Die Raubmöwen besorgen den Rest - Frode Grytten - E-Book

Die Raubmöwen besorgen den Rest E-Book

Frode Grytten

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Beschreibung

Im norwegischen Städtchen Odda geschieht ein Mord. Der 38-jährige Journalist Robert Bell soll für ein Provinzblatt berichten. Aber je tiefer Bell gräbt, je näher er den Motiven der vermeintlich rassistischen Tat kommt, desto dichter wird das Netz aus Korruption und Vertuschung. Ein Held gegen den Rest der Welt - ein Kampf, der für beide nicht ohne Blessuren endet. In diesem düsteren Industrie- und Medienkrimi sind die Guten böse und die Bösen der Normalfall.

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Seitenzahl: 298

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Nagel & Kimche E-Book

Frode Grytten

Die Raubmöwen

besorgen den Rest

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von

Ina Kronenberger

Nagel & Kimche

Die Übersetzung aus dem Norwegischen

wurde freundlicherweise von NORLA unterstützt

© 2005 Oslo, Det Norske Samlaget

Titel der Originalausgabe: Flytande bjørn

© 2006/2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich-München,

unter Verwendung eines Fotos von plainpicture

Herstellung: Meike Harms und Hanne Koblischka

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN-13: 978-3-312-00660-1

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Gestern Abend hatte ein kühles Lüftchen geweht, aber heute sollte es noch einmal heiß werden. Ich hatte alle Fenster geöffnet, auf dem Schreibtisch brummte ein kleiner Ventilator. Der verschwitzte Mief vermischte sich mit dem Essensgeruch vom Bowlingcenter im Keller, der Dunst von Burgern und Pommes stieg bis in mein Büro im dritten Stock. Ich meinte, in der Lokalzeitung gelesen zu haben, dass der Schuppen letzten Winter in Konkurs gegangen sei, doch jetzt roch es im ganzen Gebäude nach Fertiggerichten.

Das Telefon klingelte. Ich blieb reglos sitzen und starrte auf den Apparat. Es vergingen fast fünf Minuten, bevor ein weiterer Idiot anrief. Ich rührte mich nicht, bis auch dessen Klingeln verebbte. Ein paar Sekunden später piepte mein Handy. Die angezeigte Nummer war dieselbe wie die im Display des Festnetzapparats. In ein paar Minuten würde ein weiterer Clown das Spielchen wiederholen. Festnetzapparat. Handy. Festnetzapparat.

Ich hatte an diesem Morgen bestimmt schon zwanzig Telefonate geführt, ohne Ergebnis. Keiner wollte reden. Am wenigsten mein eigener Bruder. Ich hatte ihn gegen zehn angerufen, und er hatte nichts erzählt. Komisch, Frank hatte einmal behauptet, wenn ein Mensch ermordet wird, dann drängt alles an die Oberfläche. Als würde man auf einen Knopf drücken. Die Leute wollen plötzlich selbst über Dinge reden, die sie viele Jahre lang verschwiegen haben.

Ein Blatt mit Notizen war alles, was ich hatte. Plus einen Titel vor mir auf dem Bildschirm: Dem Sommer ist nicht zu trauen. Ich wusste nicht einmal, ob der Satz tatsächlich von mir war oder ob ich ihn irgendwo geklaut hatte. Ich fand, es sei ein echter Hingucker: Dem Sommer ist nicht zu trauen. Wäre heute ein gewöhnlicher Tag, hätten sie mich gebeten, den Artikel rüberzuschicken. Schick ihn rüber, wir brauchen noch was unten auf der Seite, hätten sie gesagt, ohne hinzuhören.

Ich hätte noch duschen sollen. Das Hemd klebte mir am Rücken, unter den Achseln breiteten sich Schweißflecken aus. Aber das Wasserflugzeug würde bald zwischen den Bergwänden heruntersegeln. Ich hasste es, zu spät zu kommen, und ich hasste Leute, die zu spät kamen. Die vergangene halbe Stunde hatte ich damit verbracht, auf dem Computerbildschirm Patiencen zu legen. Tripeaks war ein ziemlich harter Brocken, man musste mit Spielkarten, die auf dem Tisch lagen, drei weitere Kartenstapel aufdecken. Man spielte um fiktives Geld, trotzdem wurde man süchtig. Eine feste Regel von mir war, dass ich mindestens meinen üblichen Schnitt erreichen wollte, bevor ich aufhörte. Jetzt brach ich ab, obwohl ich fünf Dollar darunter lag.

Ich schloss die Bürotür hinter mir und ging die Treppe hinunter. Vom Geruch im Treppenhaus wurde mir übel, gleichzeitig bekam ich Hunger. Wegen der ganzen Aufregung hatte ich das Frühstück ausfallen lassen. An der Haustür kamen mir drei Typen entgegen, Serben oder Albaner. Ich hatte sie schon öfter hier gesehen. Die meisten Bowlingspieler waren Ausländer. Gut für den Besitzer, dachte ich. Wenn noch mehr Ladungen mit Asylbewerbern kämen, könnte er den Laden noch ein paar Monate lang halten. Er könnte das Tagegeld der Ausländer kassieren, Bowlingschuhe verleihen und Burger anbrennen lassen. Dann wären alle happy, bis der Laden im November wieder in Konkurs ginge.

Ich setzte die Sonnenbrille auf und trat hinaus ins Licht, wovon es definitiv zu viel gab. Jemand hatte es zu gut gemeint. Mein Volvo stand auf dem Parkplatz vor der Kirche. Im Wageninnern stank es, der Geruch war schleichend mit der Hitze gekommen. Vielleicht lagen Essensreste unter dem Sitz, vielleicht war im Kofferraum etwas ausgelaufen. Der Fahrersitz war glühend heiß. Ich versuchte, beim Fahren nicht an die Sitzlehne zu kommen, was zur Folge hatte, dass ich mit einer unbequem starren Haltung am Lenkrad saß. Wenn mich die Leute so sahen, würden sie sich totlachen.

