erleben würde, wenn sie nach ihrem Vater suchte.

Sie wusste, wohin er gegangen war. Es war der Ort, an den er immer zurückkehrte, wenn er aufgewühlt war. Wenn er sich davon überzeugen musste, dass er das Richtige für seine Tochter tat. Und es war der Ort, an den auch sie gehen musste, wenn sie ihn davon überzeugen wollte, dass er für einen Tag die Türen ihres Käfigs öffnete.

Maja schluckte und ließ den letzten der glanzlosen Löffel auf das Tablett gleiten. Sie wappnete sich für die Begegnung, die sich nicht aufschieben ließ. Dann nahm sie das Teegeschirr auf und trat mit einem tiefen Atemzug auf den Flur hinaus.

Die Stimmung im obersten Stockwerk wirkte bedrückend. Steine senkten sich auf Majas Herz, wann immer sie es betrat. Es war selten lebendig im Haus der Carjesans, doch hier oben schien es, als ob die Zeit stillstand.

Sie hielt am Ende der Treppe inne. Ihr Daumen strich über das glatte Holz des Zapfens, der das Geländer zierte. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, die durch die matten Scheiben des Fensters hereinfielen. Er war allgegenwärtig, obgleich das Hausmädchen sich abmühte, ihn im Zaum zu halten und tapfer gegen den modrigen Geruch kämpfte, der im Reich ihrer Mutter hing. Trotzdem verging er niemals. Es gab allen Rätsel auf, weil keiner von ihnen die Quelle fand. Niemand außer Maja konnte die welken Rosen sehen, die jeden Flecken des Flures einnahmen. Sie standen in Vasen, die leer erschienen, wucherten an den Wänden empor, ohne jemals blühen zu dürfen. Sie überschritten die Schwelle zwischen Leben und Tod, sobald die Knospen an den dürren Ranken platzten. Für eine Weile hatte Maja versucht, sie auszureißen und die Vasen geleert. Aber es hatte ihr wenig mehr als einen kurzen Triumph und zerstochene Finger eingebracht. Wann immer ihr Weg sie hinaufgeführt hatte, waren sie wieder da. Ebenso wie der Staub, der auf den Bilderrahmen und dem Treppengeländer ruhte. Eine weiße Schicht, die niemals wich, geboren aus der verdorbenen Magie der Feen.

Die Melodie einer Spieluhr erklang aus dem Zimmer, das am Ende des Flurs lag. Die zerbrechlichen Töne schwebten durch das oberste Stockwerk, ohne jemals zu verstummen. Eine endlose Abfolge von Noten, die sie zu oft bis in ihre Träume verfolgt hatte. Maja setzte sich widerwillig in Bewegung und der Klang wurde mit jedem Schritt lauter, der sie zu der halb geöffneten Tür führte. Sie konnte die Spieluhr im Geiste vor sich sehen. Ein tanzendes Paar, das sich auf einer erblühten Rose drehte. Den maskierten Mann mit dem flammend roten Schopf. Die Frau in seinen Armen, deren Haar sich in goldenen Wellen über ihren Rücken ringelte, wie es das ihrer Mutter einst getan haben musste.

Noch heute erinnerte sie sich daran, wie ihr Vater sie eines Tages im Zorn an die Wand geschmettert hatte, um das Lied endlich ersterben zu lassen. Die Holzsplitter auf dem Teppich, den Kopf der Frau, der über die Dielen rollte. Die Schreie ihrer Mutter, durchdringend wie Klingen, die durch Majas Leib geschnitten hatten. Ihr verzweifeltes Weinen, das nicht enden wollte, ganz gleich, wie oft ihr Vater sie um Verzeihung bat und sie in den Armen barg. Sie war wimmernd über den Boden gekrochen und hatte die Splitter eingesammelt, um sie in ihrem Schoß zu bergen, untröstlich über den Verlust. Doch am nächsten Morgen erklang das Lied der Spieluhr von Neuem. Das Paar setzte seinen Tanz fort und ihre Mutter sah ihm verzückt dabei zu. Es war, als hätte Cosmyr sie niemals berührt. Als sei der grauenvolle Tag nichts als ein Traum gewesen, der mit dem Sonnenaufgang verblasst war.

