Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen - E-Book

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) E-Book

Siri Pettersen

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Beschreibung

Das Schicksal der Welten liegt jetzt in Hirkas Händen. Die fulminante Fortsetzung der Fantasy-Reihe ›Die Rabenringe‹: Band 2 ›Fäulnis‹, der für den norwegischen Bokhandlerprisen nominiert war, handelt von Vorurteilen, Machtgier, Ängsten, Rache und Liebe. Hirka ist in der fremden Welt der Menschen gestrandet. Hier trifft sie auf Menschenjäger und Totgeborene und sehnt sich nach Rime, ihrem echten Freund. Doch ihr Kampf ums Überleben verblasst, als sie die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt und verstehen lernt, dass die Quelle der Fäulnis seit über tausend Jahren nach Freiheit strebt. Das Schicksal zweier Welten und derjenigen, die sie liebt, scheeint immer mehr in Hirkas Händen zu liegen ....

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Seitenzahl: 726

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Siri Pettersen

Die Rabenringe

Fäulnis

Aus dem Norwegischen von Dagmar Mißfeldt

 

 

 

Für alle, die Odinskind geliebt haben und das einfach nicht für sich behalten konnten.

 

 

 

 

 

 

Und für dich und alle, denen die Erde wichtig ist. Für alle, die ihr allein kämpft, weil der Abgrund zwischen euren Träumen und unserer Wirklichkeit viel zu tief ist. Für alle, die ihr die Erde in einem besseren Zustand verlassen wollt, als ihr sie bei eurer Ankunft vorgefunden habt. Für alle, die ihr immer schon wusstet, dass wir in die falsche Richtung unterwegs sind. Das hier ist euer Buch.

Prolog

Er hockte da draußen im Tunnel zum Bahnsteig, ein Pappschild an die Beine gelehnt. Fettige Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, aber kein Zweifel: Er war es. Und die Tür der U-Bahn wollte gerade zugehen.

Stefan schubste ein Kind weg und boxte sich durch das Gedränge. Er war froh, dass er die Kopfhörer aufhatte. Sie erstickten den Chor der Meckerer. Eine alte Frau machte den Mund auf und zu wie ein Goldfisch, aber er hatte nur Trent Reznor auf den Ohren.

You had all of them on your side, didn’t you?

Er musste raus. Sofort. Er hatte den Scheißkerl schon zweimal verloren und das durfte ihm nicht noch einmal passieren. Stefan warf sich gegen die Tür. Sein Arm wurde eingeklemmt, aber er kam durch. Stolperte auf den Bahnsteig, bevor die Bahn weitersauste. Es wimmelte von Leuten. Das Bunkerlicht saugte ihnen das Leben aus den Gesichtern. Sie sahen aus wie Zombies. Aber sie waren noch nicht so tot, dass sie nicht reagieren würden, wenn er es hier unten tat. Er musste einen anderen Weg finden. Einen anderen Ort.

You believed in all your lies, didn’t you?

Er ging in den Tunnel hinein. Der Bettler streckte eine Hand aus, ohne ihn anzusehen. Stefan grinste breit.

»Hey, Roast.«

Roast hob den Kopf. Ein Wiedererkennen huschte gerade noch über seine Augen, da war er auch schon auf den Füßen. Schneller, als man ihm zugetraut hätte. Er lief den Tunnel entlang. Schwarze Klamotten und zerzaust wie eine Krähe. Stefan rannte hinterher. Seine Schuhe knallten auf den Boden. Das Echo hallte von den gekachelten Wänden wider. Er streifte einen Fahrkartenautomaten, nahm die Treppe in drei Sprüngen und war draußen auf der Straße. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Es war dunkel. Roast war nur wenige Meter vor ihm, aber dann preschte er direkt auf die Fahrbahn. Rannte zwischen Autos, die auswichen.

Stefan verschenkte keine Zeit. Der Instinkt trieb ihn hinterher. Bremsen quietschten. Er stieß mit einer nassen Motorhaube zusammen und peste weiter. Jaulende Autohupen mischten sich mit der Musik.

The Ruiner is your only friend, he’s the living end, to the cattle he deceives.

Er lief quer über den Soho Square und holte ein paar Meter auf. Leute guckten ihnen hinterher, aber niemand kümmerte sich weiter darum. Nicht, solange die Beute ein Obdachloser war.

The raping of the innocent, you know the Ruiner ruins everything he sees.

Roast stieß die Leute auf dem St. Ann’s Court zur Seite, bog nach links ab und rannte weiter am Flat White vorbei, dem Coffeeshop, wo sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Es stach in Stefans Lunge, aber er setzte alles darauf, dass Roasts Kondition schlechter war. Und er behielt recht. Der Bettler wurde langsamer. Schaute sich ratlos um und flüchtete in einen Nachtclub.

Now the only pure thing left in my fucking world is wearing your disease.

Stefan drängelte sich an den Leuten vorbei und hinter ihm her. Roast fiel leicht ins Auge: ein ungepflegter Wilder zwischen engen Kleidern und tiefen Ausschnitten.

How did it get so hard? How did it get so long?

Roast lief zu einem Notausgang. Riss die Tür auf und verschwand nach draußen. Stefan war hinter ihm, noch bevor die Tür wieder zufiel. Er stolperte hinaus in eine enge Seitenstraße. Eine Sackgasse. Der Bettler stand in der hintersten Ecke, bei den Müllcontainern. Fauchte wie ein gefangenes Tier.

The Ruiner’s a collector, he’s an infector, serving his shit to his flies.

»Game over, Roast.« Stefan ging auf ihn zu.

Roast drückte sich an die Wand gegen eine Regenrinne. Verputz um die Halterungen der Rinne bröckelte ab und rieselte ihm auf die Schultern. Der Regen spülte ihn über die ausgeblichene Jacke. »Ich hab nix gemacht! Ich hab nix gemacht!«, schrie Roast hysterisch.

Das war gelogen. Der Rufname Roast war kein Zufall, aber Stefan hatte keine Lust zu widersprechen. Es war nichts Menschliches mehr zum Diskutieren übrig.

Maybe it’s a part of me you took to a place I hoped it would never go.

Stefan war sich angenehm im Klaren darüber, dass er Oberwasser hatte. Die Glock konnte an der Hüfte hängen bleiben. Eine Kugel gespart. Stattdessen zog er die Zange.

And maybe that fucked me up much more than you’ll ever know.

Roasts Blicke jagten nach etwas, womit er sich verteidigen konnte. Er riss eine Metallhalterung von der Regenrinne ab. Die Bolzenschrauben fielen auf den Asphalt. Er begann, auf seine eigenen Zähne einzuschlagen. Die Lippen platzten auf. Die scheinbare Abwesenheit von Schmerzen ließ darauf schließen, dass Adrenalin bei Weitem nicht der einzige Stoff in seinem Körper war, der seine Wirkung tat.

And what you gave to me, my perfect ring of scars.

Roast spuckte in die hohle Hand und streckte Stefan den Arm entgegen. »Nimm sie, nimm sie! Du kannst mich nicht anrühren, dann finden sie dich! Die Bullen finden dich!« Es regnete rot aus seinem Mund, als er das schrie.

Stefan guckte die beiden Zähne an. Weiße Klumpen in der schmutzigen Hand. Regen sammelte sich um sie zu einer blutigen Pfütze.

»Idiot«, antwortete er. »Den Bullen ist es scheißegal, woran du krepierst. Niemand gibt auch nur einen Penny, um das rauszufinden. Du bist vergessen. Schon vergessen?«

Stefan wartete eine Reaktion nicht ab. Er donnerte ihm den Ellenbogen auf die Nase. Roasts Kopf knallte gegen die Wand. Er fing die Zähne auf, bevor Roast zu Boden ging. Dann schleppte er den bewusstlosen Körper in die Ecke zum Container. Der Müll quoll unter dem Deckel hervor, als würde er sich übergeben. Die Gerüche vermischten sich. Verfaultes Essen. Blut. Und die stechende Ausdünstung, die verriet, dass Roast es mit den Toilettenbesuchen nicht mehr so genau nahm. Vielleicht verständlich nach über hundert Jahren.

Stefan brach ihm das Genick. Roast war robust. Zwei Versuche waren nötig, bis er das Knacken hörte.

Er steckte die Zähne in die Jackentasche und überprüfte den Tatort. Keine Fenster. Keine Kameras. Keine Menschen. Er war in Sicherheit. Der Asphalt glänzte. Der Regen trommelte auf den Containerdeckel. Stefan fuhr sich mit der Hand durchs nasse Haar. Er verstaute die Zange wieder in der Tasche. Zog die Jacke zurecht und stellte die Lautstärke höher.

You didn’t hurt me, nothing can stop me now.

Das Loch

»Alles, worum wir bitten, ist Seelenfrieden«, sagte Telja Vanfarinn und legte die Hand auf ihre Brust. Die Kette, die sie sich mehrfach um den Hals gelegt hatte, klirrte.

Rime musste fast lachen. Jeder hätte dieses Schmierentheater durchschaut, auch ohne in Mannfalla aufgewachsen zu sein. Ihr Kleid war kohlrabenschwarz und von dramatischem Schnitt mit bodenlangen Ärmeln. Sie trug Witwenkleider, obwohl ihr Mann quicklebendig neben ihr stand. Die Trauer war nichts als Putz. Staffage, um beim Rat, von dem sie sich auf raffinierte Weise ein Treffen erbettelt hatte, Mitgefühl zu wecken.

