Die Rasterfahndung - Franz Oberascher - E-Book

Die Rasterfahndung E-Book

Franz Oberascher

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Beschreibung

Dramatische Neuigkeiten werfen eine junge Frau in ihre Kindheit zurück … Als Stefan eines Tages mit seinen Freunden draußen spielt, wird er von einem unbekannten Mann beobachtet. Obwohl er von seinen Eltern davor gewarnt worden ist, steigt Stefan in dessen Auto, wo ihm Schreckliches widerfährt. Während seine Mutter Rachepläne schmiedet, gründen Stefans Mitschüler die RAFA-Bande mit dem Ziel, den unbekannten Wiederholungstäter auf den Straßen zu überführen. Mit klugen Ideen verkleinern sie die Liste der erfassten Autofahrer. Aber sie benötigen Stefans Zeugenaussage. Wird er ihnen helfen? Schließlich fiebern sie der Lösung entgegen. Ein Lockvogel wird auf die Straße geschickt, und die Falle schnappt zu … Ist das Verbrechen damit endlich geklärt, oder kommt alles ganz anders als erhofft?

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0419-4

ISBN e-book: 978-3-7116-0420-0

Lektorat: Ilana Baden

Umschlagfoto: Yuri Arcurs | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Er schleicht herum

Heidi liegt wach im Bett. Die Uhr schlägt Mitternacht. Sie findet keine Ruhe. Zu stark kratzen die Erinnerungen in ihrem Kopf. Die Seelenwunde schmerzt wieder. Sie hätte niemals gedacht, dass sie von ihrer Kindheit eingeholt wird, dass sie von vergangenen Zeiten überrollt wird. „Er ist wieder unterwegs“, hämmern ihre Sinne, ihre Gedanken, ihre Alarmglocken. „Er war immer unterwegs“, gesteht sie sich ein, und das bedrückt sie umso mehr. Sie hat es nur nicht mehr gewusst. Sie hat solche Gedanken aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie hat sie gelöscht. Sie hat sie verdrängt.

Heidi Müller hat ein Studium abgeschlossen und ist eine zweiunddreißigjährige erfolgreiche Frau; gescheit, selbstbewusst, alleinstehend, beliebt bei Kolleginnen und Kollegen und einem Stab von Mitarbeiterinnen unter ihrer Führung. Jetzt fischt sie in den Erinnerungen ihrer Kindheit und zieht einen kapitalen Fang an Land, vielmehr ins Bett. Der hat ihr damals vor zwanzig Jahren das Leben über Monate lang vergiftet. Nun liegt er taufrisch in ihrem Magen.

Schon einmal während ihrer Zeit als Studentin hatte eine Schlagzeile ihre Nerven strapaziert. Sie hatte sie überflogen und verteufelt. In den öffentlichen Medien las sie: „Versuchte Entführung!“ Und neben dem Bild eines Polizeiautos stand geschrieben: „Ein achtjähriger Schüler dürfte am Montag in Vellach nur knapp einer Entführung entkommen sein. Der Bub wartete nach der Schule auf seinen Bus, als plötzlich ein Wagen stehen blieb. Ein Mann versuchte, den Schüler ins Auto zu zerren. Der Bub konnte sich losreißen. Dienstag Mittag wurde der mutmaßliche Entführer festgenommen.“