Maja schüttelte die Bilder ab und sammelte ihren Mut, ehe sie die Tür aufstieß und das Zimmer ihrer Mutter betrat. Der Geruch der verwelkenden Rosen war überwältigend. Sie hielt instinktiv den Atem an und blickte auf die Frau, die in dem weißen Schaukelstuhl saß, eine Decke über den Beinen. Ihr Blick war abwesend aus dem Fenster gerichtet, während sie sacht auf und ab schaukelte. Lyane nahm nicht wahr, dass ihre Tochter gekommen war. Sie summte leise die Melodie der Spieluhr, die ihre skelettartigen Finger in ihrem Schoß umklammerten, ein verklärtes Lächeln auf den Lippen, über die niemals Worte kamen. Sie trug ihr Nachtkleid, das sie einem Gespenst ähneln ließ. Schon lange besaß sie keine Verwendung mehr für die prächtigen Gewänder, mit denen ihr Gemahl sie einst überschüttet hatte.

Maja wandte den Blick ab, nicht fähig, die Hülle ihrer Mutter länger zu betrachten. Wann immer sie es tat, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken, der lange nicht weichen wollte. Stattdessen blickte sie zu ihrem Vater, der auf dem Boden saß und mit dem Rücken an ihrem Bett lehnte, ohne sich an dem Staub zu stören, der alles bedeckte. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Seine Schultern waren herabgesackt, sein Haar zerzaust, die Augen trüb und gerötet. Er wirkte älter, seine Züge schlaff und müde. Rosen rankten über die Pfosten und stachen winzige Dornenkrallen in die Bettvorhänge. Er konnte nicht sehen, wie nah sie seinen Händen waren. Wie sie sich in Richtung des Kamins schlängelten und daran emporwuchsen. Wie sie sich über die Kissen ausdehnten wie ein Rahmen, der Lyane im Schlaf umfing. Ihr Vater ahnte nicht, wie nah die Feen waren, die er fernzuhalten trachtete. Wie nah sie immer gewesen waren.

Cosmyr hob den Blick, um seiner Tochter entgegenzusehen, als sie auf ihn zuging und sich schließlich an seiner Seite niederließ. Schweigen hüllte sie ein, nur durchbrochen von der ewigen Melodie und dem Summen der Frau, die durch sie hindurchsah. Sie bemerkte die kleinen Vögel nicht, die vor dem Fenster in den Zweigen umherhüpften und zwitscherten, obgleich ihre Augen auf sie gerichtet waren. Vielleicht spürte sie noch nicht einmal die Wärme der Sonnenstrahlen, die auf ihr eingefallenes Gesicht schienen.

Die schwerfälligen Atemzüge ihres Vaters klangen laut in ihren Ohren und Maja fasste resigniert nach seinen Händen. Sie waren wärmer, als sie es sein sollten. »Du solltest nicht hier sein, Vater.«

Er schüttelte den Kopf, ohne Maja anzusehen. »Sieh sie dir an«, sagte Cosmyr leise. Sein Kinn wies auf seine Gemahlin. »Es ist das, was dich erwartet, wenn sie dich finden. Ich habe versagt, als ich sie hätte schützen sollen. Es wird mir nicht noch einmal geschehen.«

Maja biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte das Seufzen, das darüber kommen wollte. Du kannst mich nicht beschützen. So wie du sie niemals hättest beschützen können. Sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen. Nicht jetzt, wenn ihr mächtiger Vater so klein und zerbrechlich wirkte. So hilflos und verloren wie ein Kind. »Ich weiß, Vater«, erwiderte sie stattdessen. So wie sie es unzählige Male getan hatte. Das Geräusch des Schaukelstuhls auf den Dielen zehrte an ihren Nerven. Auf und Ab. Auf und Ab. Die bloßen Füße ihrer Mutter bewegten sich im Takt des Wippens, so endlos wie das Lied der Spieluhr. Maja räusperte sich gedämpft. »Vater, ich will …«

»Ich weiß, warum du gekommen bist«, schnitt er ihr das Wort ab. »Und ich wünschte, ich könnte dir deinen Wunsch erfüllen, Maja. Aber ich kann es nicht. Du musst es verstehen … ich halte dich nicht, um dich zu verletzen. Es gibt keinen anderen Weg.«

