Die Rose von Jericho - Sergio Bambaren - E-Book

Die Rose von Jericho E-Book

Sergio Bambaren

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Beschreibung

Die Rose von Jericho ist eine der ältesten Wüstenblumen der Welt, die auch nach langer Dürre immer wieder zu neuer Blüte erwacht. So wie Alejandra und Michael, die sich an einem Tiefpunkt ihres Lebens befinden und lernen müssen, neu anzufangen … Einfühlsam und berührend erzählt Erfolgsautor Sergio Bambaren von der Chance im Leben jedes Menschen, noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

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Übersetzung aus dem Englischen von Clara Lind

Danke, Pablo.

Danke, Maura.

Danke, Karol.

Danke, Maria Pia.

Danke, Maria del Pilar:

Danke, Harry, wo immer du bist.

Ich danke euch aus tiefstem Herzen.

Die Zukunft quält uns,

und die Vergangenheit hält uns fest.

Darum lassen wir uns die Gegenwart entgehen!

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

5. Auflage 2007

ISBN 978-3-492-95743-4

© 2005 Sergio Bambaren Titel der englischen Originalausgabe: »The Rose from Jericho« Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München, 2006 Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagabbildung: Frans Lemmens / Getty Images Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Der Autor dankt Alcoholics Anonymous World Services, Inc. (A. A.W. S.) für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck der Zwölf Schritte und eines Auszugs aus dem Buch »Anonyme Alkoholiker«. Diese Genehmigung bedeutet jedoch nicht, daß A. A.W. S. den Inhalt des vorliegenden Buches kennt und genehmigt hat oder zwangsläufig mit den darin geäußerten Ansichten übereinstimmt. Das A. A.-Programm ist ausschließlich ein Programm zur Genesung vom Alkoholismus – aus der Verwendung der Zwölf Schritte in Verbindung mit Programmen und Aktivitäten, die denen der A. A. nachempfunden sind, aber andere Probleme angehen, oder der Verwendung in irgendeinem sonstigen nicht A. A.-bezogenen Zusammenhang läßt sich nichts Gegenteiliges schließen.

Der Nachdruck der Präambel erfolgt mit freundlicher Genehmigung von A. A. Grapevine, Inc.

A. A. World Services, Inc., 475 Riverside Drive, New York, NY 10115

Prolog

Ich glaube, ich bin als Optimist auf die Welt gekommen.

Mein Vater, der Arzt ist, erzählte mir vor vielen Jahren, bei meiner Geburt habe er etwas beobachtet, das er bis dahin noch nie erlebt hätte. Als meine Mutter in den Wehen lag und ich schließlich aus ihrem Bauch herauskam und der Arzt, der die Geburt überwachte, mir einen Klaps gegeben hatte, damit ich schreien und Luft holen konnte, und als die Nabelschnur durchtrennt und ich gesäubert war und in den Armen meiner Mutter lag, da hörte ich auf einmal auf zu schreien. Und mit weit geöffneten Augen sah ich meine Mutter und die Menschen um mich herum an und lächelte. So seltsam das scheinen mag – heute frage ich mich, ob ich mich wohl auf den ersten Blick in die wunderbare Welt verliebt habe, in der ich gelandet war.

Aber das ist lange her. Ich wurde erwachsen, und in der Einsamkeit meines geliebten Meeres lernte ich, daß ich, wenn ich mein Leben so einfach wie möglich gestaltete, die Wirklichkeit so sehen konnte, wie sie war. Ich versuchte es, und es gelang mir – so hoffe ich zumindest –, das Leben in seiner wahren Gestalt zu sehen: nackt, rein und einzigartig.

