Die Rabenringe - Gabe (Band 3) - Siri Pettersen - E-Book

Die Rabenringe - Gabe (Band 3) E-Book

Siri Pettersen

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hirka steht vor der schwierigsten Frage ihres Lebens: Auf welcher Seite steht sie? Von der Außenseiterin zur bestimmenden Kraft des Schicksals mehrerer Welten und Völker Hirka ist durch die Rabenringe in die Welt der Blinden gelangt. Wie sie feststellen muss ist diese streng hierarchisch aufgebaut und regiert von der Verachtung für Schwäche. Hier gilt sie als minderwertiges Halbblut, hat als die unerwartete Nachfahrin von Graal jedoch eine Sonderstellung. Sie steht vor der schwersten Wahl ihres Lebens: Soll sie sich im Kampf auf die Seite ihrer neu entdeckten Blutsbande schlagen oder auf die Seite von Ymsland, ihrem früheren Zuhause aus dem sie verjagt wurde? Der Durst der Totgeborenen nach der Gabe, der Lebensenergie, die nur in Ym zu finden ist, ist so groß, dass ein Krieg unausweichlich scheint.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 703

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Siri Pettersen

Die Rabenringe

Gabe

Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt

 

 

 

Für alle, die an ihrem ersten Buch schreiben.

 

 

 

 

 

 

Und für dich und alle, die verloren haben. Für euch, die ihr so voller Narben seid, dass euch schlecht wird, wenn andere sagen, ihr hättet Glück gehabt. Für euch, die ihr daran zweifelt, dass ihr jemals ein Ganzes werden könnt, weil ihr in so viele Stücke zerbrochen seid. Für euch, die ihr glaubt, nie wieder aufstehen zu können. Das hier ist euer Buch.

Zurück aus Draumheim

Rime lief den Hang hinauf, in der Gewissheit, dass ihn im Dunkeln niemand sehen konnte. Er erreichte die Hügelkuppe, presste sich an einen Felsvorsprung und blickte hinunter auf die Ebene. Was eine verlassene Gegend hätte sein sollen, war ein ausgedehntes Zeltlager. Die Zelte standen in schnurgeraden Reihen, ein Muster, das man nur dort fand, wo Ordnung die treibende Kraft war. Wo jemand den Befehl hatte.

Ein Heer.

Es war zu dunkel, um seine Größe zu erkennen. Ein paar Tausend Mann vielleicht, den Fackeln nach zu urteilen. Er bemerkte Spuren im Schnee. Ein Netz von schwarzen Adern zwischen den Zelten. Männer versammelten sich um ein Lagerfeuer direkt unter ihm. Sie gingen mit federnden Schritten und lachten laut. Rime kannte diese Stimmung. Der erste oder zweite Abend, vermutete er. Früh genug würden sie stumm mit gebeugten Rücken dasitzen. Alle, die nicht erfroren waren oder krank in den Zelten lagen.

Die Wimpel hingen schlaff herab, aber er wusste, dass sie das Zeichen des Sehers trugen. Es war das Heer von Mannfalla, das draußen vor der Stadt lagerte. Warum? Worauf warteten sie? Welchen Befehl hatten sie erhalten und von wem?

Sie hatte recht.

Damayanti hatte gesagt, dass er sie hier finden würde. Sie hatte auch gesagt, dass es um ihn ging. Um Ravnhov. Aber ihre Verbindung zum Rat war mit Urd gestorben. Die Vermutungen der Tänzerin waren nicht fundierter als seine eigenen.

Es konnte eine Übung sein, natürlich. Standortwechsel. Oder Truppenbewegungen im Kielwasser des Krieges …

Die Erklärungen kamen ihm sehr dünn vor. Unruhe nagte in seiner Brust. Das beklemmende Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte.

Lag es vielleicht an den Rabenringen? War es überhaupt möglich, sich zwischen den Welten zu bewegen, ohne das Gefühl zu haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren? Verunsicherung war wohl zu erwarten?

Nein. Das hier war mehr als ein Gefühl. Es war eine Gewissheit, die ihn daran hinderte, geradewegs nach Hause zu gehen. Er war kaum zwanzig Tage weg gewesen und in dieser Zeit hatte jemand die Krieger aus ihren Betten gescheucht. Die Wachen an der Stadtmauer waren verstärkt und mehrere der Gardisten durch Männer ersetzt worden, die er noch nie gesehen hatte.

Da stimmte etwas nicht.

Er musste mit Jarladin sprechen.

Rime lief wieder hinunter zur Stadt. Der feuchte Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er näherte sich der Stadtmauer und bewegte sich vorsichtiger, geduckt hinter Wacholderbüschen. Vier Gardisten patrouillierten über dem Tor. Ansonsten war die Steinmauer über lange Strecken leer, eine grau gefleckte Schlange in der Dunkelheit. Er schlich zurück zu der Stelle, über die er gekommen war, ein Mauervorsprung, der ihn vor den Torwächtern verbarg.

Rime zog die Handschuhe aus, klopfte den Schnee ab und steckte sie in die Tasche am Rucksack. Dann umarmte er die Gabe und begann zu klettern. Die Unebenheiten der Steine gaben ihm gerade genug Halt, um vorwärtszukommen. Er zog sich über die Kante, überwand die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite auf ein Hausdach fallen. Ein Dachziegel löste sich und rutschte abwärts. Rime warf sich hinterher und erwischte ihn gerade noch, bevor er über die Dachrinne fallen konnte.

Mit dem Ziegel in der Hand saß er da und lauschte. Ein Stück entfernt fiel eine Tür zu. In der Gasse unter ihm raschelte etwas. Eine Ratte. Sie schlug ihre Zähne in eine tote Taube und versuchte, sie über gefrorenes Laub mit sich zu ziehen.

Rime legte den Dachziegel zurück an seinen Platz und lief über die Dächer weiter, hinauf nach Eisvaldr. Den ganzen Weg über standen die Häuser dicht nebeneinander. Erst kurz vor der Mauer musste er wieder hinunter auf die Straße.

Die Mauer selbst war kein Hindernis. Schon immer waren die Leute ungehindert zwischen Mannfalla und Eisvaldr hin- und hergewechselt. Trotzdem waren auch hier die Wachen verstärkt. Gardesoldaten säumten alle Bogengänge. Ein Zeichen, das deutlicher war als ein Wegweiser. Hier regierte die Angst.

Rime verzog sich in die Gasse hinter einem Wirtshaus. Durch ein leicht geöffnetes Fenster drang Gesang heraus. Halb ertrunkene Strophen, aber sogar die Töne waren auf dieser Seite der Stadt sauberer. Er nahm den Rucksack ab und verschob die Schwerter zum Mittelgurt, sodass sie verborgen entlang des Rückgrats lagen und nicht wie eine Kriegserklärung hinter seinen Schultern aufragten. Dann zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht und überquerte den Marktplatz. Die Gardisten beobachteten ihn mit trägen Blicken, ließen ihn aber ungehindert nach Eisvaldr hinein.

Heimatstadt. Stadt des Rats. Stadt des Sehers.

Des Sehers, den er getötet hatte.

Mit dem Gedanken kam die Erinnerung. Naiell, fauchend wie eine in die Ecke getriebene Katze. Der Körper, der dem Schwert Widerstand geboten hatte. Das Blut auf Hirkas nackten Füßen. Ihr Blick. So voller Trauer. So abgrundtief enttäuscht.

Ich bin so, wie ich bin.

Rime warf einen Blick hinauf zum Steinkreis. Der stand dort in falscher Unschuld, wie die Spitze eines Eisbergs. Die Steine reichten so tief hinab, dass sie in einer Höhle unter Mannfalla von der Decke hingen. Von dort war er gerade gekommen, vor allen Blicken verborgen.

Hier an der Oberfläche waren sie nur bleiche Monolithen vor dunklem Himmel, ganz oben an der Treppe, wo einmal der Ritualsaal gewesen war. In dem er selbst gestanden hatte, mitten im Kreis, umringt von allen lebenden Seelen der Stadt, während Schwarzfeuer zu seinen Füßen verblutete. Wofür?

Rime beugte den Nacken und ging weiter. Er hatte genug Zeit mit Trauer und Wut verschwendet, mehr, als er sich vorzustellen ertrug. Jetzt musste er herausfinden, was während seiner Abwesenheit passiert war.

Jarladins Haus lag ganz oben am Hang, eines von vielen gepflegten Häusern der Ratsfamilien. Rime schlich zwischen winterkahlen Obstbäumen bergauf. Hielt sich auf den Wegen, um keine Spuren im Schnee zu hinterlassen. Er musste unentdeckt bleiben, wenigstens bis er mit Sicherheit wusste, was vor sich ging. Er sprang über die kleine Steinmauer auf der Rückseite des Hauses. Es war spät, aber hinter einem Fenster im oberen Stock sah er flackernden Kerzenschein.

Das Haus war ein Prachtbau im andrakarischen Stil mit Säulenreihen und Schnitzereien in dunklem Holz. Kinderleicht zu erklettern.

Rime zog sich auf ein Schrägdach hinauf und schlich am Rand entlang zum Fenster. Er legte die Hand ans Glas und ließ die dünne Reifschicht schmelzen, sodass er hineinsehen konnte.