»Es reißt uns in Stücke, Rime-Fadri. Nicht zu wissen. Urds Tod nicht zu verstehen.«

Rime spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Urds Name verursachte ihm nach wie vor Übelkeit und nichts deutete darauf hin, dass das vorübergehen würde. Nicht, solange sein Stuhl leer blieb. Der war eine offene Wunde im Kreis der Ratsleute, die zurückgelehnt um den Tisch saßen. Gefährlich. Entzündet. Unmöglich als Gesprächsgegenstand, ohne eine Unruhe zu riskieren, die halb Draumheim aufwecken könnte.

»Wir haben euch unser Beileid bekundet«, antwortete Rime. »Ich habe persönlich das Oberhaupt der Vanfarinns besucht. Sie weiß, was passiert ist. Du bist … die Tochter ihrer Schwester?« Er sah Telja an, die unaufgefordert näher an den Ratstisch herangetreten war.

»Rabenträger, unsere Mutter ist alt«, sagte Telja und strich um die Frage wie die Katze um den heißen Brei. »Ihr Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Du hast uns mit dem Besuch bei ihr geehrt, aber … Einige Dinge, von denen du ihren Worten nach erzählt hast, die sind … Nun ja …« Telja rückte die Halskette zurecht.

»Unglaubwürdig«, ergänzte Darkdaggar. »So unglaubwürdig, dass wir davon ausgehen müssen, dass die Familie von dem Mann eine Bestätigung verlangt, der dabei war, als Urd starb.«

Rime hatte den Angriff zwar vorausgesehen, aber nicht damit gerechnet, dass er so offen geäußert würde. Er schaute den Ratsherrn an. »Hast du vor, mich vor das Thing zu bringen, Darkdaggar?«

»Keineswegs, Rabenträger. Die Familie Vanfarinn wünscht nur, dass die Sache aus der Welt geschafft wird.« Darkdaggars Lächeln wirkte wie tot. Das Licht strich über sein Gesicht. Machte ihn blutleer, trocken. Ein scharfer Kontrast zu den goldenen Wänden hinter ihm. Sie waren in Paneele unterteilt, auf denen die Stammbäume der zwölf Familien dargestellt waren. Die Bäume verzweigten sich hinauf bis zur gewölbten Decke und gaben Rime das Gefühl, in einem Käfig zu sitzen. Der Stuhlrücken fühlte sich wie eine Wand hinter ihm an, klemmte ihn am Tisch fest.

Er war gefangen, an einen Platz gebunden, der sich nie wie sein eigener anfühlen würde. Der Stuhl gehörte Ilume, der Mutter seiner Mutter. Und er hatte geschworen, nie dort zu sitzen. Aber hier saß er. Ratsherr. Rime-Fadri. Rabenträger. Umgeben von Feinden, die jeden wachen Augenblick nutzten, um seinen Sturz vorzubereiten.

»Aus der Welt?« Sigra Kleiv verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust. »Urd wurde auf Ravnhov umgebracht und solange die Wilden dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden, wird diese Angelegenheit nie ein Ende finden.«

Rime spürte, wie die Wut in ihm wuchs. Er musste sich dazu zwingen, sitzen zu bleiben. »Ich sage es jetzt zum letzten Mal, Sigra. Der Krieg findet nicht statt. Begreif das endlich. Ravnhov kann nicht vors Thing gezerrt werden für das, was die Blinden getan haben.«

Sigra holte für einen Widerspruch tief Luft, doch Darkdaggar kam ihr zuvor.

»Schon möglich, aber auch die Blinden können wir nicht vors Thing zerren, oder etwa doch?« Er nahm einen Schluck aus dem Weinbecher, während sich Gelächter am Tisch verbreitete.

Rime guckte Telja Vanfarinn an. Ihre Wangen liefen vor Eifer rot an. Sie konnte den Stimmungsumschwung im Raum riechen. Das machte sie kühner. Die Maske der Trauer fiel.

»Das hätten wir vielleicht gekonnt, wenn es sich nicht so verhielte, dass niemand sie gesehen hat.« Sie lächelte.

Rime stand auf. »Niemand?«

Teljas Lächeln erlosch. Sie schaute Darkdaggar flehend an. Rime war nicht überrascht. Darkdaggar hatte ihren Besuch bewilligt und Rime nahm an, dass sie im Voraus viele Gespräche über dieses Treffen geführt hatten. Wie viele Angriffsmöglichkeiten sie ersonnen hatten, blieb abzuwarten.

»Nimm es nicht persönlich, Rabenträger«, meinte Darkdaggar. »Telja spricht nur aus, was wir alle wissen. Das Auffälligste an den Totgeborenen ist ihre vollkommene Abwesenheit. Wer behauptet denn, sie hätten sie gesehen? Eine Handvoll Schwarzröcke? Ist es da ein Wunder, dass die Leute von einer Wahnvorstellung sprechen? Oder von einer Vergiftung? Habt ihr vielleicht was gegessen, was euch nicht bekommen ist? Oder wart ihr … Zauberei erlegen?«

Erneut brach Gelächter um den Tisch aus. Rime ballte die Fäuste, ging auf Telja zu. Sie wich ein paar Schritte zurück. Der Kleidersaum schleifte über den Boden. Rime zeigte mit dem Finger auf sie.

»Nur aus einem einzigen Grund steht ihr in diesem Raum, nämlich weil viele hier für die Familie Vanfarinn Loyalität empfinden. Das ist bei mir nicht der Fall. Mich und meine Männer als Lügner zu bezeichnen, wird euch nichts nützen.«

Teljas Blick flackerte zwischen Rime und Darkdaggar hin und her. »Ich wollte nie … Ich habe nicht gesagt … Vernunft ist ein empfindliches Gut, Rabenträger. Man erzählt, viele starke Männer hätten sich Trolle im Nebel eingebildet, und wir …«

»Trolle im Nebel?« Rime fing ihren Blick ein, hielt ihn fest. Die Falten um ihre Augen verrieten, dass sie älter war, als er zuerst angenommen hatte. Vielleicht bezog sie daher ihren Mut. Sie wusste, dass jetzt die Stunde der Entscheidung gekommen war.

»Blut von denen, die du für einen Mythos hältst, ist von meinem Schwert getropft. Ich habe sie mit Stahl durchbohrt und gesehen, wie das Leben aus ihren weißen Augen gewichen ist, habe ihren Atem gespürt, ihr Knurren gehört. Und ich habe den Gestank von den Scheiterhaufen gerochen, als wir sie verbrannt haben. Ein Geruch, der dich bis nach Draumheim verfolgen würde, Telja.«

Das Lachen war verstummt. Telja schluckte und senkte den Blick.

»Im Namen des Sehers«, kam es von Darkdaggar. »Müssen wir es wirklich so dramatisieren? Die Familie bittet nur um eine Linderung der Wunde. Sie haben einen Ratsherrn verloren, Rabenträger.«

Jeder Blick im Raum fiel auf den leeren Stuhl. Es gab keinen Zweifel, worin die Linderung bestehen sollte.

Rime schaute wieder Telja an. »Ist das so? Würde dir der Stuhl die Antworten geben, nach denen du dich sehnst? Würdest du aufhören, dich zu fragen, wie er starb, wenn einer von euch an diesem Tisch säße?«

Telja zögerte, besaß aber genug Schamgefühl, um den Kopf zu schütteln.

»Selbstverständlich nicht«, sagte Darkdaggar. »Doch es wäre zumindest eine Garantie, dass Urd nicht wegen des Platzes das Leben genommen wurde.«

Schweigen breitete sich aus. Der Tötungsvorwurf war offenkundig und noch dazu von außen in den Rat hineingetragen worden. Rime schaute sie alle der Reihe nach an. Die Männer und die Frauen, die drei oder vier Mal so alt waren wie er. Sie blieben stumm. Die meisten, weil sie Darkdaggar unterstützten. Einige wenige andere, weil sie alles nicht noch schlimmer machen wollten.

Telja Vanfarinn machte einen Schritt auf Rime zu. »Rabenträger, du musst uns vergeben, wir sind vor Trauer ganz durcheinander! All das Gerede über Blinde und Steintore … Für uns ist das mehr als unbegreiflich. Niemand hat Beweise gesehen für …«

»Unsinn!«, unterbrach Jarladin. »Ein voll besetzter Ritualsaal sah, wie sich die Schwarzröcke durch die Tore sprengten, sodass die Wände einstürzten. Wenn du Beweise brauchst, dann kannst du unten am Hafen Trümmerteile der roten Kuppel kaufen!«

Telja ergriff gierig die Gelegenheit, als sei dies eine Verhandlung. »Ein voll besetzter Ritualsaal bedeutet jede Menge nicht übereinstimmende Geschichten, Jarladin-Fadri. Vergib uns, wir waren nicht dabei. Wir haben nur gehört, dass das Gebäude erschüttert wurde. Einige sagen, die Kuppel habe die Wände geschwächt. Andere sagen, die Erde habe gebebt.«

Darkdaggar verschränkte die Hände hinter dem Nacken. »Was für eine Tragödie, dass wir euch nicht beruhigen können. Es wäre so ungeheuer einfach gewesen. Aber die Wahrheit ist, dass die Tore nun wieder so tot sind, wie sie es tausend Jahre lange waren, habe ich nicht recht, Rabenträger?« Er sah Rime an, ohne zu lächeln. Nur seine Augen verrieten den Siegesrausch.