Leider lernte ich auch, daß ich, sooft ich eine Tür öffnete, Gefahr lief, nicht nur all das zu sehen, woran ich glaubte, in seiner ganzen Herrlichkeit, sondern auch all das Böse und das Traurige, das verhindert, daß diese Welt für uns alle ein wunderbarer Ort ist. Manche Menschen haben Glück und manche nicht. Manche werden arm geboren, andere reich. Manche sind krank, physisch und psychisch, ja sogar spirituell, andere dagegen sind gesund. Auf die Gründe dafür will ich hier nicht eingehen, weil ich nicht auf alle Fragen eine Antwort weiß.

Aber trotz all des Leids, das ich in meinem Leben erfahren habe, habe ich den Glauben nicht verloren. Ich versuche aus allem das Beste zu machen. Sagen Sie mir nicht, daß man mit Leid nicht fertig werden kann – man kann es! Leid ist, zumindest zum Teil, ein Geisteszustand. Für manche Menschen ist das Leben härter als für andere, aber letztlich müssen manche nur mehr leiden als andere, um ihre Ziele zu erreichen. Auch hier vermag ich nicht zu sagen, warum das so ist. Und doch gibt es etwas, dessen ich mir sicher bin: daß jeder von uns seine Ziele und Träume verwirklichen kann, wie steinig der Weg dahin auch aussehen mag.

Sie fragen sich vielleicht, warum ich diesem Buch den Titel »Die Rose von Jericho« gegeben habe. Aus einem einfachen Grund: Diese Pflanze, ein eigentümliches Wunder der Natur, kann jahrelang ohne Wasser und Erde überleben – sie hält die größte Hitze und strenge Kälte aus. Doch wenn man ihr hilft, indem man ihr nur ein klein wenig Wasser gibt, ein klein wenig Leben und Hoffnung, wird sie innerhalb weniger Minuten grün und blüht auf. Man kann diese Pflanze zu jeder Jahreszeit dazu bringen aufzugehen. Einmal, zehnmal, hundertmal kann man sie austrocknen lassen und beiseite legen bis zum nächstenmal, bis man dieses Wunder erneut erleben will – das Wunder, von dem ich überzeugt bin, daß wir es alle in uns tragen, ganz gleich, wie ausgetrocknet und verdorrt unser Leben uns in spiritueller Hinsicht erscheinen mag.

Ich hoffe, dieses Buch, mit dem sich meine Art zu schreiben, nicht jedoch meine Denkweise verändert hat, wird dem einen oder anderen begreiflich machen, daß Glück mehr ist als ein Gefühl: Es ist ein Geisteszustand. Und daß Schmerz, Krankheit und Leid einfach ein Teil des Lebens sind und man sie bewältigen kann. Daß der Weg zur Spiritualität von uns verlangt, unser Leben auf die Wahrheit zu gründen und nicht auf Lügen, die unser eigenes Wachstum hemmen.

Wenn ich mit diesem Buch auch nur ein Leben zum Besseren wenden kann, dann ist das genug. Denn wer ein Leben rettet, rettet meiner Ansicht nach eine ganze Welt.

Das Leben erstaunt mich immer wieder aufs neue.

Wie kann schweres Leid dazu führen, daß das Leben eines Menschen zu einem Freudentanz wird? Wie kann jemand durch ein Übermaß an Schmerz an einen Punkt gelangen, den manche die Hölle nennen, und doch imstande sein, wieder aufzustehen und sich höher aufzuschwingen als zuvor?

Zu den Dingen, die mich in letzter Zeit nachdenklich gestimmt haben, gehörten die zahlreichen E-Mails, die mir Menschen auf der ganzen Welt geschickt haben, um mich zu bitten, ihnen einen Weg aus ihrem Schmerz und ihrem Leid zu zeigen. In ihrer Verzweiflung nahmen sie vielleicht an, ich wüßte die Antworten, die ihnen ihren Weg erleichtern würden, oder sogar einen Rat, wie sie ihre Ängste überwinden könnten.

Leider weiß ich sie nicht. Wie jeder normale Mensch suche auch ich in meinem Leben verzweifelt nach Antworten auf ungelöste Fragen. Auch ich habe meinen Teil an Leid zu tragen. Wie wir alle.