Jarladin war allein im Zimmer. Er saß auf einem gepolsterten Schemel und starrte in eine Feuerstelle, als wartete er darauf, dass die Flammen zur Nacht erloschen. Er drehte ein leeres Glas in den Händen. Sein breiter Rücken war gebeugt. Rime war sich schmerzlich bewusst, dass er selbst ein Teil dessen war, was den Ratsherrn bedrückte. Er war verschwunden. Ohne Ankündigung oder Erklärung.

Er kämpfte gegen den Impuls, wieder hinunterzuklettern. Verschwunden zu bleiben. Ein schwarzer Schatten in der Winternacht. Wann hatte er eigentlich seinen Platz drinnen im Warmen gehabt?

Tu, was notwendig ist.

Rime warf einen Blick über die Schulter, versicherte sich, dass er allein war. Dann klopfte er drei Mal an die Scheibe. Jarladin fuhr zusammen. Ließ das Glas zu Boden fallen, ohne dass es zerbrach. Er starrte zum Fenster, ging darauf zu, blinzelnd und mit hochgezogenen Schultern. Dann erkannte er ihn. Er riss ungläubig die Augen auf und machte sich an den Fensterhaken zu schaffen.

Rime bewegte sich ein wenig zur Seite, um Platz zu machen. Jarladin schlug das Fenster weit auf und packte Rime, als wollte er ihn vor einem Absturz retten. Er half ihm ins Zimmer und zog ihn an sich. Rime wurde von bärenstarken Armen umschlossen und ertrank in Wärme.

Der Ratsherr schob ihn wieder von sich. Hielt ihn eine Armlänge auf Abstand, während er ihn von Kopf bis Fuß betrachtete. Er legte seine Pranke an Rimes Kopf, griff ihm ins Haar, als wollte er ihn zausen, tat es aber nicht. Seine Augen wurden feucht. Rime wappnete sich innerlich, wohl wissend, dass der warme Empfang nur von kurzer Dauer sein würde. Der Wechsel zeichnete sich bereits auf Jarladins Gesicht ab. Schmerzliche Freude verwandelte sich in Verwirrung.

»Wo bist du gewesen?«, murmelte er.

Rime wich zurück und schloss das Fenster, ohne zu antworten.

»Wo bist du gewesen?!« Jarladins Stimme brach, als ahnte er Schlimmes.

Rime blickte zu einem Sessel am Feuer. Wünschte, er könnte sich hineinsinken lassen. Ausruhen. Schlafen. Ohne zu träumen. Stattdessen musste er Rede und Antwort stehen, musste versuchen, das Unerklärliche zu erklären.

»Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählte«, sagte er.

»Wo bist du gewesen, Rime An-Elderin?« Schwelender Zorn jetzt. Die Drohung hing stumm zwischen ihnen. Er brauchte eine Erklärung und sie musste gut sein. Jarladin hatte vielleicht geglaubt, er sei tot, aber seine Reaktion verriet eine tiefere Verzweiflung.

Rime zwang sich zu fragen. »Was ist passiert?«

»Was passiert ist?« Jarladin wiederholte die Worte, als läge alle Dummheit der Welt darin. »Was passiert ist?! Du hast deinen eigenen Mester im Kampf getötet und bist verschwunden! Das ist passiert! Ganz Mannfalla war dort, aber seitdem hat dich niemand mehr gesehen. Ich dachte, du würdest im Draumheim schlafen, Rime! Dass Darkdaggar dich am Ende doch noch getötet hätte. Ich dachte …«

Rime sah weg. Wollte Jarladins Blick ausweichen. Es nützte nicht viel, denn der Ratsherr blickte auch von einem Porträt an der Wand auf ihn. Ebenso wie der Rest der Familie, gerahmt in Gold. Ganz gleich, wohin Rime sich auch drehte, er wurde gesehen. Er war ein kalter Fremder in einem warmen Raum. Einem Raum, der ihn an Ravnhov erinnerte, mit steinerner Feuerstelle und Balken unter dem Dach. Ein geschützter Ort, aber nicht für ihn.

»Und die anderen? Was haben die gedacht?«

Jarladin breitete die Arme aus. »Was glaubst du? Die Erklärungen waren ebenso wild wie vielfältig. Schwarzröcke haben dich getötet, um Schwarzfeuer zu rächen, Ravnhov hat dich bei lebendigem Leib verbrannt, du hast dich in der Ora ertränkt oder noch besser: Der Rat höchstselbst hat dich umgebracht. Letzteres erfreute sich in den Bierstuben großer Beliebtheit, als hätten wir nicht genug Probleme! Rime An-Elderin verschwunden, nach Duell und Mordanklage. Deine Abwesenheit hat uns vergiftet, was hast du denn gedacht?! Du warst der Rabenträger!«

Jarladin nahm ein neues Glas von einem Tablett auf dem Tisch. Er wollte sich aus einer Flasche einschenken, aber sie war leer. Nicht ein Tropfen kam heraus. Die Fingerknöchel um den Flaschenhals wurden weiß.

»Die Hunde sind aufeinander losgegangen. Eine Familie misstraute der anderen, natürlich. Altes Unrecht waberte durch die Korridore. Und jetzt schließen sie Bündnisse. Kaufen Söldner. Stellen ihre privaten Armeen auf und glauben, sie täten es heimlich, aber jeder Dummkopf kann sehen, dass Geld aus Mannfalla abfließt. Hinaus in die Provinzen. Die ganze Welt weiß, dass der Rat im Begriff ist, zu stürzen. Bald sehen wir die Reiche gegeneinander kämpfen, das ist passiert, Junge! Danke der Nachfrage!«

Rime setzte sich auf den Schemel. Fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Darum also lagerten Soldaten vor dem Stadttor. Sie waren auf dem Weg in andere Landesteile. Als Geschenk. Zur Stärkung von Bündnissen. Gekauft aus Gründen der Loyalität …

Schlechte Zeichen, aber nichts, was man nicht reparieren konnte. Es gab noch Hoffnung. Immer noch leere Stühle im Rat. Der von Urd, der von Darkdaggar. Die musste man doch nutzen können, um Stabilität herbeizuführen.

»Hat jemand Anspruch auf Darkdaggars Platz erhoben?«

Jarladin lachte halb erstickt. Die Wahrheit zog sich wie eine Narbe über sein Gesicht.

Rime erhob sich. Spürte Kälte unter die Haut kriechen. »Er hat ihn immer noch?«

Die Frage hing unbeantwortet in der Luft. Rime hob die Stimme. »Er hat versucht, mich zu töten, und sitzt immer noch im Rat?«

»Du warst nicht hier!«, fauchte Jarladin. »Du warst nicht hier, um irgendein Urteil zu vollstrecken. Darkdaggar behauptete, er habe aus Notwehr gehandelt. Er sagte, du seist in sein Haus gekommen. Ungebeten. Hättest ihn bedroht. Er hatte nichts zu verlieren, Rime. Nichts. Also ist er aufs Ganze gegangen. Hat Ravnhov die Schuld gegeben. Immerhin warst du dort, als der Anschlag auf dich verübt wurde. Und die Räte haben ihm geglaubt oder so getan, als glaubten sie ihm. Weil sie es glauben wollten! Weil sie ihn brauchten. Und weil du für sie eine wandelnde Katastrophe warst, seit du Rabenträger wurdest. Die meisten am Tisch hätten dich eigenhändig umgebracht, wenn sie gekonnt hätten, also ja, Darkdaggar hat immer noch seinen Stuhl. Wenn du wenigstens den Auftragsmörder am Leben gelassen hättest, dann hätten wir einen Zeugen gehabt, aber so …«

Rime lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Er lachte frostig. »Du hörst dich an wie Hirka. Leben und leben lassen, was? Glaubst du wirklich, Darkdaggar hätte zugelassen, dass er aussagt? Der Mann war in dem Moment tot, als er den Auftrag angenommen hat!«

Wut bringt nichts. Konzentriere dich auf das, was du ändern kannst.

Für einen Moment glaubte er, Schwarzfeuer habe das gesagt, aber es waren Ilumes Worte. Ilume, die Mutter seiner Mutter. Ein Flüstern aus Draumheim. Und eine scharfe Erinnerung an die Politik, die er nie beherrscht hatte.

Er sah Jarladin an. Den Stier mit dem weißen Bart. Das Feuer färbte sein halbes Gesicht rot. Der Rest lag im Schatten, als stünde er mit einem Fuß im Draumheim.

»Ich bin jetzt hier«, sagte Rime. »Der Schaden kann behoben werden. Wir haben viele Möglichkeiten, wir können …«

»Rime … Der Rat hatte nur einen Traum und der war, dich loszuwerden. Diesen Traum hast du eigenhändig erfüllt. Es ist vorbei. Sie werden dich nie zurücknehmen. Eir trägt jetzt wieder den Stab. Ich dachte, die Schriftgelehrten und das Volk würden protestieren, aber niemand hat auch nur einen Stein geworfen. Sie haben gehört, dass du Ravnhov einen Stuhl versprochen hast. Sie haben gehört, der Fürst habe dich am Ende umgebracht, weil du dein Wort nicht gehalten hast. Darkdaggar hat gute Arbeit geleistet, dir etwas anzuhängen. Du hättest den Verstand verloren. Du hättest in Reikavik ein unschuldiges Kind getötet. Einen Jungen.«

Die Worte trafen Rime wie Schläge. Öffneten eine Wunde aus Erinnerungen. Das Dorf am Fluss. Sie hatten geglaubt, es wären Nábyrn. Totgeborene. Aber alles, was sie vorfanden, war ein angeschossener Bär in einem Erdkeller. Das Kind … Der schmächtige Oberkörper, gegen die Wand gelehnt. Rotes Haar. Tote Augen. Er erinnerte sich daran, wie der Mann, der den Jungen getötet hatte, vor ihm kniete. Und er erinnerte sich an den Geschmack seiner eigenen Wut. Trotzdem hatte er gezögert. Schwarzfeuer hatte es erledigt. Schwarzfeuer, der sein eigenes Leben geopfert hatte, um ihn zu lehren, wie man etwas vollendet.