Rime biss die Zähne zusammen. Das hier war zu weit gegangen. Er hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und jetzt würden sich die Wölfe hereinzwängen. Diplomatie würde ihn nicht mehr weiterbringen.

»Die Leute können reden, bis sie im Draumheim verfaulen«, sagte er. »Geredet wird immer viel. Das ändert nichts. Ich war dort. Ich weiß, was passiert ist. Urd hat sich seinen eigenen Scheiterhaufen gebaut. Er war ein verrückter Hund.«

Sigra seufzte laut auf. Ein Funke flammte in Teljas Augen auf. Nur mit knapper Not konnte sie sich ein Lächeln verkneifen. Sie griff nach einem schwarzen Bündel, das ihr Mann trug, und hielt es hoch. Es war ein Kittel, den jemand zerschnitten hatte. Auf der Brust, wo das Zeichen des Sehers sonst saß, war nur ein Riss zu sehen. Ein klaffendes Loch über dem Herzen.

»Der gehörte einem Schriftgelehrten, Rabenträger. Sie sahen, wie er auf die Ora hinausging, wo das Eis dünn war. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Sie sagen, er habe den Verstand verloren und dass er nicht der Erste sei. Ich gebe zu, Urd war eigenartig, Rime-Fadri, aber verrückt war er nicht. Vielleicht hat der Verlust des Sehers ihn in die Schwermut getrieben? Vielleicht hat er aus dem Grund so gehandelt, wie er es tat. Und so gesehen kann man vielleicht sagen, das Ganze war … Nun ja …«

Rime traute seinen Ohren kaum. Er sah sie an. »Meine Schuld?«

Sie biss sich auf die Lippe, maß ihn mit den Augen.

Ihm war übel. Er starrte auf den Kittel. Das Loch drohte ihn in sich hineinzuziehen, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Ein dunkles Nichts.

Er ging auf Telja zu. Ihr Mann streckte einen Arm aus, um sie zu beschützen. Ein hilfloser Reflex. Rime packte sein Handgelenk und drängte ihn zurück, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Telja raffte die Röcke, als mache sie sich zum Weglaufen bereit.

Rime lehnte sich vor. »Urd tötete Ilume, als ich danebenstand. Die Mutter meiner Mutter. Er brach die Rabenringe auf, ließ die Totgeborenen nach Ymsland, in den Wahnsinn getrieben von seinem eigenen Blindwerk. Nein, ich habe ihn nicht getötet. Aber ich kann dir versprechen, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte, dann hätte ich es getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Schau dir den Stuhl jetzt nur gut an, Telja, denn du wirst ihn nie wiedersehen.«

»Schluss!« Sigra schlug mit der Faust auf den Tisch. Leivlugn Taid neben ihr zuckte zusammen, dass sein Doppelkinn nur so wabbelte. Sein Becher fiel um. Der alte Mann hatte während der Versammlung gedöst und ihn kaum angerührt. Dunkler Wein überschwemmte die Tischplatte. Stühle schabten über den Boden, als alle aufstanden, um ihre Kittel in Sicherheit zu bringen.

»Diese Versammlung ist beendet«, sagte Rime. Er riss die Altantüren auf und trat hinaus in die Kälte, atmete den Frost tief in die Lungen ein. Er ging auf die Brücke und blieb stehen. Er stand auf einer der ältesten Brücken von Eisvaldr. Sie hatte einmal in den Ritualsaal geführt. Jetzt ragte sie in die Luft wie eine steif gefrorene Zunge. Geschnitzte Schlangen hingen über den Rand, als klammerten sie sich fest. Rime merkte, dass er das auch tat, und ließ das Geländer los. Es war mit weißem Raureif bedeckt. Seine Hände hatten einen Abdruck hineingeschmolzen.

Auf der Erde darunter stand der Rabenring. Bleiche Steinstelen, die ihren ersten Winter sahen, nach tausend Jahren verborgen in den Wänden. Sie waren tot. Unbrauchbar. Er hatte ganze Nächte damit verbracht, vor ihnen zu umarmen. Die Gabe hervorzupressen, bis seine Schläfen zu zerplatzen drohten, aber die Tore hatten sich geweigert, sich ihm zu öffnen. Genauso gut hätte es ein Traum gewesen sein können, dass sie es getan hatten. Darkdaggar hatte die Wahrheit gesagt. Die Tore waren seit dem Tag erloschen, an dem sie gegangen war. Wie alles andere auch.

Er hörte schwere Schritte hinter sich. Jarladin stellte sich neben ihn und starrte auf das Ende der Brücke. »Wenn du einfach weitergehen würdest, könntest du ihnen die Mühe ersparen«, sagte er. Der Wind spielte mit seinem weißen Bart.

Rime lachte kurz auf. »Das Vergnügen gönne ich keinem von ihnen. Wenn sie meinen Tod wollen, dann müssen sie das schon selbst in die Hand nehmen.«

Jarladin seufzte. »Du hast all deine Karten ausgespielt, Rime. Du kannst sie nicht mehr überlisten. Nicht, wenn du nicht in Ketten auf dem Thingplatz aufwachen willst. Darkdaggar hat das Maß überschritten, aber du versuchst noch nicht einmal, sie zu einen. Wenn du den Hass nicht ablegst, dann wird er dich wie uns zu Fall bringen.«

Rime hätte gern gesagt, dass er niemanden hasste, aber das wäre gelogen gewesen. Er hasste sie, weil sie unter einem falschen Seher regiert hatten. Hasste, wie sie die Wirklichkeit nach ihrem Willen zurechtbogen. Hasste die Intrigen, die Lügen. Die bittere Wahrheit war, dass niemand am Tisch ein anderes Ziel mit seinem Stuhl verfolgte, als auf ihm sitzen zu bleiben.

Jarladin klopfte Rime auf den Rücken, als tue er ihm einen Gefallen. »Außerdem hatten sie nicht ganz unrecht. Mehrere Schriftgelehrte haben uns verlassen und das wird Folgen haben.«

»Hat dir noch niemand erzählt, dass du es den Leuten nicht verbieten kannst, dich zu verlassen?« Rime fühlte, wie nackt ihn seine eigenen Worte dastehen ließen. Er wandte den Blick vom Steinkreis ab. Schlug mit den Fäusten auf das Geländer.

»Das ist sinnlos! Sie haben es mit eigenen Augen gesehen! Sie haben gesehen, wie die Wände sich abschälten. Wie die Steine herauswuchsen. Sie wissen, dass die Blinden hier waren. Sie kennen die Wahrheit genauso gut wie ich, aber sie erheben Zweifel, weil das der Sache des Rates dient.«

Jarladin sah ihn an. »Ist es das, was dich antreibt? Recht haben? Unsinn! Du hast nie was auf deine Stellung gegeben. Wenn doch, dann würdest du deine eigene Familie stärken.«

Rime wandte sich von ihm ab. Jarladin war ein Stier von einem Mann und sein einziger Freund am Tisch. Aber das bedeutete ganz und gar nicht, dass dadurch der Umgang mit ihm einfacher war.

»Ich habe gesagt, was ich zu dieser Sache zu sagen habe. Ich bin ein Schwarzrock. Wir schwören niemandem die Treue, so lauten die Regeln.«

»Regeln, Rime? Du kannst die ganze Bibliothek durchpflügen, ohne eine einzige Regel zu finden, gegen die du nicht schon verstoßen hast. Nenne mir wenigstens einen Grund, an den ich glauben kann.«

»Hältst du mich für einen Schwachkopf? Der Rat will, dass ich eine Familie gründe, weil das euch stärken würde. Nicht mich.«

Jarladin legte ihm die Hand in den Nacken. Ein fester Griff. Wie der eines Vaters. »Rime … Das sollte ein und dasselbe sein.«

Rime schloss die Augen, hörte die Stimme des weißbärtigen Stiers im Ohr.

»Hör mir zu. Lass sie nicht in allem, was du tust, über dich bestimmen. Du bist ein Schwarzrock. Du bist Rime An-Elderin. Du bist Rabenträger, um des Sehers willen! Du kannst dich nicht von einem schwanzlosen Odinskind lenken lassen, das niemand wiedersehen wird. Benutz deinen Verstand, Junge! Wenn du dem Volk Hoffnung vermitteln und diesen Rat zusammenhalten willst, dann such dir eine Frau. Feier ein Fest. Zeig ihnen, dass die Familien stark sind. Und wenn du dich unbedingt gegen sie auflehnen musst, dann such dir eine außerhalb der Ratsfamilien. Nutze diese Gelegenheit, um Norden und Süden zu vereinigen. Das ist es doch, was du willst. Nimm dir ein Mädchen aus dem Norden. Ich weiß, dass sich Sylja Glimmeråsen nicht beschweren würde.«

Jarladin wartete eine Antwort nicht ab. Er ließ Rime los und begab sich zurück zum Ratssaal. »Die Steine sind tot«, rief er. »Aber wir leben noch!« Er ging wieder in den Ratssaal und schloss die Tür hinter sich.