Weiter unten war von der Einvernahme des Tatverdächtigen die Rede, Hintergründe seien unbekannt. Der achtjährige Schüler habe bei einer Bushaltestelle gestanden, als plötzlich ein Auto angehalten habe. Nach Angaben der Polizei sei ein Mann herausgesprungen und habe versucht, den Schüler ins Auto zu zerren. Als der Bub sich gewehrt habe, habe ihm der Mann einen Faustschlag versetzt. Trotzdem sei es dem Schüler gelungen, sich loszureißen und zu fliehen. Zu Hause habe der Achtjährige seinem Vater von dem Vorfall erzählt. Am Weg zur Polizei habe der Bub den Wagen des mutmaßlichen Entführers entdeckt, der Vater habe sich Teile der Kennzeichennummer gemerkt. Nach einer landesweiten Fahndung sei es gelungen, den mutmaßlichen Entführer auszuforschen und zu verhaften. Der Mann sei einvernommen worden. Er habe jedoch ein Alibi, so die Sicherheitsbehörde, möglicherweise habe sich der Bub bei dem Auto geirrt. Zweifel an der Geschichte des Schülers bestünden aber absolut nicht. Die Ermittlungen seien noch in vollem Gange.

Heidi findet keine Ruhe. Sie denkt an ihre Kindheit. Nun hämmert in ihrem Kopf, was zwanzig Jahre zuvor in ihrem Heimatort passiert war. Sie versucht einzuschlafen, es gelingt nicht. Sie verdrängt die Gedanken an jene fürchterlichen Momente von damals. Hat sie Schuld getragen, als die tragischen Ereignisse eingeleitet wurden? Heidi denkt klar. Denn seit heute blutet die Wunde wieder. Ein Zeitungsbericht von heute hat ihren gedanklichen Rückfall ausgelöst, beinahe eine Kopie von damals. Sie hat das Blatt am Abend gelesen: „Unbekannter spricht Kinder an“. Mit diesen Schlagworten ist sie gefangen. Da wird vom Albtraum aller Eltern berichtet. Ein Kind sei auf dem Schulweg von einem Fremden angesprochen worden und habe in ein Auto gelockt werden sollen. So sei es im Umfeld einer österreichischen Schule jüngst mehrmals vorgekommen. Ein unbekannter Mann habe es auf Kinder abgesehen. Er versuche, die Kinder anzulocken, bedränge sie plötzlich mit erschreckenden Sätzen wie: „Deine Mutter ist krank, ich bring dich zu ihr.“ Die Polizei ermittle in dem Fall und arbeite mit der Schulleitung zusammen. Angaben zur Person würden veröffentlicht.

Glücklicherweise heißt es, bisher sei nichts passiert, denn die Kinder hätten richtig reagiert und ähnliche Vorfälle ihren Eltern erzählt. Ein Polizist, der um Hinweise aus der Bevölkerung bittet, hält Ratschläge für die Kinder bereit: „Davonlaufen und laut zu schreien beginnen! Dann flüchtet der Täter auch!“

Heidi quälen die Gedanken. Sie heften sich an ihren ehemaligen Schulfreund Stefan. „Was wohl aus ihm geworden ist?“, sinniert sie dahin und lässt die Periode ihrer freundschaftlichen Beziehung in der Hauptschule, die jetzt Mittelschule heißt, aufblühen. „Eine schöne Zeit“, denkt sie, „außer in dem Jahr, in dem es passierte.“ Ob Stefan je wieder glücklich geworden ist? Dieser Gedanke plagt Heidi jetzt und sie flüchtet in einen Halbschlaf, der ihr die ganze Dramatik eines Ereignisses, das in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende alles überschattete, noch einmal wie einen Film vor den Augen abspulen lässt …

Aus heiterem Himmel

Stefan zögerte keinen Augenblick. Erschöpfung, Nässe und dieser pure Zufall deckten alles zu, was es möglicherweise zu überlegen gegeben hätte. Er durfte sogar neben dem freundlichen Herrn Platz nehmen, vorne Platz nehmen. Der hatte ihm extra die Beifahrertür geöffnet. Der Wagen beschleunigte. Stefan fühlte sich sicher. Gleich würde er bei seiner Mami sein. Gott sei Dank!

