Die rote Pyramide - Vladimir Sorokin - E-Book

Die rote Pyramide E-Book

Сорокин Владимир

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Beschreibung

Neue Erzählungen von Russlands Meister der Groteske. In »Die rote Pyramide« versammelt Vladimir Sorokin, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands, neun Erzählungen aus den letzten Jahren, die alle auf ganz unnachahmliche Weise das Leben im postkommunistischen Russland aufs Korn nehmen. In den neun Erzählungen, die Vladimir Sorokin für diesen Band zusammengestellt hat, geht es immer um eine durch den Verfall der Sowjetunion deformierte Gesellschaft. Das zeigt sich beim Einzelnen, wie in der Titelgeschichte, in der der junge Jura eine Vision erfährt, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr loslässt. Es zeigt sich aber auch im Politischen, wie in der Geschichte »Lila Schwäne«, in der die russischen Atomsprengköpfe plötzlich in Zuckerhüte verwandelt wurden und man sich nicht anders zu helfen weiß, als einen wundertätigen Religionsgelehrten um Hilfe zu bitten. Und es zeigt sich im Zusammenspiel der Menschen, ihrer gesellschaftlichen Interaktion, wie in der Geschichte »Der Fingernagel«, in der vier befreundete Ehepaare zu einem Abendessen zusammenkommen, das auf Grund von Toilettenpapiermangel vollkommen außer Kontrolle gerät. Vladimir Sorokin gelingt in diesem Erzählungsband das Kunststück, aus scheinbar unabhängigen Einzelgeschichten ein Ganzes zu schaffen. Die Komposition ist strukturiert und ausbalanciert. Sorokin zeigt einmal mehr, wie meisterhaft er auch die kleine Form und verschiedenste stilistische Mittel beherrscht und eröffnet seinen Leser*innen einen Blick auf Russlands Gegenwart und Vergangenheit, die so vergangen eben  doch nicht ist.

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Seitenzahl: 178

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Vladimir Sorokin

Die rote Pyramide

Erzählungen

Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vladimir Sorokin

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Übersicht über die Übersetzungen

Die rote Pyramide

Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge

Wellen

Das rostige Mädchen

Der Fingernagel

Lila Schwäne

Der Tag des Tschekisten

Das Tuch

Hiroshima

Inhaltsverzeichnis

Andreas Tretner

übersetzte die Erzählungen »Die rote Pyramide«, »Das rostige Mädchen«, »Der Fingernagel« und »Lila Schwäne«.

 

Dorothea Trottenberg

übersetzte die Erzählungen »Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge«, »Wellen«, »Der Tag des Tschekisten«, »Das Tuch« und »Hiroshima«.

Inhaltsverzeichnis

Die rote Pyramide

Für Natalja Artamonowa

Also, Jura hat Frjasewo mit Frjasino verwechselt und ist in die falsche Bahn gestiegen.

Natascha hatte es ihm genau erklärt: vom Jaroslawler Bahnhof Richtung Frjasewo oder Schtscholkowo. Sie wohnte in Sagorjanka, wo nicht alle Bahnen hielten. Die nach Frjasewo hielt, die nach Frjasino nicht. Jura war so blöd, sich in die nach Frjasino zu setzen.

»Eine fährt wochentags um Viertel nach sechs«, hatte Natascha ihm gesagt, während sie in der Metrostation Dynamo standen und Eis schleckten, es klemmte zwischen zwei runden Waffeln, Jura hatte es spendiert. »Die hält bei uns garantiert.«

»Und wie viele Stunden … schlurp … fahre ich da?«, fragte Jura, während er ein großes Stück Eis mitsamt Waffel abbiss, dass es krachte.

»Fünfundvierzig Minuten«, sagte Natascha und lächelte. »Um sieben sind Sie da.«

Sie trafen sich schon das dritte Mal und siezten sich immer noch.

