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Die Rose des Herzogs E-Book

Marita Spang

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Beschreibung

Der große historische Roman über eine kaum bekannte Frau zur Zeit der Französischen Revolution und über eine große Liebe Charlotte de Rohan-Rochefort ist wenig begeistert, als der vier Jahre jüngere Louis Antoine, Herzog von Enghien, 1792 um sie zu werben beginnt. Zu frisch ist Charlottes Trauer um ihren Verlobten, der den Septembermassakern in Paris zum Opfer gefallen ist. Doch Louis bleibt hartnäckig, und was als platonische Freundschaft beginnt, entwickelt sich schließlich zu einer tiefen gegenseitigen Liebe – die politischem Kalkül ebenso trotzt wie den häufigen kriegsbedingten Trennungen. Bis die Royalisten Louis zum Thronprätendenten ernennen wollen und er damit zur Bedrohung für Napoleon Bonaparte wird...

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Seitenzahl: 850

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Marita Spang

Die Rose des Herzogs

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der große historische Roman von Marita Spang über eine kaum bekannte Frau zur Zeit der Französischen Revolution und über eine große Liebe

Charlotte de Rohan-Rochefort ist wenig begeistert, als der vier Jahre jüngere Louis Antoine, Herzog von Enghien, 1792 um sie zu werben beginnt. Zu frisch ist Charlottes Trauer um ihren Verlobten, der den September-Massakern in Paris zum Opfer gefallen ist. Doch Louis bleibt hartnäckig, und was als platonische Freundschaft beginnt, entwickelt sich schließlich zu einer tiefen gegenseitigen Liebe – die politischem Kalkül ebenso trotzt wie den häufigen kriegsbedingten Trennungen. Bis die Royalisten Louis zum Thronprätendenten ernennen wollen und er damit zur Bedrohung für Napoleon Bonaparte wird …

Inhaltsübersicht

WidmungMottosDramatis personaeKarte von EuropaKarte von FrankreichPrologVincentKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5EttenheimKapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Louis-AntoineKapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Falscher VerdachtKapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23NiedertrachtKapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28EpilogAnhangWahrheit und FiktionZeittafel bedeutender EreignisseVerzeichnis der wichtigsten QuellenGlossar
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Für Tina,

die ich für immer in meinem Herzen behalten werde

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»Was ich tat, brachte sowohl die Royalisten als auch die Jakobiner ein für alle Male zum Schweigen.«

Aus den auf St. Helena geschriebenen Memoiren von Napoleon Bonaparte

 

 

»Das war schlimmer als ein Verbrechen. Das war ein Fehler.«

Charles-Maurice von Talleyrand, französischer Außenminister, über den Mord am Herzog von Enghien

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Dramatis personae

Aufgrund der großen Zahl der Beteiligten werden nur die für die Handlung wichtigen Personen aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Charlottes Herkunftsfamilie

Charlotte Louise Dorothée von Rohan-Rochefort*, Großnichte des Kardinals Louis von Rohan

Jules von Rohan*, Prinz von Rochefort, ihr Vater

Marie Henriette Charlotte d’Orléans-Rothelin*, ihre Mutter

Charles*, ihr älterer Bruder

Henri*, ihr jüngerer Bruder

Clémentine*, ihre jüngere Schwester

Louis René Édouard von Rohan-Guéméné*, spöttisch »Kardinal Collier« genannt, ihr Großonkel

Clément, ihr Großneffe

Louis-Antoines Herkunftsfamilie

Louis-Antoine Henri von Bourbon-Condé, Herzog von Enghien*, Henri von Bourbon*, sein Vater

Bathilde von Orléans*, seine Mutter

Louis-Joseph von Bourbon, Prinz von Condé*, der Familienpatriarch, Vater von Henri von Bourbon und Großvater Louis-Antoines

Louis-Philippe II. Joseph von Bourbon, Herzog von Orléans*, genannt Philippe Égalité, Louis-Antoines Onkel mütterlicherseits

Louise von Bourbon-Condé*, seine Tante väterlicherseits

Die französische Königsfamilie

Ludwig XVI. Auguste*, regierender Monarch beim Ausbruch der Französischen Revolution

Marie-Antoinette*, Tochter der Kaiserin Maria Theresia von Österreich, seine Gemahlin

Ludwig XVIII. Stanislas Xavier, Graf von Provence*, zweitältester Bruder Ludwigs XVI. und dessen Nachfolger auf dem französischen Thron nach Napoleons Sturz

Charles Philippe, Graf von Artois*, jüngster Bruder von Ludwig XVI., als Karl X. späterer Nachfolger von Ludwig XVIII. auf dem französischen Thron

Charles Ferdinand von Artois*, Herzog von Berry, zweiter Sohn von Karl X.

Persönlichkeiten am Hof von Versailles

Marie-Louise von Savoyen-Carignan, Prinzessin von Lamballe*, beste Freundin und Obersthofmeisterin von Marie-Antoinette

Vincent von Carignan, ihr Neffe und Adoptivsohn, Charlottes erster Verlobter

Jeanne von La Motte*, betrügerische Gräfin in der »Halsbandaffäre«

Gefolgsleute und Dienerschaft von Charlotte und Enghien

Baronin von Würmb*, Charlottes Hofdame

Agnès, Charlottes französische Zofe

Piroschka, Charlottes ungarische Zofe

Madame Helène und Madame Anne, Pflegerinnen der greisen Charlotte

Dr. Matin, Leibarzt der greisen Charlotte

Marquis von Thuméry*, Enghiens Adjutant

Schmidt*, Bürger mit Aufenthalt in Ettenheim, im Roman Enghiens Sekretär

Jeannette, Milchmagd in Chantilly und Enghiens erste Liebe

Felix, Enghiens deutscher Bursche

Joseph Canone*, Enghiens französischer Bursche

Abbé François Weinborn*, Beamter in der Regierung des Kardinals von Rohan in Ettenheim

Dr. Ehrhard*, Leibarzt des Kardinals von Rohan

Haustiere von Charlotte und Enghien

Mohiloff*, männlicher Doggenmischling

Mimi, Kätzchen, Geschenk Enghiens an Charlotte

Namenloses Kätzchen, am Sterbebett der greisen Charlotte

Bewohner von Ettenheim

Michael Stuber*, Amtmann

Franziska Stuber*, seine Frau, mit Charlotte befreundet

Henriette Stuber*, deren Tochter und Charlottes Zofe

Baron Franz Reinhard Albertini von Ichtratzheim*, französischer Emigrant und späterer Vermieter des Herzogs von Enghien

Franz-Xaver Mast*, Stadtpfarrer

Persönlichkeiten im direkten Umkreis von Napoleon Bonaparte

Napoleon Bonaparte*, ehemaliger Revolutions-General, danach Erster Konsul der Republik Frankreich und später französischer Kaiser

Joséphine von Beauharnais*, seine Gemahlin

Madame Letizia Bonaparte*, seine Mutter

Charles-Maurice von Talleyrand*, Außenminister unter Napoleon

Joseph Fouché*, Polizeiminister unter Napoleon, von 1802–1804 jedoch Senator von Aix

Jean-Jacques Régis de Cambacérès*, Zweiter Konsul

Charles-François Lebrun*, Dritter Konsul

Joachim Murat*, damaliger Militärgouverneur von Paris und Kommandeur der Konsulargarde sowie Napoleons Schwager

René Savary*, Leiter der Pariser Geheimpolizei

Weitere historische und fiktive Persönlichkeiten von Bedeutung

Jacques-René Hébert*, fanatischer Revolutionär und Richter an einem Revolutionstribunal

Markgraf Karl Friedrich von Baden*, Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches und später Erster Großherzog von Baden

Erbprinzessin Amalie*, seine Schwiegertochter

Karoline von Baden*, seine Enkelin

Julian von Espiard*, Attentäter auf Kardinal von Rohan

Charles-François Dumouriez*, Revolutionsgeneral, läuft 1793 zu den Österreichern über

Cäcilie von Dreer*, Quartierwirtin des Gasthofs »Alte Post« in Mindelheim und Retterin der Stadt

General Peter Ferino*, französischer General im Ersten Koalitionskrieg

Paul I.*, russischer Zar und Sohn Katharinas der Großen

Erzherzog Karl von Österreich*, Oberbefehlshaber der alliierten Truppen im Ersten und Zweiten Koalitionskrieg

Mademoiselle Geneviève, Geliebte Enghiens

Mademoiselle Rosalie Perrier alias Elsa Scherer, französische Spionin

Georges Cadoudal*, Rebellenführer in der Vendée

General Jean-Charles Pichegru*, ehemaliger Revolutionsgeneral und Cadoudals Mitverschwörer gegen Napoleon

General Jean-Victor Moreau*, französischer General und gleichfalls Mitverschwörer gegen Napoleon

Monsieur Charlot*, Leiter der Straßburger Gendarmerie

General Michel Ordener*, Leiter des Expeditionskorps nach Ettenheim

Jacques Rénard, Zweiter Bürgermeister von Straßburg und Freund Michael Stubers

Monsieur Harel*, Festungskommandant in Vincennes

Jeannette Harel, seine Frau

Monsieur Hulin*, Leiter des Militärtribunals

 

 

Eine Zeittafel über die bedeutendsten Ereignisse zur Zeit des Romans befindet sich im Anhang.

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Karte von Europa

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Karte von Frankreich

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Prolog

Val-sous-Meudon, früher Morgen des 1. Mai 1841

Charlotte von Rohan erwachte vom lauten Zwitschern der Vögel vor ihrem geöffneten Fenster. Durch die Spitzengardinen schimmerte das erste Licht des beginnenden Tages.