Rime packte Jarladins Arm. »Du weißt, was geschehen ist, Jarladin! Ich habe nie … Ich würde nie …«

Rime begegnete seinem Blick und verstand.

Es spielte keine Rolle, ob er getötet hatte oder nicht. Schwarzfeuer war als Einziger mit ihm in dem Haus gewesen und er konnte nichts mehr bezeugen. Er auch nicht.

Rime sank wieder auf den Schemel. Er hatte vergessen, was er Hirka vor einer halben Ewigkeit selbst erklärt hatte: dass die Wahrheit für den Rat ohne Bedeutung war, solange sie keinen Nutzen brachte.

Jarladin kam zu ihm, ragte vor ihm auf wie der Stier, der er war.

»Also sag mir, Rime … Wo bist du gewesen?«

Rime fühlte sich schwer. Hinabgezogen in einen Sumpf aus Toten. Aus Unrecht. Seine Gedanken waren vernebelt. Als hätte er getrunken. Als ob nichts mehr wirklich wäre.

Tief in seinem Inneren wusste er, dass er etwas erreicht hatte. Etwas, das wichtig und all das hier wert war. Es würde sich anhören wie Wahnsinn, aber er musste es erzählen.

»Ich war bei ihr«, begann er. »Bei den Menskr. Ich habe totgeborene Brüder gefunden, alt wie die Gabe. Nábyrn, die sich immer noch an den Krieg erinnern. Einer von ihnen ist ihr Vater. Sie ist eine Halbblinde, Jarladin. Halb Mensk, halb Totgeborene. Tochter eines Heerführers im Exil. Und ich habe Ihn gefunden. Den Seher …«

Jarladin strich sich mit der Hand übers Kinn. Eine verräterische Geste. Rime wusste, was er dachte. Dass der Rat recht hatte. Dass Rime An-Elderin, Ilumes Enkel, den Verstand verloren hatte. Dass er wahnsinnig geworden war. Krank im Kopf.

Rime blickte zu ihm hoch. »Es gab ihn, Jarladin. Es gab den Seher.«

Jarladin verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was hast du getan, als du ihm begegnet bist?«

Rime war wie gelähmt. »Ich habe ihn getötet.«

»Du hast den Seher gefunden und du hast ihn getötet?«

Rime nickte. Starrte auf die Feuerstelle. Die Flammen waren erloschen. Rote Glut tanzte auf dem verkohlten Holz. Eigentlich hätte er etwas anderes als Leere fühlen müssen.

»Du hast also deinen eigenen Troll bezwungen. Du bist ihr bis weiß der Seher wohin gefolgt und jetzt kommst du zurück und glaubst, die Welt habe stillgestanden. Dass nichts, was du getan hast, Konsequenzen gehabt hat. Als hätten nicht alle ihren Troll, mit dem sie kämpfen.«

Rime stand auf. »Du glaubst, ich bilde mir das nur ein …«

Jarladin zeigte auf ihn. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, um dich zu beschützen! ALLES! Du hattest einen Freund am Tisch und du bist verschwunden! Ohne ein Wort! Ich habe dich verteidigt. Ich …« Er verstummte. Legte den Kopf schräg. Starrte ihn mit wachsendem Unglauben an. Sein Blick suchte nach etwas, von dem Rime wusste, dass er es nicht finden würde: seinen Schwanz.

Keine Erklärung würde helfen. Zwischen ihnen hatte sich ein Abgrund aufgetan. Die Fronten waren zu schroff und er würde nicht gewinnen können. Nicht heute Abend.

Der Ratsherr wurde blass. Wich zurück. Seine Reaktion verschaffte Rime eine erschreckende Befriedigung, als hätte er urplötzlich die Macht zurückerhalten. Die Freiheit, verdammt zu sein.

Rime trat dicht an ihn heran. Jarladin beugte sich zurück. Versuchte Abstand zu gewinnen, als spräche er mit einem Pestkranken. Vielleicht tat er das ja auch.

Ich bin die Fäulnis. Nicht sie.

Rime flüsterte ihm heiser ins Ohr. »Ich habe ihn abgeschlagen. Ich bin ein Schwanzloser geworden. Ein Mensk. Und du glaubst, ich hätte es aus Wahnsinn getan? Aus Schwermut? Ich habe es getan, weil ich musste. Du sprichst von einem kommenden Krieg. Reich gegen Reich, ein zersplitterter Rat, und du glaubst, schlimmer kann es nicht werden? Ich kann dir von Dingen berichten, die dein Blut gefrieren lassen, Jarladin. Reich gegen Reich ist ein Spiel gegen das, was kommt. Versuche einmal, Welt gegen Welt aufzuhalten. Das ist es, wogegen ich kämpfe.«

Jarladin wandte sich ab. »Du folgst ihr, das ist alles.« In seiner Stimme lag keine Überzeugung.

»Nicht mehr. Das ist vorbei. Wie alles andere.« Rime fühlte sich von seinen eigenen Worten aufgespießt. Ein jäher, unerwarteter Schmerz, der ihn zwang, Jarladin den Rücken zuzukehren. Er öffnete das Fenster und sprang auf den Fenstersims. Hockte dort eine Weile und sammelte sich, ehe er sich wieder umdrehte.

»Ich wusste nicht, wen ich hier antreffen würde, Jarladin. Freund oder Feind. Aber ich weiß, wer Darkdaggar ist. Wozu er imstande ist, wenn er unter Druck gerät. Und du musst damit rechnen, dass er dich im Auge behält.«

»Du glaubst zu wissen, was in Ratsmitgliedern vorgeht, Rime? Du, der sich selbst nie als dafür geeignet befand?«

»Ich glaube zu wissen, was in einem Mörder vorgeht.«

Jarladin trat einen Schritt zurück. Sein Fuß stieß gegen das Glas, das zu Boden gefallen war. Es zerbrach in zwei Teile, offenbar war es doch nicht so unversehrt, wie es den Anschein gehabt hatte.

»Du bist hier nicht sicher, Jarladin. Weder du noch deine Familie. Du hast nur wenige Freunde im Rat und Darkdaggar ist gefährlich. Vielleicht solltet ihr Mannfalla besser verlassen.«

»Niemals.«

Rime hatte nichts anderes erwartet. »Dann versprich mir wenigstens, dass du versuchst, den Rat noch eine Weile zusammenzuhalten.«

»Du willst, dass ich ihn zusammenhalte? Den Rat, den du so erbittert versucht hast zu zerschlagen?«

An einem anderen Tag hätte Rime über die Ironie gelächelt. »Ja. Ich will, dass du ihn zusammenhältst. Denn jetzt weiß ich, was die Alternative wäre. Was danach kommen könnte. Und das würde keinem von uns gefallen.«

Er richtete sich auf dem Fenstersims auf und machte sich bereit zum Sprung.

»Du hast es ihnen leicht gemacht«, sagte Jarladin hinter ihm. »Früher hätten sie nie gewagt, dich umzubringen. Sie hätten einen Volksaufstand gefürchtet. Oder, noch schlimmer, einen Aufstand der Schwarzröcke. Beides brauchen sie nun nicht mehr zu fürchten. Für sie bist du tot, Rime.«

»Und das werde ich auch bleiben.« Rime umarmte die Gabe und warf sich hinaus in die kalte Nacht.

Dreysíl

Vom Dunkel ins Licht.

Blendendes Weiß. Schneegestöber.

Wind peitschte weiße Flocken an ihr vorbei. Schräg. Oder war sie im Begriff, zu fallen?

Hirka lehnte sich gegen die Felswand. Stein. Schnee. Sie war hindurch.

Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Atmete tief ein. Es stach in der Lunge. Kalt. So kalt. Etwas knarrte.

Sie blickte auf das Metallkästchen in ihrer Hand. Reif breitete sich auf der Oberfläche aus, bildete Rosen um ihre Fingerspitzen. Sie klemmte sich das Kästchen unter den Arm und zog die Ärmel des Strickhemds über die Hände.

Wo bin ich?

Sie überwand das Schwindelgefühl und richtete sich auf. Das, woran sie gelehnt hatte, war keine Felswand. Es war einer der Steine im Kreis, durch den sie gerade gekommen war. Die Größe hatte sie getäuscht. Sie ragten hoch über ihr auf. Streckten sich hinauf zu … einem Dach?

Hirka schützte ihre Augen mit der Hand vor dem Licht und blinzelte zu einer zerborstenen Decke hinauf. Scharfe, spitze Teile wiesen in den Himmel. Sie befand sich in einem Saal oder eher einer Ruine, die einmal ein Saal gewesen war. Größer als alles, was sie jemals gesehen hatte. Eis war eingedrungen und hing von den Bogengängen, die sich über mehrere Stockwerke erstreckten. Der Wind blies durch große Löcher in den Wänden. Und sie stand bis zu den Knien im Schnee. Drinnen und draußen zugleich.