Ihre Hoffnungen zerfielen zu Asche. Sie füllte ihren Mund und zerstreute die Bitte auf ihrer Zunge in alle Winde. Er würde niemals zustimmen. Sie wusste, dass sie auf verlorenem Boden kämpfte, noch ehe sie den Kampf begonnen hatte. Maja senkte den Blick auf die Spuren ihrer Schuhe, die sich im Staub abzeichneten. »Ich verstehe dich.« Und das tat sie. Selbst wenn er es wollte, könnte er sie niemals gehen lassen. Er konnte nicht den Anker loslassen, an den er sich verzweifelt klammerte. Den Glauben, dass er es vermochte, seine Tochter vor dem Schicksal zu schützen, dem seine Gemahlin anheimgefallen war. Wenn er es täte, würde ihn die Hilflosigkeit auffressen. Trotzdem atmete sie tief ein und ergriff das Wort noch einmal. »Aber ich bin nicht leichtsinnig. Ich werde …«

Cosmyr hustete und unterbrach ihren Widerspruch mit einer barschen Geste. »Doch, das bist du, weil du es in Erwägung ziehst. Du darfst ihnen keinen Anlass geben, dich zu verlocken. Das Letzte, was ich für dich will, ist, dass du das Schicksal deiner Mutter teilst. Du erinnerst dich nicht daran, aber sie war glücklich. Fröhlich und voller Leben. Sie war wie eine Sonne, die jeden Raum mit ihrem Strahlen erfüllt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Der Feenkönig hat ihr alles genommen, weil sie leichtsinnig war und dem Ruf ihres Blutes nicht widerstehen konnte. Er hat sie ausgelöscht. Es war nicht mehr als ein Blinzeln für ihn.«

Jedes ihrer Worte prallte an ihrem Vater ab. Immer. Er wollte sie nicht hören. Lieber unterbrach er sie, als sei sie ein Kind, das nicht genügend Verstand besaß, um mit den Erwachsenen zu reden. Hilflose Wut stieg in ihr auf. Maja biss die Zähne zusammen und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.»Und was, wenn mich diese Mauern auslöschen? Was, wenn es nicht des Feenkönigs bedarf, um mich verlöschen zu lassen? Vielleicht müssen die Feen nicht kommen und mich holen. Dieses Gefängnis wird eines Tages genügen!«

Für einen Wimpernschlag lang wirkte Cosmyr erschrocken, als hätte sie ihn geschlagen. Dann verhärtete sich sein Kiefer und die Verbitterung kehrte auf seine Züge zurück. »Es ist zu deinem Besten, Maja. Oder willst du enden wie sie? Dein Geist vom Feenwahn zerfressen, Tag für Tag gefangen in einer Welt, die es nicht gibt? Ist das die Zukunft, die du dir wünschst?«

»Welche Zukunft habe ich jetzt? In Angst vor den Feen ausharren, bis ich alt und grau bin? Eine Gefangene hinter diesen Mauern? Bewacht von dir und später vielleicht von einem Gemahl, den du auf diese Aufgabe einschwörst? Ist das die Zukunft, die vor mir liegt? Denn eine andere sehe ich nicht!«

»Mit der Zeit wirst du …«, begann Cosmyr beschwichtigend.

»Was? Mich daran gewöhnen? Nein, Vater. Ich bin nicht wie Mutter«, protestierte sie erbittert. »Ich bin stärker und ich werde nicht auf die Feen hereinfallen. Sie können mich nicht bezaubern, weil ich weiß, was sie sind. Ich werde den Feenkönig nicht einladen und mit ihm tanzen. Ich habe keine Sehnsucht nach der Welt hinter den Spiegeln. Aber ich will dieses Leben leben. Jetzt! Mit jedem Jahr ersticke ich ein Stückchen mehr. Siehst du das nicht?«

Cosmyr fasste nach ihren Schultern. Sein Griff war fest und seine alte unnachgiebige Strenge schlich sich in seine Stimme. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Maja. Du musst nicht wie sie sein, um die Feen anzulocken. Dein Blut genügt. Und was liegt vor dir, wenn sie deinen Geist stehlen? Nichts! Sei vernünftig. Vergiss den Jungen und das Schloss. Er ist es nicht wert. Jeder weiß, dass die Raben mit den Feen verbunden waren und das Auge des Feenkönigs ruht noch immer auf diesem Ort.«

»Ich werde keinen der Raben zu Gesicht bekommen. Alles, was ich will, ist, Elejas wiederzusehen und Onkel Vijctor wird mich keinen Augenblick lang aus den Augen lassen. Es wird helllichter Tag sein! Keine Fee wird sich dem Schloss nähern, solange die Sonne am Himmel steht. Warum kannst du mich nicht dieses eine Mal gehenlassen, Vater? Nur dieses eine Mal? Ich werde zurückkommen und nie mehr darüber reden.«