Sie fühlte sich merkwürdig matt. Es war nicht die beinahe schon gewohnte Schwäche, die auf die unerträglichen Schmerzen folgte, welche sie in den letzten Wochen immer häufiger heimgesucht hatten. Es war auch keine Müdigkeit aufgrund der frühen Morgenstunde. Ganz im Gegenteil fühlte sie sich hellwach.

Heute werde ich sterben. Der Gedanke war plötzlich da, füllte ihr ganzes Bewusstsein und ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie spürte es mit untrüglicher Sicherheit. Heute ist der Tag meines Todes.

Gespannt horchte sie in sich hinein. Doch da war keine Furcht, keine Verbitterung, sondern zu ihrem eigenen Erstaunen nichts als reine Vorfreude. Mein Liebster, heute komme ich endlich zu dir. Heute werde ich endlich wieder mit dir vereint sein.

Ein leises Maunzen ließ sie aufmerken. Sie hob mit einiger Mühe den Kopf. Madame Anne, die Nachtpflegerin, eine stämmige Frau in mittleren Jahren, schnarchte leise mit geöffnetem Mund in ihrem Lehnstuhl neben dem Bett mit den schweren, halb zurückgezogenen Vorhängen aus blauem Brokat.

Leise, um die Wärterin nicht zu wecken, schnalzte Charlotte mit der Zunge. Die zierliche, dreifarbige Katze ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem eleganten Satz sprang sie aufs Bett und kuschelte sich sofort in die weichen Daunenkissen. Dann blitzten ihre gelbgrünen Augen Charlotte mutwillig an.

Die musste lächeln. Nur der Himmel konnte wissen, wie es dieses schlaue, geschmeidige Tier wohl geschafft hatte, sich an der gestrengen Madame Anne vorbei in ihr Schlafgemach zu schleichen. Charlotte hob die Hand und streichelte der Katze über den Kopf. Das Tier erwiderte die Zärtlichkeit und leckte Charlotte mit seiner rauen Zunge leicht über die Hand.

»Meine Süße«, murmelte die alte Frau. »Wie du ihr gleichst, meiner kleinen Mimi. Sie hatte ein ebenso weißes Fell mit schwarzen und rötlich braunen Flecken wie du.«

Unwillkürlich wurden Charlottes Augen feucht, als sie sich an den Tag im fernen Ettenheim erinnerte, an dem Louis-Antoine ihr einst das kleine Fellknäuel in die Arme gelegt hatte. »Ich habe sie ganz allein draußen auf den Feldern gefunden. Jemand muss sie dort ausgesetzt haben. Sie ist sicherlich halb verhungert.«

Selbst in der Erinnerung spürte Charlotte die Zärtlichkeit, die sie in solchen Momenten gegenüber Louis-Antoine empfunden hatte, noch genauso stark wie damals. Louis-Antoines Leidenschaft war die Jagd gewesen, und kaum ein anderer konnte mit seiner Treffsicherheit mithalten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, das herrenlose Tier zu erschießen, schon damit es nicht zu wildern begann. Doch nein, Louis-Antoine hatte es zu ihr nach Hause gebracht. Das war nur wenige Monate gewesen, bevor sie ihn bei Nacht und Nebel geholt hatten.

»Und damals war Mimi lange mein einziger Trost«, flüsterte Charlotte dem Tierchen zu, das nun leise zu schnurren begann. »Zumal auch Mohiloff nicht mehr da war.« Der abgrundtief hässliche Hund mit dem Herzen aus Gold hatte seinem Herrn treu zur Seite gestanden und war ihm bis in den Tod gefolgt.

»Aber nun dauert es ja nur noch eine kleine Weile«, flüsterte Charlotte dem Kätzchen zu. »Nur noch wenige Stunden, dann sehe ich Louis-Antoine wieder.«

Ihre Blicke schweiften im zunehmenden Tageslicht durch ihr kostbar möbliertes Schlafzimmer. Die Strahlen der aufgehenden Sonne leuchteten mit dem goldgerahmten venezianischen Spiegel auf der Kommode aus poliertem Nussbaumholz um die Wette. Daneben stand die Sitzgruppe mit dem schwarzen, glänzenden Tisch, in dessen Platte feine japanische Motive aus Perlmutt eingelegt waren: Geishas in prächtigen Gewändern in exotischen Gärten. Er war ein Geschenk von Louis-Antoines Mutter, Bathilde von Orléans. Die beiden Lehnsessel, in einem schnarchte noch immer die Nachtpflegerin, und die dazugehörige Chaiselongue waren mit dem gleichen blauen Brokat bezogen, aus dem auch die Bettvorhänge genäht waren.

Auf einem Wandbord stand eine fein gemusterte, hellblaue Tulpenvase aus chinesischem Porzellan. In jeder ihrer zahlreichen Öffnungen steckte eine einzige rote oder gelbe Blume. Es mussten die letzten Tulpen aus dem kleinen Schlossgarten sein.

Die Vase hat mir Louis-Antoine aus St. Petersburg geschickt. Es war ein Geschenk des Zaren, das er an mich weitergab.

Das Gefäß gehörte zu den wenigen Gegenständen, die sie aus Ettenheim mit zurück nach Frankreich gebracht hatte. In Paris hielt sie es allerdings nur wenige Jahre aus. Nach der Zeit in dem beschaulichen badischen Städtchen und auf ihrem abgelegenen ungarischen Gut, auf das sie sich nach Louis-Antoines Tod zurückgezogen hatte, war ihr die Hauptstadt rasch zu laut und von zu vielen düsteren Erinnerungen an die Französische Revolution überschattet gewesen. Gar nicht zu reden von den Emporkömmlingen und aalglatten Opportunisten, allen voran Charles-Maurice von Talleyrand, der sowohl der Revolutionsregierung als auch Napoleon Bonaparte gedient und es danach trotzdem geschafft hatte, unter Ludwig XVIII. erneut hohe politische Ämter auszuüben und einen Herzogstitel verliehen zu bekommen.

Nun lebte sie schon seit über zwanzig Jahren im kleinen Schloss Val-sous-Meudon, weit genug entfernt vom Pariser Trubel und doch nahe genug, um die Hauptstadt gelegentlich aufsuchen zu können. Sie fühlte sich zwar auch hier nicht so wohl wie dereinst in Ettenheim, aber es kam dem badischen Städtchen doch näher als jeder andere Ort, an dem sie gelebt hatte. Auch wenn ihre Lebensumstände in Deutschland damals viel ärmlicher und bescheidener gewesen waren.

Wohlhabend war sie erst wieder nach ihrer Rückkehr in die Heimat geworden. Denn dass es den vor und während der Revolution ins Ausland geflohenen und später zurückgekehrten Emigranten gut ging, dafür sorgte allein schon der jetzt amtierende französische König Ludwig XVIII., der jüngere Bruder des 1793 hingerichteten sechzehnten Ludwigs. Restauration bedeutete für diesen Abkömmling der Bourbonen auch, den geflüchteten und vertriebenen Adeligen zumindest einen Teil ihres Eigentums zu erstatten, um das die Revolution sie gebracht hatte. Selbst sie, die Erbin des ehemals so mächtigen und dann so verachteten Kardinals von Rohan, dem »Kardinal Collier«, wie man ihren Großonkel nach seiner Verwicklung in die sogenannte Halsbandaffäre nannte, war für einen Teil der vielen Güter entschädigt worden, die man während der Revolution enteignet hatte.

Das Kätzchen gähnte und schloss die Augen. Genau in diesem Augenblick erwachte Madame Anne nach einem mächtigen Schnarchlaut. Sie sah die Katze, sprang trotz ihrer Leibesfülle behände auf und stürzte zum Bett. »Was fällt dir denn ein, du freches …«, schnauzte sie das Kätzchen an, das sich sogleich näher zu Charlotte flüchtete.

»Madame Anne!« Obwohl Charlotte das Reden mittlerweile schwerfiel, versuchte sie, so energisch wie möglich zu sprechen. »Dieses freche Wesen, wie Sie meinen kleinen Gast zu nennen belieben, steht unter meinem ganz besonderen Schutz.«

»Aber, Hoheit, ich bitte Sie …« Charlotte hasste diesen Tonfall, eine Mischung aus Nachsicht, Ehrerbietung und Geringschätzung, in dem man so oft mit ihr sprach, seitdem sie vor einigen Monaten schwer erkrankt war.

Mit einer Kraftanstrengung hob sie gebieterisch die Hand. Auch wenn diese sofort wieder zurück auf die Kissen fiel, da sie seit Tagen viel zu schwach war, um schnelle Bewegungen auszuführen, tat die Geste ihre Wirkung. Die Pflegerin stoppte mitten im Schritt und verschränkte die schon ausgestreckten Arme missmutig vor der Brust.

»Wer weiß, wo das Geschöpf herstammt«, murrte sie. »Vielleicht hat es sogar Ungeziefer.«

Charlotte lächelte. »Und wenn schon, dann sterbe ich heute eben mit ein paar Flohbissen.«

Nun nahm Madame Annes Miene jenen berufsmäßigen Ausdruck von Besorgtheit an, den man Pflegerinnen anscheinend für solche Momente anriet. »Hoheit, so etwas sollten Sie nicht sagen!«

»Warum nicht?«, gab Charlotte gleichmütig zurück. »Wenn es doch nichts als die reine Wahrheit ist.« Sie wedelte leicht mit der Hand. »Und nun gehen Sie hinaus und lassen mich allein!«

»Aber, Hoheit, was ist mit Ihrem Frühstück und Ihrer Morgentoilette?« Nun klang Madame Anne sogar entsetzt. »Sie können doch nicht …«

»Am Tag seines Todes kann man alles«, fiel Charlotte ihr ins Wort. »Bringen Sie dem Kätzchen lediglich eine Schale Milch! Und dann lassen Sie mich allein! Ich will es Ihnen nicht noch einmal sagen. Ihnen nicht und auch niemandem sonst. Ich wünsche ausdrücklich, nicht gestört zu werden, es sei denn, ich läute.«

Sie wies mit ihrer welken Hand auf das kleine Glöckchen, das neben ihr mit einem Samtband am Betthimmel befestigt war.