Eine Bewegung zog ihren Blick an. Ein Mann kam auf sie zugelaufen. Sie hörte das Geräusch seiner Schuhe, die durch die gefrorene Schneedecke brachen. Jemand rief ihm etwas hinterher. Eine Stimme, die durch den Wind schnitt.

»Keskolail!«

Der Mann lief weiter, ohne sich umzudrehen. Er war jetzt ganz nah. Wilder Blick in weißen Augen. Ein Totgeborener. Hirka ließ das Kästchen fallen und griff nach dem Messer an der Hüfte. Fand es nicht. Angst packte sie.

Im Stiefel! Es ist im Stiefel!

Sie würde nicht mehr dazu kommen, es herauszuziehen. Im selben Moment, als sie das dachte, begriff sie, dass der Mann sie überhaupt nicht beachtete. Während er lief, war sein Blick auf einen Punkt hinter ihr gerichtet, zwischen den Steinen. Dorthin wollte er.

Eine Bogensehne sang. Hirka öffnete den Mund, um ihn zu warnen, aber es war schon zu spät. Der Pfeil versank in seinem Rücken. Der Mann erstarrte, seine Beine gaben nach und er fiel vor ihr auf die Knie. Sie streckte sich ihm entgegen, wollte helfen, aber ihre Füße steckten im Schnee fest. Sie mühte sich, loszukommen.

Er sah sie an. Bannte sie mit weißen Augen. Das Wilde darin war verschwunden. Der sichere Tod schien ihn zu verwundern. Er hob die Hand, kratzte mit den Klauen über ein tropfenförmiges Mal auf seiner Stirn. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, entblößten die Eckzähne. Dann kippte er vornüber und blieb mit dem Gesicht im Schnee liegen. Ein schwarzer Pfeil ragte aus seinem Rücken. Er hatte sich durch die Jacke gebohrt. Kurz und kräftig. Es kam ihr widersinnig vor, dass etwas so Kleines eine solche Bestie fällen konnte.

Tod. In einer Welt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Einer Welt, die vielleicht noch nie ein Ymling oder Mensch gesehen hatte. Und Tod war das Erste, was sie sah. Was hatte er Unrechtes getan?

Und ich? Habe ich etwas Unrechtes getan?

War sie auch ein Ziel? Hirka befreite sich aus dem Schnee und blickte zurück. Die Steine sahen tot aus. Es war zu spät für eine Umkehr.

Vier Gestalten kamen jetzt auf sie zu. Drei von ihnen blieben ein Stück entfernt stehen, die vierte ging geradeaus weiter. Eine Frau. War sie es, die gerufen hatte?

Sie bewegte sich mit einer aufrechten und starken Selbstverständlichkeit. Als ob niemand sie jemals berühren könnte. Ein Umhang flatterte hinter ihr, so schwerelos, dass er mehr zu schmücken als zu wärmen schien. Ihr Leib war in Leder geschnürt. Die Stiefel reichten bis zu den Knien. Aber Oberschenkel und Arme waren nackt.

Hirka überlief ein kalter Schauer. Sie zog ihren eigenen Umhang enger um den Körper. Was hatte sie erwartet? Dass alle gekleidet waren wie Graal bei den Menschen? Oder nackt wie die, die sie in Ymsland gesehen hatte? Sie wusste es nicht. Wusste nicht, was sie erwartet hatte.

Sie hob das Kästchen auf, das sie in den Schnee hatte fallen lassen.

Die Frau blieb breitbeinig vor ihr stehen. Ihre Lippen waren schwarz. Die Haare auch. Eine Flut von langen Zöpfen, die in grellem Kontrast zu dem bleichen Gesicht standen.

Unwillkürlich machte Hirka einen Schritt zurück. Blickte zu totgeborenen Augen auf. Ein milchweißer Schleier, ohne Schattierungen. Der Blick war schwierig zu lesen, wie bei allen Blinden, die sie gesehen hatte.

Umpiri. Sie sind Umpiri und du bist eine von ihnen.

Die Frau legte den Kopf schräg. Beugte sich zu Hirka vor, als wollte sie ihr die Zähne in den Hals schlagen. Hirka wagte nicht, sich zu rühren. Die Totgeborene atmete durch die Nase ein, als nähme sie Witterung auf. Eine ausgesprochen tierische Handlung. Hirka hielt den Atem an. Warf einen schnellen Seitenblick zu der toten Gestalt im Schnee. Die Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden, schien ihr greifbar nah. So, als wäre sie der Gnade eines wilden Tieres ausgeliefert. Naiell war auch tierisch gewesen, aber nicht auf diese Art. Vielleicht hatten er und Graal etwas von Ymlingen und Menschen angenommen.

Sie ist ein Freund! Graal hat versprochen, dass ich einen Freund treffen werde.

Die Frau richtete sich wieder auf. Hirka meinte, einen Anflug von Schmerz über ihr Gesicht gleiten zu sehen, aber das musste sie sich eingebildet haben. Schmerz schien diesem Geschöpf fremd zu sein.

»Es ist also wahr …«, sagte die Frau in gebrochenem Ymsländisch. Es klang nicht wie eine Frage.

Hirka erinnerte sich, dass die Blinden ihresgleichen am Geruch erkennen konnten, also vermutete sie, dass die Frau von ihr als Halbblut sprach, aber sie antwortete nicht. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, war zu stark.

»Ich bin Skerri, aus Modrasmes Haus.«

»Hirka«, erwiderte Hirka.

»Hirka? Ist das deine Art, dich vorzustellen?« Die Missbilligung war unverkennbar.

Hirka nickte.

»Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du Hirka, Tochter des Graal, Sohn von Raun aus Modrasmes Haus. Und du hast viel zu lernen.« Skerri deutete auf das Kästchen. »Ist das …?«

Hirka nickte wieder. Endlich sah sie die Andeutung eines Lächelns auf Skerris Gesicht. Ein leichtes Zucken der schwarz gemalten Lippen. Naiells Herz in einem Kästchen. Das war es, was nötig war, um sie zu erfreuen? Hirka schauderte es.

Skerri warf einen Blick zu den drei anderen. »Keskolail!«

Hirka erkannte das Wort wieder, das sie vor wenigen Augenblicken gehört hatte. Einer von ihnen kam auf sie zu und Hirka begriff, dass es wohl sein Name war. Also hatte er auf Skerris Befehl geschossen. Warum?

Keskolail war ein großer Mann. Deutlich mehr bekleidet, in einer schwarzen Jacke mit einem zottigen Schaffell um die Schultern. Er trug einen Bogen. Sein Haar war stahlgrau, aber er konnte unmöglich älter als vierzig sein. Obwohl … er war ein Umpiri. Er hätte auch mehrere Tausend Jahre alt sein können, nach allem, was Hirka wusste.

Er trug das gleiche Zeichen auf der Stirn wie der Getötete. Einen grauen Tropfen. Als er den Kopf drehte, sah Hirka, dass es keine Zeichnung war. Es hatte Tiefe. Wie ein matter Edelstein. Er ging in die Hocke und zog den Pfeil aus dem Rücken des Toten. Es klang, als zerbräche etwas. Blut tropfte von der Spitze in den Schnee. Hirka starrte ihn an, aber er beachtete sie nicht. Warf nicht einmal einen Blick zu ihr oder Skerri.

Er wischte die Pfeilspitze in einer Handvoll Schnee ab und steckte den Pfeil in einen Köcher, den er am Gürtel trug. Dann packte er den Toten im Nacken und zog ihn durch eines der klaffenden Löcher in der Wand mit sich nach draußen.

Hirka konnte das Gefühl von Machtlosigkeit nicht abschütteln. Wo war sie hineingeraten? Sie sah Skerri an. Ihre Haut war bleich wie der Himmel, machte all das Schwarze scharf und bedrohlich. Das Haar. Die Lippen. Das Leder. Sie war schwarz und weiß. Nichts dazwischen. Sie war die einzige totgeborene Frau, die Hirka je gesehen hatte. Hirka klammerte sich an den Glauben, dass Graal sie brauchte. Er hätte sie nicht in den Tod geschickt.

»Er war nicht auf dich aus«, sagte Skerri, während ihr Blick der makabren Spur des Toten folgte.

»Worauf dann?«

»Die Gabe«, erwiderte sie, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Sie drehte sich abrupt um. Die schwarzen Zöpfe peitschten über ihren Rücken, beschwert von Perlen an den Enden. Sie ging zu den beiden, die warteten.

Hirka blickte zurück, aber Ymsland war weg. Alles, was sie zu sehen bekommen hatte, war eine dunkle Höhle unter Mannfalla, in die die Steine hineinragten. Und Damayanti. Die gnadenlose Tänzerin hatte sie ohne einen einzigen Blick auf die Oberfläche hierher weitergeschickt. Sie hatte die Stadt nicht sehen dürfen. Lindri nicht besucht. Sie hatte ein Versprechen zu halten und jetzt war sie hier zu Hause.

Wo ist hier?

