Die Rebellen von Salento - Davide Morosinotto - E-Book
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Die Rebellen von Salento E-Book

Davide Morosinotto

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Beschreibung

Kinder an die Macht! Außergewöhnliches Kinderbuch über einen Sommer, der alles verändert. Von Bestsellerautor Davide Morosinotto.

In einer geheimen Hütte mitten im Olivenhain schmieden Paolo und seine Freunde einen Plan: Sie wollen einen eigenen Staat gründen. Ein Reich, in dem kein Erwachsener bestimmen darf. Begeistert entwerfen sie Gesetze und schaffen ihre eigene Währung. Immer mehr Kinder schließen sich ihnen an. Doch im Ort gibt es einen Mann, dem das überhaupt nicht gefällt. Und dieser Mann könnte ihnen schon bald gefährlich werden …

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Das Buch

In einer geheimen Hütte mitten im Olivenhain schmieden Paolo und seine Freunde einen Plan: Sie wollen einen eigenen Staat gründen. Ein Reich, in dem kein Erwachsener bestimmen darf. Immer mehr Kinder schließen sich ihnen an. Doch im Ort gibt es einen Mann, dem das überhaupt nicht gefällt. Und dieser Mann könnte ihnen schon bald gefährlich werden …

Der Autor

© Tamara Casula

Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren. Bereits mit 17 Jahren schrieb er seine erste Kurzgeschichte, die auf der Auswahlliste des renommierten italienischen Literaturpreises »Premio Campiello« stand. Seitdem hat er über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, für die er zahlreiche Preise erhalten hat. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna. Sein Kinderbuch »Die Mississippi-Bande« wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer*in erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Donnerstag, 3. Juni

An diesem Morgen wusste Paolo noch gar nicht, dass er König werden würde.

Woher hätte er das auch wissen sollen? Er war ja nur ein ganz normaler 13-jähriger Junge, nicht besonders groß, mit Haaren, die ständig verstrubbelt waren, und der schlechten Angewohnheit, an seinen Fingernägeln herumzukauen, wenn er angestrengt nachdachte.

Paolo stammte nicht aus einer adeligen Familie und dachte, dass es Könige und Königinnen nur im Märchen gab, oder aber in fernen Ländern wie zum Beispiel in England. Er dagegen lebte nicht in England, sondern in Süditalien: in einer Region ganz unten am Absatz des italienischen Stiefels, die Salento heißt und in der es sehr windig ist und überall nach Meer riecht, weil sie zwischen dem Adriatischen Meer und dem Ionischen Meer liegt.

Eine schöne Gegend, aber auch eine ganz normale Gegend, in der ganz normale Menschen leben. Und auch dieser Tag Anfang Juni schien zunächst ein Tag wie alle anderen zu sein.

In Paolos Zimmer war es so heiß wie in einem Backofen, die Sonnenstrahlen malten leuchtende Streifen auf die Wand. Es war eine Zumutung, an einem so schönen Tag zur Schule gehen zu müssen.

»Reiß dich zusammen«, sagte er zu sich selbst. »Nur noch eine Woche, dann sind Ferien.«

Dieser Gedanke machte ihm sofort gute Laune, und er sprang mit einem Satz aus dem Bett. Paolos Zimmer nahm den gesamten zweiten Stock des Gutshauses ein, in dem er mit seiner Familie wohnte. Es war ein sehr großes und ein sehr leeres Zimmer. Die einzigen Möbel darin waren ein kleiner Schreibtisch, das Bett und ein windschiefer Schrank. Seine besondere Atmosphäre verdankte dieses Zimmer allerdings nicht den Möbeln, sondern Paolos Schätzen: Hunderte von mehr oder weniger gelungenen Experimenten und viele andere Dinge, die in den Augen seiner Mutter nichts anderes als Müll waren.

Auf dem Fußboden lag zum Beispiel ein großer Patchworkteppich, den Paolo zusammen mit seinen Freunden genäht hatte. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er sich dabei mit der Nadel in die Finger gestochen hatte. Eigentlich war dieser Teppich auch gar nicht als Teppich gedacht gewesen, sondern als Prototyp eines Fesselballons. Paolo und seine Freunde Laerte, Antonio, Elena und Bea hatten vorgehabt, damit die Küstenlinie entlangzufliegen, um den großen Leuchtturm von Santa Maria di Leuca von oben zu bewundern.

Etwas weiter hinten lagen lange Latten aus Balsaholz, aus denen sie irgendwann mal ein Ultraleichtflugzeug hatten basteln wollen. Außerdem gab es ein Teleskop mit Flaschenböden als Linsen, verschiedene chemische Substanzen in verstaubten Schraubgläsern, ein Dinosaurierskelett aus Plastik, ein Indianerzelt aus Decken und Bambusstäben und noch ein paar andere Dinge, die Paolo in nächster Zeit vollenden wollte.

