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Scarlett Dyer hat den perfekten Fluchtplan ausgeheckt. Doch in der Nacht vor dem Ausbruch wird ihr von einem Wärter ein Laib Brot übergeben. Statt wie vermutet Gift, findet sie darin den abgetrennten Finger ihres Ehemannes Jacob. Überraschend wird am nächsten Morgen ihre Kaution gestellt und die Vorverhandlung vorverlegt. Ein anonymer Hinweisgeber rät ihr, die Verhandlung auszuharren und auf den nächsten Hinweis zu warten. Offenbar hat es jemand mit viel Macht und Geld geschafft, das Gericht zu bestechen, denn Scarletts Freisprechung erfolgt prompt. Ein weiterer Hinweis führt sie und Chief Inspector Michael Masters, der sie seit der gestellten Kaution nicht aus den Augen lässt und das Ziel verfolgt, sie zurück ins Gefängnis zu bringen, nach Irland. Nicht nur die Suche nach Jacob treibt Scarlett an, sondern auch Neugier, die ihr zum Verhängnis werden könnte. Inmitten der Idylle der grünen Insel bekommen es die beiden mit einem wahnhaften Strippenzieher zu tun, der Scarlett ganz genau zu kennen scheint. Statt Hinweisen nachzugehen, gilt es nun, Aufgaben zu erfüllen – eine verrückter und sadistischer als die andere. Und schon bald muss Scarlett sich nicht nur einem schier unbesiegbaren Gegner stellen, sondern zudem ihrer größten Angst.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Gillian Hobbs
Die Reise
Buchbeschreibung:
Mit leicht geöffnetem Mund ließ Scarlett die rechte Brothälfte fallen. Aus der linken pulte sie einen Finger aus der Krume. Einen menschlichen Finger. Sauber abgetrennt hinter dem zweiten Knochen. Er war aufgedunsen und der Ehering war kurz hinter dem Fingernagel aufgesteckt worden. Scarlett erkannte ihn sofort. Jemand hatte ihr ein Stück von Jacob geschickt.
Scarlett Dyer hat den perfekten Fluchtplan ausgeheckt. Doch in der Nacht vor dem Ausbruch wird ihr von einem Wärter ein Laib Brot übergeben. Statt wie vermutet Gift, findet sie darin den abgetrennten Finger ihres Ehemannes Jacob.
Überraschend wird am nächsten Morgen ihre Kaution gestellt und die Vorverhandlung vorverlegt. Ein anonymer Hinweisgeber rät ihr, die Verhandlung auszuharren und auf den nächsten Hinweis zu warten. Offenbar hat es jemand mit viel Macht und Geld geschafft, das Gericht zu bestechen, denn Scarletts Freispruch erfolgt prompt. Ein weiterer Hinweis führt sie und Chief Inspector Michael Masters, der sie seit der gestellten Kaution nicht aus den Augen lässt und das Ziel verfolgt, sie zurück ins Gefängnis zu bringen, nach Irland. Nicht nur die Suche nach Jacob treibt Scarlett an, sondern auch Neugier, die ihr zum Verhängnis werden könnte. Inmitten der Idylle der Grünen Insel bekommen es die beiden mit einem wahnhaften Strippenzieher zu tun, der Scarlett ganz genau zu kennen scheint. Statt Hinweisen nachzugehen, gilt es nun, Aufgaben zu erfüllen – eine verrückter und sadistischer als die andere. Und schon bald muss Scarlett sich nicht nur einem schier unbesiegbaren Gegner stellen, sondern zudem ihrer größten Angst.
Die Reise ist der fulminante Abschluss der Thriller-Reihe rund um die exzentrische Scarlett Dyer. Schwarzhumorig, rasant und fesselnd.
Über die Autorin:
Gillian Hobbs wurde in Niedersachsen, Deutschland geboren, entdeckte aber schon früh ihre Faszination für regnerische englische Kleinstädte in Küstennähe. Ihre Thriller bestechen durch schwarzhumorige Dialoge und exzentrische Charaktere. Zuvor hat sie bereits unter ihrem Klarnamen mehrere Romane veröffentlicht.
www.nicole-siemer-autorin.de
Gillian Hobbs
Die Reise
Die Scarlett-Dyer-Trilogie 3
Psychothriller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Februar 2025 © Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Ansprechpartner: Thomas Seidl
Lektorat: Simona Turini
https://www.lektorat-turini.de/
Korrektorat: Heidemarie Rabe
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 546104551
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Für Spikey, der mir die Welt bedeutet
Erster Teil
Jacob
Das gleißende Licht der untergehenden Sonne blendete. Sie stand so tief, dass sie sich fast auf Sichthöhe befand. Gleichzeitig schien sich der Boden in eine Art Spiegel verwandelt zu haben, der alles reflektierte und die Helligkeit verdoppelte. Es war der erste wolkenlose Tag seit Wochen und anscheinend fand die Sonne, dies wäre ein guter Anlass, so richtig die Sau rauszulassen.
Jacob Dyer hatte eine Hand an die Stirn gelegt, um das Licht abzuschirmen. Er konnte kaum drei Meter weit sehen. Menschen, die ihm entgegenkamen, wirkten wie lichtschluckende Silhouetten. Die hatten es gut, ihre Augen wurden nicht gegrillt. Bei dem Glück, das er in letzter Zeit hatte, rechnete Jacob damit, sich jeden Moment mitten auf der Straße wiederzufinden und von nahenden Autofahrern angehupt zu werden. Oder überfahren.
Er lächelte matt.
Vor lauter Aufregung hatte er seine Sonnenbrille in der alten Rostlaube vergessen, die er sich von seinem Dad geliehen hatte. Immerhin hatte er ein Auto. Auf den überfüllten Zug, mit dem er vor einigen Tagen nach London gefahren war, konnte Jacob getrost verzichten. Aber der Mietwagen war zu teuer geworden und sein Auto war … nun, kaum mehr als verkohlte Asche. Übertrieben ausgedrückt. Halbwegs übertrieben ausgedrückt.