Hirka folgte Skerri, mehr aus dem Gefühl heraus, es zu müssen, als dass sie es wollte. »Wo sind wir?«

»Das ist Nifel, die zerstörte Stadt. Wir bleiben nicht hier.«

Hirka widerstand der Versuchung zu fragen, was sie zerstört hatte. »Aber … die Welt? Wie nennt ihr …«

»Dreysíl. Das erste Land.«

»Ah …« Hirka schob sich ihren Beutel bequemer zurecht. Schnee war in den Saal geweht und hatte sich zu Wällen aufgetürmt. Am Ende waren die Wände eingestürzt. Zerbrochene Säulen ragten wie Knochen aus dem Schnee. Bei einer von ihnen warteten die beiden Männer. Skerri gab ihnen ein Handzeichen und sie verschwanden nach draußen, bevor Hirka sie grüßen konnte. Sie hatte nur gesehen, dass der eine ebenso leicht bekleidet war wie Skerri. Trotz des Wetters.

»Wohin gehen wir?«

»Ginnungad«, antwortete Skerri, ohne sich umzudrehen.

»Ist das weit?« Hirka spürte, wie die Kälte ihr in die Knochen drang. Sie hielt Ausschau in der Hoffnung, Pferde und einen Wagen zu entdecken, aber es war nichts anderes zu sehen als Schnee. »Habt ihr keine Pferde?«

»Wozu?«

Hirka war drauf und dran, wieder im Schnee stecken zu bleiben.

»Um darauf zu reiten.«

War es vielleicht die Sprache? Skerri wirkte nicht sehr gewandt in Ymsländisch. Es war, als spräche sie es nur widerwillig. Aber sie blieb stehen. Drehte sich zu Hirka um und bleckte die Eckzähne. »Sehe ich aus, als müsste ich getragen werden?«

Hirka schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint …«

»Vier Tage. Ginnungad ist vier Tage entfernt.« Skerri ließ ihren Blick über Hirka wandern, von Kopf bis Fuß. Selbst in den blinden Augen war die Enttäuschung offensichtlich. »Sagen wir sechs Tage«, fügte sie bissig hinzu und ging weiter.

Zuflucht

Rime kroch übers Dach, bis er an den Rand kam. Er hielt inne. Lauschte. Das Eis am Flussufer knirschte. Aus einem Fenster ein paar Häuser weiter leerte jemand einen Waschzuber. Er wartete noch eine Weile. Musste vorsichtig sein. Hierherzukommen konnte Lindris Leben gefährden.

Das Teehaus war so etwas wie ein Zufluchtsort geworden. Ein sicherer Ort im Niemandsland. Lindris Tür war immer offen und Rime konnte nirgends anders hin. Jedenfalls nicht, ohne dass sich das Gerücht in Mannfalla verbreitete, und das durfte nicht passieren.

Nicht, bevor er einen Plan hatte.

Es war windig geworden. Er rieb sich die Hände, versuchte, Leben in die erfrorenen Finger zu zwingen. Ein Tag und eine Nacht draußen in dieser Kälte, da hatte es selbst die Gabe aufgegeben, ihn warm zu halten.

Er packte die Dachkante, rollte sich über den Rand und ließ sich hinunter auf die hölzerne Plattform. Sie ragte hinter dem Teehaus ein Stück auf den Fluss hinaus, wie ein Bootssteg. An der Hauswand standen ein Schaukelstuhl und eine eisbedeckte Laterne. Eine Kletterpflanze, die sich um die Balken rankte, war über den Winter verdorrt.

Durch eine haarfeine Ritze zwischen Tür und Rahmen konnte er drinnen Licht erahnen. Rime klopfte an. Lange blieb es still, dann wurde die Tür ein klein wenig geöffnet. Ein Auge blinzelte durch den Spalt.

»Ich bin es«, flüsterte Rime.

Lindri zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. Die Tür ging mit einem lang gezogenen Knarzen auf. Er ließ die Kerze fallen, die er in der Hand gehalten hatte. Sie rollte über die Plattform und erlosch. Rime hielt sie mit dem Fuß auf. Der Teehändler schnappte nach Luft und schlug das Zeichen des Sehers. Wich zurück.

Rime ergriff seinen Arm. »Nein! Nein, ich bin nicht tot, Lindri! Hörst du? Ich bin nicht tot.«

Die Angst in Lindris Augen verblasste. Er zog Rime ins Haus. Rasch steckte er den Kopf hinaus und blickte sich um, ehe er die Tür wieder schloss. So, als hätte er mit mehreren gerechnet oder als könnte er einfach nicht begreifen, wie Rime hierhergekommen war.

Das Hinterzimmer war eng, vollgestopft mit Kisten und Jutesäcken. Die Luft war schwer von Heustaub. Das löste eine jähe Erinnerung in Rime aus. Hier hatte er mit Schwarzfeuer gestanden, in der Nacht, als die Schwarzröcke nach Reikavik gerudert waren. Sie hatten über Dinge gestritten, die jetzt banal wirkten. Was hatte Schwarzfeuer noch gesagt?

Du kannst die Welt nicht vom Draumheim aus beherrschen, Junge.

Lindri drängte ihn weiterzugehen, hinein ins Teehaus. Tische und Bänke standen grau in der Dunkelheit. Die Nacht hatte dem Holz alle Farbe geraubt.

»Setz dich, setz dich«, sagte Lindri und schob ihn freundlich, aber bestimmt zu einer Bank an der Feuerstelle. Die Flammen waren erloschen, aber etwas von der Wärme hing noch im Raum. Genug, dass Rime begriff, wie durchgefroren er war.

Lindri stocherte mit dem Schürhaken in den verkohlten Holzresten.

»Lass gut sein, Lindri. Kein Feuer. Niemand darf wissen, dass ich hier bin.«

Lindri kramte im Holzstapel. Riss ein Stück Birkenrinde ab und begann Feuer zu machen, als hätte er kein Wort gehört. Rime wollte erklären, wollte warnen, dass es nicht ungefährlich war, ihm Obdach zu geben, aber er wusste, dass Lindri nicht zuhören würde. Der runzlige Teehändler hatte Hirka bei sich aufgenommen, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Auch nachdem er erfahren hatte, dass sie ein Mensk war. Leere Tische waren der Preis, den er dafür bezahlte.

Er hatte auch Rime schon beherbergt. Als Rabenträger. Als Damayanti ihm den Schnabel gegeben hatte. Und jetzt als entehrten Ratssohn und Totgeglaubten.

Das Feuer flackerte auf und begann zu knistern. Tauchte Lindri, der vor den Flammen hockte, in ein warmes Licht. Er war im Nachthemd, wie Rime jetzt sah. Mit einer Strickjacke darüber, die sich an den Ärmeln auflöste.

Er erhob sich mit sichtlichem Unbehagen und nahm Rime gegenüber Platz. Das Alter hatte seine Augen zuwachsen lassen, hatte sie klein und rund gemacht. Er legte eine schwielige Hand auf Rimes. Die Wärme brannte sich durch eine Schicht von Einsamkeit.

Rime schluckte. »Du glaubst also nicht, was sie über mich sagen?«

»Erzähl mir, was passiert ist, dann werde ich dir sagen, was ich glaube«, erwiderte Lindri mit besänftigender Ruhe.

Rime lachte halb erstickt. Er ließ den Strom der Worte kommen, obwohl er wusste, dass nichts von dem, was er sagte, einen Sinn ergab. Er konnte nicht aufhören. Es war, als ob er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Echtes teilte. Also erzählte er. Vom Besuch in der Menschenwelt. Von den Brüdern Graal und Naiell. Einer tausend Jahre alten Feindschaft. Der eine im Exil, der andere der Seher persönlich. Der Seher, den er getötet hatte.

Die Lüge, mit der er aufgewachsen war, existierte nicht mehr. Stattdessen hatte er die Geschichte von dem Blinden gefunden, der sein eigenes Volk verraten und Ymsland erobert hatte.

Er erzählte von Hirka und ihrer Abstammung. Dass sie eine von ihnen war. Von denen, die durch die Tore brechen und nach Ymsland kommen würden, um sich zurückzuholen, was sie einst verloren hatten. Und es gab nichts, was er tun konnte, um sie aufzuhalten. Jetzt nicht mehr. Jetzt, da er das bisschen Macht, das er besessen hatte, vergeudet hatte.

Er redete, bis er keine Worte und keine Kraft mehr hatte. Faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Sah Lindri an. Wartete auf eine Reaktion auf all das, was er gesagt hatte, aber es kam keine. Lindri saß da und nickte vor sich hin. Seine Lider waren so schwer, dass Rime für einen Moment glaubte, er sei eingeschlafen. Aber dann richtete Lindri sich auf und schlug die Hände auf die Schenkel.

»Die Welt wird also untergehen? Ist es das, was du sagst?«

»Das ist eine gute Schlussfolgerung«, erwiderte Rime.

»Ja, dann bleibt nur eins zu tun.« Lindri erhob sich langsam. Die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer, verrieten die Schmerzen in den Knochen.

»Und was?«, fragte Rime.

»Tee machen.«

Lindri ging zum Tresen und zündete eine Kerze unter einer der schwarzen gusseisernen Kannen an. Sie standen in einer Reihe, zeigten alle mit ihren Tüllen in dieselbe Richtung.

»Tee machen? Ist das die Antwort auf den Untergang der Welt?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?«

Rime starrte auf die Tischplatte. Sie war grob wie Treibholz, voller Kerben und Wunden.