»Kommen da viele Leute?«

»Was dachten denn Sie!«, lachte Natascha und wackelte mit dem Kopf.

Das tat sie jedes Mal, wenn sie etwas Witziges sagte. Es wirkte echt – etwas zu echt, an der Grenze zur Naivität oder Dämlichkeit, aber dämlich war sie nicht, das hatte Jura schnell heraus. Überhaupt gefiel sie ihm immer besser: Sie war nicht sehr groß, schlank und gelenkig, braun gebrannt, und sie lachte beinahe immerzu. Ein südlicher Einschlag war nicht zu verkennen, etwas Armenisches oder Moldawisches, vielleicht auch Jüdisches. Jura mochte noch nicht danach fragen. Geballte Lebensfreude ging von ihr aus. Haare schwarz, zu zwei straffen Zöpfen geflochten, die ihren Kopf umrankten.

»Eine Kohorte Verehrer, darf man annehmen?« Das Eis zerfloss ihm, er musste sich sputen.

»Unbedingt!« Natascha wackelte mit dem Kopf.

»Sind Duellpistolen vorrätig?«

»Papa hat eine Doppelflinte!«

»Dann bring ich die Patronen mit.«

»Abgemacht!«

Auf ihren eisfeuchten Lachmund starrend, stellte Jura sich den ersten Kuss vor. Unter blühendem Flieder, beispielsweise.

»Haben Sie Flieder im Garten?«, erkundigte er sich.

»Wir hatten mal welchen. Eine Pracht! Aber der Busch ist verkümmert, Papa hat ihn abgehauen. Nur ein ganz kleines Fliederchen ist übrig.«

Natascha schob den Rest der Waffel in ihren Mund, zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich die Lippen. Sodann ergriff sie ihre Schultasche, die die ganze Zeit zwischen den schlanken, braun gebrannten Beinen gestanden hatte, nahm sie in beide Hände und drückte sie sich vor den Bauch.

»Dann geh ich mal los.«

Und den Kopf geneigt, mit einem Blick von unten herauf, fügte sie an: »Bis Samstag, Jura.«

»Bis Samstag, Natascha«, erwiderte Jura mit erhobener Faust.

Sie drehte sich um und sprang in die Metro – so schnell, wie sie damals in der Turnhalle auf dem Schwebebalken herumgewirbelt war, als Jura sie zum ersten Mal sah: ein leichtfüßiges Rad schlagend, mit beherztem Sprung abgehend und zum Stehen kommend, Arme breit, Kopf in den Nacken, mit strahlendem Gesicht.

Sie war ein Turn-Ass, studierte am Pädagogischen Institut und nahm an der Studentenspartakiade teil, über die Jura, Student im zweiten Jahr an der Fakultät Journalistik der MGU, eine Reportage fürs Universitätsblättchen machte. So lernten sie sich kennen. Als Nächstes gingen sie zusammen ins Kino: Unter den Dächern von Paris, Jura hatte den Film schon gesehen, Natascha auch, sogar drei Mal.

Danach waren sie im Gorki-Park spazieren gegangen. Natascha hatte ihn zum Geburtstag eingeladen.

Und nun war Jura in die Irre gefahren.

Als Geschenk hatte er eine Flasche Sekt und ein Bändchen Walt Whitman in der Übersetzung von Kornej Tschukowski dabei. Das Buch in schöner Aufmachung aus dem Akademia-Verlag hatte bei ihnen zu Hause im Regal gestanden, es entstammte der Büchersammlung des Großvaters. Jura hatte nur einmal kurz hineingesehen, ein bisschen geblättert und es zurück ins Regal gestellt. Erst als er über ein Geschenk für Natascha nachdachte, fiel es ihm wieder ein. Sein Stipendium hatte er schon für drei amerikanische Jazzplatten beim Schwarzhändler auf dem Kusnezki ausgegeben, das verbliebene Geld reichte gerade noch für den Sekt. Von den Eltern erbat Jura seit zwei Monaten kein Geld mehr, aus Prinzip nicht.