»Der Preis ist zu hoch. Du kannst ihn sehen, wann immer du deine Mutter ansiehst. Ich werde nicht zulassen, dass du ihn bezahlen musst. Ich sage es dir noch einmal - vergiss Elejas. Er kommt seit einem Jahr ohne dich zurecht und er braucht dich auch jetzt nicht!«

»Vater …«

»Nein! Du wirst nicht gehen, hast du mich verstanden? Es ist genug!«

Ein Peitschenknall, der jeden Widerspruch beendete. Majas Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen. Aber ich muss gehen! Ein innerlicher Aufschrei,Worte, die nichts bewirken würden. Sie würden es schlimmer machen, seinen Argwohn wecken, nicht mehr. Ihr Herz wurde schwer. Eiserne Gewichte zerquetschten es unter der Last einer Entscheidung, von der sie wusste, dass sie sie fällen musste. Sie sah auf ihre Finger hinab, die den Stoff ihres Rockes zerknitterten. Welche Wahl blieb ihr? Es war ein Fehler gewesen, heraufzukommen und zu hoffen. Kein Protest dieser Welt würde genügen, um ihren Vater umzustimmen. Maja konnte es in seinen Augen sehen, in denen trotz seiner Erschöpfung ein Funken Stahl blitzte. Sie holte Atem, um die glühenden Kohlen zum Erlöschen zu bringen, die in ihrem Magen brannten.

»Ja. Natürlich«, flüsterte sie in das dröhnende Schweigen. Sie hasste den besiegten Klang ihrer Stimme.

»Gut«, brummte er barsch. »Dann werden wir nicht mehr darüber reden.«

Nicht mehr darüber reden. Es gab so vieles, über das sie nicht mehr redeten. Es war das Ende eines Kampfes, der niemals stattgefunden hatte. In ihrem Geist hörte Maja den Schlag einer Glocke, der sie zur Verliererin ernannte. Sie griff nach seinem Arm, eine Geste der Kapitulation, ohne dass sie diese in Worte fasste. »Lass mich dich zu Bett bringen. Es ist kühl hier oben und ich will nicht, dass es dir noch schlechter geht.«

Der harte Kloß in ihrem Hals ließ es gepresst klingen, doch Cosmyr nahm keine Notiz davon. Er nickte und Maja erhob sich, ehe sie ihm auf die Beine half. Ihr Blick streifte die hellen Wände, die Rosen, die über die Vorhänge krochen, ungesehen von den Augen jener, die nicht ins Feenreich blicken konnten. Vor langer Zeit hatte sie ihm davon erzählt, aber er hatte es als die Fantasie eines Kindes abgetan und sie ignoriert. Über dem Kamin hing ein Gemälde. Alt und von Spinnweben so dicht eingesponnen, dass man es kaum noch dahinter zu erkennen vermochte. Als hätten die Feen versucht, es den Blicken der Frau zu entziehen, die auf dem Stuhl saß. Ein Mann mit kastanienfarbenen Locken und eine goldblonde Frau, im Glück ihrer Liebe vereint. Das Mädchen mit dem goldenen Haar in ihrer Mitte, das ihr Band vollständig machte. Es war eine Illusion, die Cosmyr hatte spinnen lassen. Eine Wirklichkeit, die es nie gegeben hatte, geboren aus dem Wunsch, seine Gemahlin von dem Ort zurückzuholen, an den sie verschwunden war. Doch sie hatte die Mauern dieses Hauses schon lange zurückgelassen und sie würde niemals wiederkehren. Beinahe war Maja den Feen dankbar, dass sie die Lüge vor ihren Augen verdeckten.

Das Summen ihrer Mutter verstummte plötzlich. Ihre leeren, honigfarbenen Augen richteten sich auf den Mann und die junge Frau, die vor dem Kamin standen. Die Wahrheit, die sich unter dem Trugbild einer glücklichen Familie abzeichnete. Eine Gänsehaut bildete sich auf Majas Armen. Ein kalter Hauch schien durch das Zimmer zu fegen und ihre Haut mit Eis zu überziehen. Für einen Herzschlag lang vergaß sie, zu atmen. Dann setzte die Bewegung des Schaukelstuhls wieder ein und das Summen erklang, als hätte es niemals geendet. Der Blick ihrer Mutter löste sich von ihr und trübte sich.

