Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. - Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn - E-Book

Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. E-Book

Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn

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Beschreibung

Marlene Streeruwitz übernimmt die Rolle ihrer Heldin Nelia Fehn aus ›Nachkommen.‹ und schreibt deren erfrischendes Erstlingswerk. Eigentlich wollte Cornelia sich im Ökoresort ihrer Halbschwester auf Kreta Gedanken machen, wie ihr eigenes Leben nach der Matura nun weitergehen soll. Aber dann wird die Fahrt nach Athen zu ihrem Geliebten Marios eine abenteuerliche Irrfahrt durch eine Welt der Zwangsverhältnisse aus der Krise und den Verlusten daraus. Nelia Fehn will, dass alle wissen, was es heißt, mit den Folgen der nationalen und internationalen Verstrickungen leben zu müssen.

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn

Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland.

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Inhalt

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Alpha

In dem Augenblick hätte es mich nicht gewundert, wenn ich vor Sehnsucht und Verzweiflung in die Luft aufsteigen und fliegen hätte können und so doch nach Athen gekommen wäre. Ich kann mich sehen, wie ich der Fähre nachschaue und wie die Enttäuschung, nun nicht nach Athen zu kommen und deshalb Marios nicht zu sehen, ins Unermessliche steigt. Wenn Gefühle etwas bedeuten würden, dann hätte ich über der Fähre schweben müssen, aber ich stand da und sah zu, wie dieses riesige Schiff davonfuhr.

Ich war in Fassungslosigkeit versteinert und konnte nicht begreifen, dass nun alles nicht so sein sollte, wie wir es uns gedacht hatten. Ich starrte auf die davonsegelnde Fähre, hörte das Tuten. Ich konnte die Leute sehen, die an der Reling lehnten und zurückschauten. Ich hasste Evangelos und hätte ihn morden können. Evangelos war schuld an meinem Unglück. Er war an Bord, und ich stand am Hafen. Ich konnte ihn aber nicht unter den Leuten da sehen, und dann war das Schiff auch schon zu weit weg, jemanden erkennen zu können.

Das Schiff war schon fast am Horizont angelangt, als ich mich erst wieder bewegen konnte. Das war die letzte Fähre des Tages nach Athen gewesen. Es gab keine Flüge mehr. Ich war auf dieser Insel gefangen. Vor dem nächsten Tag gab es keine Möglichkeit, von dieser Insel wegzukommen, und ich würde Marios nicht sehen.

Ich setzte mich auf eine dieser Betonbänke, die entlang der Straße zum Fährenhafen standen. Es war das Ende eines sehr heißen Tages. Alles war staubig, die Oleanderblüten hingen nach dem langen Sommer schon halbvertrocknet und dürr herunter. Auf der Straße fuhren keine Autos, und ich war fast alleine da. Die Geschäfte des Tags waren ja erledigt. Die letzte Fähre nach Athen war ausgelaufen. Ich saß da und schaute auf die Festung gegenüber. Die hochaufragende Fähre verdeckte die Aussicht ja nicht mehr.

Auf der Bank musste ich dann doch weinen. Eigentlich weine ich nicht mehr so viel. Aber ich habe in den schlimmen Zeiten gelernt, dass Weinen eine Art von Sprechen ist. Mein Weinen ist zu einer Art Selbstgespräch geworden, und ich weiß aus meinem Weinen am besten, wie es mir geht. Ich verstehe deshalb nicht, warum das Lachen so akzeptiert sein kann, wenn das Weinen doch viel wichtiger ist. Aber ich habe mich in diesen Sachen unabhängig machen müssen, es hat mich nämlich nie jemand dafür gemocht, dass ich nicht geweint habe und alles unterdrückte. Mit dem Weinen bin ich zwar allen Leuten schrecklich auf die Nerven gegangen, und besonders die Familie meiner Mutter in Kaiserbad fand das übertrieben und neurotisch. Aber so habe ich wenigstens nie aufgehört, mit mir selbst zu reden. Es ist doch die größte Angst, nach so einem Ereignis wie dem Tod der Mutter, dass eine nie wieder sprechen kann. Das können wiederum nur die wissen, die es erlebt haben, und deshalb hat es keinen Sinn, sich nach denen zu richten, die es lieber nicht wissen wollen.