Rime blieb stehen, schwer vor Widerwillen. Die Kälte fraß sich in seine Finger. Er schob die Hand in die Tasche und holte den Rabenschnabel heraus. Hlosnian hatte ihn auf dem Bromfjell aufgehoben. Bevor das Feuer die Steine verschlang. Das war alles, was von Urd noch übrig war. Ein Schnabel. Nicht einmal der Steinflüsterer kannte seinen Sinn und Zweck.

Er sah finster aus, fremd. Die beinerne Farbe wurde zur Spitze hin allmählich schwarz. Getrocknetes Blut klebte noch immer in den Rissen.

Rime spürte das Gewicht des Schnabels in seiner Hand. Er war schwerer, als die Größe vermuten ließ. Es überlief ihn kalt. Dennoch fühlte er sich zugleich angezogen. Der Schnabel war das Einzige, was sich wirklich anfühlte, was ihm das Gefühl gab, dass es tatsächlich passiert war und dass das hier nur der Anfang war.

Wikinger

»Norwegen?«

»Nein.«

»Finnland?«

»Das hast du schon mal geraten. Nein.«

»Island! Island muss es sein! Du hast diesen Laut … wie die Wikinger, das Th im Englischen.« Jay steckte die Zungenspitze etwas aus dem Mund.

»Wikinger kenne ich nicht«, sagte Hirka und drückte dem Mädchen auf eine Stelle ihrer Schulter, worauf es zusammensackte.

»Aua, aua, aua! Nein, nicht aufhören! Wikinger? Du hast noch nie was von den Wikingern gehört?«

Hirka massierte ihr weiter die Schultern, ohne zu antworten.

»Die Nordmänner, die vor tausend Jahren gelebt haben? Schiffe? Plünderung? Berserker?«

Das Wort Berserker kam ihr bekannt vor, aber Hirka sagte nichts. Worte klangen häufig vertraut, ohne dass sie etwas bedeuteten. Sie hatte es aufgegeben, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Das war fast immer eine falsche Fährte und machte sie nur traurig. Außerdem hatte sie gelernt, nie ehrlich zu sein. Nie zu sagen, dass sie durch die Steine gekommen war. Oder zu versuchen, Tee aus einer anderen Welt an Leute im Café zu verkaufen. Tat man es, rief der Besitzer die Polizei, und der einzige Ausweg war dann der durchs Fenster auf der Toilette.

»Kannst du die da rausmachen?« Hirka zupfte an Jays Ohrstöpseln. Die hatte sie immer drin. Jay sah aus, als würden ihr dünne Rinnsale aus Milch aus den Ohren laufen. Jay zog sie heraus, aber sie blieben an einer Klammer auf ihrer Brust hängen.

»Du musst aufhören zu … Wie heißt das noch? Hängen. Den Rücken hängen zu lassen«, erklärte Hirka.

»Ich weiß. Ich gehe krumm. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie sagt, man musste den Kopf einziehen, da, woher wir kommen. Man musste das, um zu überleben.«

»Überleben?«

»Überleben. Existieren. Klarkommen. Weißt du? Nicht sterben?«

Hirka nickte. Das Wort hatte sie schon einmal gehört, es aber wieder vergessen.

Jay streckte sich wie eine Katze. Dann holte sie das Handy aus einer Hülle, die an einem glitzernden Band um ihren Hals hing. »Was wollen wir suchen?«

»Ein anderes Mal«, antwortete Hirka und warf einen Blick auf die Stapel mit schmutzigen Gläsern und Tellern. »Wir müssen aufräumen und zumachen.«

»Nein, nein, eine Abmachung ist eine Abmachung. Du hilfst mir, ich helfe dir. Was soll ich suchen?«

»Guck mal nach, ob du eine mit gelben Glockenkelchen findest. Die hat fast keine Blätter«, sagte Hirka. Sie wusch Kuchenreste von einem Teller und stellte ihn in die Spülmaschine.

»Okay, gelbe Glockenkelche.« Jay drückte auf dem Handy herum. Ihr dunkles Haar hing ihr ins Gesicht. Das machte es immer, wenn die Haarklammern verrutscht waren. Vor allem, wenn es hektisch zugegangen war. Draußen brach Jubel aus. Hirka schaute aus dem Fenster. Das Paar hatte sich mit feuchten Augen und rosigen Wangen auf die Kirchentreppe gestellt, umgeben von Familie und Freunden, die Fotos machten. Die Fotos würden in den Telefonen gespeichert sein. Augenblicke, eingefrorene Zeit.

Hirka hätte viel dafür gegeben, wenn sie gespeicherte Bilder aus Ymsland hätte.

Sie fühlte, wie die Trauer ihr Herz umschloss, und beeilte sich, das letzte schmutzige Geschirr in die Maschine zu räumen. Es war sinnlos, an Dinge oder Leute zu denken, die sie sowieso nie wiedersehen würde.

Für den letzten Teller war gerade noch Platz in dem Geschirrspüler. Sie schloss die Tür und drückte ein paar Mal auf den Knopf. Sie bekam bessere Laune, wenn sie sah, wie das Lämpchen aus- und anging.

»Hier«, sagte Jay und hielt Hirka das Display hin. »Pflanzen mit gelber, glockenartiger Blüte. Nach welcher suchst du?«

Hirka schaute sich die Bildchen an. Einige hatten Ähnlichkeit, aber keins zeigte die Goldschelle. Sie spürte, wie ihr die Enttäuschung einen Stich versetzte. Das überraschte sie. Sie dachte, sie hätte die Hoffnung schon aufgegeben.

»Eine davon muss es doch sein«, meinte Jay. »Ich habe alle Pflanzen mit gelbem, glockenartigem Blütenkelch gegoogelt und ich bin ziemlich gut im Suchen und so. Du solltest das auch mal lernen, Hirka. Ich kenne keinen, der noch nie ein Telefon benutzt hat.«

»Ich werde nie eins brauchen«, antwortete Hirka, sich schmerzlich im Klaren darüber, dass sie niemanden hatte, den sie hätte anrufen können.

»Ui, du bist schon mit allem fertig!« Jay stand auf und strich die Schürze glatt. »Dann brauchen wir nur noch abzuschließen und zu gehen. Du bist echt effektiv.«

Hirka lächelte. Das war in der Regel das Sicherste, was sie tun konnte, wenn sie den Sinn der Sätze nicht ganz begriff. »Wir müssen warten, bis sie weg sind, Jay. Wir gehören nicht dazu.«

Sie warf einen Blick auf die Menschenmenge draußen. Frauen und Männer mit vor Glück feuchten Augen und in blank polierten Schuhen. Sie füllten den Platz zwischen Café und Kirche.

Das Café war ein merkwürdiger Ausleger des Kirchengebäudes. Ein Winkel in einem ganz anderen Stil. Ein neuer Flügel, mit Platz für die, die ihn am meisten brauchten. Wie sie ihn selbst gebraucht hatte. Es war ein Ort, an dem Heimatlose sich ein oder zwei Nächte ausschlafen konnten. Wo Arme etwas zu essen bekamen, ohne zu bezahlen. Es gab auch einen Raum, in dem sie Kranken halfen, Hirka hatte ein paarmal dort vorbeigeschaut, doch es war keine einzige Pflanze zu sehen gewesen.

»Wir können die hier sortieren, während wir warten«, schlug Hirka vor und schüttete einen Sack mit Kleidern auf dem Tisch aus. Sie rochen nach Staub und Schweiß, sahen aber schön aus. Am Anfang hatte es sie überwältigt zu sehen, was Leute bereit waren wegzugeben, doch dann hatte Jay gesagt, es sei Abfall. Sachen, die sowieso niemand mehr haben wollte. Das war schwer zu glauben.

Hirka legte einen Pullover auf den Haufen mit Sachen, die ausgebessert werden mussten.