Einen Augenblick lang zögerte Madame Anne noch, dann knickste sie und watschelte, offensichtlich beleidigt, hinaus.

Aufatmend legte Charlotte sich zurück in die Kissen. Die kurze Auseinandersetzung hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie vermutet hatte. Sie schloss die Augen.

Das Kätzchen kuschelte sich wieder eng an sie. Sein leises Schnurren lullte sie ein. Schon bald fing Charlotte an zu träumen.

Plötzlich war sie wieder achtzehn, jung und schön und auf einem großen Fest am Hof von Versailles.

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Teil 1:

Vincent

Kapitel 1

Schloss Versailles, April 1786

Charlotte musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um den Einzug der Täuflinge und der königlichen Familie in die Schlosskapelle zu beobachten. Ihr Platz wie auch der ihrer Familie befand sich in einem Winkel des prächtigen Raumes und war dazu noch halb hinter einer der stuckverzierten, mit goldenen Ornamenten geschmückten Säulen verborgen.

Sie verlor in ihren hochhackigen Seidenschuhen das Gleichgewicht und taumelte gegen ihren älteren Bruder Charles, der sie unsanft zurückstieß. »Pass doch auf!«, zischte er ihr zu. »Oder willst du Aufsehen erregen und uns alle in noch mehr Misskredit bringen?«

Charlotte verzog unwillig die Lippen, verbiss sich aber die schnippische Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Unwillkürlich schweifte ihr Blick nach vorne, wo Vincent von Carignan in der vordersten Reihe an der linken Seite des Altars neben seiner Patin und Adoptivmutter, der Prinzessin von Lamballe, saß. Sie bekleidete als Obersthofmeisterin eines der wichtigsten Ämter in Versailles und war die beste Freundin der Königin Marie-Antoinette.

Charlotte seufzte leise. Dort hätten wir vor einem Jahr auch noch gesessen. Denn das Geschlecht der Familie Rohan gehörte zum französischen Hochadel, leitete es seine Herkunft doch unmittelbar von den bretonischen Königen ab. Auch durften sich seine Mitglieder Prinzen und Prinzessinnen nennen. Im Rang kamen die Rohans ebenso wie die Prinzessin von Lamballe gleich hinter den Prinzen königlichen Geblüts, den Orléans und den Bourbon-Condés. Zwei Knaben aus diesen Geschlechtern würden heute durch ihre zweite Taufe feierlich in die königliche Familie aufgenommen werden.

Doch das mächtigste Mitglied der Familie Rohan, ihr Großonkel Kardinal Louis, fehlte bei dieser Zeremonie. Noch vor einem Jahr hätte er diese als einstiger Großalmosenier und damit mächtigster Kleriker in Frankreich sogar geleitet. Aber nun war ihr geliebter Onkel tiefer gesunken, als es Charlotte je für möglich gehalten hätte.

Als »Kardinal Collier« verspottet, war er einer der Hauptangeklagten in der mittlerweile nicht nur in ganz Frankreich, sondern sogar dem benachbarten Ausland bekannten »Halsbandaffäre«. In deren Mittelpunkt stand ein ungemein wertvolles Diamantcollier, das die Königin vorgeblich durch seine Vermittlung erwerben wollte. Als sich dies im vergangenen Sommer als inszeniertes Täuschungsmanöver der Hochstaplerin Jeanne von La Motte, einer Gräfin von höchst zweifelhaftem Ruf, herausstellte, die den Kardinal belogen und Marie-Antoinettes Interesse nur vorgetäuscht hatte, war es bereits zu spät gewesen. Die Gräfin La Motte hatte die Steine des von ihm erworbenen Halsbands bereits größtenteils heimlich verkauft, um an Geld zu kommen. Charlottes Onkel geriet dennoch mit in den Strudel der Verdächtigungen. Man hatte ihn am 15. August, dem Fest von Maria Himmelfahrt, vom Altar des Hochamts hinweg verhaftet. Nun wartete er in der Bastille auf seinen Prozess.

Mit ihm zusammen war die ganze Familie von Rohan in königliche Ungnade gefallen. Denn Marie-Antoinette, die bereits vorher nicht gut auf den Kardinal zu sprechen gewesen war, schäumte vor Wut, als sie vom Missbrauch ihres Namens im Rahmen dieses gigantischen Schwindels erfuhr, für den sie vor allem Louis von Rohan verantwortlich machte. Zumal das französische Volk die »Autrichiènne«, wie man die Österreicherin noch immer verächtlich nannte, schon vorher für die Zerrüttung der Staatsfinanzen verantwortlich gemacht hatte und die Lügen nun Wort für Wort glaubte, die man über sie verbreitete. Sowohl in Paris als auch in den Provinzen prangerten Schmähpamphlete und Spottlieder die Verschwendungssucht der Königin an, mochte die Geheimpolizei auch noch so eifrig bemüht sein, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Wir können von Glück sagen, dass wir überhaupt eingeladen worden sind«, beschwichtigte Charlottes Vater Jules den Zorn seines ältesten Sohnes Charles, nachdem der Platzanweiser in der Livree des Versailler Hofs die Familie daran gehindert hatte, ihre gewohnten Plätze in der Nähe des Altars einzunehmen, und sie stattdessen zu den Stehplätzen in diesem Winkel geführt hatte.

Doch Charlotte quälte noch eine ganz andere Sorge. Ihr Lebensglück hing vom Freispruch ihres Onkels im Halsband-Prozess ab, der in weniger als einem Monat beginnen würde. »Sonst wird meine Tante ihre Zustimmung zu unserer Verbindung mit Sicherheit verweigern«, hatte ihr Vincent noch vor wenigen Tagen bei einem heimlichen Treffen erklärt.

Jetzt spürte der Geliebte ihren Blick, wandte den Kopf suchend um und lächelte ihr fast unmerklich zu, als er sie entdeckte. Trotz ihrer Freude fühlte Charlotte einen heftigen Stich in der Brust.

Ich liebe ihn so sehr, dass es schmerzt. Wir dürfen uns nicht verlieren.

Ein Puff in die Seite, diesmal vom Ellenbogen ihrer Mutter, riss sie aus ihren Gedanken. »Lächele gefälligst und folge der Zeremonie, anstatt Löcher in die Luft zu starren. Was sollen der König oder gar die Königin von dir denken, wenn sie das bemerken?«

Ergeben senkte Charlotte zum Zeichen ihrer Zustimmung den Kopf und richtete den Blick auf das Geschehen rund um den Altar. Mit etwas Glück würde sie Vincent beim anschließenden Ball im Spiegelsaal sprechen können. Vielleicht sogar mit ihm tanzen, erlaubte sie sich einen weiteren Augenblick der Träumerei, bevor sie sich auf die Zeremonie konzentrierte.

 

Die Orgeltöne, die den festlichen Einzug der Täuflinge begleitet hatten, verklangen. Der Erzbischof von Paris hob segnend die Hände über den beiden halbwüchsigen Knaben, die vor ihm knieten.

Erst als sich die beiden erhoben, konnte Charlotte ihre Gesichter erkennen. Zuerst trat Louis-Philippe, der Sohn des Herzogs von Orléans, mit seinen Eltern vor, um dem königlichen Paar vorgestellt zu werden. Er war zwar der jüngere der beiden Knaben, doch die Familie der Orléans stand dem Thron noch ein wenig näher als die Familie der Bourbon-Condé, aus der der zweite Täufling stammte.

Da Charlotte die Worte von ihrem entfernten Platz aus kaum verstand, nutzte sie ihre freie Sicht auf die Königin, um Marie-Antoinette genauer zu betrachten.

Selbst aus dieser Entfernung wirkten die Wangen der Königin unnatürlich rot in ihrem ansonst bleichen Gesicht. Auch ihre Augen waren trotz des aufgetragenen Puders umschattet. Man munkelte, dass Marie-Antoinette kaum mehr schlief, seit die Halsbandaffäre sie derart in Verruf gebracht hatte.

Ihre sonstige Erscheinung war allerdings so prächtig wie eh und je. Die Königin trug eine weiße, golddurchwirkte Robe unter einem mit den königlichen Lilien bestickten, ärmellosen Überwurf aus blauem Samt. Der Stoff über dem überweiten querovalen Reifrock lief in Volants aus kostbaren Spitzen aus, mit denen auch die Halbärmel verbrämt waren. Eine kostbare Brosche mit einem riesigen, rautenförmigen Saphir zierte den ebenfalls aus Spitzen bestehenden Brusteinsatz des Festkleides.

Weiteren Schmuck konnte Charlotte nicht erkennen, sah man einmal von der pompösen Frisur ab. Das Haar der Königin war zu einem Gebilde von sicherlich anderthalb Ellen Höhe aufgetürmt. In ihm steckten blaue und weiße Federn in gleichfarbigen Haarbändern, um die eine Perlenschnur gewunden war.

Charles war Charlottes Blick gefolgt und betrachtete die Königin nun ebenfalls mit gerunzelter Stirn. »Wenn das einfache Volk Ihre Majestät so sieht, glaubt es auf jeden Fall, dass sie aus den leeren Staatskassen mehr als eineinhalb Millionen Livres für dieses Diamantcollier genommen hat. Kein Wunder, dass unser Onkel ebenfalls davon ausging.« Trotz der nur leise geflüsterten Worte hörte sie den Ingrimm in seiner Stimme.