Auf der Betonbank im Hafen von Heraklion war ich aber ganz allein, und es konnte niemanden stören, dass ich weinte. Ich saß da. Der Stoff meiner Bluse blieb an dem rauen Beton der Bank hängen, und ich spürte, wie bei jeder Bewegung ein neuer Faden aus dem Batist am Beton hängenblieb und wie meine Bluse immer hässlicher wurde. Ich blieb sitzen. Es war ja ohnehin alles zu Ende.

Marios war da schon nicht mehr zu erreichen. Wir hätten einander so gegen Mitternacht an der Metrostation Monastiraki treffen sollen. Marios hatte immer Prepaids, und ich hatte seine neue Nummer nicht. Alle in Marios’ Gruppe haben keine Vertragshandys wegen der Überwachung, und vor Demonstrationen waren alle besonders vorsichtig. Marios hatte mich knapp vor der Abfahrt von der Sidi in Churio noch einmal angerufen und mir gesagt, ich müsste einen Baumwollschal für die Demonstration mitbringen. Der Schal müsse aber unbedingt aus Baumwolle sein und dürfe auf keinen Fall eine Kunstfaser enthalten, weil nur die Baumwolle beim Tränengas schützen könne. Die Sidi hat mir dann einen von ihren Batikschals geborgt und so skeptisch geschaut, als wüsste sie, wofür ich den Baumwollschal bräuchte. Die Sidi war ohnehin gegen diese Reise nach Athen. Sie hat aber gewusst, dass ich entschlossen war, dahin zu reisen, und sie hatte ja auch kein Recht, mir etwas zu verbieten. Die Sidi ist nur meine Halbschwester, und ich bin seit fast einem Jahr volljährig, also hätte sie nichts dagegen tun können. Die Sidi hat manchmal das Gefühl, sie muss mir die Mami ersetzen, weil sie ein schlechtes Gewissen hat. Die Sidi war schon zweiunddreißig Jahre alt gewesen, wie die Mami gestorben ist, und sie hat die Mami viel länger gehabt als ich.

Aber Sidis Baumwollschal war im Rucksack geblieben und der Rucksack im Auto von dem Evangelos und das Auto mit dem Evangelos auf der Fähre. Der Rucksack war auf dem Weg nach Athen.

Ich hatte den Schal schnell in den Rucksack oben hineingestopft, weil der Evangelos vor dem Haus draußen schon gehupt hatte, da wir längst abfahren hätten sollen. Der Evangelos musste nach Athen und nahm mich zur Fähre mit. Die Sidi hat ihm noch etwas zugerufen, aber das war auf Griechisch, und ich kann das nicht. Aber es war zu hören, dass er auf mich achtgeben sollte. Der Evangelos ist aus Churio, er ist ein Freund von Sidis Mann Angelos und ein Verwandter von Marios. Und als mir das einfiel, wurde mir schrecklich elend, denn ich stellte mir vor, dass der Evangelos den Marios in Athen treffen würde und ihm sagen könnte, dass er mich geküsst hätte. Dass ich auch nur so eine von diesen geilen Touristinnen sei und der Marios sich in mir getäuscht hätte.

Natürlich war das eine reine Opferreaktion. Es war ja der Evangelos gewesen, der sich im Auto zu mir herübergebeugt hatte und mich küsste. Es ist nicht schön, dass es keine Bezeichnung für einen erzwungenen Kuss gibt. Und dass ich dazu, dass der Evangelos seine Lippen auf meine gepresst und mir seine Zunge in den Mund gezwängt hat, auch Kuss sagen muss, das ist traurig. Das mit dem Kuss, das war knapp vor der Auffahrt auf die Fähre gewesen. Das Auto vom Evangelos war in so einem langsamen Schleichgang auf die Rampe zur Fähre zugefahren, und ich hatte mich nur auf die Ankunft gefreut und dass ich Marios sehen würde, und plötzlich hat sich der Evangelos so über mich geworfen. Er hat sich vom Fahrersitz zu mir herübergewälzt und hat meinen Kopf mit seinem Kopf gegen die Kopfstütze gedrängt und hat mich zu küssen versucht. Ich hatte noch nicht begriffen, was da passierte, da war ich schon aus dem Auto draußen. Ich weiß gar nicht, wie ich das gemacht habe. Ich habe keine Erinnerung an eine Autotür in der Hand oder wie ich beim Aussteigen aus dem langsam rollenden Auto gezwungen bin, ein Stück mitzulaufen. Ich weiß nur mehr, wie mein Kopf gegen die Kopfstütze gezwängt wird und die Zunge von Evangelos sich in meinen Mund bohrt, und dann laufe ich schon vom Auto davon in die andere Richtung, von der Fähre weg. Ich lief die Autoschlange hinter uns entlang und wollte nur weg. Dann hörte ich das Abfahrtssignal und lief ein Stück zurück. Ich wollte zum Büro von den Minoan Lines, dann war das aber sehr weit weg, und ich drehte wieder um. Dann war ich davon besessen, ein Ticket kaufen zu müssen, und lief wieder zum Büro. Da war aber niemand. Ich wollte zur Fähre zurück, und da lief die gerade aus. Es geht ja dann immer sehr schnell mit dem Beladen dieser Fähren. Ich konnte nur mehr zusehen, wie die Klappe hinten hinaufgezogen wurde. Das Wasser brodelte unter dem Schiff, und dann rauschte es davon. Das Schiff war bald auf dem Meer draußen und weit weg, und ich war zurückgeblieben. Nur mein Rucksack war an Bord. Der lag im Kofferraum von Evangelos’ dunkelgrünem Ford Fiesta.