»Vergiss es«, lachte Jay. »Du bist geschickt, aber das schaffst noch nicht mal du zu reparieren.«

»Der hat weniger Löcher als der, den du anhast.«

Jay schaute auf ihren eigenen Pullover hinab. »Hallo, das ist was ganz anderes! Der hat absichtlich Löcher. Weil das cool ist, klar?«

»Dann können wir ja mehr Löcher in den hier schneiden, dann wird der auch cool.«

Jay guckte sie an, die eine Augenbraue hochgezogen. Ihre Augen rahmte schwarze Schminke ein. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht ganz von dieser Welt, oder? Igitt, was ist das denn?«

Hirka hielt Jays Hand fest. »Halt!«

Sie nahm Jay das Hemd weg. Es hatte einen blutigen Riss im Ärmel. Sie faltete es zusammen und legte es auf den Wegwerfhaufen. »Blut kann ansteckend sein«, erklärte sie Jay. »Das dürfen wir nicht anfassen.«

»Oh nee, du ahnst gar nicht, wie ich diese Arbeit hasse!«

Hirka lächelte. »So sehr, dass du beinahe jeden Tag herkommst?«

»Nur weil meine Mutter mich dazu zwingt! Sie braucht eine Entschuldigung, um selbst herzukommen und Pater Brody anzuglotzen. Das ist so total peinlich, das glaubst du gar nicht. Ein Pater, hallo? Er darf noch nicht mal heiraten und sie flippt aus, wenn er sie mal zwei Minuten nicht beachtet. Was glaubst du wohl, warum sie so sauer auf dich ist? Weil du die ganze Zeit hier wohnst, klar, oder?« Jay beugte sich vor zu Hirka. »Sie sagt, du darfst gar nicht hier sein, dass er dich der Kinderfürsorge oder so was übergeben müsste.«

Hirka zuckte mit den Schultern. Es war kein Wunder, dass Jays Mutter sich Pater Brody verbunden fühlte. Dilipa hatte vor vielen Jahren selbst in der Kirche gewohnt, in einem Raum im Keller. Jay war damals gerade geboren gewesen. Jetzt war sie genauso alt wie Hirka und hatte eine kleine Schwester von fünf Jahren. Sie hatten Angst gehabt, dass man sie in die Heimat zurückschicken würde, ohne dass Hirka wusste, wo das war oder wovor sie geflüchtet waren. Aber sie wusste, dass jetzt alles in Ordnung war.

Wohin hätten sie mich geschickt, wenn sie wüssten, wer ich bin? Wo ist zu Hause?

»Das hält nicht lange«, sagte Jay und schnitt dem Paar auf der Treppe eine Grimasse.

»Meinst du nicht?«

»Nee. Sieh ihn dir doch an. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter. Sie wollte bestimmt nur das Brautkleid haben. Und das Geld. Sobald er fünfzig ist, wird es ihr dämmern, dass er alt ist.« Jay warf die Schürze auf einen Stuhl. »Jetzt gehen sie. Ich haue ab. Bis morgen, Hirka.«

Sie verschwand nach draußen, während sie sich die Stöpsel wieder in die Ohren steckte und zu der Musik zu nicken anfing, von der Hirka wusste, dass niemand anders sie hören konnte. Gespeicherte Töne. Genau wie die Bilder.

Hirka wischte die Tische ab und hängte ihre eigene und Jays Schürze an einen Haken. Sie schloss die Tür ab und nahm den Hintereingang in die Kirche. Sie hatte viel Ähnlichkeit mit einer Seherhalle. Ein Steingebäude, erschaffen, um zu beeindrucken.

Pater Brody war schon gegangen. Hirka lief allein durch die Bankreihen. Umgeben von hohen Fenstern mit bunten Motiven. Bildern aus Geschichten, die sie nicht kannte. Von Göttern und Menschen. Ein Ymling war nirgendwo zu sehen. Keine Schwänze und keine Totgeborenen.

Einhundertvierundfünfzig Tage. Seit Ymsland. Seit Mannfalla.

Seit Rime.

Sie ging hinter den Altar und öffnete die Tür zum Glockenturm, stieg die Treppe hinauf, bis sie ganz oben war. Hier durfte sie wohnen, obwohl es kein Raum für Leute war. Der Pater hatte gesagt, es sehe hier aus wie auf einer Baustelle, ohne Heizung und Licht. Hirka vermisste nichts davon. Er hatte versucht, sie in dem Raum im Keller unterzubringen, wo Jay mit ihrer Mutter einmal gewohnt hatte. Aber der Keller erinnerte sie an die Schächte in Eisvaldr. Sie musste nach oben. Ganz nach oben. Klettern, bis nichts und niemand sie mehr erreichen konnte. Also war sie jeden Abend hier hochgegangen, bis Pater Brody nachgegeben hatte. Den dicksten Staub hatte sie weggefegt. Und den Fledermausdreck. Jetzt war es gut. Solange sie nicht dort oben war, wenn die Glocken läuteten.

Hirka schaute sich in dem um, was ihr Zuhause in der neuen Welt war. Die Treppe nahm den meisten Platz ein. Sie konnte die Glocken in dem Stockwerk darüber sehen, wenn sie nach oben schaute. Eigentlich war es dasselbe Stockwerk, aber jemand hatte einen zusätzlichen Holzboden eingezogen. Der sollte bestimmt nur vorübergehend dort sein oder bei Restaurierungen als Standfläche benutzt werden, war aber liegen geblieben.

Zwischen Treppe und Wand hatte sie eine Matratze eingeklemmt. Und ein Kissen mit einem unförmigen Schwan, gestickt von jemandem, der wahrscheinlich noch nie einen Schwan gesehen hatte. Sie besaß eine Tasse, die nur halb war, mit dem Aufdruck »Du hast gesagt: Nur eine halbe Tasse«. Lustig, als man ihr den Witz erklärt hatte. Eine schmale Kommode mit drei Schubladen. Die unterste hatte sich verkeilt, darum wohnte Kuro jetzt dort drinnen. Sie hatte auch einen Ofen, den Pater Brody angeschleppt hatte. Die Wärme kam aus kleinen Löchern unten in der Wand und lief durch eine lange Leitung ganz bis nach hier oben. Hirka hatte sie mehrmals an- und ausgeschaltet und jetzt funktionierte sie nicht mehr. Aber das machte nichts. Sie fror nicht. Sie hatte schließlich mehrere Kerzen.

Sie hatte auch ein Buch von Jay, um die Sprache zu lernen. Hirka konnte gerade eben den Titel lesen. Bücher waren hier Allgemeineigentum. Der Überfluss an Dingen war nicht zu fassen. Aber hier gab es auch Leute ohne Zuhause. Und, noch schlimmer, solche wie sie. Leute ohne Nummer. Alle Menschen hatten eine. Ohne Nummer gab es einen nicht. Hirka hätte genauso gut ein Gespenst sein können.

Sie lehnte sich auf der tiefen Fensterbank an die Mauer. Gespenst oder nicht, sie hatte wenigstens ihr eigenes Fenster mit echtem Glas. Es lief oben spitz zu und hatte eine Lüftungsklappe, die fast immer offen stand.

Hirka strich mit der Hand über das kühle Glas. Glas war gut. Stein war gut. Das waren Werkstoffe, die sie verstand. Im Gegensatz zu so vielen anderen Dingen hier.

Sie blickte über York, wie die Leute die Stadt nannten. Die Kirche hieß St. Thomas und lag in der Nähe des Zentrums. Die Häuser standen dicht an dicht wie in Mannfalla. Der einzige kahle Fleck, den sie sah, lag direkt unter ihr. Es war der eklige Hof, wo die Steine aus dem Schnee ragten wie schlechte Zähne. Unter jedem Stein lag eine Leiche. Sie verbrannten hier die Leute nicht. Sie vergruben sie in der Erde und ließen sie dort liegen und verfaulen. Das war nicht richtig. Nur Mörder machten so was. Aber hier störte das niemanden.

Sie hatte gefragt, ob sie nie Leute an die Raben verfütterten, wenn sie tot waren, aber auch das war nur eine der vielen Fragen, die sie nie wieder stellen würde.

Was könnte sie nicht alles mit dem Garten machen, wenn sie den Platz nicht für ihre abartigen Rituale benutzen würden. Sie hätte Wurzelgemüse anbauen können und vielleicht Goldschelle, Sonnenträne und …

Solche Sachen, die es hier nicht gibt, von denen niemand hier gehört hat.

Niemand baute hier etwas an, noch nicht einmal das Essen, das sie brauchten.

Hirka stocherte in einem der Pflanztöpfe auf dem Fensterbrett. Pater Brody war mit ihr zum Gewächshaus bei der Schule gefahren und hatte ihr drei Pflänzchen gekauft. Sie wuchsen langsam, jedes in seinem Pappbecher. Welche Art Pflanzen es waren oder wogegen sie helfen sollten, wusste sie nicht. Alles musste sie wieder von Anfang an lernen. Wirklich alles.

Sie suchte mit den Augen nach etwas Sicherem, damit sie dort den Blick ruhen lassen konnte.

Weit unter sich sah sie einen Mann auf einer Bank. Er hatte genau an der Stelle den Schnee weggefegt, an der er saß, aber nicht auf dem anderen Teil der Bank. Er schaute zu ihr herauf, guckte aber gleich wieder weg. Tat, als habe er sie nicht gesehen. Er trug einen grauen Pullover mit Kapuze und eine Lederjacke. Sie hatte ihn früher schon einmal gesehen. Er war am Vortag vorbeigegangen. Da war sie sich sicher. Und sie hatte ihn in der Nähe des Supermarktes gesehen. Was wollte er? Warum war er hier? War er von der Polizei? Einer, der sie holen wollte, weil sie keine Nummer hatte?

Die Angst kam angeschlichen, eine Kälte im Bauch.

Er stand abrupt auf, ging über den Friedhof und verließ ihn durch die schmiedeeiserne Pforte. Sie starrte ihm nach, aber er war fort. Sie sah nur noch die Autos, die vorübersausten.

In dieser Welt gab es keine Stille. Wohin auch immer man ging, war man von Geräuschen umgeben. Ein ständiges Rauschen von Maschinen. So viel war fremd. So vieles musste man wissen. So vieles konnte sie falsch machen.

Hirka drückte die Hände so fest auf die Ohren, bis sie nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes hörte, das ihren Körper durchströmte. Schneller und immer schneller.