Warum gibt es auf der Welt so viel Leid? Warum haben gute, großherzige, anständige Menschen manchmal mit Problemen zu kämpfen, in die sie ohne eigenes Verschulden hineingeraten sind?

Und dann – denn alles, was geschehen soll, geschieht – bekam ich einen Teil der Antwort auf eine Art, die ich mir nie hätte vorstellen können.

Vor nicht allzulanger Zeit ist mein Onkel Carlos gestorben. Er litt an einer Leberzirrhose. Was ich erst einige Wochen später erfuhr, war, daß er nicht daran starb. Die Leberzirrhose war nur das Symptom. Die wahre Ursache seines Todes bestand darin, daß er seit über dreißig Jahren Alkoholiker gewesen war.

Zu seiner Beerdigung kamen auch ein paar Freunde von ihm. Einer davon fiel mir besonders auf. Er hieß Alberto, war wohl über sechzig, klein und kräftig. Als alle andere gegangen waren, blieb er am Grab meines Onkels stehen.

»Siehst du, Carlos«, sagte er, »jetzt haben wir beide erreicht, wonach wir uns so lange gesehnt haben. Wir haben endlich aufgehört zu trinken. Aber ich bin noch am Leben und du nicht.« Er wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und wandte sich um, um zu gehen, mit einem Lächeln im Gesicht.

Ich trat zu ihm und berührte ihn am Arm.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich habe gehört, was Sie zu meinem Onkel gesagt haben. Darf ich Sie etwas fragen?«

»Aber natürlich«, sagte er.

»Warum waren Sie traurig, als Sie mit meinem Onkel gesprochen haben, und haben gelächelt, als Sie sich umgedreht haben, um zu gehen?«

»Weil ich traurig bin, daß es ihm nicht gelungen ist, den Zwölf Schritten zu folgen, unserem Lebensprogramm. Aber froh, zu wissen, daß sein Leiden jetzt ein Ende hat.«

»Den Zwölf Schritten?« fragte ich.

»Ja, genau.«

»Was ist das?« fragte ich weiter.

»Ein Lebensprogramm, das zwei Männer, die Alkoholiker waren wie ich, vor nicht allzulanger Zeit entdeckt und entwickelt haben. Ein Programm, das Menschen bei allen möglichen Arten von Krankheiten Hoffnung geben kann, ja, ich würde sogar sagen, bei allen Krankheiten des Geistes. Ein Programm, das ihnen ein Leben schenken kann, wie es nur wenige erreichen.«

Ich lächelte und schüttelte dem Mann die Hand.

»Leben Sie wohl«, sagte er. Und schon war er in der Menge verschwunden.

»Die Zwölf Schritte«, dachte ich. Ich hatte davon noch nie gehört. Aber ich werde diesen Tag, an dem ich etwas darüber erfuhr, nie vergessen: Es war ein Tag, der meine Sicht des Lebens für immer verändert hat.

IWinter des Herzens

Alejandra saß mit ihrer Freundin Beatrice auf den Felsblöcken unten an der alten Mole und versuchte sich aufrecht zu halten. In der Ferne freuten sich ein paar Wellenreiter an einer aus Südost kommenden Dünung, die seit drei Tagen beste Surfbedingungen bot. Es war ein warmer Tag, und da es Heiligabend war, wimmelte es am Strand jetzt, um die Mittagszeit, von Leuten, die das sommerliche Wetter genossen.

Alejandra trank den letzten, warmen Rest Bier, der noch in ihrer Dose war. Sie wußte nicht, daß dieser Schluck Alkohol sie für immer verändern würde. Ihr Körper konnte nicht noch mehr Gift aufnehmen, und diese letzte Dosis Alkohol ließ sie jede Kontrolle über die Realität verlieren. Sie wußte nicht mehr, wie viele Dosen Bier sie getrunken hatte – vielleicht waren es zehn oder zwölf. Es war ihr ganz egal. Mit zwölf Jahren hatte sie ihr erstes Bier getrunken. Jetzt war sie siebenunddreißig, und sie hatte das Leben in einer Art Dämmerzustand an sich vorbeirauschen lassen wie einen sanften Wind.