Unter normalen Umständen wäre Stefan nie in das Auto eingestiegen. Aber was ist denn schon normal? Oft muss man eine Ausnahme machen, wenn andere Umstände einen dazu verleiten. Und jeder, der jetzt nachdenkt, gibt Stefan recht. Freilich, wenn Stefan länger nachgedacht hätte, dann hätte er gezögert. Wie oft hatte ihn Mami vor einem solchen Schritt gewarnt. Und er, der kluge und stets überlegt handelnde Bub, wäre auch jetzt standhaft geblieben und hätte den Fahrbahnrand niemals verlassen. Nichtsdestotrotz saß er nun in diesem fremden Auto, denn da waren die besonderen Umstände. Und so war es dazu gekommen:

Der Himmel brütete etwas aus. Plötzlich schoben sich Wolken heran, bedrohlich schnell. Der Wetterumschwung war angekündigt und doch überraschte er alle. Unaufhörlich drängten dunkle Massen herbei. Sie verkündeten Schlechtwetter, noch schlimmer, sie warnten vor Unheil.

Nur die drei Kinder bemerkten vorerst nichts davon. „Kommst du heute runter mit deinen Skates?“, hatte Andreas seinen Freund Stefan gefragt. „Wenn Mami es erlaubt“, hatte dieser geantwortet, denn Mami war sehr streng. Schließlich hatte er Mami überzeugen können: keine Hausaufgaben auf, herrliches Herbstwetter; Helm aufgesetzt, Schutzausrüstung angelegt, nach zwei Stunden garantiert wieder zu Hause. Versprochen!

Wie junge Hunde tollten die Buben nahe dem Ortszentrum herum. Auch Heidi, Andreas´ Schwester, gesellte sich zu ihnen. Eine zwölfjährige Hauptschülerin gibt sich sonst nicht mit Erstklässlern ab. Doch für die wilde Heidi spielte das keine Rolle. Sie hielt nicht viel von der Meinung anderer, sie tat, was ihr Spaß machte. Außerdem mochte sie den kleinen Stefan. Er zählte für sie nicht zu den Angebern, zu den Super-über-drüber-Gescheiten. Stefan wirkte auf sie bescheiden, ehrlich, mit einer besonderen Ausstrahlung. Diese Ausstrahlung liebte sie. Natürlich hätte sie darüber nie mit jemandem gesprochen. Das Gefühl war von allein da. Man konnte ihr nicht andichten, dass sie Stefan verehrte, so weit hätte sie es nie kommen lassen. „Ich, die starke Heidi, und ein Erstklässler, niemals!“, hätte sie sich gewehrt. Trotzdem war da etwas, nämlich diese Ausstrahlung. Und das liebte Heidi.

Die drei flitzten den Radweg entlang den Hügel hinauf und in den Parkplatz hinein. Sie steckten mit Pflastersteinen einen Torlauf aus und fegten durch den Slalom, bis ein Gemeindearbeiter maulte. Rückwärts in die Senke hinein, ein neuer Spaß lockte, im Kreis gewirbelt, einen Achter gedreht, ein Wettrennen vorbereitet, einem Radfahrer nachgejagt. Flugs waren zwei Stunden verstrichen.

„Schon halb fünf, ich muss nach Hause!“, nörgelte Stefan plötzlich herum. „Doch nicht jetzt, wir starten gleich das Wettrennen!“, entgegnete Andreas.

„Ich muss nach Hause, ich habe Mami versprochen, dass ich pünktlich bin!“, wiederholte Stefan. „Dann laufen wir wenigstens noch eine Runde bis hinauf zur Anschlagtafel und zurück!“, befahl Andreas, während er abhob. Den beiden anderen blieb nichts übrig. Sie verfolgten den Ausreißer. „Sieg!“, jubelte Andreas und bremste scharf ab, während Stefan und Heidi die letzten Meter bewältigten. „Ich lade euch noch auf ein Getränk ein“, freute sich Andreas über seinen Vorsprung. Er rollte zur Eingangstür beim Kaufhaus nebenan. „Ich muss nach Hause“, beteuerte Stefan, „Mami wartet auf mich!“ „Wegen der fünf Minuten ist es auch egal“, beruhigte ihn Heidi. Zu dritt also betraten sie das Kaufhaus, Stefan zögerlich.