Auch Charlotte plagte außer der Sorge um ihre Beziehung zu Vincent die Befürchtung, dass die Halsbandaffäre ihren Onkel selbst im Falle eines Freispruchs um den größten Teil seines beträchtlichen Vermögens bringen würde. Schließlich bürgte er gegenüber den Juwelieren Böhmer und Bassenge für die ungeheure Summe von eins Komma sechs Millionen Livres, die das Halsband kosten sollte und von der noch kein Sou entrichtet worden war.

Das Wohl der Rohan-Rocheforts hing aber von der Großzügigkeit ihres Onkels ab, der diesen verarmten Zweig der Familie bislang immer unterstützt hatte. Verlöre er nun sein Vermögen, würden ihre Brüder Charles und Henri weder ein Offizierspatent erwerben können, noch sie und ihre kleine Schwester Clémentine eine Mitgift erhalten.

Selbst wenn die Lamballe meinem Onkel verzeihen sollte, wird sie Vincent noch lange nicht erlauben, ein mittelloses Mädchen zu heiraten!

Schon jetzt machten sich die fehlenden Zuwendungen des Kardinals schmerzlich bemerkbar. Charlotte und ihre Mutter trugen die Roben des Vorjahres zu diesem Fest, eigentlich undenkbar am modebewussten Hof von Versailles. Hoffentlich fällt es wenigstens Vincent nicht auf.

Wieder puffte ihre Mutter sie leicht, und wieder zwang sich Charlotte, der Taufzeremonie zu folgen. Nun trat der zweite Knabe vor, Louis-Antoine, der Herzog von Enghien – wie in dieser Familie der Titel für den Ältesten der dritten lebenden männlichen Generation lautete. Ihm folgten sein Großvater, der Prinz von Bourbon-Condé, und sein Vater, der Herzog von Bourbon. An dessen Seite schritt seine Frau, Bathilde von Orléans, von der man munkelte, dass ihr Gatte ihrem Bett seit der Geburt seines einzigen Sohnes fernblieb. Somit hing nun das Überleben des mächtigen Geschlechts mit seiner ruhmreichen Vergangenheit einzig von diesem Jüngling ab, der in diesem Moment vor dem königlichen Paar niederkniete.

Nachdenklich betrachtete Charlotte den jungen Enghien. Er war außerordentlich hübsch für einen Jungen. Kein Wunder, dass man ihn Cherubino nennt, dachte sie.

Louis-Antoine mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Aus seinem fein geschnittenen Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem spitz zulaufenden Kinn und dem sinnlichen herzförmigen Mund stach nur die mächtige Condé’sche Nase wie ein Fremdkörper hervor, was dem ansprechenden Gesamteindruck aber seltsamerweise keinen Abbruch tat. Louis-Antoines Augen, deren Farbe aus der seitlichen Perspektive heraus nicht genau zu bestimmen war, wurden von Brauen überwölbt, die weit dunkler waren als sein rötlich braunes Haar. Dieses trug er zu einem langen Zopf gebunden, der mit einer großen silbernen Moiré-Schleife verziert war. Auch seine übrige Kleidung: Wams, Weste und Kniehose bestand aus dem gleichen silberfarbenen Stoff und war für die Taufzeremonie vorgeschrieben, sollte sie doch in vager Anlehnung an das weiße Taufkleid des Säuglings Reinheit und Unschuld symbolisieren.

Sein Vater und Großvater waren dagegen in kräftige Farben gekleidet. Das goldbestickte Wams des Herzogs von Bourbon war von einem leuchtenden Rot, das des Großvaters von einem etwas gesetzteren dunklen Violett. Beide trugen darunter cremefarbene Westen und zum Überrock passende Kniehosen, weiße seidene Strümpfe und die gerade in Mode gekommenen Schnallenschuhe aus schwarzem Leder.

Auch das Kleid von Louis-Antoines Mutter zeugte vom Reichtum der Familie. Das Überkleid aus zartgrüner Seide öffnete sich in der Taille mittig über dem breiten Panier in zartem Gelb. Sicher ist es mit ebenso vielen Brüsseler Spitzen verbrämt wie das Kleid der Königin, sinnierte Charlotte. Wenn es nicht sogar noch ein paar mehr sind.

»Wie geschickt von Prinz Condé, seinem Enkel jeweils die Vornamen des Königspaares zu geben«, flüsterte ihre Mutter ihr ganz leise ins Ohr. Charlotte nickte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der junge Herzog Louis-Antoine wohl nur deshalb den König und die Königin als Taufpaten haben würde. »Zudem wäre Ihre Majestät sicherlich nicht erfreut gewesen, auch Patin beim Sohn des Herzogs von Orléans stehen zu müssen.«

Während Charlotte mechanisch die Choräle mitsang und der weiteren langwierigen Zeremonie scheinbar aufmerksam folgte, ließ sie sich die letzten Worte ihrer Mutter durch den Kopf gehen.

Es stimmt, was Maman sagt. Denn der jetzige Herzog von Orléans war ebenfalls schon einmal vom Hof verbannt. Er soll sich wie unser Onkel den Unmut der Königin zugezogen haben, weil er allzu begeistert den Grundsätzen der englischen Monarchie anhängt, die ihrem Volk viel mehr Mitbestimmungsrechte einräumt als die unsrige.

Neue Hoffnung beflügelte sie und wärmte ihr Herz. Und sind solche liberalen Ideen nicht sehr viel gefährlicher für die Macht unseres Königs als ein paar Gerüchte um ein überteuertes Halsband? Hat nicht sogar der vorige König Ludwig XV. dieses Collier für seine Geliebte, die Dubarry, bestellt? Was also kann meinem Onkel schon passieren, wenn er freigesprochen wird? Und das wird er mit Sicherheit, wenn er den Richtern seine Argumente genauso überzeugend darlegt wie mir, als ich ihn zuletzt in der Bastille besucht habe.

In diesem Augenblick gab es einen kleinen Moment der Unruhe in einer der Reihen vor ihnen. Ein wie ein Pfau herausgeputzter Kavalier tauschte seinen Platz mit einer Dame, offensichtlich, damit diese die Zeremonie, die sich langsam dem Höhepunkt näherte, besser verfolgen konnte. Ihre ebenfalls zu einem Turm aufgebaute Frisur versperrte Charlotte jetzt den Blick auf das Geschehen rund um den Altar.

Eine Zeit lang vertrieb sie sich ihre zunehmende Langeweile mit der Betrachtung der prächtig ausgestatteten Kapelle. Doch schon bald vermochten die mit vergoldetem Stuck verzierten Wände und Decken, die Gemälde und Statuen und die bunten Glasfenster sie nicht mehr von ihren schmerzenden Füßen in den unbequemen Schuhen abzulenken. So kehrte sie mit ihren Gedanken zu dem Gespräch zurück, das sich vor einigen Wochen zwischen ihr und ihrem geliebten Onkel in der Bastille entsponnen hatte.

Die Bastille in ParisMärz 1786, einige Wochen zuvor

»Meine liebe Charlotte! Wie freue ich mich, dich zu sehen!« Mit ausgebreiteten Armen kam Kardinal Rohan auf seine Nichte zu und umarmte sie herzlich zur Begrüßung.

»Wie geht es Ihnen, verehrter Oheim?« Vorsichtig blickte sich Charlotte im Gemach ihres Onkels um. Was sie sah, beruhigte sie ein wenig.

Der Kardinal bewohnte eine geräumige Suite, die aus einem Zimmer und einem Vorzimmer bestand. Das Ambiente erinnerte sie eher an die Salons in seinem Pariser Stadtpalais an der Place Royale als an eine Gefängniszelle. Wände und Fußböden waren mit Teppichen verhängt und belegt. Die Einrichtung bestand aus den eigenen Möbeln ihres Onkels, die man ihm offensichtlich aus seinem Haus gebracht hatte.

Im Kamin brannte ein lustiges Feuer und vertrieb die Kühle des ausgehenden Winters. Der Tisch war mit den Resten einer üppigen Mahlzeit gedeckt, die sein Leibdiener, der Charlotte im Innenhof der Bastille in Empfang genommen hatte, jetzt abzuräumen begann.

»Mein Liebes, setze dich zu mir und sage, was ich dir bringen lassen darf. Möchtest du Wein oder bei dieser grimmigen Kälte lieber eine schöne Tasse Schokolade?«

»Oh, gibt es hier in der Bastille sogar Schokolade?«, entfuhr es Charlotte, die sich ihrer Taktlosigkeit sofort bewusst wurde und sich beschämt auf die Lippen schlug. »Onkel Louis, verzeihen Sie mir …«

»Schon gut, schon gut«, fiel ihr der Kardinal ins Wort. »Du hast ja recht! Natürlich erhalte ich diese Annehmlichkeiten nur gegen einen saftigen Preis, den ich Woche für Woche entrichten muss. Selbst dass mein treuer Jacques mir hier zu Diensten sein darf, kostet mich ein Vielfaches seines Lohns.«

»Das dauert mich sehr, lieber Onkel«, murmelte Charlotte.

Der Kardinal winkte ab. »Lass es gut sein. Die La Motte, diese scheinheilige Heuchlerin, hat es in der Gefängnisabteilung der Salpêtrière sicher nicht halb so bequem.«

Charlotte fasste sich ein Herz. »Möchten Sie mir von ihr erzählen, Oheim?« Es war von ungeheurer Wichtigkeit für sie, ein wenig mehr über den bevorstehenden Prozess zu erfahren. Denn ihre Liebe zu Vincent war noch ganz frisch, keine drei Monate alt. Doch sie spürte, dass sie nicht mehr ohne den Angebeteten leben wollte.