An der Kreuzung beim Schmelzer begegnete ich meinem Bruder. Er fuhr einen dieser neuen Subarus. Ein Witz. Polizisten sollten Volvos fahren. Ein Volvo hat eine ganz andere Autorität. Wenn mein Bruder oder seine Kollegen in einem Subaru losfuhren, sah es aus, als spielten sie Räuber und Gendarm. Frank sah mich nicht. Er trug ein kurzärmeliges Uniformhemd und eine Fliegerbrille, wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt. Ich hätte ihn fast mit ausgestreckter Hand berühren können. Ich wollte schon rufen oder pfeifen, hielt mich aber zurück. Er bog rechts ab und fuhr hinauf zum Coop Mega.

Es war kurz nach elf, die Hitze senkte sich allmählich ins Tal. Eine kleine Wolke klebte am Folgefonngletscher und sah aus wie eine Sprechblase ohne Text. Auf der Höhe des Hardanger Hotels gab ich Gas und der Sommerwind wehte herein. Am Fjordcenter bremste ich ab und setzte den rechten Blinker. Allein auf den wenigen hundert Metern zum Schwimmanleger piepte mein Handy dreimal.

Ich betrat den Anleger und hatte das seltsame Gefühl, von weit oben hinunterzufallen. Langsam wurde der winzige Punkt zwischen den Berghängen größer. Ich konnte die Flügel und die Schwimmer erkennen, bald würde das Flugzeug auf der Wasseroberfläche aufsetzen. Am Kai blieben die Leute stehen, um die Landung zu beobachten. Selbst der dicke Junge auf der Schwimmbrücke hielt beim Steinewerfen inne. Er hatte ein ganzes Munitionslager neben sich aufgebaut und beobachtete die Möwen, die Richtung McDonald’s verschwanden.

Kannst du nachts aufpassen?, fragte der Junge, ohne aufzusehen.

Er fragte in einem Ton, als würde er die Antwort bereits kennen. Als habe er alle in Odda schon gefragt und erwarte erneut eine Absage. Der Junge sprach gut Norwegisch. Ich meinte, ihn früher schon mal gesehen zu haben. Er trug ein Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft mit RONALDO auf dem Rücken.

Ich muss nachts schlafen, sagte der Junge. Irgendjemand muss aufpassen. Sonst geht es nicht gut aus. Ich darf nachts nicht draußen sein.

Ich darf nachts auch nicht draußen sein, sagte ich.

Der Junge lächelte nicht. Er hatte ein Gesicht ohne Lächeln.

Sie haben heute Nacht wieder eins geholt. Jetzt sind es nur noch fünf.

Wie viele waren es denn?

Sieben oder acht.

Ich sah zu der Bucht hinüber, in der die Entenmutter schwamm und versuchte, ihre Jungen an den Strand zu bugsieren. Ich zählte fünf Stück. Auf einen der Steine hatte jemand mit Rot geschrieben: Essen Sie keine Enten. Sonst werden Sie angezeigt.

Kannst du nachts aufpassen?, fragte der Junge. Heute Nacht war ich draußen, aber ich habe ziemlichen Ärger bekommen.

Ich brauche doch auch ein bisschen Schlaf, meinst du nicht?, fragte ich.

Es ist Sommer, sagte der Junge.

Das Wasserflugzeug tuckerte heran. Auf der rechten Seite stieg Martinsen aus und machte sich bereit, an Land zu gehen. Es sah so aus, als habe er selbst das Flugzeug von Bergen nach Odda gesteuert. Er war der Typ dazu. Er hatte einen Pilotenschein und war gut darin, Leute zu überreden.

Wie alt bist du, Ronaldo?, fragte ich.

Bald neun, sagte er.

Gutes Alter, sagte ich.

Endlich sah er auf.

Kannst du nachts aufpassen?, fragte er noch einmal.

Es ist Sommer, sagte ich.

Martinsen ging an Land. Von seinen Schultern hing je eine Tasche, er trug eine Sonnenbrille, ein weißes Hemd und Khaki-Shorts. Ich gab ihm die Hand und überlegte, ob ich ihn nach der Reise fragen sollte oder nach seinen Bildern aus Gaza. Am Wochenende war eine Geschichte von ihm im Blatt gewesen. Martinsen hatte den Artikel sogar selbst verfasst und beschrieben, wie er von Plastikkugeln der israelischen Soldaten getroffen worden war. Ich hasste es, wenn Fotografen selber schrieben.

Du sollst die Chefin vom Dienst anrufen, sagte Martinsen und fummelte an seinem Handy herum. Sie hat mir schon drei SMS geschickt, dass du sie anrufen sollst.

Ich verstaute die Taschen hinten im Volvo und fragte, ob ich ihn zum Hotel fahren solle. Er wolle sich lieber zuerst einen Überblick verschaffen, meinte er. Das ist schnell erledigt, dachte ich. Man konnte sich einen Überblick verschaffen, indem man einatmete, sich einmal im Kreis herumdrehte und wieder ausatmete.

Haben wir eine Leiche?, fragte Martinsen.

Nicht, dass ich wüsste, antwortete ich. Sie suchen im Fluss.

Dann bring mich dahin.

Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ den Motor an. In der Bucht war ein alter Mann mit einer Tüte voller Brotkrumen für die Enten aufgetaucht. Bei McDonald’s stiegen die Möwen auf und flogen über das Wasser. Als ich vom Parkplatz herunterfuhr, sah ich, wie Ronaldo auf dem Anleger wieder nach den Steinen griff.