Dieses Vollenden war nämlich sein Hauptproblem, denn ständig kam ihm etwas dazwischen. Signora Annunziata mischte sich ein, um zu verhindern, dass ihrem Sohn Laerte bei der Durchführung eines seiner Vorhaben womöglich etwas ganz Schlimmes passierte, Bea konnte nicht mehr mitmachen, weil sie dringend nach Hause musste, oder etwas anderes in der Art.

Bald aber würde sich das ändern, denn sie hatten nur noch eine Woche Schule, und irgendwie roch die Luft schon nach Ferien. Vor Paolo lagen herrlich lange Tage, an denen er ins Meer springen, Rad fahren oder zu einem der vielen Feste gehen konnte, die in den Dörfern veranstaltet wurden und bei denen es immer leckere Sachen zu essen gab. Und natürlich würde er sich neue sensationelle Erfindungen ausdenken … und sie vielleicht sogar zu Ende bringen.

Barfuß lief Paolo zu den großen Fenstern, durch die er auf die Gemüsebeete und Olivenbäume rings um das Haus schauen konnte, auf staubige rote Erde und halbhohe Trockenmauern, auf die steinernen Kuppeln der Hirtenhütten und die Straße weiter hinten in der Ferne.

Genau unter den Fenstern arbeitete Paolos Großvater Blasio im Gemüsebeet. In seiner verstaubten Baseballcap und den verschlissenen Jeans mit den löcherigen Knien sah er wie ein in die Jahre gekommener Skater aus.

Als er Paolo über sich am Fenster bemerkte, lächelte der Großvater und winkte. »Bist du immer noch im Bett?«, rief er hinauf.

»Du kommst zu spät zur Schule!«

Verflixt, er hatte recht!

Laerte steckte ein Buch nach dem anderen in seinen Schulrucksack. Das Geschichtsbuch und das Geschichtsheft. Das Mathebuch und das Buch mit den Übungen. Zwei karierte Hefte. Drei Bücher für den Englischunterricht (zum Glück waren sie sehr dünn) und das große Collegeheft.

So viel Bildung in einem einzigen Schulrucksack! Die Bücher waren nicht das Problem, dachte Laerte, er kam in der Schule ziemlich gut zurecht. Aber der Anblick des vollgestopften Rucksacks konnte sich negativ auf die Laune seiner Mutter auswirken.

»Schätzchen, bist du so weit?«, rief sie aus dem Flur herüber.

»Augenblick noch!«

Laerte zog sich an: eine lange Hose, ein Wollunterhemd, ein Baumwollhemd, das er sich bis zum Hals zuknöpfte, Sneakers. Dann warf er einen Blick in den Spiegel. Was er darin sah, war ein hoch aufgeschossener, extrem dünner Junge mit blasser Haut und großen Augen. In den warmen Klamotten hatte er sofort zu schwitzen begonnen. Ach, wie er den Sommer hasste!

In einem geblümten Kleid wirbelte seine Mama Annunziata ins Zimmer und schnappte sich den Rucksack. Ohnmächtig musste Laerte zuschauen, wie sie damit auf die Waage stieg.

»Dieser Rucksack wiegt elf Kilo«, stellte seine Mutter fest. »Das kann doch gar nicht sein! Wollen deine Lehrer denn unbedingt, dass du einen Rückenschaden bekommst?«

»Aber, Mama …«

»Ich werde mal ein Wörtchen mit dem Direktor reden. Du nimmst heute wohl am besten den Trolley.« Und schon lief sie hinüber in die Küche, um den grauenhaften Einkaufstrolley zu holen, ein abgrundtief hässliches Ding mit zwei Rädern, einem Griff und einem Schottenkarobezug. Bevor Laerte auch nur protestieren konnte, hatte seine Mutter bereits all seine Bücher und Hefte hineingeschichtet.

Mit dem Trolley zur Schule zu gehen bedeutete, die Blicke aller auf sich zu ziehen und auch ihr mitleidiges Lächeln. Nichts, worauf man sich freuen konnte.

Als Signora Annunziata mit dem Umpacken fertig war, wandte sie sich ihrem Sohn zu. »Wollunterhemd?«

»Ja, habe ich an.«

»Sonnenhut?«

Laerte zeigte auf das Cap, das er sich zusammengefaltet in die hintere Hosentasche gesteckt hatte.

»Schal? Jacke?«

»Mama …«

»Nein, ich will nichts hören. Gerade in der Übergangszeit erkältet man sich schnell. Falls man sich nicht gar eine Allergie oder Rheuma holt. Wenn all deine Freunde mit Fieber im Bett liegen, wirst du mir dankbar sein, dass ich dich gezwungen habe, dich vernünftig anzuziehen.«

Wie eine Zauberkünstlerin zog seine Mutter von irgendwo ein buntes Tuch hervor und band es ihrem Sohn eng um den Hals. Danach zog sie ihm auch noch eine Jacke an.