Einen Moment lang betrachtete der Kardinal seine Nichte mit gerunzelten Brauen. Dann nickte er lächelnd. »Warum nicht, meine Liebe? Du warst schon immer außerordentlich klug für ein Mädchen. Aber zuerst soll dir Jacques deine Schokolade bringen.«

Doch als das köstliche Getränk vor ihr stand, stellte ihr der Kardinal erst noch eine weitere Frage. »Was verschafft mir überhaupt die Ehre deines Besuchs, Liebes? Bislang hat mich nur dein Vater im Gefängnis besucht.«

Charlotte errötete und entschied sich dann für die Wahrheit. »Die Eltern wissen nicht, dass ich hier bin«, gestand sie errötend. »Sie hätten es nicht gebilligt, zumal ich nur meine Zofe Agnès dabeihabe, die im Vorzimmer wartet.« Sie holte tief Luft und meinte dann: »Aber ich setze Vertrauen gegen Vertrauen. Erzählen Sie mir, wie Ihre Chancen für einen Freispruch stehen, dann erzähle ich Ihnen, warum ich mich dem Willen der Eltern widersetzt habe.«

Der Kardinal lächelte schelmisch und zwinkerte ihr zu. »Nun, ich hoffe doch, die Sehnsucht nach deinem alten Onkel trieb dich hierher?« Sein durch die lange Haft bleiches Gesicht zeigte einen Augenblick lang den Charme des bekannten Lebemannes, dem die Herzen der Frauen nur so zuflogen, deren Gunst er trotz seines geistlichen Standes ausgiebig genossen hatte.

Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Du willst wissen, ob ich mich schuldig gemacht habe?«, fragte er.

Charlotte schüttelte heftig den Kopf. »Dass Sie schuldig sind, habe ich keine Minute lang geglaubt. Auch die Eltern und Charles glauben es nicht. Eher …« Sie stockte und biss sich auf die Lippen.

»Eher was?«, insistierte der Kardinal.

Charlotte senkte den Blick. »Eher … dass Sie den Reizen der Gräfin La Motte erlegen sind«, flüsterte sie schließlich und spürte ihr Gesicht heiß werden.

»Den Reizen der La Motte?« Einen Lidschlag lang war ihr Onkel verblüfft, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und begann, herzhaft zu lachen. Charlotte musterte ihn verlegen.

»Oh nein, mein Kind«, japste der Kardinal schließlich, verschluckte sich und hustete heftig. Als er sich endlich wieder gefangen hatte, wurden seine Züge grimmig.

»Oh nein, mein Liebes! Die Reize der La Motte ließen mich kalt. Ich will nicht verhehlen, dass ich anfangs Mitgefühl für sie hegte. Jeanne von La Motte ist eine Nachfahrin der Valois, die lange vor den Bourbonen die französische Krone trugen. Da das Geschlecht jedoch völlig verarmt ist, wuchs sie in unbeschreiblichem Elend auf und wurde als Mädchen sogar zum Betteln geschickt. Zwar fand sie später eine reiche Gönnerin, die ihr eine Ausbildung zuteilwerden ließ. Doch sie war leichtsinnig und oberflächlich und brachte es auch zu nichts, nachdem sie diesen Taugenichts, den Grafen La Motte, geheiratet hatte. Anfangs unterstützte ich sie ab und zu mit ein paar Louisdor, obwohl ich rasch merkte, dass sie es darauf anlegte, mich auszunehmen.« Ein Ausdruck von Selbstverachtung trat in seine blauen Augen. Erst jetzt bemerkte Charlotte, dass er keine Perücke trug. Sein bislang braunes Haar war in den Monaten der Haft weiß geworden.

»Was für ein elender Narr ich doch war, ihre Lügen zu glauben und ihr so vollständig zu vertrauen!«

Eine kleine Weile lastete Schweigen im Raum. Dann gab sich Charlotte einen Ruck. »Und was war der Grund, dass Sie dieser Unwürdigen Ihr Vertrauen geschenkt haben? Wenn Sie sie doch durchschaut hatten?«

Onkel Louis seufzte. »Der Grund war Ihre Majestät, die Königin. Sie war und ist die Frau, die ich so sehr verehre, dass ich Jeanne von La Motte nur zu leicht auf den Leim ging. Die Heuchlerin gab vor, mit Marie-Antoinette befreundet zu sein. Und sie verfügte über so intime Kenntnisse über das Geschehen im Boudoir Ihrer Majestät, dass ich dies nie bezweifelte.«

»Ihr verehrt unsere Königin?« Charlotte merkte erschrocken, wie entrüstet sie klang.

Ihr Onkel lächelte bitter. »Nicht so, wie ich meine Mätressen geliebt habe, meine Teuerste, sondern nur aus der Ferne und vollkommen platonisch.« Er hielt inne und musterte Charlottes Gesicht. »Oder ist es dir peinlich, wenn ich so offen spreche? Schließlich bist du unverheiratet und kennst die erotische Liebe noch nicht.«

Charlotte errötete wieder und wich seinem Blick aus. »Ich bin achtzehn Jahre alt, Onkel«, vermied sie eine direkte Antwort.

»Soso«, erwiderte der Kardinal. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Du weißt, dass ich einige Jahre französischer Botschafter am Hof der Kaiserin Maria Theresia in Wien war. Der prüden Mutter unserer Königin missfiel mein Lebenswandel. Sie beklagte sich häufig bei ihrer Tochter und dem König und erzeugte so bei Hofe eine tiefe Abneigung gegen mich. Als ich nach Paris zurückkehrte, zeigte Marie-Antoinette mir deshalb von Anfang an die kalte Schulter. Kein einziges Mal hat sie mich bei einem der vielen Empfänge in Versailles beachtet. Und die wenigen Worte, die sie an mich richtete, schien sie sich jeweils abzuringen. Ich litt sehr unter dieser Kühle, zumal ich als Großalmosenier das wichtigste geistliche Amt in Frankreich bekleidete und eine solche Behandlung beileibe nicht gewohnt war.«

»Aber wie konnten Sie dann glauben, die Königin wolle Sie als Bürgen für den Kauf des Halsbands gewinnen?« Kaum waren die Worte heraus, schlug sich Charlotte erneut auf den Mund. »Verzeihen Sie die Frage, verehrter Onkel, sie war vorlaut.«

Der Kardinal schüttelte den Kopf. »Nicht doch, wo du recht hast, hast du recht. Es war überaus töricht von mir, der La Motte zu glauben, die Königin habe mir meinen Lebenswandel verziehen. Doch sie brachte mir gefälschte Briefe von Marie-Antoinette und manchmal«, er seufzte schwer, »ja, manchmal ist eben der Wunsch der Vater des Gedankens.«

»Und unsere Königin ist ja leider bekannt dafür, dass sie haben will, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat«, erklärte er weiter. »Bedenke nur, was der Kleine Trianon für Unsummen verschlungen hat. Sie hat sich dort ein eigenes Theater einrichten lassen, in dem sie selbst als Schauspielerin auftritt. Gar nicht zu reden von ihrem Dörfchen, in dem sie mit ihrem Gefolge das einfache Landleben nachstellt und ihre Hofdamen dazu anhält, eigenhändig Ziegen zu melken. Zudem liebt Marie-Antoinette kostbares Geschmeide. Und dieses Collier«, er stockte und holte tief Luft. »Ja, dieses Collier war die aufwendigste Halskette, die ich je gesehen habe. Wer sonst sollte sie tragen, wenn nicht die Königin?«

Charlotte verkniff sich die Bemerkung, dass sie das Halsband übertrieben prächtig fand. Überall in Paris kursierten Zeichnungen des Schmucks. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, fand sie ihn sogar hässlich, mochte er auch viele Hunderttausende Livres wert sein.

Ihr Onkel las ihr die Gedanken vom Gesicht ab. »Du wirst lachen, Liebes. Auch mir gefiel das Collier nicht. Zu protzig für meinen Geschmack und allein aufgrund des Gewichts der vielen Steine sicherlich auch reichlich unbequem zu tragen. Aber ich war schon immer zu nachsichtig mit den Schwächen der Frauen. Die La Motte überzeugte mich jedenfalls davon, dass das Halsband dem Geschmack der Königin vollkommen entspräche. Und dass sie sich Tag und Nacht danach verzehren würde, aber nicht wagte, es offiziell zu erwerben, da man sie bereits der Verschwendungssucht bezichtigte. Also glaubte ich der La Motte auch, als mich diese in Marie-Antoinettes Namen bat, für die Kaufsumme zu bürgen, um der Königin das Geschmeide auf diese Art schon jetzt zu beschaffen, noch bevor sie die Mittel dazu aufgebracht hätte, um es in Raten abzuzahlen.«

Nun wirkte der Kardinal sehr traurig. Wieder schwiegen beide eine Weile. Dann fasste Charlotte sich erneut ein Herz. »Ist es wahr, dass die La Motte sogar eine Schauspielerin anwarb, die Ihnen gegenüber die Königin mimte, um Sie vollends in Sicherheit zu wiegen?«

Der Kardinal nickte. Seine Stimme klang bitter, als er ihr antwortete. »So ist es, mein Kind. Aber genau das ist mein Glück in all dem Unglück. In jener milden Vollmondnacht im Park von Versailles fiel ich auf die Intrige herein und bewahrte die Rose, die mir die falsche Königin als Zeichen ihres Dankes reichte, noch monatelang auf. Die Schauspielerin, die die Königin mimte und die man ausfindig gemacht und ebenfalls inhaftiert hat, ist nun meine Hauptentlastungszeugin. Sie war zwar nicht in den Diebstahl des Halsbands eingeweiht, aber sie wird bezeugen, dass die La Motte sie angeworben hat, um mich zu täuschen.«

»Weiß denn die Königin wirklich nichts von alledem?«, fragte Charlotte leise. »Sie müsste Ihnen doch sogar dankbar sein, dass Sie ihr diesen Gefallen erweisen wollten.«

Der bittere Zug um den Mund ihres Onkels vertiefte sich. »Dankbar ist mir Ihre Majestät beileibe nicht, mein gutmeinendes Kind. Im Gegenteil! Sie ist empört darüber, dass ich die Frechheit besessen habe, zu glauben, sie hätte mir ihre Gunst auf diese Art gewähren wollen. Besonders wütend ist sie darüber, dass ich glauben konnte, sie habe mir über die La Motte heimlich Briefe gesandt. Wobei ich nicht einmal bemerkte, dass ihre Unterschrift gefälscht war. Alle Briefe waren mit ›Marie-Antoinette, Reine de France‹ unterzeichnet. Die Königin unterschreibt jedoch niemals mit ihrem Titel, sondern nur mit ihrem Namen.«

»Also besteht selbst im Falle Ihres Freispruchs kaum die Chance, dass die Königin Ihnen verzeiht?«, fragte Charlotte verzagt.