Inzwischen war die Sonne verschwunden und mit ihr ein Spätsommertag, der sich mitten in den November verirrt hatte. Explosionsartig drängten die Wolken auseinander. Innerhalb weniger Minuten deutete alles auf Regen hin. Der Wind setzte an und rüttelte die letzten Früchte von den Bäumen. Es tröpfelte bereits, als die Kinder ins Kaufhaus huschten. Das Geschäft lag an der Bundesstraße, die durch den Ort führte.

Kurz bevor die durstigen Sportler das Kaufhaus aufgesucht hatten, hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemand seinen Wagen geparkt, und zwar an einer unauffälligen Stelle. Die Kinder schenkten dem Wagen und dem Lenker keine Beachtung. Der Wagenlenker schenkte den Kindern jedoch größte Beachtung. Besonders der Kleine, der unentschlossen hinter den beiden anderen nachtrödelte, erregte seine Aufmerksamkeit. Gierig behielt der Unbekannte die Eingangstür im Auge. Er wartete. Und er wusste offenbar genau, worauf er wartete.

„Herrliches Wetter“, dachte er. Schon klatschten die ersten schweren Tropfen an die Scheiben. Wie Fetzen wirbelten sie auf Park, Bank, Bankett und Baum, auf Haus, Hof, Hütte und Hollerstauden.

„Was wollt ihr trinken?“, fragte Andreas Heidi und Stefan. „Mir egal“, antwortete Heidi, „du lädst uns ein, also besorge etwas!“ „Ich habe keinen Durst, ich will nach Hause“, jammerte Stefan. „Seht nur, es hat angefangen zu regnen!“, quälte er die beiden anderen weiter. Er umklammerte seinen Helm, den er zuvor abgenommen hatte, und rollte in Richtung Ausgang.

„Halt, bleib da, ich nehme drei Limodosen!“, entschied Andreas auf einmal und fischte die Dosen aus dem Regal heraus. „Dosengetränke sind für mich verboten!“, regte sich Stefan schon wieder auf. „Weißt du, was ich dir sage: Du darfst überhaupt nichts! Du bist die ganze Zeit ekelhaft, wegen jeder Kleinigkeit muss man dich bitten, ob du unter Umständen vielleicht eventuell bereit wärst, auch nur zuzuhören. Was darfst du denn überhaupt?“ Andreas war plötzlich wütend geworden, weil Stefan nicht auf sein Angebot eingehen wollte.

Auch Heidi hielt zu Andreas: „Zier dich nicht wegen jeder Kleinigkeit, Stefan, du bist kein Muttersöhnchen. Ob du ein paar Minuten später nach Hause kommst, ist doch völlig egal. Wir zischen eine Dose hinunter, ich lege noch einen Kaugummi drauf und dann verschwinden wir von hier. Mach kein Theater!“

Sogleich hätte sie ihren Rat gerne zurückgenommen. Stefan nämlich hörte nur mehr „Muttersöhnchen“ und das war ihm zu viel. Er empfand einen Angriff auf seine Mami und auf sich selbst. Er liebte seine Mami, auch wenn sie so streng war. „Muttersöhnchen“ hämmerte es in ihm. Im Nu saß der Helm auf seinem Kopf fest, mit ein paar flotten Schritten schlängelte er sich an der Kasse vorbei. „Muttersöhnchen!“