»Sehr gut, mein Liebling«, meinte sie zufrieden. »Jetzt bist du ausgehfertig. Los, komm.«

Laerte hatte sich bis zu diesem Moment zurückgehalten, aber das ging nun wirklich zu weit. »Ich möchte lieber mit dem Rad zur Schule fahren«, widersprach er.

Er hatte es fest und entschlossen sagen wollen, doch seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren viel zu weinerlich.

»Und wie willst du den Trolley mitnehmen? Nein, ich fahre dich schnell hin. Komm schon, sonst bist du zu spät dran.«

Laerte folgte seiner Mutter nach draußen. Ein weiterer Schultag begann.

Paolos Zimmer hatte keine Tür und war auch nicht durch eine Treppe mit dem übrigen Gebäude verbunden. Das Zimmer war isoliert, ein perfekter Zufluchtsort, Paolos eigenes Revier.

Um nach unten zu gelangen, musste er durch die Fenstertür auf den geländerlosen Balkon gehen (den er bereits als Startrampe für das noch fertig zu bauende Ultraleichtflugzeug auserkoren hatte). Vom Balkon führte eine lange Außentreppe in den Garten, doch mithilfe seines Freundes Antonio und des Großvaters hatte Paolo an der Wand ein dickes Seil befestigt, und an diesem sauste er jetzt nach unten, vorbei am ersten Stock, der gerade zu Ferienwohnungen umgebaut wurde. Mit einem eleganten Sprung landete er im Garten. Die Eltern durften das nicht sehen, aber wenn er es eilig hatte, war dies der schnellste Weg.

Im Erdgeschoss befand sich das einzige funktionierende Bad des Gutshauses, ein roh gemauerter Anbau aus Ziegelsteinen mit Wellblechdach, den seine Mutter schon lange durch ein richtiges Badezimmer ersetzen wollte.

Paolo wusch sich das Gesicht und versuchte mit nassen Händen, sein Haar wenigstens einigermaßen glatt zu frisieren. Ein rebellisches Haarbüschel direkt über der Stirn stand trotz all seiner Bemühungen auch danach noch ab, aber eigentlich fand Paolo, dass ihm dieser Look ganz gut stand. Nun rannte er in die Küche, wo sein Vater Giovanni gerade Kaffee kochte.

»Ist Mama schon arbeiten gegangen?«, fragte Paolo zwischen zwei Keksbissen, die er mit Fruchtsaft hinunterspülte.

Der Vater nickte. »Ja, schon vor einer halben Stunde. Und du solltest dich auch beeilen, sonst kommst du zu spät zur Schule.«

»Könntest du mich nicht hinfahren?« Du hast ja sowieso nichts anderes zu tun, hätte Paolo beinahe hinzugefügt, doch er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen. Sein Vater wäre außer sich gewesen, wenn Paolo das ausgesprochen hätte.

»Ich muss auf der Baustelle weitermachen, ich habe keine Zeit. Nimm das Rad.«

Paolo sagte lieber nichts und griff zum nächsten Keks. Zwischen ihm und Pagliarano, wo die Schule war, lagen sechs Kilometer kurvige Küstenstraße. Bei der Hitze, die bereits jetzt am Morgen herrschte, würde er völlig durchgeschwitzt ankommen.

»Wie lange dauert es noch, bis die Ferien anfangen?«

»Hab ich dir schon zehntausendmal gesagt.«

»Ich weiß es aber trotzdem nicht mehr.«

»Noch eine Woche. Wenn die vorbei ist, fängt der Sommer an.«

»Und was machen wir dann?«

Antonio schüttelte den Kopf. Warum war sein kleiner Bruder nur so nervig? Jeden Tag musste er ihn zur Schule bringen, doch in den Ferien würde es noch schlimmer sein: Dann würde der Kleine ständig an ihm kleben. Und wehe, wenn Antonio dann etwas mit seinen Freunden unternehmen wollte und zu Luca sagte, er dürfe nicht mitkommen! Antonio schob sein Rad den Bürgersteig entlang, und Luca hüpfte mit seinem Spiderman-Schulrucksack aufgeregt neben ihm her.

»Was man im Sommer eben so macht. Ich weiß noch nicht, was. Uns wird dann schon was einfallen.« Antonio grinste. Es war immer so: Paolo hatte die Einfälle und er, Antonio, half ihm dabei, sie umzusetzen. So war es zum Beispiel mit dem Seil gewesen, an dem Paolo an der Hauswand hinauf- und hinunterklettern konnte, ohne die Außentreppe benutzen zu müssen. Es war Antonio gewesen, der das geeignete Seil gefunden und ausgerechnet hatte, wie lange es sein musste. Am Ende war Antonio dann auch noch als Testpilot angetreten, weil er schwerer war als Paolo und Laerte zusammen.

Die Grundschule und die Mittelschule standen nebeneinander, zwei niedrige Gebäude mit flachem Dach und vielen, vielen Fenstern. Dazwischen war eine arg strapazierte Rasenfläche mit einem Maschendrahtzaun. Für die Kleinen gab es einen großen Sandkasten und eine Rutsche, für die Großen einen langen Fahrradständer und ein trauriges Durcheinander von platt gedrückten Getränkedosen und leeren Flaschen.