Nein, er hatte keinen besseren Vorschlag. Der Sturm würde kommen, ganz egal, was er tat.

Lindri stellte die Kanne vor ihn auf den Tisch. Ein satter Duft stieg auf. Es roch verdächtig nach etwas sehr viel Stärkerem als Tee. Lindri setzte sich wieder und schob Rime einen vollen Becher hin.

»Du hast also den Seher getötet? Den Bruder ihres Vaters?«

»Er hätte sie getötet, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte.«

Rime legte eine Hand auf seine Hosentasche. Spürte die Konturen der Muschel, des Amuletts, das er ihr geschenkt hatte, damals, als sie Ymsland verließ. Jetzt gehörte es wieder ihm. Überreicht von Graal, ohne Erklärung. War das Graals Art, ihm zu sagen, dass er sie vergessen sollte? Dass sie eine halbe Totgeborene war, der ein ganz anderes Schicksal bestimmt war als Rime?

Er hoffte es, denn die andere Möglichkeit war schlimmer: dass Hirka Graal gebeten hatte, ihm die Muschel zu geben. Dass es ihr Wunsch gewesen war.

Die Brust wurde ihm eng. Er griff nach dem Becher und leerte ihn in einem Zug. Das Gebräu war wohltuend stark. Brannte sich seinen Weg hinunter in den Magen.

Er hatte nicht geahnt, wie stark das Verlangen war, bis er sie wiedergetroffen hatte, in dem Raum, der vor Musik pulsierte. Der so lebendig war, voller Menskr. Odinskinder, so weit das Auge reichte. Aber er hätte genauso gut mit ihr allein sein können, denn er hatte alles und jeden um sich herum vergessen.

Er hätte sie genommen, auf der Stelle, wenn er die Chance dazu gehabt hätte. So stark, so überwältigend war es.

So zerstörerisch.

Er hatte idiotische Dinge getan – ihretwegen. Dinge, die nicht nur ihn selbst vernichtet hatten, sondern die nun auch drohten den Rat zu vernichten. Ravnhov. Ymsland.

Er hatte den Schnabel genommen. Hatte sich selbst zum Sklaven gemacht. Etwas, das er weder Jarladin noch Lindri erzählt hatte. Niemand durfte wissen, dass er eigentlich machtlos war. Graals Launen ausgeliefert.

Graal war gefährlicher, als es Hirka bewusst war. Er würde sie beide gegeneinander ausspielen, wenn er musste. Die einzige Hoffnung war, dass auch Graal sie liebte. Rime hatte den Vaterstolz in seinen Augen gesehen. Aber auch eine hemmungslose Bereitschaft, über Leichen zu gehen.

Dasselbe sagt sie auch über mich.

»Ich weiß, was du bist und was nicht, Rabenträger.« Lindri füllte den Becher erneut. Er redete, als hätte er Rimes Gedanken gelesen.

»Ich bin kein Rabenträger mehr, Lindri. Ich bin tot, nach allem, was die Leute wissen.«

»Wenn du gestattest, Rime An-Elderin … Du hast mir erzählt, was passiert ist, und jetzt werde ich dir erzählen, was ich glaube. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und ich erinnere mich gut an den Tag, an dem du geboren wurdest. Das ist noch nicht so lange her.«

»Das war vor fast zwanzig Wintern, Lindri.«

Der Alte lächelte, dass die Krähenfüße sich bis zu den Schläfen hinzogen. »Das Kind, auf das alle gewartet hatten. Das Kind, von dem der Seher sagte, es werde leben. Ich dachte, was ist denn das für ein Leben für einen Jungen. Mit einer solchen Bürde aufzuwachsen. Schon am selben Tag haben sie Amulette mit deinem Bild verkauft, wusstest du das?«

Rime wusste es nur allzu gut. Er kratzte mit dem Fingernagel an einer Kerbe im Teebecher. Sie kam ihm bekannt vor, hatte er nicht schon früher aus diesem Becher getrunken? Er nahm einen neuen Schluck. Der Geruch stach ihm in die Nase.

»Wie ich das sehe, Rime, bist du in einem Käfig aufgewachsen. Ein Käfig, um den alle Welt dich beneidet hat, aber dennoch ein Käfig. Alles war darauf ausgerichtet, dass du einer von ihnen werden solltest. Sie haben sich geirrt. Du wurdest stark genug, um deinen eigenen Weg zu wählen. Ich billige bei Weitem nicht alles, was du getan hast, aber an deinem Willen ist nichts auszusetzen.«

Der Wind heulte ums Haus. Lindri rieb sich die Handgelenke, als hätte ihn das Geräusch daran erinnert, wie kalt es war.

Er fuhr fort: »Sie sagen viel über dich. Und ich selbst habe geglaubt, du seist für uns verloren. Vor allem, als du mit der angemalten Frau hierhergekommen bist. Der Tänzerin. Aber das war etwas anderes als die Lust eines jungen Mannes, nicht wahr? Ich lebe seit einem Dreivierteljahrhundert, Rime. Glaubst du, ich hätte nie etwas von Blindwerk gehört? Sie hat etwas mit dir gemacht, das weiß ich. Du brauchst mir nicht zu sagen, was. Ich vermute, du hast das gebraucht, um Hirka zu folgen. Und ja, du hast Schwarzfeuer getötet. Deinen eigenen Mester. Aber das war seine Entscheidung, nicht deine. Du wurdest getäuscht. Welcher Mann an deiner Stelle hätte nicht dasselbe getan?«

Rime sah weg. Lindris Verständnis war schlimmer, als es seine Missbilligung hätte sein können.

»Rime … Du bist ein junger Mann. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es mit den Jahren einfacher wird, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, aber so ist das nicht. Im Gegenteil. Je älter man wird, desto mehr hat man gesehen. Und ich habe zu viele Leute Fehler begehen sehen, als dass ich glauben könnte, es sei einfach, sich für das Richtige zu entscheiden.«

Rime lachte kurz. »Das ist nicht das, was sie sagt …«

»Hirka ist nicht in Eisvaldr aufgewachsen. Du schon. Du bist ein Ratssohn. Man hat dich nie gelehrt, was das Richtige ist. Man hat dich gelehrt: Solange du es bist, der etwas tut, so lange ist es das Richtige. Die Familien sind das Gesetz. Das Gesetz sind die Familien. Trotzdem kämpfst du einen Kampf gegen dich selbst und das macht dich zu einem guten Mann, Rime. Einem starken Mann. Nur starke Männer ertragen es, alles zu verlieren.«

»Und starke Frauen«, entgegnete Rime. Er spürte, wie seine Schultern sich senkten. Er stieß seinen Becher gegen Lindris, wie zu einem Skål. Verschüttete etwas Flüssigkeit, die in die Furchen des Holzes lief, bevor er sie wegwischen konnte.

»Weißt du, warum sie das macht, Lindri? Weil sie glaubt, sie verhindert einen Krieg. Sie glaubt, sie kann den Blinden ihren Blutdurst ausreden. Das ist es, was sie macht. Sie glaubt, sie kann sie dazu bekehren, den Frieden zu lieben. Dummes Mädchen … Sie kann einen Stein zur Weißglut bringen und sie wird sie nur noch verrückter machen.«

Lindri versuchte, ein Lächeln zu verbergen.

Rime trank den letzten Rest Tee aus. »Was?«

»Sie bringt das Beste und das Schlechteste in dir hervor, Rime.«

Das stimmte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Sie gehörte ihm nicht, würde es nie tun. Sie hatte sich für eine andere Welt entschieden. Für ein anderes Leben. Falls sie sich je wiedersahen, würde es auf dem Schlachtfeld sein. Er konnte nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos darauf warten. Er musste handeln.

Nur vorher ein bisschen ausruhen. Hier. Am Tisch.

»Darkdaggar hat die Kontrolle über den Rat, Lindri. Über das Heer.«

»Ja, wem sagst du das.«

»Aber nicht über die Schwarzröcke. Sie sind eine gefährlichere Armee als die von Mannfalla. Die einzige, die den Blinden standhalten kann. Er darf sie nicht übernehmen, Lindri.«

Rime versuchte, seine Gedanken in Worte zu kleiden, aber sie entwischten ihm. Waren unmöglich zu greifen. Wie die Schwarzröcke. Die schwarzen Schatten, die außerhalb von Darkdaggars Reichweite waren. Aber wie treu waren sie dem Rat jetzt ergeben? Wer hatte nach Schwarzfeuer die Führung übernommen? Und wie würden sie Rime empfangen? Den Mann, der seinen eigenen Mester getötet hatte. Ihren Mester.

»Bin ich noch ein Schwarzrock? Was denken sie jetzt über mich?«

»Das kann man nicht wissen, Rime.«

»Ich muss es herausfinden. Ich habe keine andere Wahl.«

»Das kannst du morgen auch noch.«

Rime spürte eine Wolldecke um die Schultern und begriff, dass er dabei war, einzuschlafen.

Ein Problem

Dichter Schneefall machte es schwierig zu sehen, wohin man die Füße setzte. Der Wind war schärfer geworden, ging bis auf die Knochen. Hirka hatte jedes Kleidungsstück angezogen, das sie besaß. Den Pullover, den Stefan ihr geschenkt hatte, ein zweites Strickhemd, den Regenumhang von Pater Brody über den Umhang von Jarladin. Leute, die sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Ob sie überhaupt noch mal jemanden sah?