Cosmyr zeigte kein Staunen, kein Anzeichen dafür, dass er bemerkt hatte, was geschehen war. Maja führte ihren Vater aus dem Zimmer, so schnell es ihr möglich war, ohne dass es wie eine Flucht wirkte. Die Feen waren nicht mehr fern. Sie fühlte es. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zu ihr kamen und sich nahmen, was sie begehrten.

2

Feenzauber

Dionas Hufe hallten laut durch die leeren Straßen. Jeder Aufschlag dröhnte in Majas Ohren und ihre schweißnassen Hände klammerten sich fest um die Zügel der braunen Stute, die sie gelassen ihrem Ziel entgegentrug. Diona schien ihre Anspannung nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie genoss die milden Sonnenstrahlen des beginnenden Tages und trottete gemächlich über das Pflaster, vorüber an den Toren der ehrwürdigen Villen, die Sorieskas Händlerviertel dominierten. Alte Bäume und Statuen beschatteten den Weg und ließen das Sonnenlicht in goldenen Flecken über den Boden tanzen wie Feenlichter.

Um diese Zeit herrschte Ruhe in diesem Bereich der Stadt. Die Dienerschaft war auf den Beinen, um das Frühstück für ihre Herrschaften zu bereiten, doch es würde noch dauern, bis sich die Straßen und Gassen mit Leben füllten. Das gelegentliche Bellen eines Hundes oder der Schrei eines Kindes, das Summen der Mücken und der frühe Gesang der Vögel - es waren die einzigen Laute, die sich in Dionas Hufschlag mischten und Maja fluchte innerlich darüber. Es schien ihr, als ob jeder Schritt unweigerlich die Aufmerksamkeit auf die einsame Frau in dem waldgrünen Reitkleid lenken musste. Die Tochter von Cosmyr Carjesan, die ohne Begleitung in Richtung des Marktplatzes ritt.

Sie hatte sich hinausgeschlichen, nachdem sie ihrem Vater das Frühstück hinaufgebracht und es wieder abgeholt hatte. Er war müde genug, dass ihm die Augen zugefallen waren, kaum dass er den letzten Bissen verspeist hatte. Mit Glück würde er erst in einigen Stunden bemerken, dass seine Tochter nicht mehr im Haus weilte. Und dann würde es zu spät sein.

Das Lächeln, das sie ihrem Vater geschenkt hatte, war gezwungen, ihr munterer Tonfall gespielt. Jedes Wort hatte in ihre Zunge geschnitten wie eine Klinge. »Lügnerin, Lügnerin!«, es hatte sich tausendfach in ihrem Geist wiederholt wie der Schlag der Turmglocke, dennoch hatte sie keine Wahl. Der Albtraum von Elejas war in der Nacht zurückgekehrt, so eindringlich, dass sie zitternd und in Schweiß gebadet erwacht war. Wieder hatten die Dornen darin Kratzer auf ihrer Haut hinterlassen und diesmal waren sie nicht innerhalb eines Atemzuges verblasst. Sie hatten bis zum Morgengrauen darauf geblüht, blutige Zeichen dafür, dass sie sich nicht länger widersetzen durfte. Elejas’ Zeit lief ab. Wenn sie nicht zu ihm ging, war er verloren. Sie wusste es tief in ihrem Herzen. Mit einer Sicherheit, die sie am Morgen gelenkt hatte, selbst als die Zweifel so stark geworden waren, dass sie umkehren wollte.

Aber es gab kein Zurück. Der Tag, an dem sie ihre Entscheidung treffen musste, war gekommen und sie hatte sich entschieden. Ihr Vater mochte glauben, dass er die Feen aufhalten konnte, indem er sie hütete wie einen Schatz, doch Maja wollte sich nicht länger an eine trügerische Geborgenheit klammern. Sie wollte nicht verwelken wie die Rosen im Zimmer ihrer Mutter. Gefesselt von Angst und im Schatten einer unsichtbaren Bedrohung, die sie ihr Leben lang verfolgt hatte. Es war Zeit, sich ihrem Schicksal zu stellen und zu sehen, was es für sie bereithielt. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie für immer eine Gefangene ihrer eigenen Furcht bleiben. Und sie konnte es nicht. Nicht mehr. Dieses eine Mal konnte sie nicht die gehorsame Tochter sein, die sich hinter den Mauern ihres Zuhauses versteckte, selbst wenn es den Zorn ihres Vaters herausforderte. Sie wollte jetzt nicht an das denken, was sie erwartete, wenn sie nach Hause zurückkehrte.