Schon aus der Entfernung sah Antonio, dass vor dem Hoftor der Mittelschule Mattia Presti und ein paar andere seiner Bande der Bösen Aufstellung genommen hatten. Alle hatten viel Gel im Haar und trugen Marken-T-Shirts und die derzeit angesagtesten Sneakers.

Sie warteten auf ihr heutiges Opfer.

Wie von alleine blieben Antonios Füße stehen, und beinahe wäre er über sein Rad gefallen.

»Was ist denn?«, fragte Luca.

Erstaunt drehte sich der kleine Junge nach ihm um. Er hatte keine Ahnung von der drohenden Gefahr. Antonio war sein großer Bruder und damit so eine Art unbesiegbarer Superheld.

»Wir sind da. Du kannst alleine weitergehen«, antwortete Antonio. »Hundert Meter geradeaus, und du bist da.«

»Aber du begleitest mich doch immer bis vor die Schultür!«

»Ja, aber heute geht das nicht, Luca. Ich muss …« Antonio suchte fieberhaft nach einer Ausrede. »… ich muss noch schnell zum Kiosk.«

Der kleine Bruder grinste. »Kaufst du Fußballsticker?«

»Ja, genau.«

»Dann gibst du mir die, die du doppelt hast, ja? Du hast doch schon so viele, wenn du welche kaufst, sind bestimmt doppelte dabei.«

Antonio nickte erleichtert. Das war einfacher gewesen, als er gedacht hatte.

»Einverstanden«, sagte er.

Voller Vorfreude winkte Luca ihm zu und trottete zum Eingang seiner Schule. Spiderman hinten auf Lucas Rucksack schien Antonio vorwurfsvoll anzuschauen. Tja, Superhelden haben es eben einfacher. Wenn Antonio einer gewesen wäre, hätte er mühelos über den Maschendrahtzaun springen und sich mithilfe seiner Spinnennetze von einer Schule zur anderen hinüberschwingen können, ohne auch nur in die Nähe der Bösen zu geraten.

Ohne Superkräfte aber würde er früher oder später an ihnen vorbeigehen müssen. Mattia würde ihn zwingen, ihm alles Geld zu geben, das er dabeihatte. Die eigentliche Demütigung aber kam erst danach: Sie würden ihm das T-Shirt hochziehen und ihn auf den Bauch schlagen und ins Fleisch kneifen und ihn wegen seiner wabbeligen Speckröllchen auslachen.

Antonio schaute auf die Uhr: Er war früh dran, die Schulglocke würde erst in einer Viertelstunde klingeln. Irgendwann mussten Mattia und seine Bande hineingehen, und dann war der Weg frei. Antonio würde ein wenig zu spät kommen, doch ohne gedemütigt zu werden.

Er überquerte die Straße, versteckte sich hinter dem Zeitungskiosk und beobachtete seine Feinde.

»Guten Morgen!«, sagte der Kioskbesitzer Signor Cridamai. »Möchtest du ein Tütchen Fußballsticker?«

Antonio holte ein paar Münzen aus der Tasche, zahlte und steckte das Tütchen ein. Sein Bruder hatte inzwischen unbehelligt die Grundschule erreicht. Jetzt kamen Bea und Elena an ihm vorbei und unterhielten sich kichernd über Mädchenkram. Die Bösen stellten sich ihnen nicht in den Weg. Normalerweise ließen sie Mädchen in Ruhe. Vielleicht lag es aber auch am scharfen Mundwerk von Bea.

»Antonio?«, sprach Cridamai ihn an. »Solltest du nicht auch allmählich in der Schule sein?«

»Äh, ja … ich … ähm …«

»Es ist wegen der Jungs da drüben, nicht wahr? Der Sohn vom Metzger Presti und seine Bande.«

Antonio ärgerte sich. Warum kümmerte sich der Kioskbesitzer nicht um seinen eigenen Kram? Wegen der Bemerkung des Mannes kam sich Antonio wie ein lächerlicher Schwächling vor.

»Du solltest ihnen mal zeigen, wo es langgeht«, meinte Cridamai, während er einen Stapel druckfrische Zeitungen auspackte. »Du musst lernen, dich zu verteidigen.«

Klar, dachte Antonio. Ist ja auch kinderleicht!

Signora Annunziata war der Überzeugung, dass Klimaanlagen ungesund seien, und deshalb schaltete sie die ihres Autos niemals ein. Die Fenster blieben stets geschlossen, damit es nicht zog. Dank ihrer Vorsichtsmaßnahmen betrug die Temperatur im Inneren ihres Fiat Panda mindestens sechzig Grad, und Laerte kam sich vor wie ein Suppenhuhn, das in seiner Brühe vor sich hin köchelte.