Jacob seufzte. Er hatte diesen Wagen geliebt. Aber irgendwie hatte Sca seinen Tod ja vortäuschen müssen, nicht wahr?
Nein, eigentlich nicht. Sie hatte es getan, weil sie dachte, es wäre der einzige Weg, ihn zu beschützen. In ihrer verdrehten Welt war es ihr als der beste Ausweg erschienen, um ihn nicht als Kollateralschaden enden zu lassen. Aber Jacob wollte nicht beschützt werden. Er wollte selbst bestimmen, ob er an Scas Seite blieb oder nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er ins Wanken geraten, nun jedoch stand er mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Sca zu verlassen, kam nicht infrage.
Jacob bog in eine schmale Gasse ein und seufzte erneut – dieses Mal vor Erleichterung. Er rieb sich die brennenden Augen, dann tastete er kurz in der Innentasche seiner Regenjacke nach dem Scheck – jap, noch da – und vergrub anschließend die Hände in den Hosentaschen. Nur schnell ein kleiner Abstecher zur Bank, um den Scheck einzulösen, dann konnte er Sca endlich aus dem Gefängnis holen. Wie sie wohl reagieren würde? Ihr Abschiedsbrief war eindeutig gewesen. Ob sie wirklich glaubte, dass sie ihm so wenig bedeutete? Als würde er sie im Knast versauern lassen – pah! Da hatte sie sich aber ge…
Jacob hielt inne. Da war es wieder, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Seit ein paar Wochen war ihm so, als würde ihn jemand verfolgen. Er zog die Augenbrauen zusammen, dann wandte er sich ruckartig um.
Er war allein.
Am anderen Ende der Gasse flutete die Sonne den Gehweg. Menschen stromerten von links und rechts vorbei, niemand bog ein. Und trotzdem …
Paranoia, Jacob?
Jacob lächelte. Jetzt klangen seine Gedanken schon wie Scas Stimme. Als lebte sie in seinem Kopf. Das war sie, bis hin zu dem hämischen Unterton. Er wandte sich wieder nach vorne und schlenderte weiter.
Sca würde Augen machen, wenn er ihr erzählte, dass er sich das Geld für die Kaution von seinem Dad geliehen hatte. Es hatte ihn einiges an Überwindung gekostet. Vor allem Überredungskunst. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Dad Sca noch für einen Engel gehalten. Jacob hatte damals sogar vermutet, Dad würde sie ihm vorziehen. Sie besaß nun einmal diesen Charme, mit dem sie jeden um den Finger wickelte. Aber jetzt, wo er von ihrem Gefängnisaufenthalt wusste, hatte Dad sich erst mal querstellen müssen. Typisch. In seiner Welt durfte es nicht den kleinsten Fleck auf der Weste geben. Nicht einen Krümel. Jacob hatte ihm nicht einmal die ganze Geschichte erzählt, das genügte jedoch schon, um Sca in Dads Augen zum Teufel werden zu lassen.
Aber auch Jacob war charmant und er war es gewohnt zu lügen. Ein bisschen Schönreden hier, ein bisschen einschmeicheln da und schon hatte Dad ihm – widerwillig zwar, aber wen interessierten solche Kleinigkeiten – einen Scheck ausgestellt. Außerdem hatte er ihm etwas Bargeld gegeben, damit er nicht verhungerte. Der alte Mann besaß eben doch ein Herz. Nicht das größte, aber ein Herz war ein Herz.
Sca wird …
Hinter ihm kamen Schritte näher. Schnell.
Ehe Jacob herumfahren konnte, hörte er ein dumpfes Geräusch, dann spürte er einen Schmerz, der von seinem Hinterkopf aus in seinem Schädel explodierte. Er raubte ihm die Sicht. Schwärze raste auf ihn zu, hüllte ihn ein. Jacobs Gedanken schienen gleichzeitig zu wirbeln und auszusetzen. Ein Teil von ihm merkte, dass er zusammensackte, und kurz bevor sein Körper auf den Boden prallte, riss die Dunkelheit ihn mit sich.
Zweiter Teil
Angeklagt
Das Leben hinter Gittern war erstaunlich amüsant. Es war in keiner Weise vergleichbar mit den zehn Jahren Gefangenschaft im Harrison-Hill-Hospital, der Anstalt für die ganz Durchgeknallten. Natürlich hätte niemand vor Ort das Wort ›Gefangenschaft‹ je in den Mund genommen, aber wie sollte man es sonst nennen? Tagein tagaus saß man in diesen weißen Wänden fest und die ganz unartigen Mädchen – Mädchen wie sie – wurden in Isolation gesteckt.
Scarlett Dyer hatte nicht vor, auch ihre Zeit im Gefängnis in Isolationshaft zu verbringen. Bereits am Tag ihrer Ankunft hatte sie sich den Respekt ihrer Mitgefangenen verdient und dazu die Sympathie der meisten Wärter. Sie hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, Leute zu ›überzeugen‹. Von sich. Oder von dem, was diese Leute für sie tun konnten. Feindseligkeit begegnete sie mit übertriebener Freundlichkeit, die ihr Gegenüber entweder irritierte oder ängstigte. Trotz ihrer 1,57 Meter Körpergröße hatte es noch nie ein Mensch gewagt, auf sie hinabzusehen. Und dank ihrer zierlichen Gestalt und dem hüpfenden blonden Haar wie aus einer Shampoowerbung brauchte sie sich bei den meisten Männern nicht einmal sonderlich anzustrengen, um sie für sich zu gewinnen.