Er flitzte hinaus. Der starke Regen hinderte ihn keinen Augenblick daran zu beschleunigen und abzuhauen. „Endlich nach Hause“, dachte er. Stefan hetzte über die Straße und mühte sich gegen den Wind den Berg hinauf. „Stefan!“, schrie Heidi ihm nach. Sie wollte ihn im Geschäft zurückhalten. „Halt, mein Fräulein, erst wird bezahlt!“ Die energische dicke Dame an der Kasse beobachtete genau und drohte mit den Fingern. „Ach, der Kaugummi!“, besann sich Heidi und stellte sich in der Reihe an. Wenige Augenblicke später steckte sie ihren Einkauf Andreas zu. „Bis gleich!“, keuchte sie und schwupp – auch Heidi hatte das Geschäft verlassen. Sie kurvte um die Ecke. „Stefan, warte, ich habe es nicht so gemeint!“, wollte sie ihm nachrufen. Sie musste sich mit ihm versöhnen, ehe er zu Hause war. Ekelhafter Regen, wo steckte ihr Freund denn? „Stefan!“

Als sie ihn erblickte, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Nein, Stefan, nicht! Nicht, Stefan!“, schrie sie. „Stefan!“

Der heulende Wind und das Prasseln des Regens schluckten Heidis Verzweiflungsschreie. Stefan hörte sie nicht. Das „Muttersöhnchen“ im Ohr hatte ihn zunächst taub gemacht. Er war die Steigung zu flott angefahren. Nach hundert Metern fühlte er seine Kräfte schwinden. „Kein Wunder bei diesem Unwetter!“, dachte er, als ihn eine andere Stimme erreichte, noch dazu sehr deutlich: „Aber Hansi, bei diesem Sauwetter draußen?“ Der Unbekannte im Auto hielt an und sprach durchs geöffnete Seitenfenster. „Ich heiße nicht Hansi, ich bin der Stefan, der Stabauer Stefan!“, antwortete Stefan deutlich und hielt inne. „Der Stabauer Stefan, und ihr wohnt am Ortsende, stimmt’s?“, freute sich der freundliche Herr. „So ein Zufall, deine Mami hat mich gerade angerufen, ich bin von der Telekom. Irgendetwas stimmt mit eurer Leitung nicht. Außerdem will sie mit mir über den Kabelanschluss beim Fernseher reden. Der Stabauer Stefan! So ein Zufall! Komm, steig ein, wir sind sofort da! Du wirst ja krank bei diesem Sauwetter!“

Stefan zögerte keinen Augenblick. Erschöpfung, Nässe und dieser pure Zufall deckten alles zu, was es möglicherweise zu überlegen gegeben hätte. Er durfte sogar neben dem freundlichen Herrn Platz nehmen, vorne Platz nehmen. Der hatte ihm extra die Beifahrertür geöffnet. Der Wagen beschleunigte. Stefan fühlte sich sicher. Gleich würde er bei seiner Mami sein. Gott sei Dank!

Zu Hause?

Heidi rechnete sich die wildesten Gedanken aus. Kaum hatte sich das Auto in Bewegung gesetzt, da war sie schon zurück ins Geschäft gehastet. „Andi, schnell! Andi! Komm sofort!“

Andreas fühlte, etwas musste passiert sein. Er beeilte sich, steckte das Wechselgeld, ohne nachzuzählen, ein, warf die Dosen in einen Sack und traf Heidi am Eingang.

„Erzähl!“ – „Stefan ist fort, er ist dahin!“ – „Na und? Deswegen plärrst du herum?“ – „Versteh doch, Stefan ist in ein Auto eingestiegen und mitgefahren!“ – „Ich verstehe nichts. Welches Auto, wohin gefahren, mit wem unterwegs?“ – „Das ist es eben. Stefan ist mit einem wildfremden Menschen im Auto unterwegs!“ – „Warum weißt du das? Hast du ihn einsteigen sehen?“ – „Ja, ich habe ihn gesehen. Tu etwas! Ruf die Polizei an, die Rettung! Ruf irgendwen an! Stefan braucht Hilfe!“ – „Das ist nicht so einfach. Beruhige dich! Wie schaut das Auto aus? Welche Marke? Welche Farbe?“ – „Mein Gott, ein Auto eben, hell – oder doch grau? Ich weiß es nicht mehr! Es regnet zu stark! Andi, Stefan ist mit einem Unbekannten im Auto unterwegs. Und warum? Weil ich ihn beleidigt habe! Andi, tu etwas!“