Bisher deutete alles darauf hin, dass sie in dieser frostigen Ödnis einschneien würde. Irgendwann würden die Blinden es leid sein, auf sie zu warten, und sie einfach liegen lassen. Und in hundert Jahren würden Totgeborene ein Gerippe ausgraben. Etwas, das einer Verwandten von Graals totem Raben glich. Knochen und Hautfetzen in einem Pullover mit englischem Text, den keiner auch nur im Entferntesten begreifen würde.

Hirka zwang sich zu einem Lächeln, um sich aufzumuntern. Sie war umgeben von Totgeborenen, in der Art von Wetter, in dem Leute verschwanden, und sie hatte keine Ahnung, wohin sie unterwegs war. Humor war das wichtigste Werkzeug, das sie zum Überleben besaß.

Sie stapften eine steile Anhöhe hinauf, die mit dem Himmel verschmolz. Eine blau-weiße Einöde, die sie blendete, wenn sie zu lange darauf starrte. Bisher hatte sie keinen einzigen Baum gesehen, auch keine Anzeichen von Leuten. Nur Eis und Schnee.

Hirka spannte die Kiefermuskeln an, um zu verhindern, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ihre Wangen waren so kalt, dass es sich anfühlte, als platzten sie auf, und der Schweiß war zu Eisperlen im Haar erstarrt. Sie musste bei jedem Schritt mühsam die Füße aus dem Schnee ziehen. Der Stock war eine gute Hilfe. Ein hohler Stab, der wenig wog, aber viel aushielt. Alle hatten einen. Sie hatten gesagt, man könnte durch ihn atmen, falls man von einer Lawine verschüttet wurde, und dass er es leichter machte, gefunden zu werden. Es deutete auch nichts darauf hin, dass sie es scherzhaft gemeint hatten.

Hirka wusste, dass sie bald anhalten musste. Sie schmeckte vor Erschöpfung schon Blut auf der Zunge.

Sie blinzelte zu Skerri. Die Frau ging in unermüdlichem Rhythmus vor ihr und hinterließ eine Spur, die es allen leichter machte, die nach ihr kamen. Nicht ein einziges Mal hatte Hirka gesehen, dass sie den Umhang enger um den Körper zog. Es war unbegreiflich, dass sie nicht erfror.

Auf dem Rücken trug sie einen röhrenförmigen Behälter aus Leder. Er erinnerte an einen Köcher, war aber zu groß für Pfeile. Etwas sagte Hirka, dass sie nicht darauf zu hoffen brauchte, er könnte eine Decke enthalten.

Jedes Mal, wenn Skerri sich umdrehte, um nachzusehen, wo Hirka blieb, schlugen die Perlen in den schwarzen Zöpfen gegen den Köcher. Es klang wie Hagel. Das Geräusch hatte inzwischen seine eigene Bedeutung erhalten. Eine Anklage, die Hirka vorwärtstrieb.

»Wer ist eigentlich Modrasme?«, rief Hirka in der Hoffnung, dass ein Gespräch sie dazu bringen würde, langsamer zu gehen.

»Die Älteste in unserem Haus«, antwortete Skerri. Sie warf Hirka einen Seitenblick zu. »In deinem Haus«, ergänzte sie. Es klang eher wie eine Drohung als wie ein Trost.

»Also erhalten die Häuser ihre Namen nach den Ält…«

»Wir reden, wenn wir da sind.«

Hirka biss sich auf die Lippe. Vielleicht war einer der anderen zugänglicher? Sie blickte zurück. Die drei Männer, die ihr folgten, gingen hintereinander. Hungl hieß der ganz am Ende. Ein soldatischer Typ mit dunklem Haar und einem kleinen Ziegenbart. Vor ihm ging Grid, ebenso leicht bekleidet wie Skerri und der Einzige, mit dem diese ein paar Worte gewechselt hatte. Anscheinend kannten sie sich gut. Wäre er nicht ebenso blond gewesen, wie Skerri dunkel war, hätte Hirka sie für Geschwister gehalten. Obwohl – die Umpiri bekamen selten mehr als ein Kind. Ein Umstand, der Graal und Naiell wohl die Position verschafft hatte, die sie vor dem Krieg innegehabt hatten.

Der Erste hinter Hirka war der Mann mit dem stahlgrauen Haar und dem Schaffell um die Schultern. Keskolail, der geschossen hatte. Hirka zögerte einen Moment, aber ihre Erschöpfung war größer als ihre Angst, also blieb sie stehen, um auf ihn zu warten. Skerri ergriff sie am Arm und zog sie weiter.

»Sprich nicht mit den Gefallenen«, sagte sie.

»Wer sind …«

»Wir besprechen seine Strafe, wenn wir im Lager angekommen sind.«

Lager …

Schon das Wort wärmte wie ein Feuer. Hirka schöpfte neue Kraft und krümmte den Nacken gegen den Schnee.

Aber warum sollte er bestraft werden? Hirka warf einen verstohlenen Blick zu dem Mörder hinter ihr. Zu dem Tropfen auf seiner Stirn. Kein anderer hatte so etwas. Er hatte sie immer noch nicht angesehen. Es war, als existierte sie nicht für ihn. Und augenscheinlich sollte er auch nicht für sie existieren.

Der Hang wurde so steil, dass Hirka ihre Hände zu Hilfe nehmen musste, um voranzukommen. Sie verzichtete darauf, ihre Finger zu betrachten, so blau gefroren, wie sie sicher waren. Wenigstens schneite es hier oben nicht mehr so stark.

»Habt ihr keine Wege?«, fragte Hirka.

Skerri sah sie über die Schulter an. »Wege? Du meinst, du bist bereit, gesehen zu werden?«

Das klang nicht so, als erwartete sie eine Antwort, also sagte Hirka nichts mehr.

Das Gelände wurde flacher und sie kamen auf eine verschneite Ebene, gesäumt von windschiefen Birken. Die ersten Bäume, die Hirka zu Gesicht bekam. Ein Rabe schrie. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie spürte vor Erleichterung einen Kloß im Hals. Hier gab es Leben. Anderes Leben als nur Blinde.

Eine Gruppe von spitzen Zelten ragte am anderen Ende der Ebene auf. In Windrichtung waren sie dick eingeschneit, aber die Zelttücher blähten sich trotzdem. Hirka sah sich um und entdeckte mindestens drei Plätze, die mehr Schutz vor dem Wind geboten hätten. Wie es schien, hatte niemand einen Gedanken darauf verschwendet.

Ihre Hoffnung auf einen Wagen und eine warme Mahlzeit war dahin. Beides würde sie hier kaum vorfinden. Sie bemerkte, dass sie schon wieder zurückgefallen war, und beeilte sich, zu Skerri aufzuschließen.

»Das ist das Lager?«, fragte sie. »Hier schlaft ihr? Auf der Ebene?«

»Ja.«

»Aber … Was, wenn Raubtiere kommen?«

Skerri sah sie an. Eine steile Falte auf der Stirn zog sich hinab bis zur Nase. »Was meinst du?«

»Wir sollten vielleicht … Was, wenn wir angegriffen werden?«

Skerri bleckte die Zähne. Hirka wich einen Schritt zurück und wäre beinahe gestolpert. Die Umpiri brauchten keine Raubtiere zu fürchten. Sie waren Raubtiere.

»Meinst du, dass wir einen Angriff nicht überleben würden?«

Hirka schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, überhaupt nicht. Ich dachte mehr … an mich. Im Grunde …« Ihre Worte wurden immer leiser und versiegten. Sie schrumpfte unter Skerris Blick zusammen. Fühlte sich wie ein Haar in der Suppe.

Warme Suppe …

Skerri ging weiter. Hirka folgte ihr, während sie in Gedanken eine Liste über Dinge anlegte, die sie, wie sie gemerkt hatte, besser nicht ansprechen sollte. Pferde nicht. Wagen vermutlich auch nicht. Nichts, was andeutete, dass die Umpiri nicht selbst gehen konnten. Oder dass sie erschöpft waren. Und unter gar keinen Umständen etwas, das andeutete, sie müssten sich vor irgendetwas fürchten.

Zwei Totgeborene kamen ihnen entgegen. Beides Frauen. Sie waren ganz verschieden. Eine war dunkelhaarig und trug eine knöchellange Tunika. Wie ein Prediger oder ein Schriftgelehrter. Die andere war blond, gekleidet in Leder und Felle wie ein Jäger. Oder ein Krieger, dem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen. Sie unterhielten sich mit Skerri in einer Sprache, die Hirka nicht verstand. Blindensprache.

Die Sprache der Umpiri.

Sie klang fremd und doch vertraut. Die Worte lösten etwas in ihr aus. Wie ein Duft, den man seit Kindertagen nicht mehr gerochen hat. Neu, aber trotzdem ein Teil von ihr.

Die beiden Frauen blickten Hirka an. Sie knickten ganz leicht mit einem Knie ein, als eine Art Gruß. Hirka hatte das Gefühl, dass sie dasselbe tun sollte. Sie beugte das Knie und spürte im selben Moment eine Hand im Nacken. Skerri hatte sie gepackt und trieb sie vor sich her zu einem Zelt. Sie schob Hirka an dem Fell vorbei, das vor der Zeltöffnung hing, und Hirka stolperte hinein. Sie wartete darauf, dass Skerri ihr folgen sollte, aber die blieb draußen und bellte den anderen Befehle zu.