Dort an der Mole, mitten unter den Leuten, zog Alejandra sich aus, bis sie splitternackt dastand, Worte murmelnd, die ohne Sinn und Bedeutung waren. Und dann, während die Menschen ringsum ungläubig zusahen, versuchte sie, ins Wasser zu springen. Betrunken, wie sie war, rutschte sie jedoch auf den Steinen aus und schlug auf die harten, von Seeigeln bevölkerten Felsblöcke auf, bevor sie ins Wasser fiel. Ihr ganzer Rücken spürte den Schmerz, als die Stacheln in ihn eindrangen, doch ihr Geist nahm ihn nicht wahr. Alejandra war so betrunken, daß sie nur ein Jucken verspürte, und als sie aus dem kalten Wasser wieder auftauchte, hatte sie ein breites Lachen im Gesicht. Sie bemerkte nicht einmal, daß ihr das Blut über den Rücken lief.

Es hätte sie auch nicht gestört. Sie freute sich darüber, das kalte Meerwasser auf ihrer nackten Haut zu spüren, die Wellen zu spüren, die immer wieder über sie hinweggingen. Sie versuchte, den Kopf über Wasser zu halten, lachte noch immer, mit Augen, die vom Alkohol rot wie Feuer waren. Das war alles, woran Alejandra sich erinnerte, bevor sie ohnmächtig geworden war.

Als Alejandra die Augen aufschlug, lag sie in einem seltsamen Raum. Sie hatte entsetzliche Kopfschmerzen, sie wußte nicht, wo sie sich befand oder wieviel Uhr es sein mochte. Was war passiert? Sie erinnerte sich dunkel, daß sie auf der Mole gesessen hatte, mit einem kalten Bier, und den Surfern dabei zugesehen hatte, wie sie übers Wasser glitten. Das war alles, woran sie sich erinnerte. Auf einmal spürte sie in ihrem Rücken einen schrecklichen Schmerz, als würde ihre empfindliche, sonnenverbrannte Haut von tausend Nadeln durchbohrt. Ihre Hände zitterten. Bevor sie ihr Gehirn hätte einschalten können, fiel sie erneut in Schlaf.

Als Alejandra wieder aufwachte, brannte in dem seltsamen Raum Licht. Wie spät war es? Wieder fiel ihr die Mole ein. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen, aber sie waren jetzt nicht mehr so schlimm. Auf einmal kam Beatrice herein, die Freundin, mit der sie auf der Mole Bier getrunken hatte, bevor sie ins Wasser gesprungen war. Beatrice hatte sie aus dem Wasser gezogen und sie in ihr Haus am Strand gebracht.

Beatrice sah sie an. Sie machte ein sehr ernstes Gesicht, wenn sie auch nicht verärgert aussah. Sie kam zu Alejandra und setzte sich vorsichtig zu ihr aufs Bett. Alejandras schwarze Augen waren immer noch feuerrot – nur eines von etlichen Zeichen dafür, daß ihr Körper den vielen Alkohol nicht mehr bewältigen konnte. Bevor Beatrice das Licht löschte, konnte Alejandra noch auf die Uhr sehen. Es war fast ein Uhr nachts! Ihre Hände begannen zu zittern: Ihr Körper verlangte wieder nach Alkohol. Sie hatte Lust auf ein Bier, das war alles, was sie denken konnte, bevor sie wieder einschlief.

Sie hatte nicht gemerkt, daß sie mehr als vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte. Heiligabend war bereits vorbei, und es war die Nacht zum 26. Dezember.