Heidi erwartete von ihrem jüngeren Bruder Hilfe. In jeder anderen Lage hätte er sich darüber gefreut. Jetzt war keine Zeit dazu. Er versuchte, ruhig zu bleiben. „Vielleicht war es sein Onkel“, fiel Andreas ein. Er glaubte selbst nicht daran, aber es lenkte kurzweilig von ernsteren Gedanken ab. Erneut blitzte es in seinen Schaltzentralen auf.

„Weißt du was, Heidi? In fünf Minuten rufen wir bei Stefan an. Wenn er selbst abhebt, entschuldigst du dich bei ihm und alles ist in Ordnung. Gut?“

„Und wenn er nicht abhebt? Was frage ich, wenn seine Mutter rangeht? Wie erfahre ich, ob Stefan zu Hause ist?“

„Ganz einfach, Heidi, du erkundigst dich, ob Stefan schon oben ist, weil er wegen des starken Regens sicherlich lange braucht.“

„Gut, aber du rufst an!“ – „Nein, du rufst an! Du willst dich bei ihm entschuldigen.“ – „Wir rufen gemeinsam an!“

Unter dem Schutz der Hausdächer harrten die beiden einige Minuten wortlos aus. „Sind die fünf Minuten schon um?“, sorgte sich Heidi. „Mit dem Auto müsste er längst zu Hause sein“, behauptete Andreas. Er fischte sein Handy heraus, drückte ein paar Tasten und zitterte den nächsten Sekunden entgegen. Er vernahm den Summton, aber nur einmal und dann die energische Stimme: „Stefan, bist du es?“

Auch Heidi hatte ihr Ohr an das Telefon geheftet. Sofort brach sie das Gespräch ab. „Um Himmels willen, er ist noch nicht zu Hause! Andi, hilf mir! Was sollen wir tun? Das war seine Mutter. Hast du gehört? Sie wartet auf Stefan! Andi!“

Schön langsam befiel auch Andreas ein mulmiges Gefühl. „Trink erst einmal!“, riet er Heidi. Er öffnete eine Coladose und reichte sie seiner Schwester. Sie umklammerte die Dose, nippte kurz daran und gab sie Andreas zurück. Wind und Regen scheuchten die Geschwister zusätzlich auf. Wie zwei Gefangene standen sie beisammen, gefangen von fürchterlichen Gedanken.

„Was sollen wir tun?“, sinnierte Heidi wiederholt. „Glaubst du, ein Bekannter hat ihn ganz einfach mitgenommen? Sie besuchen vielleicht jemanden in der Nähe und landen in ein paar Minuten zu Hause“, überlegte Andreas. „Blödsinn!“, fiel ihm Heidi ins Wort, „Stefan hat schon im Geschäft das Nervenflattern bekommen. Der will schnurstracks nach Hause.“

Minuten zerflossen. Die beiden sprachen nicht aus, was sie gleichzeitig befürchteten: ein Verbrechen.

„Ich hab’s!“, brauste Andreas auf. „Wir rufen nochmal bei Stefan zu Hause an.“ „Was soll sich geändert haben?“, fragte Heidi.

„Verstehst du nicht? Wir müssen etwas tun! Vor ein paar Minuten hast du herumgeschrien, wir sollten die Polizei verständigen. Ich wähle jetzt die Nummer. Gott gib, dass Stefan abhebt! Stefan, komm schon!“

Beide hielten ihren Kopf an den Hörer. Sie hofften, sie bebten.