Ich musste dann von der Betonbank zu den Toiletten beim Büro der Minoan Lines zurückgehen. Die Toiletten waren in einem rosaroten Betonhäuschen, und ich überlegte, ob ich da irgendwo bleiben konnte, um am nächsten Tag so schnell wie möglich nach Athen zu kommen. Aber in dem Häuschen war alles sehr eng, und es lag mit der leeren Bürobaracke von allem weit weg da, und ich wusste nicht, was in dieser Gegend in der Nacht ablief. Es gab viele Glassplitter von zerbrochenen Flaschen auf dem Parkplatz, und die Papierkörbe gingen über von zerdrückten Bierdosen.

Ich wusch mir noch das Gesicht und spülte den Mund aus, aber der Geschmack von dem Kuss ging nicht weg. Es war so etwas Scharfes, das gleich wieder zurückkam. Ich musste mir etwas zu trinken besorgen, um diesen Geschmack wegzubekommen. Wodka. Whisky. Gin. Aber weil das Ganze so ungerecht war und mir schon wieder die Tränen über die Wangen liefen, musste ich das Gesicht noch einmal waschen. Während ich mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch trocknete und in den Spiegel schaute, fiel mir ein, wie ich in Churio gehört hatte, dass Evangelos nach Chania ins Puff fährt, und dann ekelte mir noch mehr. Ich hätte ewig in diesem Clohäuschen bleiben können und mir noch lange und immer wieder das Gesicht waschen und den Mund ausspülen, aber dann ekelte mich auch dieser Waschraum an.

Draußen war noch immer diese staubige Hitze und die Sonne noch im Sinken so stark, als wäre Mittag. Ich ging an der Betonbank vorbei und setzte mich auf die nächste.

Es war schrecklich ironisch, dass ich mir den Mund ausspülte, weil mich ein Mann geküsst hatte, der zu Prostituierten ging, und ich nach Athen hätte fahren wollen, um zu einer Demonstration für die Rechte von Prostituierten zu gehen, und ich hasste diesen Evangelos noch mehr.

Die Demonstration war für die HIV-Frauen und gegen die Polizei und den Innenminister. Die Polizei hatte die Frauen festgenommen, weil man behauptete, sie wären HIV-kranke Prostituierte, die aus dem Ausland nach Griechenland gekommen wären. Der Innenminister hatte angenommen, dass alle Prostituierten aus dem Ausland kämen und dass mit ihrer Festnahme der griechische Familienvater vor der Ansteckung mit HIV geschützt werden müsse. Natürlich wäre das Problem kein Problem, wenn der griechische Familienvater nicht zu Prostituierten ginge. Aber es war ja schon aus den Bemerkungen über Evangelos’ Puffbesuche zu sehen, dass man fand, dass das dem griechischen Familienvater zustand. Es schien eine Art Selbstverständlichkeit für den Innenminister zu sein, dass er den griechischen Familienvater vor den Krankheiten dieser Frauen schützen musste, und alle großen Medien hatten da mitgemacht. Es waren dann in Razzien Prostituierte aufgegriffen und verhaftet und gleich der Presse vorgeführt worden. Man ging wohl auch davon aus, dass die Grundrechte dieser Frauen von niemandem und vor allem von den Frauen nicht eingefordert werden könnten, weil sie alle aus dem Ausland kamen. Die Fotos von diesen Frauen waren in allen Medien veröffentlicht worden, obwohl nicht einmal ein Haftbefehl vorgelegen hatte. Alle diese Frauen waren als HIV-krank abgestempelt worden. Dann aber hatte sich herausgestellt, dass nur zwei von den festgenommenen Frauen wirklich mit HIV infiziert waren. Und dann waren diese Frauen auch noch Griechinnen gewesen, und alle anderen Frauen aus Afrika oder Ägypten waren nicht infiziert. Aber das war dann schon nicht mehr zu erfahren gewesen, und die Frauen waren auch nicht aus der Haft entlassen worden. Deshalb sollte für die Anerkennung der Grundrechte dieser Personen demonstriert werden.