Vor allem aber hatte Alejandra nicht gemerkt, wann sie aufgehört hatte, eine bloße Gesellschaftstrinkerin zu sein, und jene imaginäre Grenze überschritten hatte, ab der sie für den Rest ihres Lebens Alkoholikerin war.

Carl stand vom Sofa auf und ging in die Küche.

Ein weiterer anstrengender Tag im Büro war endlich vorüber. Das Geschäft, das er an jenem Nachmittag hatte abschließen wollen, war nicht zustande gekommen. Er war wütend, denn er hatte viele Stunden damit zugebracht, sich um den Abschluß zu bemühen. Aber es war dennoch nichts daraus geworden.

Carl öffnete den Kühlschrank und nahm sich ein paar Eiswürfel, gab sie in ein leeres Glas und füllte es zur Hälfte mit Cola. Dann öffnete er den Schrank, in dem die alkoholischen Getränke standen. Vorn vor den anderen Flaschen stand eine halbleere Flasche Bacardi. Er griff danach, schraubte den Deckel ab und goß behutsam einen guten Schuß von der farblosen Flüssigkeit in sein Glas. Dann stellte er die Flasche wieder in den Schrank. Er ging zurück ins Wohnzimmer, aber bevor er sich hinsetzte, trank er einen Schluck: Der Drink war zu schwach. Es fehlte der Kick. Der starke Geschmack des Rums drang nicht durch, jener Geschmack, der ihm in letzter Zeit so ein Gefühl von Sicherheit gab – das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Also ging Carl noch einmal in die Küche, öffnete den Schrank und schenkte sich noch etwas Rum ein. Der Drink, der zu Anfang dunkelbraun gewesen war, war jetzt orange. Diesmal probierte er ihn, bevor er die Flasche wieder zuschraubte. Er spürte das kräftige Brennen des Alkohols, der ihm die Kehle hinunterrann. Das war das Gefühl, auf das er aus war. Er fühlte sich gut, auch wenn ihm schon ein paar Minuten später ein wenig schwindlig wurde. Kein Problem, dachte er. Ihm war aufgefallen, daß er in letzter Zeit fast jeden Tag etwas getrunken hatte, drei oder vier Rum-Cola am Abend. Aber das war okay. Manchmal war er zwar ein bißchen beunruhigt, weil er so viel trank, aber er war überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben. »Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will«, sagte er sich dann. Also ging er zurück ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa und starrte zum Fenster hinaus auf das offene Meer.

Aber Carl wußte, daß er diese Bacardi-Flasche erst an diesem Tag gekauft hatte, und jetzt war sie nicht einmal mehr halb voll. Er machte sich keine allzugroßen Sorgen, denn normalerweise ging er nach dem dritten oder vierten Drink ins Bett. Und das würde heute abend auch nicht anders sein.

Wie jeden Abend in den letzten vier Jahren hatte Carl auch heute wieder drei oder vier Drinks getrunken – mit einem Unterschied, um den Carl zwar wußte, den er jedoch noch nicht bereit war zu akzeptieren. Anfangs hatte Carl Cola mit Eis und einem kleinen Schuß Rum um des Geschmacks willen getrunken. Jetzt trank er den Rum fast pur, mit einem kleinen Schuß Cola um des Geschmacks willen.

Denn wie alle Alkoholiker würde Carl es nicht eher merken oder akzeptieren, daß er ein Alkoholproblem hatte, als bis er den »absoluten Tiefpunkt« erreicht hatte, die totale Niederlage: jenen Moment im Leben eines Alkoholikers, in dem der erste Schimmer einer Hoffnung auf Genesung und ein neues Leben ohne Alkohol aufscheint; den Moment, in dem er merkt und in seinem tiefsten Innern akzeptiert, daß er den Kampf gegen den Alkohol verloren hat. Der Zeitpunkt, zu dem ein Alkoholiker – oder jeder, der an einer körperlichen oder geistigen Krankheit leidet – seinen eigenen Zustand akzeptiert, ohne zu begreifen, daß die besten Jahre seines Lebens noch vor ihm liegen, wenn er nur bereit ist, sich selbst zu verzeihen und um Hilfe zu bitten.