„Stabauer! Stefan, bist du es? Hallo, wer spricht? Stefan, melde dich! Stefan! Hallo, wer spricht? Hallo!“

„Wir sind’s! Ich bin’s, Andreas! Frau Stabauer, kann ich bitte mit Stefan reden?“

„Das würde ich auch gerne tun. Wo bleibt er denn? Seit einer halben Stunde warte ich auf ihn. Wieso ist er nicht rechtzeitig aufgebrochen? Und überhaupt, wieso rufst du mich an? Stefan müsste doch bei dir sein! Ist er unterwegs?“

Da riss Heidi das Handy an sich: „Frau Stabauer, wir machen uns solche Sorgen! Stefan ist in ein Auto eingestiegen! Er müsste längst bei Ihnen sein!“

„In ein Auto? Hast du das gesehen?“

„Ja, Frau Stabauer, ich hab’s gesehen, aus einiger Entfernung, ein unbekanntes Auto! Ich dachte, ein Verwandter hätte Stefan mitgenommen.“

„Kind, das ist ja schrecklich! Stefan darf zu niemandem ins Auto steigen! Wann war das?“

„Vor ungefähr einer Viertelstunde. Darum rufen wir bei Ihnen an. Wir haben gehofft, Stefan wäre inzwischen daheim!“

„Bleibt zu Hause! Ich melde mich vielleicht gleich wieder bei euch!“

„Aber wir sind …!“ – Heidi konnte den letzten Satz nicht beenden. Frau Stabauer hatte aufgelegt. Entsetzt blickten die beiden einander an. Was mochte mit Stefan gerade geschehen. War er entführt worden?

„Schnell heim!“, befahl Heidi. Die beiden brausten los. Wind und Regen hielten sie nicht auf. Die Getränke ließen sie einfach liegen. Frau Stabauer würde sicher gleich anrufen. Vielleicht löste sich alles in Wohlgefallen auf. Mein Gott: Stefan!

Ausgeliefert

Der Wagen beschleunigte. Stefan fühlte sich sicher. Gleich würde er bei seiner Mami sein. Gott sei Dank!

Sofort aber brach der Draht zu dem freundlichen Herrn ab. Stefan hielt sich auf einmal für einen Eindringling. Mit seinen Skates an den Füßen musste er die Beine seitlich legen. Er wandte sich dabei von dem Fremden ab. Regentropfen kullerten über Stirn, Nase, Wangen in seinen Pullover. „Nur nichts beschmutzen“, dachte Stefan, „aufpassen in diesem fremden Auto!“ Der Gedanke an etwas Fremdes ließ ihn kurz innehalten. Er wunderte sich, dass er, ohne zu überlegen, in dieses Auto gestiegen war. Er kannte den Mann nicht. Wer mochte es sein? Richtig, er kam von der Telekom, er hatte es doch selbst erklärt. Stefan versuchte, freundlich zu sein, und lächelte zu dem Fahrer hinüber. Der lächelte zurück, aber sehr gequält, ganz unnatürlich.

„Anschnallen, du musst dich anschnallen!“, forderte er Stefan auf. Für diese kurze Zeit fand Stefan das Anschnallen sinnlos, dennoch gehorchte er. Trotz des starken Regens behielt er die Fahrbahn genau im Auge. Der Wagen näherte sich der Einfahrt zur Straße, in der er wohnte. Stefan blickte hinüber zu den Häusern, eins, zwei, das dritte tauchte hinter Fetzen von windscheuen Blättern, Regen und nebeligem Dunst auf. „Unser Haus“, dachte er und freute sich wie selten auf Wärme und herzliche Aufnahme.

Der Fremde schien die Gegend nicht so gut zu kennen. „Halt, Sie haben die Einfahrt übersehen!“, brauste Stefan auf. „Wieso, wo wohnst du genau?“, fragte der Unbekannte. „Dort hinten, die Einfahrt in die Birkenstraße, das dritte Haus, da wohne ich!“, beschwerte sich Stefan. Der Bub bedauerte sofort, dass er gejammert hatte. Sie schlichen weiter auf der Fahrbahn dahin.