Sie konnte nicht tief einatmen. Ihr war schwindelig. Das Gefühl von Unwirklichkeit überflutete sie. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie riss sich die Kleider vom Leib, fummelte am Reißverschluss der Hose, konnte sie nicht schnell genug loswerden. Sie schüttete ihren Beutel aus. Alles verteilte sich auf dem Steinfußboden: alte Sachen, vertraute Sachen, ihre Sachen, Kräuter. Davon war nur noch viel zu wenig übrig. Das grüne Strickhemd, an den Bündchen leicht aufgeribbelt. Sie zog es an. Auch die Hose. Das Taschenmesser. Niemand hatte hier ein Messer bei sich. Das war nicht erlaubt.

Sie ließ sich auf die Matratze fallen und blieb sitzen, die Arme um sich geschlungen. Sie legte die Hand auf ihre Brust und tastete nach den Schmuckstücken: eine Muschel und ein Wolfszahn mit kleinen Kerben. Jede einzelne Kerbe stand für etwas Wirkliches. Für etwas, das geschehen war. Siege im Zweikampf zwischen ihr und Rime.

Rime …

Sie hatte sich an die plötzlichen Anfälle gewöhnt, hatte sich daran gewöhnt, davon überwältigt zu werden. Aber an die Sehnsucht würde sie sich nie gewöhnen, an das Loch in der Brust, das an ihr nagte, jeden Tag. Seit hundertvierundfünfzig Tagen.

Ymsland war in Sicherheit, das war der einzige Trost. In Sicherheit vor den Blinden, jetzt, da sie weg war. Jetzt, da die Fäulnis nicht mehr dort war.

Aber sie hatte die Erinnerungen, die Geschenke.

Ihr Herz schlug allmählich langsamer. Das Atmen fiel ihr leichter. Sie war Hirka. Sie war echt. Ihre Sachen waren echt. Sie gehörten nur nicht hierher.

Auch hierher nicht.

Sie schob die Hand in die Tasche, holte drei Blutsteine heraus. Ein Geschenk von Jarladin. Der Ratsherr hatte sie vor ihrer Abreise im Umhang versteckt. Sie hätten für ein ganzes Leben in Mannfalla gereicht. Was sie hier wert waren, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte keinen Ort gesehen, an dem man Steine kaufte und verkaufte. Es wollte sie auch kein Laden haben.

Dann war da das Buch von Hlosnian. Ein Geschenk, das den Steinflüsterer mehr gekostet haben musste, als sie sich vorstellen konnte. Rime hatte es ihr in der Nacht gegeben, als sie fortgegangen war.

Hirka hörte das Schlagen von Flügeln. Kuro landete auf dem Fenstersims und zwängte sich durch die Lüftungsklappe. Er segelte hinunter und legte sich in der Schublade zurecht. In letzter Zeit stimmte etwas nicht mit ihm. Er hüpfte so selten. Stattdessen ging er meistens. Sie hatte sogar gesehen, dass er umkippte. Er machte einfach einen niedergeschlagenen Eindruck. Vielleicht hatte der Rabe es auch schwer, so wie sie. Hatte es schwer, in dieser toten, gabenlosen Welt Nahrung zu finden.

Wenigstens hatten sie einander. Sie hätte die letzten Monate ohne ihn kaum überstanden.

Hirka legte Hlosnians Buch auf den Schoß. Es war schwer, in braunes Leder gebunden und mit Riemen versehen, mit denen sie es verschließen konnte. Sie hatte eine runde Scheibe auf dem Buchdeckel befestigt. Ein alter Kompass, hatte Pater Brody erklärt. Sie hatte ihn auf dem Friedhof gefunden. Die Nadel zeigte immer nach Norden und es half ihr, sie anzustarren, wenn die Welt sie schwindelig machte.

Hirka schlug das Buch auf. Sie war in Lesen und Schreiben nie gut gewesen, nur ein kleines Lot besser als Vater. Dennoch hatte sie viele Seiten mit unbeholfenen Worten und Zeichnungen gefüllt: eine Karte über die nähere Umgebung, Zeichnungen von Pflanzen, Bilder, die sie auf der Straße gefunden hatte, ein totes Blatt, Bonbonpapier, kleine Stofffetzen.

Am Anfang hatte sie alles gesammelt. Jede Kleinigkeit war neu und herzzerreißend schön. Sie hatte auch Dinge aufgeschrieben, die sie Rime erzählen wollte, aber das hatte mit jedem Tag mehr wehgetan und sie hatte es darum aufgegeben.

Doch neue Wörter schrieb sie weiterhin auf. Nach und nach hatte sie sich eine Aufteilung ausgedacht. Auf eigenen Seiten hielt sie Wörter für Dinge fest, die sie von früher kannte: Stuhl, Fenster, Brot, Regen. Auf anderen trug sie Wörter für Dinge ein, von denen sie nie geglaubt hätte, dass es sie gibt: Telefon, Schokolade, Asphalt, Sonnenbrille, Waschmaschine, Benzin.

Sie holte den Bleistift heraus und schrieb das neue Wort auf, das sie von Jay gelernt hatte. Wikinger: lebten vor tausend Jahren in Schiffen.

Sie schaute Kuro an. Er war in der Schublade eingeschlafen. Die Federn am Kopf vibrierten, wenn er atmete. Sie hob den Bleistift und begann wieder zu schreiben.

Überleben: existieren, klarkommen, nicht sterben.

Der Fremde

Das meiste bleibt einem erspart, solange man sich nützlich macht.

Eigentlich sollte niemand in einer Kirche wohnen, so viel hatte Hirka begriffen. Jedenfalls niemand wie sie. Sie sagten, dies sei Gottes Haus, aber er war seit Hirkas Ankunft nicht hier gewesen, darum bezweifelte sie, dass er es oft nutzte. Pater Brody hätte sie schon längst hinauswerfen oder die Polizei holen können. Was hatte Jays Mutter noch gesagt? Er hätte die Kinderfürsorge holen können.

Doch das tat er nicht. Nicht, solange Hirka Kleider wusch, auf Kinder aufpasste, Schnee schippte und Einkäufe erledigte. Er hatte sie nie darum gebeten. Sie hatte einfach damit angefangen, so wie sie es in der Teestube bei Lindri gemacht hatte. Nach ein paar Tagen stellte niemand mehr Fragen. Weder, woher sie kam, noch, was sie hier wollte.

Und dennoch, das Gefühl, nach dem sie sich sehnte, blieb aus. Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Familie zu haben. So fühlte es sich nicht an. Es gab viel zu viele Menschen und keiner davon wusste, aus welcher Familie sie stammte. Sie war immer noch eine Fremde in einer wahnsinnigen Welt.

Jedes Mal, wenn die Eindrücke sie zu überwältigen drohten, konzentrierte sie sich auf etwas, das sie kannte: auf den Einkaufszettel, den sie in der Hand hielt; das Gefühl von Papier, fast genauso wie zu Hause; winterkahle Bäume in Gärtchen in einer hektischen Stadt. Oder Dinge, die neu waren, ihr aber gefielen. Das Geräusch von Stiefeln auf pappigem Schnee. Stiefel waren eine gute Sache. Sie gingen nicht kaputt, wurden nie nass. Sie hatte ein Paar gelbe, die sie von Pater Brody bekommen hatte.

Gelbe Stiefel. Was für eine Welt.

Sie holte tief Luft und ging in das Geschäft. Das Licht stach in den Augen. Menschen hatten unfassbar viel Licht. Laternen entlang der Straßen, in den Fenstern. Sie waren umgeben von Feuer ohne Flammen.

Sie ging zum Tresen und lächelte so breit wie möglich die Frau an, die ihr beim letzten Mal geholfen hatte. Es war wichtig, fröhlich und zufrieden auszusehen. Und es war wichtig, etwas nicht zu sehr zu wollen. Nichts konnte Türen so erfolgreich schließen wie Verzweiflung.

Die Frau erwiderte das Lächeln. Sie war füllig und trug einen engen Gürtel um den Bauch, durch den sie wie eine Sanduhr aussah. Hirka hatte den Einkaufszettel auswendig gelernt, ihn zur Sicherheit aber mitgenommen. Die Frau war ihr behilflich, Kaffee, Kekse, Klopapier und andere Dinge zu finden, die sie in der Kirche brauchten. Grauenvollen Tee. Hirka hatte ihn probiert und hätte ihn nicht einmal ihrem ärgsten Feind vorgesetzt. Wurde alles so, ohne die Gabe?

Die Frau legte die Quittung in ein Buch und Hirka durfte die Waren mit nach draußen nehmen. Jetzt war es dunkler und Wind war aufgekommen. Schnee häufelte sich auf die Straßenlaternen. Sie zog die Kapuze des Regenponchos über. Es war eine Art Umhang, nicht besonders warm, aber er wog überhaupt nichts und man wurde nie nass. Und sie konnte ihn so klein zusammenrollen, dass er Platz im Mund gehabt hätte. Sie hatte es ausprobiert, nur um zu sehen, ob es ging. Zu Hause hätte ihr das niemand geglaubt.