Es ginge um die lange Geschichte des Schattenstaats in Griechenland. Marios sagte »the secondary shadow system of state and power« und meinte, dass das der eigentliche Staat sei. Die Polizei und der riesige Apparat des Innenministeriums und das Militär seien als dritte Partei an dem Kampf der Linken und Rechten um Griechenland beteiligt. Die CIA regiere auf diese Weise das Land. Seit dem Zweiten Weltkrieg und seit Großbritannien Griechenland aufgegeben habe, sei Griechenland eine Kolonie der CIA. Von der Militärdiktatur bis zur Unterwanderung seiner Gruppe sei man immer mit Agenten der CIA konfrontiert. Die Faschisten gäben das auch offen zu, und es sei deshalb nicht nur wichtig, für die Grundrechte dieser Frauen zu demonstrieren. Es ging auch darum, diesen Schattenstaat herauszufordern und damit zu entlarven. »To uncover«, sagte er. Marios und ich, wir müssen Englisch miteinander sprechen. Ich kann nur ein paar Sätze auf Griechisch.

Dass ich kein Griechisch kann, das ist eine schlechte Erbschaft von meiner Mami. Meine Mutter war so entsetzt darüber gewesen, dass die Sidonie einen griechischen Macho geheiratet und von da an für diesen Mann alle Arbeiten erledigt hat, dass sie mit der Sprache dieses Mannes nichts zu tun haben hat wollen. Das war auch wirklich so. Die Sidi hat alles gemacht, und der Angelos hat mit den Feriengästen in ihrem Resort für veganes Leben am Strand gesessen und hat praktisch nichts getan. Dann hat er die Sidi auch immer kritisiert und sie vor uns schlecht behandelt und sich lustig gemacht über uns aus Wien. Er hat ihre Art zu kochen nicht gut gefunden und dann so an ihrer Schürze gezupft und gemeint, sie solle etwas Attraktiveres anziehen. Solche Sachen hat er für uns zur Sidi auf Englisch gesagt, damit wir es auch wirklich verstehen können. Die Mami konnte das natürlich nicht aushalten. Wir haben dann bei der Sidi gewohnt, wenn wir sie besucht haben, aber die Mami hat immer den vollen Preis bezahlt, damit der Angelos sich nicht aufregen konnte.

Die Mami hat sich sehr oft die Frage gestellt, was sie falsch gemacht hat. Als Feministin hätte sie sich für ihre Tochter schon eine andere Partnerwahl vorgestellt, und die Sidi hat das gewusst. Aber die Sidi hat dann so fein gelächelt und jede Diskussion abgewehrt. Die Mami hat sich dann noch hilfloser gefühlt und war ziemlich verzweifelt. Es ging ja um das Glück von der Sidi, und sie hat der Sidi Geld zugesteckt, damit sie nicht so total vom Angelos abhängig sein musste. Die Sidi hat das Geld wieder aus der Schürzentasche herausgeholt und auf den Tisch gelegt. Der Angelos hat die Augen verdreht und ist hinausgegangen. Das Geld hat dann er mitgenommen. Das waren sehr komplizierte Situationen, und heute würden wir uns die natürlich herbeiwünschen. Sogar der Angelos ist traurig über den Tod von unserer Mutter und würde lieber wieder Streit mit ihr haben. Die Mami und der Angelos haben auch schon nur Englisch miteinander reden können. Die Sidi spricht natürlich mittlerweile perfekt Griechisch. Ich kenne den Marios aber erst seit zwei Monaten, und ich werde ganz sicher Griechisch lernen. Bis dahin müssen wir aber im Englischen bleiben, und das kann wieder ich viel besser.