„Tut mir leid“, räusperte sich der Mann am Steuer, „aber es macht nichts. Ich habe sowieso noch einen anderen Auftrag zu erledigen, ein paar Minuten weiter. Es wäre zu gefährlich, bei dem Sauwetter mitten auf der Straße umzukehren. Ich schalte die Heizung ein, damit du dich nicht erkältest. Du kommst zwar ein bisschen später zu Hause an, aber gesund, ha, ha, ha …“

Der lange Lacher schnürte Stefan die Kehle zu. Sie verließen das Ortsgebiet. Der Fremde trat stärker aufs Gaspedal, beachtete manch kleine Einfahrt zum Umdrehen nicht. Stefan wollte ihm nicht dreinreden. Je weiter sie sich von seinem Zuhause entfernten, desto mulmiger wurde ihm zumute. „Wäre ich doch bei Heidi und Andreas geblieben!“, murmelte der Bub in sich hinein. Ein dumpfes Gefühl kroch in seinen Bauch. Meldete sich das Gewissen? Hatte er etwas Falsches gemacht? Stefan wusste nicht, wie ihm geschah. Er erahnte plötzlich eine bedrohliche Macht, die ihm übel mitspielen wollte. Es gab kein Entrinnen. Im Gurt gefesselt, wartete er darauf, dass es kam.

„Nichts wird kommen“, versuchte er, die Gedanken zu verdrängen. Es war auch nichts geschehen. Er saß bei einem freundlichen Herrn im Auto. In Kürze würden sie in der Nähe anhalten. Stefan würde fünf Minuten im Auto warten und gleich darauf nach Hause gebracht werden. „So wird es sein“, dachte er. Aber es klemmte etwas in seiner Brust und er bekam es nicht weg.

Zweimal waren sie schon abgebogen. Stefan kannte die Gegend nicht mehr. Sie durchstreiften kleine Gehölze, rollten über eine Brücke, auf engen Fahrbahnen, durch Wiesen und wieder in ein Waldstück. Von Siedlungen fehlte jede Spur.

„Bleib endlich stehen! Wo musst du hin? Wohnt hier überhaupt jemand?“ Stefan formulierte die Fragen in Gedanken, wagte nicht ein Wort an die Person nebenan zu richten. Angst befiel ihn. Sein liebes Heim rückte in weite Ferne. Das Vertrauen in den unbekannten Lenker war gebrochen, ganz plötzlich abgerissen. Stefan fühlte sein Herz schlagen, rasend schnell. Er spannte seine Arme an, spürte die Gefahr. Er war unterwegs zu einer Stätte, die nach Unheil roch. Er wusste sich bedroht. Und war allein. Wald und Wiesen, Füchse, Rehe, Fasane, niemand kümmerte sich um ihn. Verständnislos wandte sich die ganze Welt von ihm ab. Was wollte der Mann von ihm?

Stefan schimpfte mit sich selbst. Warum war er bloß in diesen Wagen eingestiegen? Warum hatte er die Worte seiner Eltern nicht beachtet? Wie oft hatten sie mit ihm darüber gesprochen, sich nicht mit fremden Leuten einzulassen? Stefan kämpfte mit sich, fand Schuld bei sich und schwächte sich selbst immer mehr. Wie gelähmt hing er in seinem Sitz, der ihm Gefängnis und Fessel geworden war. Ihm war schwindlig, er spürte Kopfschmerzen, er zitterte vor Kälte, während das Warmluftgebläse dröhnte. Wohin sie auch steuerten, er hatte aufgehört zu beobachten. Der arme Bub bangte um sein Leben. Bildete er sich alles nur ein? Stefan gab sich einem ungewissen Schicksal hin. Wie ein Häufchen Elend schwebte er im Auto und war in einen Zustand äußerster Hilflosigkeit gefallen. Man hätte alles mit ihm machen können. Stefan verstummte und träumte von Fegefeuer und Hölle.