»Bitte, halt hier an!«, sagte er und rutschte auf seinem Sitz unruhig hin und her.

»Warum denn? Wir sind doch noch gar nicht da!«

Seit sie sich ins Auto gesetzt hatten, redete seine Mutter ununterbrochen auf ihn ein. Laerte hörte nicht hin. Er wollte nur so schnell wie möglich aus dem Auto raus und frische Luft atmen …

»Bleib stehen, bitte!«, wiederholte er. Noch ein paar Minuten in dem heißen Auto und ihm wurde schlecht. »Die anderen lachen mich aus, wenn sie sehen, dass du mich bringst. Da drüben steht Antonio. Wenn du mich hier aussteigen lässt, kann ich zusammen mit ihm reingehen.«

Seine Mutter lächelte stolz, so, als dächte sie: Mein Sohn wird allmählich ein richtiger Mann, oder so etwas in der Art. Sie setzte den Blinker, fuhr rechts ran und beugte sich zu Laerte hinüber. »Bekomme ich wenigstens einen Kuss?«

Antonio hatte ihn schon bemerkt, doch außer ihm war keiner zu sehen. Laerte löste den Sicherheitsgurt und gab seiner Mutter rasch einen Kuss, bevor er ausstieg und mit dem Einkaufstrolley zum Zeitungskiosk hinüberging.

Tlok tlok tlok klapperten die Trolleyräder über den Bürgersteig.

»So ein braver Sohn! Der Stolz seiner Mama!«, begrüßte ihn Antonio und lachte.

Grinsend machte Laerte eine Kopfbewegung zum Schultor hin.

»Ich habe meine Probleme, und du hast deine. Warum bist du noch nicht reingegangen? Hängt das vielleicht mit der Bande der Bösen zusammen?«

In Wirklichkeit hatte auch er große Angst vor Mattia Presti und dessen Kumpanen, obwohl ihn die Bande meistens in Ruhe ließ.

Vor ein paar Monaten war seine Mutter zu Mattias Vater gegangen, dem Metzger Presti, und hatte ihm eine Szene gemacht. Mitten im Laden, vor allen Leuten. Seitdem blieb Laerte in der Schule unbehelligt – und auch außerhalb, solange es ihm gelang, sich von Mattia fernzuhalten, wenn keine Erwachsenen in der Nähe waren.

»Ach was«, versuchte Antonio abzuwiegeln, »ich habe vor niemandem Angst. Es ist nur, weil … weil ich keine Lust habe, ins Klassenzimmer zu gehen.«

»Ja, gut möglich, dass wir heute in Geschichte abgefragt werden.«

»Und dann das schöne Wetter. Es ist eine Sünde, drinnen zu hocken!«

Laerte vergewisserte sich, dass der feuerrote Fiat Panda seiner Mutter bereits um die Kurve gebogen war, bevor er sich Schal und Jacke vom Körper riss und beides in den Trolley stopfte. Er öffnete die obersten Hemdknöpfe und krempelte die Ärmel hoch.

»Also, was machen wir?«, fragte Antonio.

Laerte sah ihn unsicher an. »Wie meinst du das?«

»Wir könnten etwas unternehmen. Elena und Bea sind schon reingegangen, aber Paolo kommt wie immer zu spät. Wir könnten ihm entgegengehen und ihn abfangen, ihm fällt bestimmt was ein.«

Laerte wirkte nicht sehr überzeugt. »Ich habe kein Rad dabei, und wo soll ich mit dem blöden Trolley hin?«

»Du setzt dich auf meinen Gepäckträger, und wir binden das Ding da hinten ans Rad, dann kann es hinterherrollen.«

»Ich weiß nicht …«

»Das merkt doch niemand! Versprochen!«

Und bevor Laerte etwas erwidern konnte, hatte sein Freund den Trolley bereits hinter das Rad gezogen und mit einem Stück Schnur an den Streben des Schutzblechs befestigt.

Die Bande der Bösen lauerte immer noch vor der Schule. Laerte hatte keine Lust, an ihnen vorbeizugehen.

»Okay«, willigte er schließlich ein. »Aber dann nix wie los, bevor uns jemand sieht.«

»Wow! Du kannst einem wirklich Angst einjagen!«

Bea wachte aus ihrem Tagtraum auf.

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

Elena kicherte. Heute sah sie glücklich und besonders schön aus.

Ihr langes schwarzes, lockiges Haar glänzte in der Sonne.

»Ich meinte Mattia und seine kleinen Gangster. Du hast ihnen einen derart eisigen Blick zugeworfen, dass sogar ich eine Gänsehaut bekommen habe.«

»Ach, du meinst die kleinen Jungs!«

Bea waren sie gar nicht aufgefallen. Wie an jedem anderen Morgen hatte sie bei ihrer besten Freundin geklingelt, und dann waren die beiden gemächlich zur Schule spaziert und hatten sich über alles Mögliche unterhalten. Bea hatte ihrer Freundin allerdings nur mit einem Ohr zugehört. Sie hatte zwar an den richtigen Stellen die richtigen Fragen eingeworfen (»Glaubst du, dass wir heute die Italienischarbeit zurückbekommen?« – »Hast du vorhin im Schaufenster die coolen blauen Sandalen gesehen?«, und so weiter), in Wahrheit aber hatte sie an etwas ganz anderes gedacht.