Auf jeden Fall wäre die Mami zur Demonstration für die HIV-Frauen mitgekommen, und auf der Bank an der Straße zum Hafen von Heraklion war ich wieder sehr traurig darüber, was ich an ihr verloren habe. Dann fiel mir auch wieder dieser Mann ein. Der Evangelos war alt, und der hatte mit der Mami geflirtet. Wenn die Mami zur Sidi gekommen war, dann hatte sie manchmal der Evangelos vom Flughafen in Chania abgeholt, weil die Sidi damals noch kein Auto hatte und der Angelos sie nicht mit seinem fahren ließ.

Der Evangelos hat solche Sachen gern gemacht, und er ist dafür bezahlt worden. Er ist aber auch mit der Mami herumgefahren und hat sie einmal mitgenommen zu einer Hochzeit in den Bergen oben. Zu Neujahr hat er bei der Mami in Wien angerufen, und dann haben die beiden einander »Happy New Year« zugerufen. Der Evangelos konnte nämlich überhaupt kein Englisch, und die zwei haben immer darüber gelacht, wie sie nicht miteinander reden haben können. Dann ist die Sidi ans Telefon gekommen und hat übersetzt, dass der Evangelos gerade bei ihnen sei und dass er alles Gute wünschen wolle, und die Mami hat alles Gute zurückgewünscht. Der Evangelos war ein Verehrer von meiner Mutter und ein Freund der Familie gewesen. So jemand durfte mich doch nicht einmal küssen wollen, und dass er es versucht hat, das war Verrat.

Aber dann dachte ich mir doch, dass ich vielleicht etwas missverstanden habe. Vielleicht hatte der Evangelos nur einen Scherz machen wollen und saß jetzt lachend über die verschreckte Wienerin an Bord der Fähre. Aber warum konnte ich dann diesen ekligen Geschmack nicht wegbekommen, und warum hatte ich flüchten müssen? Es hatte sich nicht wie ein Scherz angefühlt, ich wurde wütend. Wie kam ich dazu, wegen der Geilheit eines alten Mannes meinen Marios nicht sehen zu können oder ihn sogar zu verlieren. Marios musste sich ja denken, dass ich nicht kommen wolle, wenn ich nicht in dieser Metrostation auftauchte.

Wir wollten einander gegen Mitternacht vor der Metrostation Monastiraki treffen, und Marios hatte mir ganz genau gesagt, welchen Ausgang ich nehmen sollte. Es musste so spät sein, weil die Fähre nicht früher ankam und ich so genug Zeit gehabt hätte, von Piräus mit der Metro da hinzufahren. Wenn die Polizei die Station schließen sollte, dann sollte ich nach Thissio zurückfahren und dort warten. In Athen gibt es immer noch öffentliche Telefone, und Marios wollte mich dann von so einem anrufen, wenn wir einander nicht finden sollten. Marios hatte an alles gedacht gehabt, nur daran nicht, dass ich Athen nicht erreichen könnte. Wir hatten keinen Augenblick daran gedacht, dass so etwas möglich wäre, und ich war schrecklich unglücklich. Ich hatte keine Adresse von Marios und keine Telefonnummer von seiner Familie. Ich wusste viel über seine Familie, aber wir hatten nie daran gedacht, Adressen auszutauschen. Warum hätten wir das tun sollen? Marios hatte die Nummer von meinem iPhone, und er kannte die Sidi und den Angelos. Die Sidi hatte wahrscheinlich eine Adresse von Marios oder von seiner Familie.