Maja presste die Lippen zusammen und lenkte Diona in eine enge Gasse, die sich zwischen den hohen Fachwerkhäusern in die Tiefe schlängelte. Sie konnte nur hoffen, dass Onkel Vijctor sie nicht auf der Stelle durchschaute und sie wieder zurückschickte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als der weitläufige Marktplatz von Sorieska in Sicht kam. Die Händler waren bereits damit beschäftigt, die Stände für den Tag herzurichten, und ein Meer aus Farben und Gerüchen entstand auf dem aufwändig gepflasterten Platz. Die frische Brise, die vom Fluss herüberwehte, strich über ihre Haut und kühlte die Schweißtropfen, die sich darauf gebildet hatten. In der Ferne konnte Maja die Schiffe sehen, die im Hafen lagen, um Waren zu liefern. Die emsige Betriebsamkeit, mit der Kisten und Säcke verladen wurden, erinnerte sie an einen wimmelnden Ameisenhaufen. Von der ruhigen Gemächlichkeit, die in der Nähe der Villen herrschte, war hier nichts zu spüren. Lachen drang an ihr Ohr, Rufe und Flüche, Wortfetzen, die sie nicht zu verstehen vermochte. Das Leben pulsierte rund um den Marktplatz und Maja sog es in sich auf wie eine Ertrinkende, in deren Lunge wieder Luft strömte. Es waren Wochen vergangen, seitdem sie zum letzten Mal mit ihrem Vater herabgekommen war, um den Schuhmacher zu besuchen.

Läden wurden um den Platz herum geöffnet. Nicht zuletzt das Geschäft, in dem die feinen Stoffe feilgeboten wurden, mit denen die Carjesan ihren Wohlstand begründet hatten. Ein Sonnenstrahl ließ das bronzene Schild neben der Tür erglühen und zog ihren Blick auf sich. Die Kutsche mit dem Wappen ihrer Familie stand vor den Ladentüren. Maja erkannte Gabyn, der ihrem Onkel half, die Truhe mit den Stoffen zu befestigen. Wahrscheinlich würde er die Kutsche zum Schloss hinauffahren und Vijctor zur Hand gehen, wie er es getan hatte, seitdem sie denken konnte.

Sie trieb Diona an, schneller zu laufen, und tauchte tiefer in das Gewühl auf dem Marktplatz. Irgendwo wurde gehämmert und ein mit Fässern beladener Wagen kreuzte ihren Weg. Dionas Hufklappern ging im Rattern der Räder und dem Getrappel der Zugpferde unter. Niemand nahm Notiz von ihr oder schenkte ihr einen zweiten Blick. Sie verschwand in der Menge, von einem winzigen Aufflackern der Nervosität begleitet. Es war das zweite Mal, dass sie sich völlig allein durch die Stadt bewegte und es war wie ein Rausch, in den sich eine Spur von Furcht mischte. Fremd. Ungewohnt. Beim ersten Mal war sie nach einem Streit mit ihrem Vater davongelaufen, ein störrisches sechzehnjähriges Mädchen, das einen Hauch von Freiheit gekostet hatte. Elejas hatte sie gefunden und überredet, nach Hause zurückzukehren. Aber nicht, bevor sie gemeinsam einen wundervollen Tag auf dem Markt verbracht und die engen Gassen von Sorieska erkundet hatten. Es mochte der schönste Tag ihres Lebens gewesen sein, doch er hatte Cosmyr nicht milder gestimmt, im Gegenteil. In der Zeit nach ihrem Ausflug hatte er sie kaum aus den Augen gelassen. Die Erinnerung ließ ihre Miene düster werden.

»Maja! Was tust du denn hier?« Gabyn hatte sich aufgerichtet und sie entdeckt. Er stemmte die Hände in die Hüften. Seine Kappe saß schief auf seinem weißen Haar und die Pfeife, die in seinem Mundwinkel hing, blieb frei von Rauch. Sicher war sie bereits vor einer Weile erkaltet.

Maja ertappte sich dabei, wie sie sein breites Lächeln erwiderte. »Ich komme mit euch zum Schloss, Gabyn.« Sie sah zu Vijctor, der durch den Ausruf des älteren Mannes aufmerksam geworden war und sich nun mit dem Arm auf die Truhe stützte. Sie stieg ab und bemühte sich, das Zittern ihrer Hände zu verbergen, während sie Diona die Zügel über den Kopf streifte.

»Ich hätte nicht geglaubt, dass du wirklich kommst. Cosmyr hat es tatsächlich erlaubt?« Skepsis stand in Vijctors meerfarbenen Augen und Maja zwang sich, seinem prüfenden Blick standzuhalten.