Natürlich hatte sie Mattia und die anderen Jungen bemerkt. Sie standen an die Wand gelehnt und betrachteten ihre Umgebung mit finsteren Blicken, während sie darauf lauerten, irgendeinen bedauernswerten Schüler quälen zu können. Doch Bea hatte etwas anderes im Kopf, und das Gehabe der Bande hatte sie nicht weiter beeindruckt.

»Mattia wollte gerade den Mund aufmachen«, erklärte Elena, die nichts gemerkt hatte, »und du hast ihn auf eine Weise angeschaut, dass er sofort verstanden hat – noch eine Bemerkung, und du machst ihn mit einem einzigen Wort nieder. Also hat er so getan, als müsste er husten, und hat sich zurückgehalten. Eins zu null für dich!«

Bea nickte nur, aber sie hörte gar nicht richtig hin. Vielleicht hätte sie ehrlich sein und ihrer besten Freundin alles erzählen sollen. Ihr erklären sollen, was sie so sehr beschäftigte. Während die meisten Schüler und Lehrer der Ansicht waren, Elena sei zwar die Beauty Queen der Schule, aber auch nicht mehr, wusste Bea, dass Elena in Ordnung war. Sie hätte Bea zweifellos beruhigt, und ihr Geheimnis wäre bei Elena bestimmt sicher …

Das Geheimnis. Doch eigentlich wollte Bea nicht darüber reden, denn niemand konnte verstehen, wie wichtig es für sie war. Im Augenblick kam es nur darauf an, sich für ein paar Minuten davonzustehlen, bevor der Unterricht begann. Niemand durfte sie dabei beobachten.

Die Straße ins Landesinnere bog von der Küstenstraße ab und schlängelte sich auf die Hügel zu und an Casa Vulía vorbei. Hier, im »Haus am Olivenhain«, wohnte Paolo. Dahinter verlief die Straße etwa fünfhundert Meter lang steil bergauf, ging in Serpentinen über und führte danach schnurgerade bis Pagliarano.

Während Paolo auf seinem feuerroten Fahrrad das Sträßchen entlangstrampelte, das das Gutshaus des Anwesens mit der Straße verband, dachte er an das, was nun vor ihm lag: erst der steile Anstieg, bei dem die Beinmuskeln vor Anstrengung zittern würden, und danach die gerade Strecke, die sich am besten mit viel Schwung bewältigen ließ, wobei man allerdings auf die Schlaglöcher achten musste.

Er leckte am Zeigefinger und hielt ihn hoch: Heute wehte der Scirocco, der feuchte, warme Wind, der vom Meer herüberkam. Rückenwind! Er würde Paolo auf einem guten Stück der Strecke vor sich herschieben.

Dennoch würde Paolo zu spät kommen, doch das machte ihm nicht viel aus: Er dachte nur an die Radfahrt, an die sengende Sonne und an das ohrenbetäubend laute Zirpen der Zikaden.

Am Ende der Zufahrt legte Paolo eine Vollbremsung hin und wirbelte dicke Wolken aus Staub und Kies auf. Gleich darauf bog er auf die Straße ab und trat mit aller Kraft in die Pedale.

Irgendjemand kam auf ihn zugerast, die steile Straße hinunter, ohne zu bremsen. Jemand auf einem alten Klapprad. Ein dicker Junge, der trotz des Tempos wie wild strampelte. Ein zweiter Junge stand auf dem Gepäckträger und hielt sich mit beiden Händen an den Schultern des Fahrers fest. Das Rad klapperte so laut, als würde es jeden Augenblick auseinanderbrechen.

Es war ein silbergraues Klapprad mit einem Scheinwerfer, der eingeschaltet war und alle zwei Sekunden die Farbe wechselte: von Rot zu Blau und dann zu Gelb. Hinten am Fahrrad war ein Einkaufstrolley befestigt.

Antonio und Laerte, Paolos Freunde.

Er blieb am Straßenrand stehen und sah, wie Antonio mit aller Kraft bremste und zusätzlich die Füße auf den Asphalt stemmte, um die Wirkung der Bremsen zu unterstützen. Der Trolley glitt an dem Fahrrad vorbei und knallte gegen eine halbhohe weiße Mauer. Eines seiner Rädchen brach bei dem Aufprall ab und wurde hoch in die Luft geschleudert, der Schottenkarostoff riss, und die Bücher und Hefte flogen heraus wie befreite Vögel.