Frauen waren da eine härtere Nuss und in diesem Knast gab es mehr als genug davon. Sogar einige Wärter waren Frauen. Nicht viele, aber ein paar. Somit hatte Scarlett ein wenig umdenken müssen. Reines Flirten zog bei ihnen nicht, weder bei den Gefangenen noch bei den Wärterinnen, und da war es egal, welches Geschlecht sie bevorzugten. Frauen hatten von Natur aus einen Instinkt, der Männern fehlte. Sie waren weniger leicht zu verarschen.
Aber Scarlett wusste auch mit Frauen umzugehen. Freundlich sein, dabei bestimmt. Hier und da ein stechender Blick. Lauschen und anpassen. Sie war wie ein Rabe, der eine Maus überzeugte, ihr Essen mit ihm zu teilen, nur um sie danach zu packen und selbst zu verspeisen. Sie passte sich an, zog keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich, wartete ab.
Den Respekt der Mitgefangenen hatte sie sich allein schon dadurch verdient, dass sie sich von den Wärtern nicht einschüchtern ließ. Sie machten ihr keine Angst, stattdessen unterhielt sie sich mit ihnen, als säßen sie bei einem Kaffeekränzchen. Es war ein Leichtes gewesen, sie davon abzubringen, ihr ihren Mantel abzunehmen. Ihr roter Mantel war ihre zweite Haut, ihr Panzer. Scarlett legte ihn nur selten ab.
Ihr lockerer Umgang mit den Sklaventreibern gefiel natürlich nicht allen Mithäftlingen, aber denen ging sie einfach aus dem Weg. Nur einmal hatte eine Frau namens Roberta – stämmig, Kurzhaarfrisur, Anführerin einer Schlägerinnentruppe, die hier gefürchtet war – versucht, einen Streit mit Scarlett anzufangen. Sie war ganz ruhig geblieben, hatte gelächelt und ihre Bewunderung dafür ausgesprochen, wie angesehen Roberta war. Das hatte die Frau dermaßen irritiert, dass sie glatt vergaß, dass sie eigentlich eine Schlägerei hatte anfangen wollen. Tatsächlich war sie sogar ein wenig vor Scarlett zurückgewichen. Sie wusste nicht, was genau an ihrem Verhalten diese Reaktionen hervorrief, aber immer wieder reagierten Leute so auf sie. Manchmal musste sie nicht einmal etwas sagen, nur stumm lächeln und den Blick erwidern.
Die Menschen hatten Angst vor ihr. Auch Roberta. Dabei hätte sie Scarlett unter ihrem billigen Dr.-Martens-Abklatsch von einem Stiefel zerquetschen können. Nach diesem Erlebnis verließ Roberta ihre Gang und schloss sich Scarlett an.
»Nenn mich Scary.«
Nach etwa einer Woche gesellten sich die introvertierte und geheimnisvolle Sadie – dürr, schwarzhaarig – und Scarletts neue Zellengenossin, die extrovertierte Angelica – schlank, prächtiger Vorbau, Blondine –, zu ihnen.
Es dauerte zwei weitere Wochen, bis Scarlett ihnen zutraute, ein Geheimnis für sich zu behalten. Und nachdem es ihr gelungen war, die beiden schmierigen Kerle Marvin und Dave vom Sicherheitspersonal zu umgarnen, hatte sie genügend Leute um sich geschart, um mit dem Planen zu beginnen.
Wenn Scarlett Dyer eines hasste, dann, eingesperrt zu sein. In einem Moment der Schwäche war sie weich geworden und hatte sich gestellt, um die Aufmerksamkeit weg von ihrem törichten Ehemann und stattdessen auf sich zu lenken. Aber mittlerweile dürfte ausreichend Zeit vergangen sein, dass Jacob sich weit genug von ihr entfernt hatte. Zudem hielt man ihn für tot, dafür hatte sie gesorgt. Warum also weiterhin in diesem Knast versauern?
Es war an der Zeit, von hier zu verschwinden.
* * *
Der Schlüssel wurde ins Schloss geführt. Langsam, offenbar darauf bedacht, keinen unnötigen Lärm zu machen. Dennoch hörte Scarlett es, die mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen am Schreibtisch saß. Eine ungewöhnliche Zeit für Besuch, schließlich war längst Bettruhe.
Angelica schnarchte leise im oberen Teil des Etagenbettes. Scarlett hatte die Gelegenheit genutzt, noch einmal im Geiste ihren Fluchtplan durchzugehen. Nach wie vor hatte er gewaltige Lücken. Die imaginäre Tinte war feucht und leicht zu verwischen. In einer Woche wollte sie ihn durchziehen, wenn sie den vollständigen Plan jedoch nicht bald zustande brachte, würde es übel enden. Die nächste Chance würde sich erst wieder in etwa einem Monat ergeben. Bis dahin würde es schwer sein, weiterhin die brave Mustergefangene zu mimen. Die Leute hier gingen ihr gewaltig auf den …
Die Tür ging quietschend auf. Ein Fluch folgte.
Langsam öffnete Scarlett die Augen. Das in Dunkelheit getauchte Zimmer wurde vom Licht des Flures geflutet.
»Yo, Dyer.«
Scarlett lächelte. Ronni. Natürlich. Der alte Sausack, der sich nicht von ihr einlullen ließ, wusste der Teufel wieso. Aus irgendwelchen Gründen gelang es ihm, hinter ihre Fassade zu blicken. Wahrscheinlich war er nicht so dämlich, wie er aussah. Der hochgewachsene Muskelprotz mit Vokuhila, der, wenn er Wache schob, immer die Daumen in den Schlaufen seiner Jeans verhakte, um Eindruck zu schinden. Stets einen dummen Spruch auf Lager. Er hielt sich für supercool. Zu niedlich.