»Ich bin erwachsen, Onkel Vijctor. Vater kann für ein paar Stunden auf mich verzichten und Ijona wird sich gut um ihn kümmern, solange ich weg bin.« Ihr Tonfall klang leicht und fröhlich, doch sie wich ihm aus und an seiner nachdenklichen Miene erkannte sie, dass er es bemerkte.

»Wie geht es Cosmyr? Wir haben uns Sorgen gemacht, als er gestern nicht ins Geschäft gekommen ist. Normalerweise können ihn keine zehn Pferde davon abhalten, nach dem Rechten zu sehen.« Gabyn zeigte keinen Funken Argwohn. Er schob seine Kappe zurecht und zog ein Zündholz aus der Tasche, um seine Pfeife wieder anzuzünden. Dann nahm er ihr die Zügel aus der Hand.

»Es geht ihm besser. Das Fieber ist über Nacht gesunken, aber sein Husten plagt ihn sehr. Als ich gegangen bin, hat er fest geschlafen.«

»Hat er das?« Vijctor verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte schmal. Maja war sich sicher, dass er sie mühelos durchschaute.

»Ja. Aber du musst dir keine Sorgen machen, Onkel«, erwiderte sie bissig. »Ich habe keine Kräuter benutzt, um ihn zu betäuben.«

Maja hob die Brauen und starrte ihn herausfordernd an, bis Vijctors Lächeln sich zu einem offenen Grinsen wandelte. Sie atmete auf, als er sich umdrehte und seinen Gehrock aus dem Inneren der Kutsche nahm. »Nun, vielleicht hätte die Ruhe seinem Sturschädel gutgetan.« Er streifte sich den Rock über und ließ den Dreispitz folgen, der auf dem Sitz gewartet hatte.

Gabyn lachte gackernd. »Sonne und Mond! Cosmyr kann so unbeweglich sein wie ein Stein. Es ist gut, dass du mitkommst, Mädchen. Ich habe immer gesagt, dass du einen Blick für die Stoffe hast, den ein Mann nicht besitzt. Eine Frauenhand ist das, was dem Geschäft fehlt, seitdem deine Großmutter gestorben ist. Und die Hüterin des Lichts weiß, dass Vijctor wahrscheinlich nie eine Braut nach Hause bringen wird.«

Ihr Onkel schnaubte und Maja schenkte dem weißhaarigen Mann ein warmes Lächeln, als er Diona über das Pflaster führte und in einer Seitengasse verschwand. Der Stall befand sich hinter den Warenhäusern und es würde einen Augenblick dauern, bis er zurückkehrte. Unruhe stieg in ihr auf, als sie gewahrte, dass sie mit Vijctor allein war.

»Du bist sicher, dass du ihn nicht betäubt hast? Wenn nicht, solltest du es nachholen. Denn wenn du gegen seinen Willen hier bist, wird er mich umbringen.« Seine Stimme ließ sie aufsehen, um seinem forschenden Blick zu begegnen.

Er hatte sie durchschaut. Maja unterdrückte das nervöse Räuspern, das in ihrer Kehle kratzte. »Du bist der bessere Fechter. Ich mache mir keine Sorgen um dich«, gab sie leichthin zurück, ehe sie ihren Rock glättete. Für einen Augenblick wünschte sie sich, angemessener gekleidet zu sein. Das Erscheinungsbild ihres Onkels war makellos. Der himmelblaue Gehrock mit der silbernen Stickerei, die hellen Hosen, die in seinen glänzenden, hohen Stiefeln steckten. Er war nicht weniger als ein Prinz, der sich aufmachte, um der Königin von Serijsa einen Besuch abzustatten. Ihr selbst genähtes Reitkleid wirkte dagegen so schlicht, als sei sie eine Küchenmagd.