Marios war nach Churio gekommen, weil er sich um das Häuschen von seiner Mutter kümmern musste. Dieses Häuschen war im Sommer an Touristen vermietet worden. Es lag mitten im Dorf und war eines von diesen weißgekalkten Bauernhäuschen, wie Touristen sich das vorstellten. Weißgekalkte Wände, winzige Zimmerchen, ein offener Kamin, blaugestrichene Fenster und Türen und ein weißgekalktes, flaches Dach. Vom Dach aus kann man auf das Meer hinausschauen. Es waren schon die Großeltern von Marios von Churio nach Athen gezogen. Evangelos und seine Schwester Antigoni hatten sich für Marios’ Mutter um die Vermietung des Häuschens gekümmert. Wegen der neuen Grundsteuern und weil Marios’ Eltern beide arbeitslos geworden waren, war es um die Abrechnung gegangen. Es hatte Streit zwischen Marios und Evangelos gegeben. Die Antigoni hatte ihren Kopf geschüttelt und nichts gesagt. Die Antigoni macht Honig und Joghurt und verkauft das sowie die Nüsse von ihrem Nussbaum vor ihrem Haus. Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrem himmelblauen Sesselchen und schaut der Welt zu. Die Sidi hat einmal gesagt, dass der Marios das Haus überschrieben bekommen hatte, weil es die Eltern mehr an Steuern gekostet hätte, als der Evangelos mit der Vermietung hereingebracht hatte. Marios hat Soziologie studiert und arbeitet schwarz in einer Bäckerei. Die Miete von diesem Haus hätte er jedenfalls brauchen können. Der Evangelos hat sich aber irrsinnig aufgeregt darüber, dass die Athener sich nur an Kreta zurückerinnerten, wenn sie sich etwas von den Kretern holen könnten. Die Sidi glaubte, dass der Evangelos es mit dem Abliefern vom Geld nicht ganz so genau genommen hat und darüber die Streiterei ausgebrochen sei, aber ich weiß darüber nichts.

Eine der guten Erbschaften von der Mami war die Umhängtasche. Meine Mutter hatte immer Angst vor Taschendieben und Handtaschenräubern gehabt. Deshalb hat sie die Umhängtasche gepredigt, als wäre mit diesem Ding die ewige Seligkeit zu erringen, und dem Georg, meinem Halbbruder, hat sie geraten, seine Brieftasche in der Brusttasche seines Sakkos einzuknöpfen. Der Georg trägt aber erst jetzt Anzüge und hatte gar kein Sakko. Er hat über die Ängstlichkeit von der Mami genauso gelacht wie wir. Aber das hat die Mami nicht gestört. Wir würden schon noch sehen, wie recht sie habe, hat sie dann gesagt, und ich habe ihre Ratschläge ja dann auch befolgt. Deshalb hatte ich meine persönlichen Sachen im Hafen von Heraklion bei mir, weil ich die Umhängtasche meistens gar nicht abnehme und sie so bei meiner Flucht aus dem Auto von Evangelos nicht auch noch zurückgelassen hatte. Ich hatte also meinen Pass bei mir. Mein Führerschein war da. Ein bisschen Geld und mein iPhone und Bankomatkarte und Kreditkarte. Dann war da noch ein Leinentaschentuch, Tampons und ein Labello.

Was sollte ich jetzt tun? Ich war todmüde. Ich war noch mehr erschöpft bei der Vorstellung, die Sidi anzurufen und ihr das alles zu erklären. Was sollte ich auch sagen. Schon wenn ich mir überlegte, wie ich das alles erzählen sollte und sagen, dass dieser alte Kerl mich küssen hatte wollen, konnte ich die Geschichte selber kaum glauben, und ich kam mir lächerlich vor. Du hast überreagiert, sagte eine dieser oppositionellen inneren Stimmen. Die Außenwelt ist ja innen immer stark vertreten und versucht, eine gegen sich selbst zu regieren. Es war schon schlimm genug, sich mit sich selbst herumschlagen zu müssen und die spontanen Reaktionen gegen sich selbst zu verteidigen, wenn aber dann jemand außen auch noch diese Argumente einbrachte, dann war das Selbstwertgefühl gleich ganz verbraucht. Obwohl ich mir vorwerfen musste, überreagiert zu haben, weil es nicht klug gewesen war, einfach davonzurennen.

Heute weiß ich auch, dass alles für viele Menschen anders gekommen wäre, wäre ich sitzen geblieben und hätten den Evangelos ausgelacht. Im Nachhinein erschien es ganz leicht, ihm eine zu knallen und ihn anzuherrschen, seine Hände am Steuer zu lassen. Die eigentliche Erinnerung ist Evangelos’ Kopf und wie er meinen Kopf gegen die Kopfstütze zwingt, und dann kann ich diese Flucht trotz allem nicht bereuen. Es war ja alles in der kürzesten Zeit geschehen, und da konnten mich alle inneren Stimmen kritisieren, wie sie wollten, ich konnte es nicht anders machen.