Der Weg führte an der Außenseite des Fabrikzauns entlang. Der Opo floss hier ruhiger. Die ungezähmte Kraft der Stromschnellen weiter oben war hier der Resignation gewichen. Süßwasser traf auf Salzwasser, und ohne Widerstand ergab sich der Fluss in den Fjord.

In einem der Häuser auf der anderen Seite putzte eine Frau die Fenster. Endlich war es nicht mehr sinnlos, in Odda Fenster zu putzen. Das Schmelzwerk war Ende April in Konkurs gegangen, und der Kohlestaub legte sich nicht länger wie ein grauer Schleier über die Stadt. Die Kräne standen reglos auf dem Kai. Die Seilbahn ruhte, und ihre Wagen hingen hintereinander vom Hafen bis Nyland wie kleine Punkte in der Luft. Man konnte denken, jemand habe sich in Odda angeschlichen, den Zeigefinger an die Lippen gelegt und Psst! gemacht.

Wegen der Polizeiabsperrungen kamen wir nicht näher als hundert Meter an die Mündung heran. An beiden Flussufern waren die Suchmannschaften im Einsatz. Schlauchboote fuhren hin und her. In dem weißen Sonnenlicht sah es fast so aus, als seien sie beim Angeln. Es war ein schöner Tag auf dem Fjord, und sie wollten ihr Anglerglück versuchen.

Der Kerl taucht doch bestimmt wieder auf, sagte Martinsen. Eine Leiche kommt immer nach oben, stimmt’s?

Da war ich mir nicht so sicher. Ich hatte von einem Mann gehört, der in den Fluss gegangen und mit den Unterströmungen bis nach Måge getrieben worden war, zehn Kilometer in den Fjord hinein. Einen anderen fanden sie erst Monate später. Es war nur noch das Skelett übrig.

Martinsen fotografierte vom Weg aus, sagte aber, er wolle einen anderen Winkel probieren. Er warf sich eine Kamera über die Schulter und kletterte auf die morsche Brücke. Das Tor war mit verrostetem Stacheldraht umwickelt. Daran hing ein Schild: Hochspannung, Lebensgefahr. Ich fragte mich, was hier genau die Lebensgefahr darstellte. Die größte Gefahr bestand wohl darin, dass die Brücke einstürzen und man in den Fluss fallen konnte. Das war allerdings überall und jederzeit möglich. Der Boden konnte sich auftun, der Himmel konnte einem auf den Kopf fallen.

Ich kletterte hinter Martinsen über das Tor. Auf dem Weg hinunter verlor ich meine Sonnenbrille und riss mir am Stacheldraht die linke Hand auf. Ich blieb stehen und starrte sie an. Erst kam kein Blut, obwohl der Riss ziemlich tief gehen musste. Dann kam alles auf einmal. Das war typisch. Martinsen hatte sich elegant darüber geschwungen. Ich musste mir natürlich die Hand aufreißen.

Martinsen half mir, die Hand mit einem Taschentuch zu verbinden. Dann zog er das Handy aus der Hemdtasche. Er lächelte, als er antwortete: Du kannst selbst mit ihm sprechen. Ich nahm das Telefon in die rechte Hand. Von der linken rann Blut. Es war die Chefin vom Dienst. Sie kriegen dich immer, dachte ich. Du kannst dich wegducken und verstecken, am Ende kriegen sie dich immer.

Ist es Mord?, fragte sie.

Es blutet zumindest, sagte ich.

Wie bitte?

Ich seufzte. Keine Leiche bis jetzt, sagte ich, nur viel Blut.

Blut? Hat die Polizei gesagt, ob es sich um Unfall oder Mord handelt?

Sie suchen und wir warten.

Ich versuche seit zwei Stunden, dich zu erreichen.

Ich antwortete nicht. Ich sah sie vor mir im Gebäude der Bergens Tidende sitzen, wie sie in einem eleganten Kostüm lächelte. Bei der Eröffnungsfeier des Neubaus hatte der Architekt gesagt, die Glasfassaden sollten den Passanten die Gelegenheit geben, das hektische Presseleben rund um die Uhr mitzukriegen. Ich hatte mit dem Champagner in der Hand dagestanden und in mich hineingegrinst. In einer Zeitungsredaktion passiert so gut wie nichts. Redakteure, Chefs vom Dienst und Journalisten sitzen alle vor ihren Bildschirmen. Hin und wieder schauen sie auf die Straße, sehen Leute vorübergehen, sehen Liebespaare, die sich küssen, sehen Betrunkene, die an die Fassade pinkeln.

Bist du noch da?, fragte die Chefin vom Dienst.

Ich bin noch da, antwortete ich. Wo sollte ich sonst sein?

Warum gehst du nicht an dein Handy?

Ich hatte anderes zu tun.

Was denn zum Beispiel?

Zum Beispiel herausfinden, wie die Dinge zusammenhängen.

Sie beendete das Gespräch: Tu das. Wir versuchen doch, hier ein gemeinsames Ding zu landen, oder?