Der Kardinal merkte auf und betrachtete sie prüfend. »Das weiß allein Gott, der Herr, meine Teure. Gekrönte Häupter sind immer unberechenbar. Doch kommt es mir so vor, als ob dich nicht nur die Sorge um mich umtreibt.«

Charlotte spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Ihrem Onkel entging dies natürlich nicht. Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und stützte sein Kinn darauf. »Du versprachst mir Vertrauen gegen Vertrauen.«

Charlotte trank hastig einen Schluck der mittlerweile kalt gewordenen Schokolade. Dann holte sie tief Luft und hob den Kopf. »Es ist auch wegen Vincent von Carignan«, sagte sie tonlos.

»Vincent von Carignan?« Der Kardinal wirkte verblüfft. »Was hat denn der Adoptivsohn der Prinzessin von Lamballe mit alldem zu tun?« Er machte eine Geste der Verwunderung.

Doch bevor Charlotte eine passende Antwort formuliert hatte, huschte ein Ausdruck des Verstehens über sein Gesicht. »Ah, ich glaube, ich weiß, worum es geht. Ihr beide habt zarte Liebesbande geknüpft. Und nun fürchtest du, dass die Prinzessin, die Marie-Antoinette mit Leib und Seele ergeben ist, eine Beziehung ihres Neffen, den sie an Sohnes statt angenommen hat, mit der Großnichte des verachteten Kardinals Collier missbilligen würde.«

Charlotte nickte beklommen. Ihre Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Sie brachte kein Wort über die Lippen. Würde der geliebte Onkel sie jetzt für eine jener taktierenden Hofschranzen halten, die Versailles zu Dutzenden bevölkerten? Würde er glauben, ihr Mitgefühl für seine schlimme Lage wäre nur vorgetäuscht? Ach, was soll ich nur tun? Auf Vincent zu verzichten, kann ich nicht ertragen.

Doch ihr Onkel überraschte sie einmal mehr. »Heureka!«, rief er plötzlich. »Heureka, das ist die Lösung!«

Verwirrt schaute Charlotte auf. »Ich verstehe nicht, was Sie …«

»Du hast mich auf eine wunderbare Idee gebracht, Charlotte. Die Prinzessin von Lamballe ist ein Musterbeispiel für völlige Ergebenheit. Sie würde sogar ihr Leben für Marie-Antoinette aufs Spiel setzen.«

Er schlug mit der rechten Faust in die Handfläche seiner Linken.

»Und genau so werde ich vor Gericht argumentieren. Und es ist sogar nichts als die reine Wahrheit. Ja, in meiner Verblendung erkannte ich den Betrug der La Motte nicht. Aber warum erkannte ich ihn nicht? Weil ich niemals gewagt hätte, das Wort Ihrer Majestät infrage zu stellen oder ihre Unterschrift auf Wahrhaftigkeit zu prüfen, ihre Wünsche zu missbilligen. Stattdessen war ich bereit, mein eigenes Vermögen in die Waagschale zu werfen, um ihr zu Diensten zu stehen. Hätte ich der La Motte nicht geglaubt, wäre ich das Risiko eingegangen, die Wünsche Ihrer Majestät zu missachten. Diese Taktik ist mir bislang nicht eingefallen! So werde ich argumentieren. Und dabei verweise ich auf die Prinzessin von Lamballe und stelle sie als das Paradebeispiel für unverbrüchliche Treue dar, das mich inspiriert hat.«

Er beugte sich über den Tisch und streichelte Charlotte über die Wange. »Wenn ich die Richter auf diese Art von meiner Unschuld überzeuge, wird das auch dir zugutekommen, mein Liebes. Denn wie kann Marie-Antoinette mir weiterhin gram sein, wenn sie erkennt, dass nur meine Treue mich blind und taub für das falsche Spiel der La Motte gemacht hat? Wie kann sie die Ergebenheit der Lamballe Tag für Tag in Anspruch nehmen und gleichzeitig meine Motive gering schätzen?«

Der Kardinal sprühte auf einmal geradezu vor Energie. »Und verzeiht mir Ihre Majestät, wird die Lamballe nichts gegen eine Verbindung zwischen Vincent und dir einzuwenden haben. Schließlich entstammst du einer der ältesten Familien Frankreichs! Und bist darüber hinaus eine wahre Schönheit!«

 

Nach diesem Gespräch war Charlotte voller Euphorie aus der Bastille nach Hause zurückgekehrt. Doch ihre Zuversicht war schon bald darauf wieder geschwunden. Bei jedem ihrer seltenen Treffen bedeutete ihr Vincent, dass weder die Königin noch seine Tante ein gutes Haar an dem Kardinal ließen. Weshalb es auch ausgeschlossen sei, ihre Liebe zum jetzigen Zeitpunkt offenzulegen.

So blieb Charlotte nur die Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden würde. Vielleicht stehen die Chancen ja wirklich besser für Onkel Louis, als Vincent glaubt. Wo doch auch der Herzog von Orléans wieder in Gnaden bei Hofe aufgenommen wurde, dachte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit nun wieder der Zeremonie in der Schlosskapelle von Versailles zu. Dort schritten gerade unter Führung des Erzbischofs die Täuflinge mit ihren Familien, gefolgt vom König und der Königin als Paten, zum Taufbecken aus weißem Marmor. Ihnen schlossen sich die Prinzen von Geblüt mit ihren Familien an, die die Ehrenplätze zu beiden Seiten des Altars eingenommen hatten.

Vincent suchte die Reihen der Stehenden ab, während er, seine Adoptivmutter am Arm, den Mittelgang entlangkam. Als sich sein Blick mit dem Charlottes traf, zwinkerte er ihr zu und bedachte sie darüber hinaus mit einem so leidenschaftlichen Blick aus seinen schwarzen Augen, dass ihr die Knie ganz weich wurden.

Voller Sehnsucht sah sie ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld entschwand. Vincent ist der Mann meiner Träume. Ich kann und darf ihn nicht verlieren.

Ein Park in Paris, 2. Juni 1786

Vincent erblickte Charlotte schon von Weitem, noch bevor sie ihn bemerkt hatte. Das Herz wurde ihm schwer, als er trotz der Freude über ihre bevorstehende Begegnung daran dachte, welche Nachricht er ihr überbringen musste.

Um den Augenblick noch ein wenig hinauszuzögern, trat er in den Schatten eines weiß blühenden Busches, der einen betörenden Duft verströmte, und betrachtete sie eine Weile aus der Entfernung.

Charlotte war nicht groß, sie reichte ihm selbst in ihren hochhackigen Schuhen nur eine Handbreit über die Schulter. Doch trotz ihrer geringen Körpergröße fiel sie jedermann sofort ins Auge. Und daran trugen ihre schlanke Gestalt, die gepflegten feingliedrigen Hände und ihre immer geschmackvolle Kleidung nur den geringsten Anteil. Es waren zuerst ihre Haare, die jedermann auffielen. Sie waren von einem hellen, reinen Blond und reflektierten die Sonnenstrahlen wie gesponnenes Gold. Vincent hatte sie noch nie offen gesehen, doch Charlotte hatte ihm erzählt, dass sie ihr bis zur Taille reichten.

In Bann gezogen hatten ihn seit ihrer ersten Begegnung aber vor allem Charlottes Augen. Sie waren von einem intensiven dunklen Blau, das zu einem tiefen veilchenfarbenen Violett changierte, wenn sie etwas gefühlsmäßig stark berührte.

Ein Maler, gewohnt, Gesichter ohne jede Emotion zu taxieren, hätte vielleicht angemerkt, dass ihre Stirn ein wenig zu hoch, ihre Lippen zu schmal, ihre Nase eine Spur zu lang seien. Doch das war Vincent einerlei. Für ihn war sie die schönste Frau der Welt.

Umso schlimmer ist, was ich ihr heute mitteilen muss.

Jetzt drehte Charlotte sich suchend um und schaute in seine Richtung, als hätte sie seine Blicke gespürt.

Seufzend trat Vincent hinter dem Busch hervor und ging, um kein Aufsehen zu erregen, gemessenen Schrittes auf die Geliebte zu.

 

Charlottes Herz begann schneller zu schlagen, als Vincent über den Kiesweg zwischen den Blumenrabatten auf sie zukam. Er war wie immer tadellos und erlesen gekleidet.