»Mist!«, rief Laerte, sprang vom Gepäckträger ab und begann, seine weit herum verstreuten Sachen von der Straße aufzusammeln.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Paolo. »Habt ihr keine Schule?«

»Doch, eigentlich schon. Aber nachdem fest damit zu rechnen ist, dass wir in Geschichte abgefragt werden …«

»Verstehe. Aber vielleicht haben ja auch Mattia Presti und seine Freunde etwas damit zu tun, dass ihr jetzt hier seid.«

Antonio wurde rot wie eine Tomate. »Sie haben vor dem Schultor gelauert …«

»Aber du kannst doch nicht einfach nur deshalb schwänzen, weil die Bande der Bösen am Eingang herumsteht!«

»Na ja, aber so ist es doch viel besser, oder? Sag nicht, dass du gestern gelernt hast und dich gerne abfragen lassen möchtest.«

Nachdenklich knabberte Paolo an seinen Fingernägeln herum. »Ich glaube, du hast recht. Außerdem will ich euch etwas zeigen. Ein Geheimnis von Casa Vulía.«

Laerte, der endlich all seine Schulsachen eingesammelt und in die traurige Ruine des Trolleys zurückgestopft hatte, starrte ihn ungläubig an. »Wir schwänzen, und du willst dich ausgerechnet zu Hause verstecken? Wo dein Papa und dein Großvater herumlaufen?«

»Sie werden uns nicht sehen, sie sind mit ihrer Arbeit beschäftigt, und dort wo wir hingehen, kommen sie niemals hin. Es ist super sicher. Also, kommt ihr mit?«

Seine beiden Freunde nickten.

Jetzt, am frühen Morgen war die Turnhalle ein stiller, ja beinahe unheimlicher Ort. Auf dem braunen Linoleumfußboden lagen Medizinbälle, Gymnastikkeulen und ein alter verschrumpelter Lederfußball herum.

Im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster hereinfiel, wirbelten Staubkörnchen.

Bea atmete tief durch. In einer Minute würde die Schulglocke klingeln, und bald danach würden ein Sportlehrer und eine ganze Klasse durch die Tür kommen. Sie musste sich beeilen – den Staubkörnchen beim Herumwirbeln zuzuschauen brachte sie nicht weiter.

Das, was sie suchte, hing in einer Ecke der Halle: eine Messlatte aus Holz, die dazu diente, die Körpergröße der Schüler zu messen.

Bea ging auf die Ecke zu, doch je näher sie ihr kam, desto langsamer bewegte sie sich. Schon seit der vergangenen Nacht konnte sie nur noch an dieses Ding denken und an die Sorgen, die sie damit verband.

Eigentlich hatte alles recht harmlos angefangen: Nach dem Abendessen hatte Bea in ihrem Zimmer den Laptop eingeschaltet und war auf die Website ihrer Lieblingsserie gegangen: CSI Tiger. In der Serie ging es um eine hoch spezialisierte Polizeieinheit. Ihre Mitglieder nahmen DNS-Proben, analysierten Farbspuren, untersuchten Projektile und fanden unweigerlich den Schuldigen.

Besonders fasziniert war Bea von der weiblichen Hauptfigur, der Kommissarin Dr. Antonella Carli. Bea hatte sie sich zum Vorbild genommen und wollte eines Tages ebenfalls ein Ermittlerteam leiten. Die Aussichten standen gut, sie war immer Klassenbeste. Allerdings hatte ein Polizist in den Fan-Chat der Serie geschrieben, dass man mindestens einen Meter und einundsechzig Zentimeter groß sein musste, um bei der Polizei genommen zu werden. Jedenfalls die Frauen. Männer mussten mindestens einen Meter fünfundsechzig messen.

Bea wusste nicht, wie groß sie war, meinte sich aber zu erinnern, dass sie beim letzten Mal, als sie gemessen wurde, gerade mal einen Meter zweiundfünfzig erreicht hatte. Was sollte sie nur tun? Musste sie auf die Verwirklichung ihres Traums verzichten, nur weil sie zu klein war?

Beruhige dich, sagte sie zu sich selbst und rief sich in Erinnerung, dass sie, bevor sie sich für den Polizeidienst bewerben konnte, erst noch das Gymnasium und ein Studium bewältigen musste. Bis sie mit all dem durch war, würde sie bestimmt noch wachsen. Ganz bestimmt. Oder vielleicht doch nicht?

Zitternd stellte sie sich vor die Messlatte und holte einen kleinen Spiegel aus der Tasche. Sie sah ihr eigenes schmales Gesicht mit der großen, in roten Kunststoff gefassten Brille und dem Zahnspangenlächeln. Über ihrem lockigen strohblonden Haarschopf waren deutlich die Ziffern 1 und 5 und 6 zu erkennen.

Ein Meter sechsundfünfzig. Fünf Zentimeter zu klein, um Polizistin zu werden.

Betrübt ließ sich Bea zu Boden gleiten. Was machte sie sich eigentlich vor? Sie war doch nur die Klassenstreberin und ein hässlicher Zwerg noch dazu.

Sie würde niemals so wie Antonella Carli werden.