»Ich sagte doch schon, nenn mich Scary.«
Ronni erwiderte das Lächeln, aber es war ebenso kalt wie ihres. »Jaja, du mich auch, Dyer. Und ich sagte dir bereits, du kannst dir dein Gesülze sonst wo hinschmieren. Mich wickelst du nicht ein.«
»Aber Ronni«, sagte Scarlett in ihrem freundlichsten Tonfall. »Ich möchte doch nur, dass du mich magst. Alle hier mögen mich, warum du nicht?«
»Lass die Psychospielchen, Bitch.« Er musste sich sichtlich zügeln, um nicht loszuschreien. Die Ader an seiner Stirn trat hervor. »Weißt du, was ich mir wünsche?«
»Was?« Sanft. Lieblich.
»Dass du den Mumm hast, ehrlich zu sein. Du weißt, dass deine Ich-bin-so-nett-habt-mich-lieb-Tour bei mir nicht zieht. Ich weiß genau, dass du eine hinterhältige Schlange bist. Und du weißt, dass ich es weiß. Also los, Dyer. Sei einmal du. Wir sind ungestört.« Er deutete mit dem Kinn auf Angelica, die reglos in ihrem Bett lag und weiterhin leise schnarchte.
Hm, er ist wohl wirklich nicht so dämlich, wie ich immer dachte.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Dann wandte Scarlett sich ihm vollständig zu, verschränkte die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. »Ronni, Ronni, Ronni«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge. »Warum eigentlich nicht?« Es war klar zu erkennen, dass Roni einen Augenblick lang von ihrer Veränderung überrascht war. Ihre helle Stimme mit dem Glasgower Akzent, in der sonst stets ein liebevoller Klang mitschwang, war nun deutlich tiefer. Sie sprach trocken, aber mit gehässigem Unterton. Der Akzent war verschwunden. »Bin wohl nicht dein Typ, was? Woran liegt es? Bin ich zu zierlich? Zu weiblich?« Das letzte Wort betonte sie und klapperte mit den Augenlidern. »Oder hast du einfach nur ein Problem damit, wenn Frauen nicht nach deiner Pfeife tanzen? Vielleicht bin ich dir auch zu clever. Manche Männer bevorzugen eher den devoten Dummes-Blondchen-Typ, nicht wahr, Schatz?«
»Ich kann es nur nicht ab, wenn man Spielchen mit mir spielt.«
Scarlett zuckte die Achseln. »Ich spiele für mein Leben gern und nichts macht mehr Spaß, als meine Fäden auszuwerfen und Menschen zu Marionetten zu machen. Du solltest das mal ausprobieren, Ronni. Das ist außerordentlich erfüllend.« Scarlett kicherte. »Was für ein Spaß! Weißt du, was das ist, ›Spaß‹? Solltest du auch mal versuchen.«
Ronni sah aus, als wollte er ihr eine Ohrfeige verpassen. Er spitzte kurz die Lippen wie zu einer Erwiderung, presste sie dann aber fest zusammen.
Scarletts Mundwinkel zuckten. »Weißt du was? Ich glaube, du wünschst dir gerade, ich wäre wieder die nette, brave Scary, die immer schön ›ja‹ und ›Amen‹ sagt, stimmt’s? Ich sehe es dir an.« Sie deutete an, Ronni auf die Nasenspitze zu stupsen. »Ich kann es dir an der Nasenspitze ablesen. Du kannst ja richtig niedlich sein. Purer Zucker.«
Er ignorierte sie. »Ich hab hier was für dich.«
Das machte sie tatsächlich neugierig. »So?«
Ronni hob die Hand. Dass er ein Päckchen hielt, war Scarlett vorher nicht aufgefallen, da er den einen Arm hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, statt die Daumen wie sonst in den Schlaufen seiner Jeans zu verhaken. Seine klobigen Finger schienen das Paket regelrecht zu fressen. Er warf es ihr im kurzen Bogen zu – offenbar ohne vorher den Verstand anzuschalten – denn als der Karton mit lautem Widerhall auf dem Boden aufschlug, fluchte Ronni erneut, kniff die Augen zusammen und zog die Schultern hoch.
Nein, eindeutig dämlich.
Ronni war wohl doch eher einer von der intuitiven Sorte, statt mit dem Hirn zu arbeiten. Trotzdem tat es gut, sich nicht länger verstellen zu müssen.
Angelica drehte sich auf die andere Seite, stieß ein Seufzen aus und schnarchte dann weiter.
Von draußen war unverständliches Murren zu hören.
Scarlett betrachtete das Päckchen ungerührt. »Was ist das?«
»Post für dich.«
Sie blickte auf. »Hast du darin einen Kackhaufen versteckt?«
»Hä?« Er blinzelte überrascht.
»Du willst mir doch nicht erzählen, dass da wirklich was drin ist? Also, was anderes als eine unangenehme Überraschung, die du mir hinterlassen hast.«
»Ich kann dir versichern, Dyer, das Päckchen ist nicht von mir.« Er zögerte. »Man bat mich lediglich, es dir zu geben.«
»Mitten in der Nacht? Unbemerkt von den restlichen Keulenschwingern hier?« Langsam ließ sie eine Augenbraue nach oben wandern. Erneut stieg Neugier in ihr auf, das ärgerte sie. Sie würde sich nicht die Blöße geben, Ronni das wissen zu lassen.
Er erwiderte nichts.
»Was ist es?« Sie sah auf, breit grinsend wie ein Kind am Weihnachtsabend. »Eine Bombe?«
»Mach es auf oder lass es bleiben. Ich weiß nicht, was drin ist, Dyer, ich bin nur der Bote.«
»Hast Geld dafür bekommen, was?«
»Stimmt. Und sollte eine Bombe drin sein, bin ich derjenige, der auf deiner Leiche tanzt.«
»Im Falle einer Explosion kannst du froh sein, wenn der Bombentrupp unsere Überreste anschließend noch auseinanderhalten kann, Schatz«, antwortete Scarlett im belehrenden Ton.