Sein mit goldenen Borten verbrämter Überrock mit den langen Schößen war aus dunkelgrüner Seide. Darunter trug er eine ebenfalls goldverbrämte Weste in hellerem Grün über einer braunen Kniehose und zartgelben Strümpfen. Das schwarze Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden. Es war wie seine ebenso dunklen Augen das Erbe seiner italienischen Eltern, die an den Blattern gestorben waren, als er noch ein Kleinkind war. Seit Charlotte ihn kannte, hatte niemals auch nur ein Stäubchen Puder die glänzende, lockige Haarpracht verunziert.

Rasch sah sie an sich hinab. Ihr bis zum Brustansatz dekolletiertes Nachmittagskleid aus hellblauer Seide mit dem dazu passenden Sonnenschirm war aus der vorigen Saison. In diesem Jahr hatte sich kein Mitglied der Familie Rohan-Rochefort neue Kleidung leisten können. Nicht einmal die Dienstboten hatten zu Neujahr neue Livreen erhalten.

Doch jetzt wird sich das hoffentlich bald ändern. Seit ihr Onkel Louis vor zwei Tagen im Prozess um die Halsbandaffäre freigesprochen worden war, hätte Charlotte am liebsten die ganze Welt umarmt. Der Kardinal war bereits in sein Stadtpalais zurückgekehrt, wo ihm die ganze Familie am gestrigen Tag ihre Aufwartung gemacht hatte.

Charlotte hatte mit ihren Eltern und ihrem ältesten Bruder jeden Tag des Prozesses verfolgt und dabei feststellen können, was für ein glänzender Redner ihr Onkel Louis war.

Der Kardinal verteidigte sich in einer geschliffenen Rede mit wohlbedachten Worten. Er stellte sich überzeugend als unschuldiges Opfer der Gräfin La Motte dar, die seine glühende Verehrung für die Königin, die er als kluge Regentin und huldvolle Landesmutter bezeichnete, schamlos ausgenutzt habe. Charlotte hörte einige adlige Damen, die die Verhandlung ebenfalls verfolgten, bei seinem Plädoyer sogar leise vor Rührung schluchzen.

Für sie alle und halb Paris, das die Partei des Kardinals ergriff, und sei es auch nur aus Opposition gegen die »Autrichiènne«, stand außer Frage, wie perfide die Täuschung war, die die Gräfin La Motte ausgeheckt hatte. Vor Gericht kam rasch heraus, dass sie und ihre Helfershelfer die Beute sogar noch am selben Abend, an dem ihr Onkel der Betrügerin das Schmuckstück übergeben hatte, unter sich aufteilten. Während man ihn im guten Glauben ließ, das Collier würde unverzüglich der Königin überbracht werden. Stattdessen hatte die Bande das kostbare Geschmeide mit einem Küchenmesser zerschnitten, und die meisten Steine waren unmittelbar danach in London, Antwerpen oder Amsterdam verkauft worden.

Mit Genugtuung vernahm Charlotte daher, dass das Gericht die La Motte zur Brandmarkung als Diebin, öffentlicher Auspeitschung und hernach zu lebenslanger Haft verurteilte. Ebenso wie ihren flüchtigen Gemahl, der sich angeblich in England aufhielt. Er würde den Rest seines Lebens als Ruderer auf einer königlichen Galeere verbringen müssen, würde man seiner je habhaft werden.

Doch obwohl ihr Onkel sich so brillant verteidigt hatte, kam auch er nicht ganz ungeschoren davon. Er musste sich öffentlich bei der Königin entschuldigen, vor allem für seine unverzeihliche Annahme, sie hätte sich dazu herabgelassen, ihn heimlich zu einem Stelldichein im Schlosspark zu treffen. Schwerer fiel jedoch ins Gewicht, dass die Richter ihm auferlegten, den Juwelieren Böhmer und Bassenge den ihnen entstandenen finanziellen Schaden zu ersetzen.

Das sei allerdings ein lösbares Problem, hatte der Onkel ihr und ihrer Familie gestern versichert. Die Pfründe seiner geistlichen Ämter wären ausreichend, um die Schulden zu decken und sie alle weiterhin zu unterstützen. So war Charlottes anfängliche Sorge aufgrund des Urteils schnell in helle Freude umgeschlagen.

Und nun brachte ihr der Geliebte zweifellos die Nachricht, dass er sich bald seiner Tante eröffnen und ihren Vater um ihre Hand bitten würde. Ein strahlendes Lächeln erhellte Charlottes Gesicht.

Es schwand, als Vincent herankam. Schon ein kurzer Blick in seine nachtschwarzen Augen zeigte Charlotte, dass er keine guten Neuigkeiten brachte.

Doch ihr Geliebter wahrte die Form. Er verbeugte sich mit einer vollendeten höfischen Geste vor ihr und zog ihre weiß behandschuhte Rechte an seine Lippen. Nach einigen Floskeln über das strahlende Juniwetter und ihr entzückendes Seidenkleid reichte Vincent Charlotte den Arm und führte sie zu einer Bank in einer Rosenlaube, wo sie den allzu neugierigen Blicken anderer Parkbesucher entzogen waren. Agnès, Charlottes verschwiegene Zofe, bezog Wachtposten vor dem Eingang.

Auch als beide nebeneinander Platz genommen hatten, was mit Charlottes Reifrock kein leichtes Unterfangen war, schickte Vincent sich an, weiterhin harmlose Konversation zu machen. Mitten in der Schilderung eines Theaterstücks, dem er im Kleinen Trianon beigewohnt und in dem Marie-Antoinette eine Hauptrolle gespielt hatte, fiel sie ihm schließlich ins Wort.

»Vincent, ich kenne zwar den ›Barbier von Sevilla‹ nicht, dennoch dünkt mich, dass die Rosina in der Tat keine angemessene Rolle für unsere verehrte Majestät gewesen ist, doch was bringen Sie für Nachrichten von Ihrer Tante? Haben Sie ihr von unserer gegenseitigen Zuneigung gesprochen?« Trotz ihrer Leidenschaft füreinander wählten Charlotte und Vincent die förmliche Anrede, wenn sie sich trafen. Nur zwischen ihren wenigen leidenschaftlichen Küssen, die sie im Schutze der Nacht bei einigen Festlichkeiten im Park von Versailles ausgetauscht hatten, benutzten sie das »Du« für ihre Liebesschwüre.

Vincents Miene verdüsterte sich. Die aufgesetzte Fröhlichkeit wich einem Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit. Er griff nach Charlottes Händen.

»Ich fürchte, meine Teure, ich bringe alles andere als gute Nachrichten. Im Gegenteil hat sich die Lage womöglich sogar noch verschlechtert. Meine Tante teilte mir mit, dass die Königin nahezu außer sich über den Freispruch Ihres Onkels wäre und nach dem Urteil die ganze Nacht hindurch geweint hätte. Erst heute Morgen hat meine Tante gewagt, ihr von der Seite zu weichen, um mich zu empfangen.«

Charlotte merkte, wie sich ihr Atem beschleunigte. »Also haben die Ausführungen meines Onkels über die glühende Verehrung, die er unserer Regentin entgegenbringt, rein gar nichts bei Ihrer Majestät bewirkt?« Ihre Stimme zitterte leicht.

Vincent schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Meine Tante Marie-Louise behauptet, die Rede Ihres Onkels hätte die Gerüchte, die überall in Paris kursieren, erst recht angefacht. Angeblich glaubt der Pöbel nicht einmal, dass diese Schauspielerin Ihren Onkel getäuscht hat. Es ist stattdessen die Rede davon, dass die Frau unschuldig sei und gegen eine hohe Bestechungssumme dazu gedungen wurde, vor Gericht davon abzulenken, dass natürlich die Königin selbst den Kardinal in jener Nacht im Park von Versailles traf, um sich ihm hinzugeben. Es gibt sogar bereits Flugblätter mit überaus obszönen Darstellungen dieser angeblichen Begegnung.«

Charlotte fühlte, wie ihre Glieder taub wurden. Trotz der lauen Luft bekam sie am ganzen Körper Gänsehaut.

»Und Ihre Tante ist natürlich auf der Seite Ihrer Majestät.« Ihre Stimme klang rau, und sie räusperte sich.

Vincent seufzte tief. »Schlimmer noch, meine Geliebte. Sie ist ebenfalls außer sich und fühlt ihren Namen von Ihrem Onkel missbraucht, da er sie als Vorbild für seine Treue zur Königin bezeichnete.«

Wie betäubt starrte Charlotte vor sich hin. Vincents nächste Worte drangen nur bruchstückhaft in ihr Bewusstsein. Erst eine Redewendung ließ sie aufhorchen. »Verbannt? Wer wird aus dem Antlitz der Majestäten verbannt?«

Vincent musterte sie beklommen. »Ihr Onkel natürlich. Der König hat ihm heute befohlen, sich unverzüglich in ein Kloster in der Auvergne zu begeben und bis auf unabsehbare Zeit dort zu verweilen. Seines Amtes als Großalmosenier wird er auf Dauer enthoben. Er kann von Glück sagen, dass ihm wenigstens noch die Fürstbischofswürde von Straßburg bleibt.«

»So sind wir also gänzlich ruiniert«, murmelte Charlotte tonlos.