Das Wohnhaus des Landguts »Casa Vulía« war von Paolos Urgroßvater auf einem Grundstück erbaut worden, das der Familie seit Generationen gehörte. Von außen gesehen sah der Gebäudekomplex wie ein riesiger Quader aus. Hinter dem langen Säulengang an der Vorderseite sah man die eigentliche Außenmauer des Hofs mit einem großen runden Tor. Als Paolos Vater seine Arbeit in der Fensterfabrik verloren hatte, hatte er beschlossen, das Gutshaus umzubauen, um Feriengäste aufnehmen zu können. An sich eine gute Idee, aber er hatte zu wenig Geld, um den Umbau zu finanzieren, der sich deshalb schon ewig hinzog. Ein Ende war nicht in Sicht.

Paolo fand ohnehin, Casa Vulía sei perfekt, wie es war, und war froh, wenn keine Touristen da waren. Touristen waren seltsame Leute, die im Sommer mit ihren dicken Autos angefahren kamen und sich darüber beklagten, dass Casa Vulía viel zu weit vom Meer entfernt war, dass es zu heiß war und die Zikaden viel zu viel Krach machten.

Nur sehr wenige von ihnen hatten ein Gespür für die Schönheit des Hauses und dessen Umgebung. Am ehesten noch die Kinder in Paolos Alter, die sich bald ihm und seinen Freunden anschlossen. Um Casa Vulía schätzen zu können, musste man zwischen den Olivenbäumen und den Feigenbäumen herumlaufen und den Geruch der Erde wahrnehmen und auch den aromatischen Duft der Kapernsträucher. Und die großen Kakteen bewundern, an deren langen Trieben saftige rote, aber furchtbar stachelige Früchte hingen.

Paolo ging seinen beiden Freunden durch die Olivenplantage voraus und achtete dabei darauf, dass sie vom Gutshaus aus nicht gesehen werden konnten. Er kletterte über ein Mäuerchen und erschreckte die Eidechsen, die sich darauf gesonnt hatten.

»Langsamer!«, flehte Laerte hinter ihm. »Wenn ich schwitze, werde ich krank.«

»Du schwitzt ganz bestimmt, bei den vielen Sachen, die du an­hast«, stellte Antonio trocken fest. »Kannst du dir nicht wenigstens das Wollunterhemd ausziehen?«

»Meine Mutter würde es merken. Sie hat für so etwas einen siebten Sinn.«

Die drei Jungen überquerten eine steinige Brache und erreichten schließlich eine halbkreisförmige Gruppe von Johannisbrotbäumen, hinter deren üppigem Laub die Hirtenhütte hervorschaute. Es handelte sich um ein kleines kegelförmiges Gebäude aus übereinandergeschichteten hellen Steinen mit einem runden, flachen Dach. Die Außentreppe aus Steinplatten führte in einer Spirale hoch zur kleinen Terrasse. Den Eingang bildete ein niedriger Bogen, und links und rechts davon waren Löcher in der Wand, die als Fenster dienten.

Großvater Blasio hatte einmal erzählt, dass die Hirtenhütte mindestens aus der Zeit seines eigenen Ururururururgroßvaters stammte. Zunächst war sie wohl eine menschliche Behausung gewesen, später war sie verlassen worden und diente seither nur noch als Geräteschuppen.

»Was haltet ihr davon?«, fragte Paolo.

»Das ist doch nur eine alte Hirtenhütte«, meinte Laerte ohne jegliches Anzeichen von Begeisterung.

»Aber sie hat eine gute Lage«, stellte Antonio fest. »Gut versteckt zwischen den Bäumen und im Schatten, und wir sind so weit von eurem Haus entfernt, dass man uns nicht hören kann.«

Zufrieden klopfte Paolo seinem Freund auf die Schulter. »Genau das habe ich auch gedacht«, sagte er. »Erinnert ihr euch an unseren Plan, ein Baumhaus zu bauen? Ich habe mit meinem Großvater darüber gesprochen, und er meinte, wir könnten stattdessen diese Hirtenhütte für uns herrichten. Drinnen liegt eine Menge Krempel herum, aber wenn wir alles weggeräumt haben, können wir dort unser Hauptquartier aufschlagen.«

»Fantastisch!«, rief Laerte.

»Super!«, stimmte ihm Antonio zu.

»Kommt rein und schaut sie euch an!«

Der türlose Eingang war so niedrig, dass sich die Jungen beim Eintreten bücken mussten. Innen gab es nur einen einzigen runden Raum, der mit Spaten, Hacken, Rechen, löcherigen Gießkannen und Mörtelsäcken vollgestellt war. Der Fußboden war aus gestampftem Lehm, und unter der Decke hingen dicke Spinnennetze.

»Na ja, viel Platz ist ja nicht …«

»Und dafür jede Menge Staub, bestimmt bekomme ich davon eine Allergie«, sagte Laerte und musste gleich darauf heftig niesen.