Von der Brücke aus hatten wir den Logenplatz bei der Suchaktion. Wir hätten näher dran sein können, hätten aber keinen besseren Überblick bekommen. Der Fluss war angeschwollen und voller Dreck. Mir fiel plötzlich auf, dass ich seit meiner Kindheit nicht mehr hier gewesen war. Ich hatte eigentlich geglaubt, in den Bretterbuden am Ufer würden sich die Lachsfischer aufhalten, aber von ihnen war keine Spur zu sehen. Der Pfad am Fluss war fast zugewachsen. Die Gegend gehörte zu den besten in ganz Odda, war aber in all den Jahren durch das Schmelzwerk verborgen gewesen. Auf der Westseite standen die Container und das riesige Förderband. Auf der Ostseite befanden sich die Kräne und der Importkai. Auf beiden Seiten waren hohe Zäune mit Stacheldraht. Der Fluss war zu einer Lüge geworden, der Fluss musste verborgen werden. Als wäre die Mündung eine Idylle, die das Bild vom hässlichen, dreckigen Odda retuschieren musste.

Ich saugte das Blut von meiner Hand und ging den Pfad zurück. Der Sohn von Pedersen war wahrscheinlich irgendwann heute Nacht hier vorbeigetrieben. Vielleicht war er weitergespült worden, unter die Brücke mit dem Schild Lebensgefahr. Vielleicht war er schon tot gewesen, bevor er im Opo landete. Vielleicht war er an den großen Felsen, die aus dem Fluss ragten, zerdrückt worden. Ich sah einen weißen Körper vor mir, der durch dunkles Wasser trieb, und all das, was ihn festhielt, was an ihm zerrte. Und das Schmelzwasser, das seinen Körper ein letztes Mal streichelte.

Der Schweißgeruch einer Kleinstadt – der Gestank meines Volvos. Witzig: Jetzt, wo Odda endlich die Abgase der Fabrik losgeworden war, fuhr ich in einem Wagen durch die Gegend, der zum Himmel stank. Ich kurbelte das Fenster herunter und bog in die Straße an der Shell-Tankstelle. Das heiße Lenkrad war blutverschmiert.

Im Zentrum schlenderten die Leute umher, als wäre heute ein ganz normaler Tag. Urlauber fuhren durch die Straßen auf dem Weg zur Fähre oder zurück. Durch die Windschutzscheibe sahen sie einen verschlafenen Ort. Aber das hier war eine neue Stadt. An diesem Morgen hatte sich das Gemunkel in den Dächern und Fassaden festgesetzt. Gerüchte wurden verbreitet und Verdächtigungen ausgetauscht. Bald würden die Worte überall eindringen und die Räume füllen.

Martinsen fragte, wo wir einen Hubschrauber herkriegen könnten.

Ich sagte, die einzige Hubschrauberfirma in der ganzen Gegend habe Büros in Kinsarvik und Rosendal. Der Besitzer sei Samson Nilsen, ein früherer Speedwaystar, der nach Odda zurückgekehrt sei, um auf Tourismus zu setzen. Nilsen habe am Ort mehrere Unternehmen aufgekauft, darunter die Hubschrauberfirma.

Ich hielt vor dem Hardanger Hotel, während Martinsen die Chefin vom Dienst anrief, um sich zu erkundigen, ob wir Rückendeckung für einen Hubschraubereinsatz bekämen. Martinsen sagte, er habe gute Bilder unten vom Fluss, aber die Leser sollten auch ein Gefühl für Distanzen und Geografie bekommen.

Vor einem halben Jahr hatte ich einen Artikel über den Hubschraubertourismus geschrieben. Samson Nilsen wollte reiche Leute zum Folgefonngletscher fliegen und ihnen Erdbeeren und Räucherlachs servieren. Er wollte eine Gondel zum Gletscher bauen und ein Bergdorf hochziehen, in dem die Gäste das ganze Jahr über Alpinski, Snowboard und Telemark fahren konnten. Er hatte lokale Unterstützung erhalten, aber die Zentralbehörden hatten ihr Veto eingelegt. Die Arbeiterparteigemeinde Odda wollte groß in den Tourismus einsteigen, aber der Minister der Konservativen hinderte sie daran, aus Umweltschutzgründen. Ich hatte den ersten Artikel geschrieben, dann haben andere die Sache weiterverfolgt.

Martinsen fragte, ob ich etwas von der Boulevardpresse wüsste.

Ich antwortete, ich hätte nur Journalisten der Lokalzeitungen gesehen und glaubte, dass wir ein paar Stunden Vorsprung hätten. Die Chefin vom Dienst sagte, wir sollten weitermachen, während Bergen die Preise anfragte. Martinsen wollte wissen, wie die Hubschrauberfirma heiße.

Viking Air, sagte ich.

Machst du Witze?

Ich mache nie Witze.

Martinsen sagte in sein Handy: Probier mal Viking Air in Kinsarvik.

Ich fuhr den Kremarvegen hinauf, am Coop Mega, dem Justizgebäude und dem Rathaus vorbei, weiter über Nylandsflata, vorbei am Volksbad und dem stillgelegten Schmelzwerk. Meine Hand fing an zu schmerzen. Während der Fahrt hielt ich sie aus dem Seitenfenster, als würde das die Wundheilung beschleunigen.

Ich setzte den linken Blinker und fuhr hinunter zur Hjøllobrücke. Eine Gruppe Schaulustiger hatte am Geländer Stellung bezogen. Ich hielt mitten auf der Brücke. Martinsen schnappte sich seine Kamera und stieg aus. Der Opel stand immer noch hochkant im Wasser, wie die Skulptur eines modernen Künstlers. Vorhin noch hatte ich geglaubt, die Strömung werde den Wagen erfassen und mit sich forttragen. Aber die Frontpartie musste sich seltsam zwischen den Steinen verkeilt haben, der Opel konnte nicht mehr als anderthalb Meter im Wasser sein. Die restliche Karosserie ragte heraus. Die Vordertüren standen halb offen, und ein paar der Seitenfenster waren eingedrückt. Es sah aus, als sei der Wagen als Schlussbild eines Films eingefroren worden. Wenn man sich das Wrack anschaute, konnte man die Szene vor sich sehen: Der Opel, der in hohem Tempo den Berg herunterkam. Der Fahrer, der die Kontrolle verlor. Der Wagen, der das Geländer durchbrach, bevor er in den Fluss flog.