Vincent widersprach ihr nicht, wie sie es gegen jede Vernunft gehofft hatte. Er drückte stattdessen ihre Hände. »Wir müssen uns weiterhin in Geduld üben, Liebste«, sagte er. »Sie haben keine eigenen Mittel, wenn Ihr Onkel keinen Zugriff auf sein Vermögen hat, und Tante Marie-Louise würde mich sofort enterben, wenn ich jetzt gegen ihren Willen eine Verbindung mit Ihnen einginge.«

Obwohl Charlotte ihm nicht widersprach, fuhr Vincent mit beschwörender Stimme fort: »Das könnte ich ihr niemals antun, Liebste. Tante Marie-Louise hat wie eine Mutter für mich gesorgt, als ich zur Vollwaise wurde, bevor ich zwei Jahre alt war. Sie hat durch den frühen Tod ihres Mannes nie eigene Kinder gehabt. Es würde ihr das Herz brechen. Doch ehe sie unsere Königin derart düpiert, würde sie mich verstoßen. Was allezeit wie ein dunkler Schatten auf unserer Liebe läge.«

Charlotte nickte mechanisch. Innerlich fühlte sie sich wie tot.

Vincent legte ihr eine Hand unters Kinn, hob ihren Kopf an und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Die seinen schimmerten feucht. »Du bist die Liebe meines Lebens«, wechselte er plötzlich zum Du und wiederholte nahezu Charlottes eigene Gedanken. »Ich werde dich niemals verlassen. Das Schicksal wird sich auch wieder wenden. Wir müssen auf unser Glück vertrauen und warten. Ab und zu können wir uns auch wie heute treffen. Das ist besser als nichts. Wer weiß, vielleicht sind uns die Götter ja in ein paar Jahren gewogener als heute.«

»In ein paar Jahren«, echote Charlotte.

Mit einem letzten Händedruck stand Vincent auf. »Ich muss jetzt gehen, Geliebte. Man darf uns nicht miteinander sehen. Hier kann ich dich nicht küssen, doch fühle dich so, als hätte ich es getan.«

Ein letztes Mal streichelte er ihr über die Wange, dann drehte er sich um und verließ die Laube.

Mit leerem Blick starrte Charlotte ihm nach.

Kapitel 2

Schloss Versailles, 13. Juli 1789

Noch einmal stand Charlotte auf, um sich prüfend in einem der großen goldgerahmten Spiegel zu mustern, die im Vorzimmer der Prinzessin von Lamballe zwischen Gemälden und kostbaren Fayencen auf kleinen Regalen die Wände zierten. Marie-Louise von Savoyen-Carignan, wie die Prinzessin gemäß ihrer oberitalienischen Herkunft mit Geburtsnamen hieß, bewohnte im Schloss von Versailles ein großzügiges Appartement, wie es ihrem Rang als Obersthofmeisterin der Königin zukam.

Was Charlotte im Spiegel sah, stellte sie einerseits zufrieden, andererseits befürchtete sie nach wie vor, Vincents Adoptivmutter könnte irgendetwas an ihr nicht gefallen. Nervös biss sie sich auf die Lippen und kniff sich leicht in die Wangen, damit ihr Gesicht rosiger wirkte. Dann inspizierte sie zum wiederholten Male ihr Kleid, ob sich nur ja kein Fussel oder gar ein Fleck darauf befänden.

Allerdings musste sie nicht befürchten, altbacken zu wirken, wie während der Haft ihres Onkels Louis in der Bastille. Ihr Kleid aus luftigem, fliederfarbenem Musselin entsprach der neuesten Pariser Mode und stand ihr ausgezeichnet. Es betonte gleichermaßen den Violettton ihrer Augen und ihr hellblondes Haar.

Auch Charlottes Frisur war aufwendig mit fliederfarbenen Blüten und Straußenfedern geschmückt. Agnès, ihre Zofe, hatte fast zwei Stunden damit verbracht, einen Teil der Haare vorne auf fast eine Elle Höhe zu toupieren, und noch so viel am Hinterkopf übrig zu lassen, dass sie diese mit der Brennschere zu zwei langen Stablocken formen konnte, die Charlotte elegant über Schulter und Rücken flossen.

Vincent zumindest war vollkommen verzückt gewesen, als er sie heute Morgen im Stadtpalais ihres Onkels abgeholt hatte. »Du bist schöner denn je«, raunte er ihr ins Ohr. Seit ihrem Abschied anlässlich der Verbannung des Kardinals vor mehr als drei Jahren verwandten sie die vertraute Anrede, wenn keine Lauscher in der Nähe waren.

So verzweifelt Charlotte an jenem Tag auch gewesen war, so glücklich fühlte sie sich trotz ihrer Aufregung heute. Vincent hatte sein damaliges Versprechen gehalten. Er stand treu zu ihr und hatte sich sogar erfolgreich zwei Versuchen der Prinzessin von Lamballe widersetzt, ihn vorteilhaft zu verheiraten. Mindestens einmal pro Monat hatten sie es zuwege gebracht, sich zu treffen. Und ihre Liebe war durch die erzwungene Geheimhaltung immer stärker geworden, anstatt, wie Charlotte es damals befürchtet hatte, zu verblassen.

Dazu hatte allerdings auch beigetragen, dass Vincent mit seinem Glauben, das Blatt könne sich auch wieder zu ihren Gunsten wenden, recht behielt. Tatsächlich war der Kardinal nur wenige Monate nach seinem Freispruch aus der Verbannung in der Auvergne entlassen worden. Anfangs hatte er sein Schloss in Zabern aufgesucht, die Residenz seines Fürstbischoftums Straßburg, dessen Herrschaftsgebiet sich zu beiden Seiten des Rheins im französischen Elsass und dem deutschen Baden befand. Danach durfte er sich auch immer häufiger in Paris aufhalten.

Denn die Zeiten waren unruhig. Überall im Lande gärte und brodelte es. Zum ersten Mal seit dem Jahr 1614 sah sich ein französischer König dazu genötigt, die Generalstände einzuberufen, die sich zu je gleichen Teilen aus Klerus und Adel als erstem und zweitem Stand und aus der großen Masse des Volkes vom Großbürger bis zum Bettler als dem dritten Stand zusammensetzten. Mithilfe dieser Versammlung hoffte er, die vielen Probleme in den Griff zu bekommen, zu denen die zerrütteten Staatsfinanzen ebenso gehörten wie die Bewältigung der Wirtschafts- und Hungerkrisen, die das Land erschütterten.

Da sich auch konservative Teile des Adels Ludwigs Reformplänen widersetzten und der zweite Stand sich somit zunehmend in verschiedene Lager spaltete, war der König auf jeden seiner ihm treu ergebenen Gefolgsleute angewiesen. Schon längst hatte er dem Kardinal die Halsbandaffäre verziehen, brauchte er doch dessen Unterstützung wie die der anderen französischen Prinzen von Geblüt im Kampf gegen die Kräfte, die seine Macht bedrohten. Und unbedingt loyal gegenüber der Monarchie war ihr Onkel, ungeachtet der Kränkungen, die ihm das Königspaar während seiner Haft und des Prozesses zugefügt hatte.

Nach seiner Verbannung hatte Charlottes Familie ihr eigenes Stadthaus verkaufen müssen und war ins Palais des Kardinals übergesiedelt. Auch nach seiner Rückkehr durften sie dort bleiben. Ihr Onkel ernannte ihre Eltern, sie selbst und ihre jüngere Schwester Clémentine kurzerhand zu Angehörigen seines Hofstaates und setzte ihnen eine großzügige Apanage aus, die sie alle in die Lage versetzte, wieder standesgemäß zu leben.

Charles, ihr ältester Bruder, hatte bereits eine Stelle als Major in einem Kavallerieregiment Seiner Majestät inne und sich darüber hinaus vorteilhaft verheiratet. Er lebte in der Vendée, einem Landstrich in der südlichen Bretagne. Henri, das jüngste der Geschwister, sollte in einigen Jahren ebenfalls ein Offizierspatent erhalten.

So wäre alles in bester Ordnung gewesen, hätte sich doch nur die Königin gleich ihrem Gemahl dazu durchringen können, dem Kardinal zu vergeben. »Doch Marie-Antoinette ist nachtragend, meine Geliebte«, erklärte ihr Vincent wieder und wieder. »Wir müssen noch eine Weile abwarten. Bedenke dabei auch den Charakter meiner Tante Marie-Louise! Sie ist eine Dame mit Prinzipien. Man könnte sie durchaus halsstarrig nennen, wollte man es weniger höflich ausdrücken. Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, daran hält sie fest. Und hat sie erst einmal Nein zu unserer Verbindung gesagt, bliebe es auch dabei.«

»Ist dieser Charakterzug auch der Grund, warum sie sich nicht wieder vermählt hat, obwohl ihr Gatte bereits ein Jahr nach der Hochzeit starb?«

Vincent bejahte. »Ihr Mann war ihre große Liebe, so wie du die meine bist.«

Charlotte schürzte die Lippen. »Nun, ich habe überdies jedoch gehört, dass sie es schwer gehabt hätte, je wieder eine so glänzende Partie zu machen. Sie ist die Schwiegertochter eines der reichsten Männer von ganz Frankreich und darüber hinaus durch ihre Heirat ein Mitglied der französischen Königsfamilie. Durch Wiederheirat hätte sie also sowohl ein reiches Erbe als auch ihre bevorzugte Stellung bei Hofe aufs Spiel gesetzt.«

Vincent wirkte verblüfft. »Von dieser Seite habe ich es noch nie betrachtet«, räumte er ein. »Doch, nein!«, fuhr er nach kurzer Überlegung fort. »Selbst wenn du in diesem Falle recht hättest, gibt es noch immer genügend Beweise für meine These. Immerhin hat sie ihrem eigenen Schwager, dem Herzog von Orléans, die Tür gewiesen, als er sich in ihrem Salon respektlos über Ihre Majestäten äußerte. Seither begegnen sich die beiden außerordentlich kühl und wechseln kaum mehr ein Wort miteinander.«

So hatte es also nahezu drei lange Jahre gedauert, bis Vincent vor einer Woche freudestrahlend im Palais ihres Onkels erschienen war.