Ronni überlegte kurz, dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab.
»Willst du wirklich nicht wissen, was drin ist?«
»Eine der Bedingungen war, dich das Päckchen alleine öffnen zu lassen.«
»Bedingungen?« Scarlett biss sich auf die Lippen. In ihrer Stimme schwang ein aufgeregter Tonfall mit. »Wer hat es dir gegeben?« Sie bemühte sich, wieder emotionslos zu klingen; es gelang ihr nur teilweise.
»Keine Ahnung«, sagte Ronni und schloss die Tür hinter sich.
Die Dunkelheit verschlang das Zimmer wieder und damit auch das Päckchen. Sie würde warten müssen, bis die Sonne aufging. Eine verdammte Folter war das. Konzentriert starrte Scarlett auf die Stelle, wo die Box lag. Langsam konnte sie die Konturen erkennen. Die Neugier machte sie unruhig. Ihr überschlagenes Bein wippte in schnellem Takt. Sie könnte es wagen, das Paket sofort aufzureißen und den Inhalt zu ertasten. Aber was, wenn er tatsächlich gefährlich war?
Nein, es wäre besser zu warten.
»Freund oder Feind?«, flüsterte sie. »Von wem wurdest du geschickt?«
Na, seien wir ehrlich, fügte sie in Gedanken dazu, ich habe keine Freunde. Wahrscheinlich ist es das Beste, das Ding unters Bett zu kicken und nie mehr anzurühren.
Aber Scarlett wusste bereits, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde. Und sobald auch nur der winzigste Strahl Tageslicht durchs Fenster hereinkam, würde sie das Päckchen aufreißen.
* * *
Der Himmel färbte sich langsam rot. Scarlett – wie erwartet hatte sie nicht eine Sekunde lang Schlaf finden können, sondern ununterbrochen an die Decke gestarrt – setzte sich ruckartig auf. Die Bettdecke rutschte von ihrem Körper. Es war noch immer düster, aber hell genug, um mehr als nur Konturen zu erkennen.
Da lag es, das Päckchen. Unberührt. Der Inhalt vor der Welt verborgen. Wahrscheinlich befand sich etwas Essbares darin, etwas, in das jemand Gift gemischt hatte. Oder irgendwer hatte sich einen Spaß erlaubt und ihr eine tote Ratte als Geschenk gebracht.
Womöglich hatte Jacob es geschickt.
Schwachsinn. Sie hatte ihm klargemacht, dass sie nun getrennte Wege gingen, und er würde ihr sicherlich nicht mitten in der Nacht heimlich Post zuschustern.
Langsam erhob Scarlett sich, nahm das Päckchen und ließ sich zurück auf die Matratze sinken. In ihren Fingern kribbelte es. Und doch war da eine leise Stimme in ihr. Eine Stimme, die sich verdächtig nach Jacob anhörte. Sie klang ruhig und vernünftig, so ganz anders als ihre eigene. Die Stimme sagte ihr, sie solle ihrer Neugier lieber nicht nachgeben.
Scarlett entfuhr ein tiefer Seufzer.
Dann öffnete sie die Box.
Es kostete sie einige Mühe, die Klappen ganz ohne Werkzeug aufzureißen. Noch dazu möglichst leise, um Angelica nicht zu wecken. Immer wieder hielt sie inne und lauschte. Die Frau schlief wie ein Stein. Als Scarlett fertig war, lagen mehrere Kartonfetzen zu ihren Füßen.
Mit erhobener Augenbraue betrachtete sie den Inhalt.
Ein Laib Brot. Weißbrot, um genau zu sein. Es sah selbst gebacken aus. Zu unförmig für ein gekauftes aus dem Supermarkt. Sogar für eines vom Bäcker.
Es ist vergiftet, kam Scarlett sofort wieder in den Sinn. Aber wer auch immer ihr Brot geschickt hatte, konnte doch nicht so dumm sein, zu glauben, dass sie es einfach so zum Frühstück verspeiste. Oder? War es vielleicht wirklich nur das, wonach es aussah? Ein Laib Brot?
Vorsichtig, als könnte sich darunter eine Bärenfalle befinden, hob sie das Gebäck an. Keine Notiz, der Karton war leer. Scarlett betrachtete das Brot in ihren Händen, drehte es nach links und rechts, auf den Kopf und wieder zurück. Nichts.
Vielleicht im Inneren.
Sie umfasste es an den Enden, streckte die Daumen und brach das Brot in der Mitte durch.
»Was zur …?« Mit leicht geöffnetem Mund ließ Scarlett die rechte Brothälfte fallen. Aus der linken pulte sie einen Finger aus der Krume. Einen menschlichen Finger. Sauber abgetrennt unter dem zweiten Knochen. Er war aufgedunsen und der Ehering war kurz hinter dem Fingernagel aufgesteckt worden. Scarlett erkannte ihn sofort.
Jacob hatte ihr tatsächlich etwas geschickt. Oder eher: Jemand hatte ihr ein Stück von Jacob geschickt.
Sie zog den Ring ab und warf den Finger mitsamt Brothälfte in die Reste des Päckchens. Dann schloss sie die Faust um das Schmuckstück und drückte so fest zu, dass es schmerzte. Hasserfüllt ließ sie den Blick zur Tür gleiten.
»Woah«, erklang eine Stimme über ihr.
Scarlett sah hoch. Angelica hatte sich über die Bettkante gelehnt und starrte den Finger mit großen Augen an.