Auf der zweiten Betonbank da quälten mich die fürchterlichsten Zweifel an mir selber und die Angst und immer wieder auch die Gewissheit, Marios für immer verloren zu haben. Mittlerweile war die Sonne schon tief gesunken. Ich ging noch einmal zu dem Toilettenhäuschen zurück. An der westlichen Seite dieser winzigen Baracke hatte sich ein Paar niedergelassen. Sie saßen auf ihren Schlafsäcken in der Sonne. Ich hatte niemanden an mir vorbeigehen gesehen und fragte mich, woher diese beiden Personen kamen. Ich beeilte mich deshalb und machte mich auf den Weg in das Zentrum.

Ich ging die Straße entlang. Erst gab es keinen Fußweg, und ich musste am Straßenrand auf dem Begrenzungsstreifen dahinbalancieren. Die Stadt ist aber dann gleich da, und die Straßen führten steil hinauf. Ich blieb stehen und schaute in meinem iPhone nach, wo es billige Zimmer geben könnte und wo ich mich gerade befand. Da, wo ich war, da war nichts eingetragen, und ich ging weiter. Es gab unglaublich viele Hotels in der Stadt, aber es war keines zu sehen. Ich war auch in so eine Müdigkeit eingefangen, dass ich lieber dahinwanderte, als eine Entscheidung zu fällen. Ich dachte, es würde mir schon ein Hotel unterkommen. Ich sollte etwas essen, aber auch da konnte ich mich zu nichts entschließen. Auf der Fähre hätte ich mir einen Salat aussuchen können, und ein Glas Wein hätte es gegeben. Es hätte auch sicher Gemüse zu essen gegeben. In Griechenland ist es ja einfach, Vegetarierin zu sein.

Ich ging dahin und schaute mich nach einem Lokal um, in dem ich auch Leute aus Heraklion sehen könnte, aber ich sah nichts. Ich hatte das Gefühl, als würde immer gerade das, was ich mir wünschte, vor meiner Nase weggezogen. Weil ich nach einem Hotel Ausschau gehalten hatte, waren alle Hotels verschwunden, und weil ich mich nach einer Taverne umschaute, war keine Taverne zu sehen. Ich kam an einem italienischen Restaurant vorbei, aber ich war so im Gehen, dass ich nicht stehen bleiben konnte und in das Lokal abbiegen.

Ich schaffte es dann, in einem Kiosk eine Flasche Wasser und ein Coca-Cola zu kaufen. Ich trank das Cola gleich im Gehen aus. Der süßherbe Geschmack und das Prickeln der Kohlensäure halfen kurz gegen die Erinnerung an diese fremde Zunge. Dann konnte ich dieses fremde Stück Fleisch aber wieder fühlen. Ich versuchte mich zu erinnern, wie wir durch Heraklion auf dem Weg zur Fähre gefahren waren und was ich da gesehen hatte. Ich verbesserte mich aber gleich auf die Frage danach, wie Evangelos durch Heraklion gefahren war. Ich wollte mit diesem Mann nicht in einem Wir zu finden sein, und er war ja gefahren, und ich hatte auf nichts achtgegeben, weil ich nur weg von hier gewollt hatte und nach Athen.

Die Sonne war dann untergegangen. Es war aber noch ganz hell und sehr warm. Da brauchte ich wenigstens keine Jacke oder einen Pullover. Das wäre alles im Rucksack gewesen.

Zuerst waren noch Bäume an den Straßenrändern, aber dann kam ich in die verwinkelten Gassen der Altstadt. Touristen saßen an den Tischen vor den Lokalen. Es war nicht so voll wie in der Hauptsaison, aber es war laut, und immer wieder war Musik zu hören.

Ich hielt weiter Ausschau nach einer billigen Pension. Aber die kleinen Hotels, die ich da sah, schienen mir vom Lärm umgeben, und ich wollte Ruhe haben und nichts mehr hören. Ich war auch nicht mehr hungrig. Das Cola hatte ja auch Kalorien, und da fiel mir ein, dass ich das Coca-Cola getrunken hatte, ohne zu wissen, ob das für mich einwandfrei war, und dieser Gedanke machte mich noch mehr müde. Ich wusste, ich hätte das nachschauen sollen, aber ich konnte nur weitergehen, und dann kam ich wieder bergab und auf eine breite Straße. Da stand in himmelblauer Leuchtschrift »Cosmos Hotel«. Das war ein großes 5-Sterne-Hotel und das Gegenteil von dem, was ich mir vorgenommen hatte und was ich mir leisten konnte, aber ich war elend, musste Ruhe haben und ging in das Hotel hinein.