Sie blieb plötzlich stehen. Im Café direkt vor ihr saß eine bekannte Gestalt. Sie drückte sich an die Wand und spähte durchs Fenster. Der Mann im Café hatte sie nicht gesehen. Das war derselbe Mann, der auf der Bank bei der Kirche gesessen hatte. In Lederjacke und grauem Pullover mit Kapuze. Er saß mit dem Rücken zu ihr.

Hirka schlich um die Ecke und stellte sich an ein anderes Fenster. Jetzt konnte sie ihn besser sehen. Er hielt eine Tasse in der einen und ein Telefon in der anderen Hand. Er war vielleicht doppelt so alt wie sie. Bürstenhaarschnitt und Dreitagebart. Er saß auf einem hohen Hocker und wippte mit dem Fuß.

Sie stellte den Beutel auf dem Boden ab und beugte sich weiter vor. Von ihrem Atem beschlug die Scheibe.

Er drehte sich um und guckte sie direkt an. Hirka schnellte vom Fenster zurück. Sie bekam heiße Wangen. Kurz überlegte sie, ob sie winken oder weglaufen sollte. Sie lief weg.

Ihre Stiefel klatschten im Schneematsch, im Takt mit ihrem Herzschlag. War er der Einzige? Hatte sie nicht auch schon andere gesehen? Leute, die sie auf der Straße heimlich anstarrten? Leute, die sich an der Kirche herumtrieben, aber nicht hineingingen? Fiel sie wirklich so sehr auf, dass das ein Grund war, sie anzuglotzen?

Sie entdeckte plötzlich den Kirchturm und ihr fiel der Einkaufsbeutel wieder ein. Der war noch vor dem Café. Sie blieb stehen und erinnerte sich, dass ihr so etwas früher schon einmal passiert war.

Die Erinnerung kam. Vater im Rollstuhl. Die Hütte. Hirka hatte auf der Treppe gestanden und den Korb mit den Kräutern an der Alldjup-Schlucht vergessen. Bei der abgestürzten Tanne, von der Rime sie gerettet hatte.

Eine Kerbe für mich, wenn ich dich heraufziehe.

Die Bilder waren so lebendig, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie schluckte. Das war in einem anderen Leben. In einer anderen Zeit. In der Welt, die sie nie wiedersehen würde.

Sie machte kehrt und ging zurück zum Café, vermied, andere anzusehen, starrte auf die gelben Stiefel hinunter, für den Fall, dass sie ihm über den Weg laufen sollte. Dem Mann mit dem Kapuzenpullover.

Der Einkaufsbeutel samt Inhalt stand da, wo sie ihn abgestellt hatte, gleich vor dem Fenster. Eine dünne Schneeschicht hatte sich daraufgelegt. Hirka linste ins Café. Er war nicht mehr da. Zum Glück. Erleichtert nahm sie den Beutel und machte sich auf den Weg zurück zur Kirche.

Plötzlich packte sie jemand, zog sie mit gewaltiger Kraft rückwärts, in eine dunkle Gasse zwischen zwei Häusern. Sie wollte schreien, doch der Schrei wurde von einer Hand auf ihrem Mund erstickt. Sie wurde an die Wand gedrückt, neben einem Müllcontainer. Seine Hand schmeckte nach Tabak. Hirka war wie gelähmt. Kalt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals und sie rang nach Luft. Der Beutel glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Kekse und Äpfel rollten in den Schneematsch. Der Mann aus dem Café starrte sie wie ein wildes Tier an. Er sagte etwas, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Hirka trat nach ihm. Er schob seine Hand zu ihrem Hals hinab und drückte zu, bis sie aufhörte, sich zu wehren. Das half. Sie durfte wieder atmen.

Sie warf einen Blick auf die Straße. Sie standen in einer Nische in der Wand, soweit sie das in ihrer Lage feststellen konnte. Leute gingen vorbei. Sie sahen nicht hin, konnten nicht helfen. Hirka beugte sich vor und schrie. Der Griff um ihren Hals wurde wieder fester. Eine Frau im Pelzmantel warf ihnen einen Blick zu und hatte es eilig weiterzukommen. Als habe sie nichts gesehen. Aber das hatte sie. Hirka wusste, dass sie sie gesehen hatte. Dennoch ging sie weiter. Das Gefühl der Hoffnung verfinsterte sich zu Verzweiflung.

Der Mann zog etwas aus seinem Gürtel und presste es ihr an die Schläfe. Etwas Kaltes. Aber es war kein Messer, das war das Wichtigste. Sie war etwas erleichtert. Er knurrte wieder Worte. Es klang wie eine Frage, aber er sprach viel zu schnell, als dass sie ihn hätte verstehen können.

Hirka schluckte, spürte, wie ihre Halsmuskeln gegen seine Umklammerung kämpften. »Ich versteh nicht … Ich spreche schlecht.«

Er wirkte plötzlich verunsichert. Ihr fiel eine Narbe auf, die seine Lippe auf einer Seite etwas nach oben zog. Er ließ ihren Hals los und drückte ihr seinen Daumen auf die Lippen.

»Nein!« Hirka warf den Kopf zur Seite, aber er drehte ihn wieder zurück. Er war stark. Er schob ihre Oberlippe mit dem Daumen hoch, starrte auf ihre Zähne. Er sah jetzt weniger bedrohlich, eher verwirrt aus. Das war so seltsam, dass Hirka kurz ihre Angst vergaß. Sie kam sich wie ein Pferd auf dem Viehmarkt vor.

Sie schob die Hand in die Tasche und umklammerte die Blutsteine. Die durfte sie nicht verlieren. Dann hätte sie nichts mehr. Nichts, was sich zu Geld machen ließe. Nichts von Wert.

Die Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit. Er riss ihr die Hand wieder aus der Tasche. Hirka versuchte, eine Faust um die Steine zu machen, aber er hatte sie sich schon geschnappt. Er nahm sich nicht die Zeit, sie zu studieren, sondern steckte sie sich selbst ein. Blickte sich um, als sei er am falschen Ort.

Dann ließ er Hirka los, ging rückwärts. Dabei trat er aus Versehen auf eine Kekspackung und zuckte zusammen, als sie unter seinem Fuß zerdrückt wurde.

»Das macht nichts!«, sagte sie eilig. »Wir haben noch mehr.«

Er sah sie an, die Stirn gerunzelt, zog sich in die dunkle Gasse zurück, kehrte ihr dann den Rücken zu und verschwand draußen auf der anderen Straßenseite.

Hirka blieb gegen die Wand gelehnt stehen und atmete. Die Angst steckte ihr noch immer kalt in den Knochen, wollte nicht nachlassen. Sie erinnerte sich. An die Kerkerschächte in Eisvaldr. An den Mann, der sie mit Gewalt nehmen wollte. Damals bestand kein Zweifel, worauf er aus war. Jetzt hatte sie nicht den geringsten Schimmer, was ablief. Das war schlimmer. Sie wusste nichts. Und in einer ganz neuen Welt war alles möglich. Absolut alles.

Sie rutschte an der Wand hinab, sank auf den nassen Asphalt. Die Kekspackung lag vor ihr. An einem Ende platt getrampelt. Der Geruch von saurer Milch sickerte aus dem Container zu ihr hinunter. Sie wollte nach Hause, wollte einfach nur nach Hause. Nach Ymsland, nach Elveroa, zu Vater.

Vater ist tot. Die Hütte ist abgebrannt. Es ist vorbei.

Warum war sie hergekommen? Sie gehörte hier nicht her. Sie hasste diesen Ort. Hasste ihn. Das Licht. Die Gerüche. Die Geräusche. Den vielen Lärm. Und trotzdem war alles tot.

Ein Ort ohne Gabe. Eine kalte Welt voll fürchterlichem Leben.

Die Versuchung

Sie waren offen gewesen. Die Tore.

Rime hatte gesehen, wie die Landschaft zwischen den Steinen durchschimmerte. Hatte das Gras gesehen, wie es sich neigte im Sog von einem unbekannten Ort. Er war von der Leere verschluckt worden, wo die Welt aufhörte zu bestehen. Und er war im Ritualsaal wieder herausgekommen.

An einer Stelle hinein, an einer anderen hinaus. Die Tore waren wach gewesen und man müsste sie wieder aufwecken können. Nur für einen kurzen, ungefährlichen Augenblick. Des Beweises wegen. Des Wissens wegen.

Ihretwegen.

Rime schritt die Regalreihen in der Bibliothek auf der Suche nach einer Antwort ab. Ihm kam der Gedanke, dass man, wollte man die Geheimnisse des Rates verstecken, nichts weiter zu tun brauchte, als sie hier unterzubringen. In aller Öffentlichkeit. Es würde dennoch Mannesalter dauern, um sie zu finden.

Gespräche wurden hier nur wenige geführt, und die auch lediglich gedämpft. Durch eine angelehnte Tür drang das Kratzen von Federn auf Papier. Er fragte sich, was da wohl niedergeschrieben wurde und ob es der Wahrheit entsprach.