»Ist das das, was ich denke? Ist der echt?«
»Mach dich bereit«, sagte Scarlett, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Wir machen es heute.«
»Du meinst …?«
»Sag den anderen Bescheid. Wir besprechen alles heute Mittag.«
»Geht klar!«
Scarlett würde keine Woche mehr warten. Es war Zeit, von hier zu verschwinden. Koste es, was es wolle.
»Heute?«, fragte Sadie mit gesenkter Stimme und kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Aber ich konnte mich noch nicht richtig mit den Sicherheitssystemen befassen.«
»Ich weiß«, flüsterte Scarlett. »Beug dich nicht so rüber, sonst schöpft Ronni Verdacht. Der Mistkerl gafft schon wieder.«
Sadie tat wie ihr geheißen und lehnte sich zurück. »Marvin und Dave können mich nicht so oft zu sich holen, sonst fliegen wir auf.«
»Jaja, das weiß ich auch, okay? Ich sag doch, der Plan ist nicht ganz ausgereift.«
»Warum warten wir dann nicht noch?«
»Weil ich es sage.«
Sadie saß Scarlett gegenüber, rechts von ihr Roberta, links – und damit am Ende des langen Tisches – Angelica. Die beiden aßen schweigend ihre Linsensuppe, verfolgten das Gespräch aber aufmerksam.
Es war schwierig, in dem großen Gemeinschaftssaal eine private Unterhaltung zu führen. Die Lautstärke all der Frauen, die mit ihren Tellern klapperten und sich angeregt unterhielten, nervte. Noch dazu gab es die Wärter, die in den Ecken herumstanden und alles genau beobachteten. Und doch war die gemeinsame Zeit im Speisesaal die perfekte Gelegenheit zum Pläneschmieden. Hier schöpften die Sklaventreiber am wenigsten Verdacht, jemand könne einen Ausbruchplan aushecken. Zu viele Ohren, zu viele Augen. Dennoch war Scarlett vorsichtig.
Dass Roberta rechts von ihr saß, war Absicht. Die stämmige Frau versperrte Ronni weitestgehend die Sicht auf Scarlett. Angelica zog dafür pausenlos die Blicke der Männer und Lesben auf sich. Oft wurde sie sogar von Frauen angegafft, die angeblich hetero waren. Sie war das perfekte Ablenkungsmanöver, während Scarlett unauffällig in der Mitte hockte und alles erklärte.
Sadie war schwerer einzuordnen, deswegen saß sie ihnen gegenüber. Sie war eine graue Maus – weder attraktiv noch hässlich. Über sie wurde viel getuschelt, daher zählte sie für Scarlett zur Gaffer-Kategorie wie Angelica, nur ohne das aufreizende Aussehen. Niemand wusste, wieso sie in diesem Gefängnis versauerte. Es gab Gerüchte und wilde Theorien. Angefangen von einem Komplott mit Aliens, um die Menschheit zu unterwerfen – ja, es gab tatsächlich Leute, die das glaubten – bis hin zur Vermutung, sie wäre eine zweite Adolf Hitler, die eingesperrt wurde, bevor sie einen Massenmord hatte beginnen können. Die weniger verrückten Theorien beliefen sich auf Misshandlung von Kindern, das Totprügeln ihres Ehemannes und Cybermobbing mit Todesfolge.
Scarlett glaubte nichts davon, wobei Cybermobbing noch am ehesten infrage kam, denn Sadie war wahnsinnig intelligent und hatte mehr Ahnung von Computern und Technologie im Allgemeinen als alle Anwesenden im Gemeinschaftssaal zusammen. Scarlett hatte sie einfach mit ins Team holen müssen, wenngleich sie anfangs wegen Sadies hoher Intelligenz und der brodelnden Gerüchteküche skeptisch gewesen war.
Angelica und Roberta waren leichter zu durchschauen. Roberta prahlte regelmäßig damit, wie sie ihren Macker zu Brei geschlagen hatte. Sie hatte über die Jahre mehrere Anzeigen wegen häuslicher Gewalt gesammelt und eines Abends, an ihrem 46. Geburtstag, hatte sie einfach zu lange und zu fest auf ihren Freund eingeprügelt. Sie hatte wenig in der Birne. Ihre Flucht dauerte gerade einmal zehn Minuten, dann war sie gefasst und eingesperrt worden. Sie machte gerne einen auf gefährliche Braut, mit der man sich besser nicht anlegte. Sie war stark. Sie war cool. Aber letztlich, wenn man bereit war, genau hinzusehen, war ihre Fassade leicht zu durchschauen. Roberta konnte angeben, wie sie wollte, die Narben an ihren Armen zeigten, dass nicht immer sie diejenige gewesen war, von der die Gewalt ausging.
Angelica, die heiße Blondine, war weder schlau noch debil. Ein typisches Opfer, das von zu häufiger Misshandlung einen Knacks weghatte. Sie hielt sich für ein Model, war allerdings eine Prostituierte, die regelmäßig von ihren Freiern geschlagen worden war. Irgendwann hatte sie rotgesehen und ihren Zuhälter erstochen. Über sechzigmal hatte sie angeblich auf ihn eingestochen, obwohl sie sich nicht daran erinnerte. Nach ihrer Aussage war es ihr so vorgekommen, als hätte sie sich selbst dabei zugesehen, wie sie auf den Mann losgegangen war. Für sie waren es nicht mehr als zehn Stiche gewesen. Tja, so konnte der eigene Verstand einen täuschen. Als sie Scarlett nach ihrer dritten gemeinsamen Nacht in der Zelle aus heiterem Himmel die Geschichte erzählt hatte, hatte sie Angelica voller Respekt zugenickt.