IIParallele Welten

Alejandra wurde inmitten von Wäldern und Bergen geboren. Ihre Kindheit war die eines Kindes, das vom Glück begünstigt ist. Sie hatte viele Cousins und Cousinen und einen reizenden Bruder. Aber jeder von uns wird in eine Familie hineingeboren. Seine Freunde kann man sich aussuchen, doch seine Familie nicht. Die Familie ist ein Teil unseres Schicksals, und selbst wenn man versucht, ihr zu entkommen, lassen die Gene es doch nicht zu. Die biologische Information, die in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers enthalten ist, kommt von unseren Eltern und Großeltern und Urgroßeltern her, ja, aus noch fernerer Vergangenheit, von vor Tausenden von Jahren. Wir sind ein Gemisch aus Millionen von Erfahrungen, die unsere Ahnen gemacht haben, und jedesmal, wenn diese Mixtur neu gemischt wird, kommt ein noch komplexerer Gen-Cocktail heraus.

Doch wenn man jung ist, scheint das alles keine Rolle zu spielen. Man kann die Enkelin eines sehr erfolgreichen Mannes sein, einen adeligen Namen tragen und liebevolle, fürsorgliche Eltern haben, die hochangesehene Mitglieder der Gesellschaft sind. Als Kind denkt man noch nicht an all das Böse in der Welt und will nichts weiter, als jeden Moment dieses kostbaren Lebens genießen.

So war es bei Alejandra, einem hübschen kleinen Mädchen mit langem braunem Haar, elfenbeinfarbener Haut und glänzenden schwarzen Augen. In eine wohlhabende, adlige Familie hineingeboren, wuchs sie in einer Zeit auf, in der es nur eine Möglichkeit gab, sich gegenüber der Gesellschaft zu benehmen: Man hielt sich an die Regeln, aß an einem Tisch, auf dem links neben dem Teller drei Gabeln und rechts drei Messer lagen, und machte von diesen mit größter Sorgfalt Gebrauch. So lernen fast alle wohlerzogenen Aristokraten nicht etwa glücklich, sondern vor allem höflich zu sein.

Doch die bestgehüteten Geheimnisse einer Familie sind diejenigen, die die Familie vor anderen verbergen will. Eine Sünde kann man vergeben, nicht jedoch einen Skandal.

Alejandras Vater war Alkoholiker, aber solange der Rest der Welt nichts davon wußte, war das nicht schlimm. Was zählt, ist, wie die Dinge zu sein scheinen, nicht, wie sie wirklich sind. Und schließlich ist man, wenn man Alkoholiker ist, ja nicht krank: Man ist ganz einfach ein Trinker. Ein elender Säufer, könnte man sagen. Wie anders ist es, wenn man Krebs hat! Auch wenn man dreißig Jahre lang zwei Schachteln Zigaretten am Tag geraucht hat! Die Gesellschaft wird niemanden dafür verurteilen, daß er Krebs hat. Man wird mit diesem Menschen Mitleid haben. Aber wenn jemand Alkoholiker ist, dann ist er nicht krank. Dann ist er einfach nur ein elender Säufer, dem es an Willenskraft fehlt.

Alejandra war zu klein, um zu verstehen, woran ihr Vater litt. Sie war erst zwei Jahre alt, als ihr Vater starb. Laut ihrer Familie war er allerdings nicht gestorben: Er war von ihnen gegangen. Arme Leute sterben, aber in der High-Society stirbt man nicht. Man geht hinüber und läßt seine Angehörigen zurück. Und das Alkoholproblem ihres Vaters wurde mit ihm begraben. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Ende der Leseprobe