Rime ging zur Galerie, die den Schacht mit Tageslicht von den Dachfenstern umkränzte. Grau gekleidete Hirten und Hirtinnen kletterten auf langen Leitern zwischen den Stockwerken umher und segelten im ganzen Rund auf Gleitschienen dahin. Er hoffte, jemand von ihnen könnte ihm den richtigen Weg weisen, zu den Büchern über die Gabe. Rime hob die Hand, um zu fragen, als ihm eine Frau im untersten Stockwerk auffiel. Sie stach durch ein feuerfarbenes Kleid hervor, schaute sich mit geschmeidigen Bewegungen um, graziös, suchend. Ihr Blick traf seinen. Sie kam ihm bekannt vor. Rime merkte, dass er sie anstarrte, und drehte sich zu einem Lesepult am Geländer um.

Dort lag das Buch des Sehers, schamlos offen. Es entblößte die Lügen, als sei nichts geschehen. Er spürte einen Stich der Enttäuschung darüber, dass immer noch Leute darin lasen. Aber selbstverständlich taten sie das.

Er ließ seine Finger den Einband entlanggleiten, der sich schon fast aufgelöst hatte. Dieses Buch war schon lange vor seiner Geburt hier gewesen. Lange vor Ilume. Ihr einziger Wunsch war es gewesen, ihn im Rat zu sehen. Zu wissen, dass er die Vergangenheit mit der Zukunft verband, indem er auf dem Stuhl saß. Aber kaum auf diese Weise. Veränderung war nie ihre Sache gewesen. Sie hätte ihn lieber enterbt, als den Seher fallen zu sehen. Diese göttliche Vorstellung, die eine ganze Welt tausend Jahre lang getragen hatte.

Wie viele falsche Götter hatte es vor dem Raben gegeben? Wie viele neue würden noch kommen?

Es reizte ihn, im Buch zu lesen. Als ob sich jetzt etwas anderes offenbaren würde als vorher. Rime erinnerte sich aus seiner Kindheit an jedes Wort.

 

So groß war das Herz dessen, der sah, dass er sie alle in seiner Gnade darin aufnahm. So tief war die Trauer um die Gefallenen, dass seine Tränen sie wieder reinwuschen. Frei von Schuld waren sie, als sie ihrem Seher gegenübertraten, und er sprach zu ihnen: ›Alle Macht der Erde ist mir gegeben.‹

 

Frei von Schuld? Was für ein Witz … Und wer nach dem Krieg die Macht bekommen hatte, stand zweifelsfrei fest. Rime blätterte um.

 

Und der Baum wuchs hinauf in den Himmel, blutschwarz und voller Kraft von allen, die ihre Leben geopfert hatten. Nach seinem Willen formte er ihn, nach seinem Herzen, um den Ymlingen zu dienen, und er sprach: ›Hier ist mein Thron.‹

 

Rime schaute sich um. Er fühlte sich beobachtet. Und unerwartet überkamen ihn Schuldgefühle. Er hatte diesen Baum zerschlagen. Den Thron des Sehers. Die Erinnerung war gnadenlos lebendig. Regen aus schwarzem Glas. Ilume, die zu Boden sank. Das Geräusch seines eigenen Herzschlags. Urd. Und Hirka …

Er schlug das Buch zu. Er hatte Lügen satt. Jetzt brauchte er Wahrheit.

Rime fand eine Hirtin, eine grauhaarige Frau mit Tintenflecken an den Fingern, und fragte sie nach Büchern über die Gabe.

»Zwei Stockwerke nach oben«, antwortete sie und zeigte ihm den Weg. »Der Bereich im Südwesten, Regal zwölf. Ich hole gern die Bücher her, die du suchst.«

»Danke, aber ich suche gern«, antwortete er. Sie lächelte herzlich, als hätten sie etwas gemeinsam.

Rime stieg die Treppen hoch. Er fand das zwölfte Regal und ging es ab. Hier standen hauptsächlich Gedichtbände. Über die Gabe, über die Natur, über die Liebe. Aber hier gab es auch andere Dinge … Er zog ein Buch mit einem grünen Einband heraus. »Ursprung« hieß es. Er spürte, wie es überall im Körper kribbelte. Erwartung. Hoffnung. Die Seiten waren so dünn, dass er fürchtete, sie könnten zwischen seinen Fingern schmelzen. Er begann zu lesen. Ungeduldig.

Die Gabe, die Quelle des Lebens … War aus alter Zeit hier … Kam mit den Ersten. Mit der Schöpferkraft … Das Gleichgewicht.

Er übersprang Wörter, Absätze, ganze Seiten. Dies hier war nichts Neues. Aber dann …

 

… Das Verlangen der Nábyrn nach der Gabe kostete so viele das Leben, dass daraus die Redensart ›eine Leiche für jeden Raben‹ entsprang. Ich jedoch bin der Überzeugung, dass der Tod, den sie verursachten, uns auch die Stärke verlieh, die wir brauchten, um sie zu bekämpfen. Tod bekämpfte Tod. Der Seher selbst ist ein Blinder und formt die Gabe so, wie es kein Ymling vermag. Nichtsdestotrotz ist Blindwerk in allen Winkeln von Ymsland gefürchtet und verachtet. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten – wird als Spott betrachtet. Sie wird zu sehr mit ihnen in Verbindung gebracht. Mit Verrottung und Zerstörung. Sogar mit dem Verlust unserer Seele, behauptet das Volk unter dem Eis im Norden.

 

Rime schloss das Buch.

Blindwerk. Die Gabe – so wie die Blinden sie gebrauchten.

Er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Wie rasch sie sich bewegen konnten und den Wasserfall, der zu Sand wurde. Über den Rand floss wie in einem Stundenglas. Was war es denn anderes als Blindwerk? Zauberei. War es nur Blindwerk, das die Steine aufwecken konnte? Urd hatte es getan …

Rime hörte hinter sich einen Knall und zuckte zusammen. Drehte sich um. Da stand sie. Der Frau, die er vorhin gesehen hatte, war ein Buch auf den Boden gefallen. Was war er eigentlich für ein Schwarzrock, dass er nicht mehr wusste, was im selben Raum geschah? Er reichte ihr das Buch. Sie lächelte und schaute unter schweren Augenlidern zu ihm hoch. Den Blick kannte er. Selbstsicher. Anziehend. Doch die Tändelei wirkte nicht gespielt. Schien Teil ihres Wesens zu sein. Ihre Lippen waren ungewöhnlich voll. Als forderten sie zur Berührung auf. Es war schwierig, sie nicht anzustarren.

»Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte er.

Sie nahm das Buch entgegen. Legte es oben auf die anderen, die sie trug, und schlüpfte an ihm vorbei. Ihr Arm streifte ihn. Er roch den Duft von Blumen. Sie ging zur Galerie. Ihr Schwanz schwang bei jedem Schritt hin und her. Er war mit klirrenden Ringen geschmückt. Das Haar hing ihr bis zur Mitte des Rückens herab, dicht und glatt, in der Farbe von Kohle.

Sie schaute über die Schulter zurück.

»Ich habe für dich getanzt, Rabenträger«, sagte sie so sanft, als sei das die erste Zeile eines Gedichts.

Er folgte ihr und wusste, dass sie genau das wollte. Sie legte die Bücher auf ein Lesepult, zwei Bücher über Tanz und eins, von dem er den Titel nicht erkennen konnte.

»Für mich hat niemand mehr getanzt, seitdem ich ein Junge war«, entgegnete er.

»Hast du deine eigene Weihe vergessen, Rabenträger?«

Sie hatte recht. Jetzt fiel es ihm ein: der Tag, an dem er Rabenträger wurde, das Fest, die Tänzerinnen auf der Treppe.

»Rime, mein Name ist Rime.«

»Ja, wir haben wohl keinen Raben mehr, der getragen wird …«

Ihre Worte waren befreiend direkt. Die Haare fielen ihr nach vorn über die Schulter und sie strich sie mit einer schmalen Hand wieder zurück. Diese kleine Bewegung war an sich schon ein Tanz. Alles, was sie tat, schien eine Geschichte zu erzählen. Unschwer konnte er sich vorstellen, dass Männer bereit waren, viel Geld zu bezahlen, um sie tanzen zu sehen.

Am Hals war ihre Bluse offen. Der Stoff floss über ihre Brust auf eine Weise, die unmöglich nicht ins Auge fallen konnte. Sie stapelte die Bücher neu. Das Buch, dessen Titel er nicht hatte erkennen können, lag jetzt oben. »Die Kunst der Lust« stand darauf zu lesen, über einer Zeichnung von einem Mann und einer Frau in einer unmöglichen Stellung.

Rime fühlte sich plötzlich verunsichert. Wie in einem Kampf, wie in dem Augenblick, in dem der Gegner die Oberhand gewann. Er räusperte sich, wandte sich zum Gehen. Sie hielt ihn mit einer warmen Hand auf seinem Arm auf.

»Ich bin Damayanti«, sagte sie. »Aber das weißt du ja schon.«

Er schaute sie wieder an. »Nein. Vergib mir, wenn ich es wissen sollte.«

Sie fuhr sich mit einem Finger über die Lippen, wie um in ihn hineinzubeißen. Doch das tat sie nicht. »Wirklich nicht? In dem Fall sagt das einiges über dich aus.«

Ihr Blick fiel auf das Buch, das er in der Hand hielt. »Aber ich habe von dir gehört, Rabenträger. Wonach du suchst, steht in keinem Buch. Und die es wissen, würden kaum wagen, es zu flüstern.«