Der Fluss war bleifarben, die Massen von Schmelzwasser erzeugten ein lautes Dröhnen, wie von einem Motor. Am Ostufer befand sich ein Gebrauchtwagenladen, die ausgestellten Autos glänzten in der Sonne. In meiner Kindheit hatten wir Unterschriften gegen den Laden gesammelt. Die Gemeinde hatte dem Besitzer das Grundstück angeboten, auf dem unser Bolzplatz lag. Wir spielten jeden Abend. Jeden Abend mussten wir Bällen hinterherjagen, die im Fluss gelandet waren. Meistens wurde der Ball an einer der ruhigeren Stellen ans Ufer gespült. Wenn nicht, mussten wir uns das Boot vom Schmelzwerk ausborgen und auf den Fjord rudern.

Martinsen kam wieder nach oben. Er sagte nichts. Ich überlegte, ob ich erzählen sollte, dass ich hier aufgewachsen war. Dort war der Fußballplatz. Dort die Sprungschanze. Dort waren die Schlackenhalden, wo wir den Rohstoff für unsere Karbidbomben holten. Von der Brücke aus konnte man sogar ein kleines Stück von unserem Haus sehen. Es lag auf dem Plateau oberhalb des Flusses, hinter Bäumen versteckt.

Was ist eigentlich passiert?, fragte Martinsen.

Ich zuckte mit den Schultern. Es gab keine Zeugen, auch wenn der Opel direkt neben dem Königreichssaal im Fluss gelandet war. Das Gebäude war innerhalb weniger Tage von den Zeugen Jehovas hochgezogen worden. Aber letzte Nacht war kein Mensch dort gewesen.

Ein Mord?, fragte Martinsen.

Ich wusste es nicht. Niemand wusste es. Es gab nur Gerüchte. Einen Vermissten. Zwei Verdächtige.

Weißt du etwas über den Jungen?

Ich sagte, dass er Guttorm Pedersen heiße. Er sei neunzehn, arbeitslos und Sohn des Eismanns.

Wir fuhren weiter das Tal hinauf, folgten der Straße, die sich den Fluss entlangwand. Ich hielt die Hand aus dem Seitenfenster. Die Sonne brannte auf der Haut, aber der Fahrtwind kühlte ein wenig. Am Krankenhaus gerieten wir hinter ein deutsches Wohnmobil. Der Gegenverkehr machte ein Überholen unmöglich. Der Deutsche hatte einen Aufkleber hintendrauf: Ich liebe Deutschland. Ich fragte mich, warum er dann nicht einfach zu Hause blieb. Am Sandvinvatnet fuhr ich an die Seite und hielt. Das Wohnmobil rollte weiter Richtung Süden. Der Deutsche hatte bereits eine ziemlich lange Schlange hinter sich angesammelt. Die meisten sahen aus wie Touristen auf der Durchreise. Vor hundert Jahren kamen sie aus ganz Europa, um Odda zu erleben. Heute fuhren sie einfach hindurch.

Ich sollte mir die Sache mit dem Hubschraubertourismus genauer ansehen, dachte ich. Wenn es etwas Neues gab, konnte ich vielleicht eine größere Geschichte daraus machen. Irgendwie hatte Samson Nilsen recht: Der Gletscher und die Wasserfälle hatten Ausländer hergelockt, bis die Industrialisierung die Nationalromantik kaputtmachte. Warum sollten sie nicht wieder Touristen anziehen, wenn jetzt die Industrie zu verschwinden drohte? Die Natur war eine Goldgrube. Die ersten Ausländer waren im 19. Jahrhundert hierhergekommen. Engländer hatten sich blaue Eisblöcke vom Gletscher abgebrochen und mitgenommen. In den snobistischen Clubs in London galt es als chic, seinen Whisky mit exklusivem Hardangereis zu kühlen. Das National Geographic hatte Hardanger kürzlich zum schönsten Reiseziel der Welt erkoren. Vorläufig gehörte Odda kaum dazu.

Martinsen überquerte die Straße und machte ein paar Gesamtaufnahmen vom Asylantenwohnheim. Es war ein gelbes Gebäude aus Stein, sehr schön gelegen, dort, wo der See zu einem Fluss, wo Odda zu einer Stadt wird. Das Gebäude war in meiner Kindheit ein Altenheim gewesen. Meine Großmutter hatte dort die letzten Jahre ihres Lebens verbracht. Ich erinnere mich, wie ich sie an einem Weihnachtswochenende besuchte. Damals glaubte sie, ich sei ihr Sohn. Vor ein paar Jahren hatten Lokalpolitiker festgestellt, dass die Alten ein Kostenfaktor waren, Asylbewerber hingegen eine Einnahmequelle.

Ich rauchte und stieß heiße Luft aus. Dabei fühlte ich mich besser. Ich war in Bewegung. Etwas passierte. Es waren nicht länger nur ich und eine Reihe von Idioten hier, die nicht mit der Sprache rausrückten. Martinsen kam zurück und sagte, er wolle ins Asylantenheim, aber erst später.

Weißt du, wer die Verdächtigen sind?, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Gerüchte gehört. Einige sagten, es seien Somalier. Andere meinten, es seien die Kosovoalbaner. Der Sohn von Pedersen soll sich angeblich an dem Abend, an dem er im Fluss gelandet war, vor dem Hamburger Heaven mit einer Gruppe von Asylanten gestritten haben. Es ging das Gerücht, dass die Asylanten ihm aufgelauert und sich an den Opel drangehängt hätten.