Hirka war es recht. Sie blickte sich um. Hier war kaum Platz für zwei. Das Zelttuch wurde in der Mitte von einem Stab hochgehalten. Der Boden war uneben, aber trocken, obwohl er aus Stoff bestand. Wahrscheinlich war er doppelt gelegt oder hatte eine gefettete Unterseite. Zwei Wolldecken lagen zusammengerollt auf einem Tierfell. Sonst enthielt das Zelt nichts. Nicht einmal eine Öllampe oder etwas zum Trinken.

Hirka ließ ihren Stock fallen und sank auf die Knie. Sie war durstig, hungrig und müde, hätte aber nicht sagen können, was am meisten.

Durstig.

Sie streifte den Beutel ab und löste den ledernen Wasserbehälter, der an der Außenseite hing. Sie hatte unterwegs versucht zu trinken, aber es hatte nur wenige Pausen gegeben und das Wasser war zu kalt gewesen. Sie nestelte am Verschluss. Er war festgefroren, sie hatte nicht die Kraft, ihn zu öffnen. Ihre Finger waren gefühllos.

Ihre Augen begannen zu brennen, sie war den Tränen gefährlich nah. Was war los mit ihr? Wollte sie gleich am ersten Tag heulen, an einem Ort, den sie sich selbst als Reiseziel ausgesucht hatte? Um des Friedens willen. Damit keine Totgeborenen in Ymsland einfielen. Das musste sie sich in Erinnerung rufen. Daran musste sie sich klammern. Frieden. Und daran, das Wissen zu erlangen, das sie brauchte, um Rime vom Schnabel zu befreien.

Sie schloss die Augen. Er hatte einen Schnabel im Hals. Einen Rabenschnabel. Graal hatte Macht über ihn, so wie er sie über Urd gehabt hatte. Und Urd war verfault …

Hirka warf den Wasserbeutel von sich. Spürte einen störenden Schneeklumpen unter dem Fußboden und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein.

Was hatte sie eigentlich erwartet? Was hatte sie gedacht, welche Leute sie hier treffen würde? Eine Familie? War sie so naiv gewesen? War sie noch immer nichts anderes als ein junges Mädchen, das sich danach sehnte, irgendwo zu Hause zu sein?

Das Türfell wurde beiseitegeschoben und Skerri kam herein. Hirka sprang auf. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie Skerris Gesicht sah. Das schwarze Haar und die schwarzen Lippen auf der bleichen Haut. Wäre sie keine Umpiri gewesen, hätte Hirka sie auf rund fünfundzwanzig Winter geschätzt. Jung, fast mädchenhaft. Eine gruselige Kombination aus süß und gefährlich.

»Setz dich«, knurrte sie. Hirka gehorchte.

Skerri ließ sich ihr gegenüber nieder. Das Lederkorsett knarrte und fügte sich dem starken Körper.

»Kuro«, sagte sie und nickte zu dem Kästchen, das oben auf dem Beutel befestigt war.

»Kuro?« Hirka hatte nicht erwartet, den Namen hier zu hören. Das war ihrer, sie hatte ihn sich selbst ausgedacht, als Naiell noch ein Rabe war.

»Herz«, erwiderte Skerri ungeduldig. »Es bedeutet Herz. Lass mich ihn sehen.«

Hirka hätte über die Bedeutung gelächelt, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Sie band das Kästchen los und nahm es auf den Schoß. Es war bescheiden, gemessen an seinem Inhalt. Eine unscheinbare Metallschachtel, matt wie eine abgenutzte Messerklinge. Kalt unter den Fingern. Bevor sie durch die Tore gegangen war, hatte sie sich Sorgen gemacht, dass das Eis darin schmelzen könnte. Was für ein Witz …

Hirka löste die Scharniere an den Seiten und öffnete den Deckel. Naiells Herz lag begraben in zerstoßenem Eis. Bleich wie eine geballte Faust. Hirka bildete sich ein, ihn immer noch riechen zu können. Graals Bruder. Ihr Onkel. In Ymsland war er der Seher gewesen. Hier in Dreysíl war er etwas ganz anderes. Verbrecher. Volksfeind.

Skerri riss das Kästchen an sich. Schloss die Augen und holte tief Luft, als wäre der Geruch Nahrung. Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen.

»Naiell …«

Es war ein Flüstern, so heiser von Hass, dass Hirka begriff, wie nahe ihm diese Frau gestanden haben musste. Sie mussten sich gekannt haben. Hirka starrte sie an. »Du warst dort …«

Skerri öffnete die Augen. Milchartig waren sie. Wirklichkeitsfern. Gerichtet auf etwas weit außerhalb des kleinen Zelts. »Ich habe einen Eid geschworen, als der Krieg vorbei war. Als ich begriff, dass er uns verraten hatte. Als ich sah, wie er seinen Bruder gefangen nahm und quälte. Ich schwor, dass ich dieses Herz mit meinen eigenen Klauen herausreißen würde. Ein Jahrtausend lang habe ich darauf gewartet, seinen Geruch wieder wahrzunehmen. Ein Jahrtausend. Und nun ist er hier. Was bleibt jetzt noch, als zurückzuholen, was uns gehört?«

Hirka antwortete nicht. Sie fürchtete, dass Skerri ihr an die Kehle springen würde, wenn sie etwas Falsches sagte. Die schwarzen Lippen zuckten. Die Totgeborene kämpfte mit einer Vergangenheit, an der Hirka keinen Anteil hatte. War sie deshalb so zornig? Weil Hirka sein Herz bei sich trug? Hatte Rime getan, was Skerri am liebsten selbst erledigt hätte?

Die Luft schien gesättigt von Unbehagen. Hirka tippte mit dem Finger gegen den Deckel, sodass er zufiel. Skerri erwachte aus ihrer Trance. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Schwarz verblasste nicht. War das eine Tintenstichelei? Hatte sie sie dauerhaft gefärbt?

Sie stellte das Kästchen hin.

»Wir haben ein Problem, Hirka.« Sie schüttelte den Kopf, dass die Zöpfe flogen. Wie ein Tier, das sein Fell trocken schüttelt.

»Was für ein Problem?«

»Dich.«

Hirka wollte widersprechen, aber sie war zu nervös. Und widerstrebend neugierig, was genau das Problem sein sollte.

Skerri legte den Kopf schräg. Eine vogelartige Bewegung, die an Graal und Naiell erinnerte. Hirka wagte eine Frage.

»Skerri, sind wir miteinander verwandt?«

Skerri blinzelte, als wäre sie von der Frage überrumpelt worden, aber sie fing sich rasch wieder. »Wir sind verwandt, aber nicht blutsverwandt. Wir gehören zum selben Haus. Du wirst deine Blutsverwandten treffen, wenn wir nach Ginnungad kommen, und genau da liegt das Problem. Ich muss den Raben jetzt schicken. Ich muss Nachricht geben, dass du hier bist. Dass du gekommen bist. Aber was soll ich sagen?«

»Wie meinst du das?«

Skerri hob das Kinn. Sah sie von oben herab an, als wäre sie eine Idiotin. »Du bist wie sie! Schau dich doch an! Du hast Augen wie sie. Du hast keine Klauen. Keine Zähne. Du bist langsam. Schwach. Jämmerlich, wie sie. Du bist mehr Mensk als Umpiri. Und du sprichst nichts anderes als Tiersprache.«

Hirka spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. Scham beschlich sie, als wäre sie in die Vergangenheit zurückgeworfen worden. Sie war in Elveroa. Bei Vater, der immer versuchte, sie zu verstecken, weil er begriffen hatte, was sie war. Bei Ilume, die sie abwies, wenn sie nach Rime fragte. Sie war das Ungeheuer. Das schwanzlose Odinskind. Auch hier.

Sie war wieder klein. Und das ärgerte sie. Hirka biss die Zähne zusammen.

»Tut mir leid, wenn ich nicht das bin, was du erwartet hast.«

Skerri schnaubte. »Dass es dir leidtut, nützt auch nichts. Wir müssen was Anständiges aus dir machen, bevor du vorgezeigt werden kannst, und zwar schnell. Ehrlich gesagt wusste ich gleich, dass wir dieses Problem bekommen würden, als ich von dir hörte. Graal war ein bisschen … ausweichend.«

»Du bist also diejenige, die mit ihm spricht?«

»Ich. Sonst niemand.«

Hirka fiel auf, mit welchem Stolz sie das sagte. Graal war jemand von Bedeutung, das war vermutlich auch der einzige Grund, warum sie selbst noch am Leben war. Und wennschon. Sie war nicht bereit, sich durch einen Vortrag über all das zu quälen, was mit ihr nicht stimmte. Den hatte sie schon allzu oft gehört.

»Sag mir einfach, was zu tun ist, Skerri.«

Skerri betrachtete sie eine Weile prüfend. Dann erhob sie sich abrupt. »Ich sage, dass du gekommen bist. Mehr nicht. Dann werden wir sehen, was wir hinkriegen. Die Sprache ist das Wichtigste. Du kannst nicht deren Sprache in unser Haus schleppen. Ǫni wird dich unterrichten, während wir unterwegs sind.«

»Ǫni?«