»Du hast echt Schneid«, hatte sie gesagt und entschieden, die Blondine nicht nur wegen ihres Äußeren für den Fluchtplan in Betracht zu ziehen. Letztlich war es ihr zu verdanken, dass Marvin und Dave Sadie in den Sicherheitsraum geschmuggelt hatten. Angelica hatte den beiden zum Dank je einen Blowjob angeboten. Ob sie den Gefallen jemals einlösen würde, stand noch im Raum.
Und jetzt saßen sie hier. Vier Frauen, die in der Vergangenheit Schreckliches erlebt und sich zusammengetan hatten. Vier Überlebende. Vier Opfer. Ein Teil von Scarlett hätte kein Problem damit, als Gruppe aus dem Gefängnis zu fliehen. War es nicht das, was sie für gewöhnlich tat? Den Opfern Gerechtigkeit verschaffen, die Täter hinrichten lassen? Aber ganz realistisch gesehen, gab es keine Möglichkeit, das durchzuziehen. Je mehr Menschen aus diesem Drecksloch geschleust werden mussten, desto höher war das Risiko, erwischt zu werden. Ablenkung war das A und O. Für Chaos sorgen. Jemanden nur den Alarmknopf drücken lassen, würde nicht ausreichen, denn die Schuldige würde sofort geschnappt und zu Boden gedrückt werden. Da blieb keine Zeit, sich aus dem Staub zu machen.
Nein, die drei mussten genau das tun: für Chaos sorgen. Und Scarlett? Die würde derweil unbehelligt in die Freiheit spazieren. Auch wenn es ihr keine Genugtuung bereitete, sie musste ihre kleine Clique verraten. Innerlich zuckte sie die Achseln. So war das Leben. Es forderte … Opfer.
»Wir machen es wie besprochen«, ergriff sie nun wieder das Wort, während sie es Roberta und Angelica gleichtat, kleine Happen Linsensuppe zu essen. Sie deutete Sadie an, das auch zu tun, um unauffällig zu bleiben. Die gehorchte. »Angelica, du gehst zu Ronni und lenkst ihn ab. Der Typ lässt mich einfach nie aus den Augen. Aber er steht auf dich. Leg dich ins Zeug, verpass ihm einen Steifen, der ihm in der zu engen Hose mächtig Qualen bereitet. Sadie, du schleichst zu Dave und Marvin und sorgst dafür, dass erst der Alarm losgeht, um für Trubel zu sorgen, und danach die Verriegelung fürs Schleusentor aufgehoben wird, sodass wir unbemerkt in die Freiheit huschen können. Marvin wartet zur vereinbarten Zeit vor dem Gemeinschaftsraum und schleust dich durch. Die anderen Aufseher werden damit beschäftigt sein, den Grund für den Alarm aufzuspüren. Da kommst du ins Spiel, Roberta.«
Roberta kicherte. »Ich weiß schon, ich stehe neben dem Notfallknopf da hinten und tu so, als wäre ich es gewesen, die den Alarm ausgelöst hat. Schon wieder – hehe.«
»Genau«, sagte Scarlett. »Es wird ein Weilchen dauern, bis sie begreifen, dass du es nicht warst. Während du dir deinen Weg durch die Wärter prügelst, warten wir alle am Ausgang auf dich und hauen dann gemeinsam ab.« Scarlett presste die Lippen aufeinander. Die drei konnten unmöglich so dumm sein, ihr diesen Schritt des Plans abzukaufen. Zumindest nicht Sadie. Aber zu ihrer Überraschung klatschte Roberta freudig in die Hände und Angelica ließ triumphierend ihren Löffel gegen den Teller prallen. Sie lachten, wurden jedoch schnell wieder ernst, um nicht weiter aufzufallen.
Scarlett musterte Sadie, die ruhig ihre Suppe aß. Ihr Blick war unergründlich, aber ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Hatte sie ihr das etwa abgekauft? Sie räusperte sich. »Die Letzten holen sich gerade ihren Fraß. Wir warten bis kurz vor Ende der Essenszeit, dann ziehen wir es durch.« Scarlett warf einen Blick auf die Uhr. »In 40 Minuten bricht das Chaos aus.«
Die drei Frauen nickten.
Sadie, die gerade ihren Teller geleert hatte, sah Scarlett nun direkt an. »Ich hätte gerne eine zweite Portion. Aber ich trau mich nicht allein, magst du mitkommen, Scary?«
Scarlett hob eine Augenbraue. »Mein Teller ist noch fast voll.«
»Kein Problem!«, sagte Roberta, zog die Suppe zu sich und löffelte sie innerhalb von Sekunden auf. »Hier. Jetzt könnt ihr losgehen.« Sie klopfte sich auf den Bauch. »Ich bin erst mal pappsatt.« Ein Rülpser. »Wenn du die zweite Portion nicht willst, krieg ich die aber bestimmt auch noch unter.«
Scarlett starrte sie überrascht an, dann schüttelte sie grinsend den Kopf, nahm ihren Teller und erhob sich. »Also gut«, sagte sie zu Sadie, die nun ebenfalls aufstand. Das gefiel ihr nicht. Sadie holte sich nie eine zweite Portion.
Scarlett ging an Angelica vorbei, umrundete den schmalen Tisch und lief nun neben Sadie her. Jetzt kommt es. Jetzt hält sie mir vor, dass ich sie verraten werde.
Sadie blieb mitten im Saal stehen, Scarlett tat das Gleiche. Sie öffnete den Mund, um ihr zu versichern, dass sie alle einen Weg hier raus finden würden. Dass sie persönlich dafür sorgen würde. Ihr Gegenüber kam ihr zuvor. »Weißt du, warum ich hier bin?«
Vor Überraschung klappte Scarlett die Kinnlade runter, sie fasste sich aber sofort. »Ähm, nein.«
»Ich habe es niemandem erzählt. Aber ich weiß, dass über mich geredet wird. Willst du es wissen, Scary?«
Zögernd. »Sicher.«
»Brandstiftung.«
»Wie bitte?«
Sadie kicherte. »Ganz schön langweilig, hm? Ich hatte einen gewalttätigen Freund, der mich regelmäßig geschlagen hat. Mich und meine kleine Tochter.«
»Deine Tochter?« Sadie war ihr nie wie eine Mutter vorgekommen.