Martinsen bat mich, durch die Gegend zu fahren. Er wollte sehen, ob es Bildmotive gab, die er noch nicht eingefangen hatte. Wir fuhren über Eidesmoen, das Tjoadal hinunter, vorbei an Sing Sing, durch ganz Odda hindurch. Im Schneckentempo ging es am Polizeirevier, am Arbeiterblock und an der Grundschule vorbei. Ich blinkte und fuhr wieder auf die Hauptstraße.

Im Eitrheimsvegen musste ich bremsen. Eine ältere Frau war schimpfend auf die Fahrbahn getreten. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid und hatte eine Perücke auf, die nicht richtig saß. Der Verkehr kam zum Stillstand, während die Frau wie in Zeitlupe versuchte, wieder zu ihrem Gehwägelchen zu gelangen.

Ich nickte der Frau zu.

Willkommen in Odda!, sagte ich.

Wir blieben sitzen und sahen durch die Windschutzscheibe. Auf dem Marktplatz wimmelte es von Menschen. Es schien, als bewegten sie sich völlig planlos. So ist es an kleineren Orten, dachte ich. Alles wirkt konfus. Du musst mit dem Ort vertraut sein, um den Plan zu erkennen. Ich kannte diesen Ort in- und auswendig. Ich wusste alles über ihn. Dennoch sah Odda merkwürdig aus, wenn ich es durch die Windschutzscheibe betrachtete. Die Straßen verloren sich in einem weißen Licht, das den Ort unkenntlich machte. Jetzt weiß selbst ich nicht mehr, was der Plan ist, dachte ich.

DerSchmelzer war voll, obwohl es mitten am Tag war. Der Besitzer hatte die Fenster mit Plakaten und schwarzem Klebeband tapeziert, um den Sommer auszusperren. An dem Match kam man nicht vorbei. Es stand zu viel auf dem Spiel. Zu viel Geld war involviert.

Ich war für Argentinien. Ich hatte Argentinien immer gemocht, zumindest, wenn sie zu spielen versuchten. Jetzt versuchten sie es nicht einmal, jeder schob den Ball nur zum nächsten Mitspieler. Ich sah Körper, die sich fast antriebslos bewegten, als wären sie unter Wasser. Ich empfand wieder dasselbe Gefühl wie damals, als ich selbst noch aktiv war.

Der Schweiß strömte nur so aus mir heraus, als hätte der Körper eine heimliche Quelle entdeckt und pumpe nun alles in hohem Tempo heraus. Ich sehnte mich nach einer Dusche. Das Handy vibrierte in regelmäßigen Abständen. Ich ging nicht ran. Ich wollte einfach nur dort im Halbdunkel stehen und zusammen mit den anderen dieses beschissene Spiel sehen.

Gibt’s was Neues von dem Mord?, fragte der Typ neben mir.

Fragst du mich, frag ich dich.

Der Typ sah mich beleidigt an.

Ich frage dich, sagte er.

Ich weiß nicht mehr als das, was alle wissen, sagte ich.

Und alle wissen, wer es war, sagte der Typ.

Er leerte sein Bier und stellte das Glas ab.

Ich fragte, woher er wisse, dass es Mord sei.

Weiß ich nicht, sagte er.

Aber du hast gefragt, ob es was Neues von dem Mord gibt.

Mord ist Mord. Das wissen alle.

Und woher weißt du, dass es Mord ist?

Was soll es sonst sein? Glaubst du, Pedersens Sohnemann ist es zu heiß geworden und er wollte sich etwas abkühlen?

Ich weiß es nicht. Ich bin nicht im Dienst.

Ich dachte, Journalisten seien immer im Dienst.

Ich kannte den Typ nicht, aber er kannte offensichtlich mich. Das ist der Nachteil, wenn man Journalist einer Lokalzeitung in einer Kleinstadt ist. Alle wissen, wer du bist. Alle wissen, was du tust. Alle meinen, sie könnten alles Mögliche zu dir sagen.

Kannst du mir eins erklären?, fragte der Mann. Wenn alle wissen, wer den Mord begangen hat, warum verhaftet die Polizei die Schuldigen dann nicht?

Das weiß ich nicht, antwortete ich.

Hör mal, sagte der Typ. Alle wissen, wer sie sind, und sie können sich glücklich schätzen, dass sie kein Mädchen umgelegt haben.

Ich sagte, dass ich gern wüsste, von wem die Rede sei und warum sich gerade sie glücklich schätzen könnten.

Alle kennen die Serben, sagte der Mann. Machen nur Ärger. Gestern sind sie vorm Hamburger Heaven auf den Sohn von Pedersen losgegangen. Die Polizei musste sie trennen. Wäre es ein Mädchen gewesen, würde keiner von uns jetzt hier stehen. Dann wären wir da draußen. Verstehst du? Da draußen.

Er zog ab, um sich noch ein Bier zu holen.

Ich konnte es nicht erklären, aber das hier war eine andere Kneipe geworden. Vielleicht war es das Spiel, vielleicht etwas anderes, ich war mir nicht sicher. Ich war diese Woche jeden Tag im Schmelzer gewesen, um Fußball zu schauen. Heute hatte sich ein rauer Film über die Tische gelegt. Die lautesten saßen in den Trikots der englischen Nationalmannschaft da und riefen in Richtung Bildschirm: Lasst euch die Haare schneiden, Degos! Auf die Füße mit euch Weibern!

Nach einer halben Stunde Spielzeit bekam England einen Elfmeter. Alle konnten sehen, dass Michael Owen geschauspielert hatte, trotzdem gab es einen Elfmeter. David Beckham ging zur Elfmetermarke. Nach kurzem Anlauf kickte er den Ball mitten ins Tor. Argentinien ging zum dritten Mal unter. Ich zwängte mich durch die jubelnden Menschen.