»Ich danke dir für dein Vertrauen, Nichte«, erwiderte er trocken. »Wenn du dich täuschst, darfst du mich wieder zusammenflicken.«

»Ich kann nähen. Deine Narben werden nahezu unsichtbar sein und es heißt, dass die Damen der höheren Gesellschaft narbige Gesichter verwegen finden. Es wird dir also nicht zum Nachteil gereichen.«

Vijctor lachte laut auf und ein vergnügtes Funkeln tanzte unvermittelt in seinem Blick. Beinahe … verschwörerisch. »Du hast die spitze Zunge deiner Großmutter geerbt, Maja. Sie wäre stolz auf dich. Und sie war ebenso eigensinnig wie du.« Melancholie huschte wie ein Schatten über seine Züge, aber das Lächeln kehrte schnell zurück. Er wies mit seinem edlen Spazierstock auf die offene Kutschentür. »Hinein mit dir. Besser, wir sind verschwunden, ehe Cosmyr alle Feuer von Nikara über uns hereinbrechen lässt.«

Maja schlug die Augen nieder und musterte die Handschuhe, in denen die Feuchtigkeit ihrer Handflächen hing. »Danke, Onkel Vijctor«, murmelte sie gedämpft.

Er antwortete nicht, doch für einen Herzschlag lang legte sich seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie ermutigend. Dann stieg sie in die Kutsche und er folgte ihr, nachdem Gabyn aus den Ställen zurückgekehrt war. Der Knall einer Peitsche ertönte und die Pferde zogen an. Majas Herz setzte aus, um anschließend schneller zu pochen. Unglauben vermischte sich mit der nagenden Furcht vor dem, was sie entdecken würde, sobald sie an ihrem Ziel angelangt war. Die Räder rollten über den Marktplatz von Sorieska, dem Schloss der Raben entgegen, das über ihnen aufragte wie ein Schatten, der das Licht der Sonne verschluckte.

Der Weg schien sich endlos durch den Wald zu schlängeln, immer hinauf, den steilen Hügel empor, auf dessen Spitze Schloss Rabenschwinge thronte. Licht und Schatten vollführten einen unaufhörlichen Reigen, Wärme wechselte sich mit Kälte ab, wenn die Tannen so dicht standen, dass sie jeden Sonnenstrahl verschlangen. Es roch feucht, nach Moos und Harz. Der Wald war so ruhig, dass der gedämpfte Hufschlag beinahe das einzige Geräusch war, das seine Stille durchdrang. Selbst Gabyn hatte aufgehört, das fröhliche Lied zu pfeifen, das sie durch die Stadt begleitet hatte. Es schien unangemessen, die Ruhe zu durchbrechen, die über den Bäumen lag. Vor langer Zeit musste es anders gewesen sein, als Schloss Rabenschwinge der Mittelpunkt von Serijsa war, der Pfad von unzähligen Wagen und Kutschen befahren. Jetzt wirkte es, als ob der Wald in einen traumlosen Schlaf gesunken war, so tief, dass sich nichts mehr bewegte.

Vijctor war in Gedanken versunken. Er blickte aus dem Fenster, auf das endlose Grün und Braun, das an ihnen vorüberzog. Maja versuchte nicht, ihn zu stören. Mit jeder Kurve stieg ihre Unruhe. Nicht mehr lange und sie würde Gewissheit haben. Sie würde Elejas finden oder sich als die törichte Närrin erweisen, die alle in ihr sahen. Ihre Finger verknoteten sich, während sich die Bäume allmählich lichteten. Maja neigte sich zum Fenster, um hinauszusehen, und fand die mächtige Form des Schlosses, das sich über ihnen erhob wie ein Berg. So hoch, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um bis zu den spitzen Türmen zu sehen, auf denen Raben saßen wie ein dunkles Heer. Sie spürte unzählige Augen, die sich auf die einsame Kutsche richteten, die sich aus den Bäumen löste. Maja fröstelte und rieb sich über die Arme. Das Rabenwappen der königlichen Familie wehte im Wind. Der gekrönte Rabe auf scharlachrotem Grund. Er erzählte von Kriegen, die unter dem Rabenbanner geführt worden waren, lange bevor die blühende Zeit des Friedens angebrochen war.

»Man sagt, dass die Mauern von Schloss Rabenschwinge früher weiß waren wie Schnee«, erklang Vijctors Stimme im Hintergrund. »Es soll das schönste Schloss gewesen sein, das die Welt je gesehen hat. Ein leuchtendes Juwel, über das man weit über die Grenzen von Serijsa hinaus gestaunt hat. Die Menschen sind von überall her gekommen, nur um es ein einziges Mal aus der Nähe zu bewundern.«

Maja drehte sich um und fand sich seiner gedankenversunkenen Miene gegenüber. Seine Augen waren auf das Schloss gerichtet, auf die massiven Tore, die hinter die zinnenbewehrten Mauern führten. Nicht lange und sie würden die Kutsche verschlingen. Sie räusperte sich. »Warum sind sie dann schwarz?«