»Mhm. Sie lebt schon seit einer Weile bei meinen Eltern. Sie haben das Sorgerecht bekommen, weil ich überfordert war und weil sie wussten, dass Frank … na ja, sie wissen, wie Frank sein konnte. Nicht das ganze Ausmaß, aber einige blaue Flecken haben wir nicht verstecken können. An einem Abend war es besonders schlimm. Ich dachte, er will mich umbringen. Da habe ich das Haus angezündet, während er im Suff auf dem Klo eingeschlafen war. Er ist verbrannt. Ich hab nicht geleugnet, dass ich es war. Ich war einfach nur froh, von ihm wegzukommen. Hier geht es mir besser.«
»Wow, Sadie. Tut mir echt leid.«
»Du willst alleine fliehen, oder?«
Der plötzliche Themenwechsel traf Scarlett wie ein Schlag ins Gesicht.
Statt eine Antwort abzuwarten, lächelte Sadie. »Ich hoffe, du schaffst es.«
»Was?«
»Du benutzt uns. Wir machen die Arbeit und sorgen für Aufsehen mit einem vollkommen übertriebenen Fluchtplan, während du heimlich verschwindest.« Sie klopfte sich an die Schläfe und grinste schief. »Bin nicht so dumm, wie ich aussehe.«
Scarlett wollte etwas erwidern, doch Sadie war schneller.
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Die anderen werden sauer sein, wenn sie erst einmal dahinterkommen, aber ich nicht. Es hat mir Spaß gemacht. Das Brainstormen, der Austausch mit den Jungs, das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich Freude an etwas. Hoffnung, hier rauszukommen, hatte ich eh nie, also hab ich mich mit meiner Situation abgefunden. Außerdem, was erwartet mich draußen schon? Meine Tochter weiß wahrscheinlich gar nicht mehr, dass ich existiere, meine Eltern halten mich für eine Mörderin, Freunde hab ich keine. Wie gesagt: Hier geht es mir besser.«
Scarlett wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Du erinnerst mich immer an einen Vogel. Du gehörst nach draußen, nicht hierher. Ich gebe mein Bestes, um die Sicherheitssysteme zu manipulieren.«
Scarlett war zu perplex, um etwas zu erwidern. Alles, was sie zustande brachte, war ein leises »D-danke?«, das mehr wie eine Frage, weniger wie eine Aussage klang.
»Den anderen verrate ich nichts. Keine Sorge.«
»Ey, ihr da!« Ronni. »Zurück auf eure Plätze, aber dalli. Das hier ist kein Kaffeekränzchen, klar?«
»Ich habe eh keinen Hunger mehr«, sagte Sadie zu Scarlett. »Komm, gehen wir zurück und warten ab, bis wir loslegen können.« Sie wandte sich um und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Platz.
Scarlett starrte ihr eine Weile ungläubig hinterher, bis Ronni ein Pfeifen ausstieß und sie erneut mit einem wütenden »Dyer!« ermahnte. Sie lächelte ihm zu, dann kehrte auch sie auf ihren Platz zurück.
* * *
Die 40 Minuten vergingen wie im Flug. Die Frauen zerstreuten sich, um auf Position zu gehen. Roberta schlenderte zum hintersten Ende der Schlange und damit in die Nähe des Notfallknopfes. Scarlett, Sadie und Angelica reihten sich irgendwo ein, um vorzugeben, in ihre Zellen zurückzukehren.
Als sich die Frauen langsam in Bewegung setzten, hallte ein Ruf durch den Saal. »Yo, Dyer!«
Scarlett fuhr zusammen. Man hatte sie erwischt. Nein, nicht ›man‹, ausgerechnet Ronni. Ihr Plan war gescheitert, noch bevor er wirklich begonnen hatte. Er musste sie beobachtet und möglicherweise von ihren Lippen abgelesen haben. Oder irgendeine Mitinsassin hatte gelauscht und ihm alles erzählt. Scheiße, sie hätten sich doch einen ruhigeren Ort suchen sollen! Wut kochte in ihr hoch. Statt sich zu Ronni umzudrehen, ließ sie den Blick schweifen und beäugte nach und nach ihre vermeintlichen Verbündeten.
Sadie betrachtete verschämt den Boden. Hatte sie sie verraten? Sie kam definitiv infrage nach ihrer seltsamen Unterhaltung. Aber hatte sie Gelegenheit dazu gehabt? Und außerdem: Würde sie das wagen? Sadie, die sich nicht einmal traute, ihre tanzwütige Zimmergenossin um Ruhe zu bitten?
Roberta wirkte nervös, sie spielte an ihren kurz gebissenen Fingernägeln herum und auf ihrer Stirn stand eine glänzende Schweißschicht. Ja, Roberta hatte den Mumm, den Plan auffliegen zu lassen. Allerdings war ihr Wunsch zu fliehen ebenso stark wie der von Scarlett. Hatte sie zumindest gedacht.
Und Angelica, die eine Hand auf der Brust vom schmierigen Ed, einem Wärter, der das Wort Dusche wahrscheinlich nicht einmal kannte, liegen hatte – was zur Hölle trieb sie da? Ronni war ihr Ziel! –, blickte ertappt drein. Angelica dachte nur an sich selbst. Sie wäre ebenfalls fähig zum Verrat. Es war riskant gewesen, sie einzuweihen. Mussten sie alle jetzt den Preis dafür zahlen?
Aber genauso gut könnten Marvin und Dave …
»Dyer!