Das Auto stand bei der Kirche. Es war siedend heiß. Ich fuhr auf die Straße und spürte, wie es in der linken Hand pochte. Ich bräuchte eine Dusche, müsste den Verband wechseln und ernsthaft anfangen zu arbeiten. Es war lange her, dass ich einen Aufmacher hatte. Das letzte Mal musste gewesen sein, als ich über den blinden Kabeljau geschrieben hatte, der immer wieder in dieselbe Reuse ging. Ich kam mit der Geschichte zweimal auf die Titelseite. Einmal, als ich ein Porträt von dem Kabeljau machte. Ein zweites Mal, als sich der Fisch im Aquarium in Bergen zu Tode gefressen hat.

Zu Hause in Tokheim roch es muffig. Ich machte die Tür zum Balkon auf. Während ich mich auszog, hörte ich die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Es kam vor, dass ich sie löschte, ohne sie abgehört zu haben. Ich ertrug die Talfahrt nicht, die ein weiterer Tag ohne einen Anruf von Irene bedeutete. Anschließend bereute ich es immer. Es konnte ja sein, dass sie genau an diesem Tag angerufen hatte.

Die ersten Nachrichten waren von der Zeitung. Ich hörte eine Aufforderung von heute Morgen, zurückzurufen, Martinsen, der vom Taxi auf dem Weg zum Wasserflugzeug aus anrief, die Stimmen verschiedener Chefs. Allein anhand dieser Nachrichten wäre ich in der Lage, ein Organigramm des Ladens zu erstellen. Normalerweise hörte ich keinen Mucks von ihnen. Das hier war wirklich mein großer Tag.

Ich blieb mit halb ausgezogenen Shorts stehen, als ich eine vertraute Stimme hörte: Robert, können wir uns heute Abend sehen? Am üblichen Ort, um zehn?

Die Stimme beunruhigte mich. Ich spielte die Nachricht noch einmal ab, um zu hören, ob es eine versteckte Botschaft gab, etwas, das ich überhört hatte. Ich ging zum Fenster und sah auf die Zinkfabrik. Ein Frachtschiff lag am Kai. Auf dem Golfplatz in der Bucht waren die Spieler nur Punkte, die sich bewegten. Ein Wasserflugzeug segelte hinunter zum Fjord. Das musste die Boulevardpresse sein. Jetzt sind wir nicht länger allein, dachte ich.

Ich hätte Irene gern angerufen und gefragt, warum sie mich sehen wollte. Was passiert sei. Ich ließ es bleiben, ich hatte versprochen, niemals anzurufen. Ich versuchte, sie vor mir zu sehen. Ihr Gesicht verblasste. Ich dachte zu viel an sie. Ich dachte sie kaputt.

Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer sofort ab. Ich hoffte, es sei Irene. Ich wollte ihre Stimme hören. Ich wollte mit ihr reden. Auch wenn sie mich beschimpfte, auch wenn sie mich den größten Idioten der Welt nannte oder mich zur Hölle schickte. Ich wollte nur ihre Stimme hören.

Es war Martinsen. Er stand unten an der Flussmündung. Sie hatten den Jungen gefunden.

Zwei Hubschrauber hingen über dem Fjord. Der Druck der Rotorblätter peitschte das Wasser auf. Das Geräusch traf mich in der Brust und pflanzte sich im Körper fort. Ein Gefühl von Aufruhr schien sich in der Landschaft auszubreiten, als würde der Lärm den Ort verändern und ihn langsam auflösen.

Mehrere Presseleute standen wie aufgereiht an der Polizeiabsperrung. Ich kannte keinen von ihnen, und ich konnte auch Martinsen nicht sehen. Schaulustige hatten auf der alten Schmelzwerkbrücke Stellung bezogen. Ich kletterte zu ihnen hinüber. Unten am Fjord hatte sich die Suchmannschaft auf dem Importkai versammelt. Mein Blick fiel auf meinen Bruder. Frank gestikulierte, während er in sein Handy sprach. Ein Schlauchboot fuhr langsam ans Ufer. Eine Polizistin nahm das Tau entgegen und sicherte das Boot. Ein schwarzer Sack wurde auf den Kai gehoben und zu einem bereitstehenden Krankenwagen gebracht. Alles geschah schnell und effektiv, als hätten sie es schon hundertmal gemacht.

Ich notierte Viertel nach vier auf meinem Block und rief meinen Bruder an. Er ging nicht ran. Auch Martinsen nicht. Einer der Hubschrauber stieg auf und verschwand Richtung Süden. Der andere blieb über dem Fluss hängen und ging dann noch weiter runter. Ich konnte das Logo erkennen, weiß auf rotem Grund: Viking Air.

Ich blieb stehen, bis Martinsen zurückrief. Seine Stimme ging in dem Lärm fast unter. Ich erfuhr, dass VG beide Hubschrauber gemietet hatte. Martinsen hatte Bergen gebeten zu überprüfen, ob weitere Hubschrauber erhältlich waren, aber VG hatte bei allen Konkurrenzgesellschaften Flugzeiten reserviert. Martinsen rief ins Telefon, dass er mir zuwinke. Ich sah mich um und entdeckte ihn auf den Containern im Fabrikgelände. Ich fragte mich, wie er dort hinaufgekommen war. Im Zaun waren angeblich mehrere Löcher. Die Werksangestellten hatten sie benutzt, wenn sie blau gemacht oder mit dem Boot Schnaps geschmuggelt hatten.

Der andere Hubschrauber verschwand ebenfalls. Plötzlich war es sehr still, die einzigen verbliebenen Geräusche kamen vom Fluss. Ich rief erneut meinen Bruder an. Er ging nicht ran. Der Mann neben mir behauptete zu wissen, was ich schreiben solle.

So?, sagte ich. Was denn?

Sie müssen das Asylantenheim dichtmachen. Das kannst du schreiben. Dass sie das verfluchte Heim dichtmachen sollen.

Mehr nicht?

Du kannst schreiben, dass die Ausländer eher nach Oslo gehören. Dort hat es schon immer allerhand merkwürdige Gestalten gegeben. Hier passen sie nicht her. Das wäre so, als würden die Bauern am Fjord anfangen, Oliven anzupflanzen. Das kannst du schreiben.

Ich fragte, was das mit der Sache zu tun habe.

Sein Begleiter mischte sich ein: Die Moslems werden das Ruder übernehmen. Nicht jetzt oder nächstes Jahr, aber sie werden es übernehmen. Wer sich am meisten vermehrt, setzt sich immer durch. Die Moslems kriegen ein Kind nach dem anderen, während wir aussterben.

Ich sagte nichts. Die Chefin vom Dienst rief mich auf dem Handy an. Ich ließ es klingeln. Der erste der beiden beugte sich zu mir herüber. Er roch nach Schweiß.

Sieh dir den Fluss hier an, sagte er. Industrieabwässer und Zuchtlachse haben fast den gesamten Wildlachsbestand vernichtet. Verstehst du?

Nicht ganz.

Die Moslems sind wie Zuchtlachs. Wir füttern sie heran, stimmt’s? Wir machen sie stark. Irgendwann schwimmen sie den Fluss hinauf und übernehmen das Ruder.

Und da bist du ganz sicher?, fragte ich.

Beide Hubschrauber kamen zurück und durch ihr Dröhnen hindurch brüllte mir einer der beiden Männer ins Ohr: Schreib, dass wir den Moslems eine gute Heimreise wünschen!

Ich nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn an. Dann kletterte ich über den Zaun und ging am Fluss entlang wieder nach oben. An einem der Anglerschuppen stand Martinsen und wartete auf mich. Er hielt mir das Handy hin: Du bist ein begehrter Mann.

Ich nahm das Telefon.

Da bist du ja, sagte die Chefin vom Dienst.

Da bin ich ja, sagte ich.

Martinsen hat erzählt, dass sie den Jungen gefunden haben, sagte sie.

Etwas haben sie auf jeden Fall gefunden, sagte ich.

Wie meinst du das?

Jemand hat irgendwas in ein Leichentuch gesteckt, bevor jemand irgendwas in einen Krankenwagen gehievt hat.

Den Jungen?

Es kann auch ein Delphin gewesen sein.

Am anderen Ende war es still. Dann lachte sie los. Sie hatte also Humor.

Gibt es im Sørfjord Delphine?, fragte sie.

Ja, sie tauchen am Wochenende auf, um ihre Kunststücke vorzuführen. Der Bürgermeister will sie einsetzen, um Odda zu vermarkten. Die Delphingemeinde im Inneren Hardanger.

Ich dachte, der Fjord wäre von all den Industrieabwässern tot?

Nix da, er ist voller Delphine.

Es wurde still.

Kannst du ein Bild von dem Jungen besorgen?

Zusammen mit einem Delphin?

Sie lachte nicht. Der Spaß war vorbei.

Wir brauchen ein Bild von dem Jungen, sagte sie. Wir werden auf diese Geschichte setzen.

Ich gab Martinsen das Handy zurück.

Wir liefen den Weg hinauf, setzten uns ins Auto und fuhren ins Zentrum. Martinsen ging ins Hotel, um die Bilder zu verschicken. Ich ging in den Hardangerkrug, um mir ein Bier und ein paar Bissen Fleisch zu gönnen. Es war ein ruhiger Nachmittag. Tor setzte sich zu mir an den Tisch, während ich aß. Tor und ich waren zusammen zur Schule gegangen. Er fand Arbeit im Krug, als sie die Belegschaft im Werk reduzierten. Tor hatte nicht mehr von einem Koch als ich. Die Pommes waren lauwarm, das Fleisch verbrannt.

Tor zündete sich eine Zigarette an und fragte, ob es was Neues gebe. Er glaube nicht an die Gerüchte, sagte er. Die Serben kämen jeden Tag in den Krug, es seien nette Kerle. Ob ich mit ihnen gesprochen hätte? Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, ob es die drei waren, die ich heute Morgen beim Bowling gesehen hatte.

Dabei hätten sie weiß Gott Motive genug, sagte Tor. Die Typen von der Heimwehr sind üble Burschen. Kommen hierher, spielen sich auf und belästigen die Leute, vor allem die Ausländer. Aber Motive allein machen dich noch nicht zum Mörder, oder?

Er redete davon, dass sie sich langweilten, die Serben wie die Oddaer. Die Jungs waren wie er selbst. Sie waren auf die Welt gekommen, um zu arbeiten und zu vögeln. Sonst nichts. Darauf hatten sie sich eingestellt. Wenn sie achtzehn oder neunzehn waren, wollten sie arbeiten und vögeln. Sie wollten ihren Körper benutzen. Sie wollten sich schinden und schwitzen. Aber hier gab’s keine Jobs und fast keine Mädchen. Er wusste selbst, wie es war, arbeitslos zu sein. Das macht dich verrückt. Du verlierst die Übersicht. Du verlierst dich selbst.

Ich war mit essen fertig und trank das Bier aus.

Tor stand auf. Sie sind nicht wie du, Robert, du konntest schon immer gut schreiben.