Hübsches Buch, guter Dichter, hatte er gedacht und das Buch mit dem Sekt in seine gelblederne Schultertasche geschoben.

In der Bahn hatte er sich im Whitman festgelesen und merkte zu spät, dass er verkehrt fuhr.

»Sagen Sie bitte, wann kommt Sagorjanka?«, fragte er einen dürren, mürrisch dreinblickenden Alten mit Krückstock und einem Laib Brot im Netz.

»Da kannst du lange warten«, versetzte der lakonisch. »Du bist im falschen Zug.«

»Wieso?«

»Wieso, wieso. Weil der nach Frjasino nicht in Sagorjanka hält.«

Jura sprang auf, sah aus dem Fenster. Gebüsch und Telegrafenmasten zogen gemächlich vorbei.

»Und was jetzt?«

»Die nächste ist Seljony Bor. Da steigst du aus und fährst zurück bis Mytischtschi. Von dort nimmst du den Zug nach Frjasewo.«

»Gott, nein!« Deprimiert schlug sich Jura die Faust in die Hand.

»Der hat damit nichts zu tun«, brummte der Alte und starrte finster nach draußen.

Jura schalt sich einen Kretin, nahm seine Tasche und verließ das Abteil. Im Zwischenraum fehlte eine Außentür, die warme Juniluft pfiff herein.

»Gib ’ne Kippe ab, Alter!«, hörte er jemanden hinter sich sagen.

Er wandte sich um. Ein ramponiert wirkender junger Mann lehnte in der Ecke. Jura hatte ihn beim Herauskommen nicht bemerkt. Er warf ihm einen missmutigen Blick zu, holte eine halb leere Packung Astra aus der Hosentasche, Streichhölzer. Zog sich eine Zigarette heraus, reichte die Packung dem Jungen. Der stieß sich von der Wand ab, tat einen Schritt in weiten schwarzen Hosen auf ihn zu, entnahm wortlos eine Zigarette, steckte sie sich zwischen die prallen Lippen. Jura zündete seine an, schmiss das Holz über seine Schulter.

»Gib Feuer an die Lunte«, bat der Junge.

Jura zögerte, wollte etwas sagen wie: Kauf dir welches, riss dann doch ein Hölzchen an, hielt es ihm hin. Der Junge rauchte an. Er hatte ein hageres, blasses Gesicht mit vorspringenden Jochbeinen und fliehendem Kinn.

»Dauert’s noch lange bis Seljony Bor?«, fragte Jura immer noch missmutig.

»Keinen Schimmer. Ich fahr zu Kumpels nach Iwantejewka. Bin nicht von hier. Du auch nicht?«

Jura nickte andeutungsweise.

Der Junge sah Jura aus trüben Augen an, ließ sich wieder gegen die Wand fallen und schloss, die Zigarette zwischen den feuchten Lippen, die Augen bis auf einen Spalt. Jura wandte sich ab, blies den Rauch durch den offenen Türrahmen.

Der Zug hatte es nicht eilig.

Kriecht dahin wie eine Schildkröte, das Scheißding, dachte Jura wütend. Plesiosaurus spasticus. Idiotenschaukel.

Er rauchte die Zigarette zügig zu Ende, schmiss die Kippe hinaus ins vorbeischleichende Staubgrün, kehrte zurück in den Waggon. Dieselben Leute wie zuvor auf denselben Plätzen. Manche, so schien es, beäugten ihn mit spöttischen Blicken.

Recht so, dachte er. Ich bin eine Lachnummer.

Jura klappte den Whitman auf und las. Acht Seiten später eine krächzende Lautsprecherdurchsage: »Seljony Bor.« Jura schnappte seine Tasche und ging in den Vorraum. Der Junge mit den prallen Lippen war nicht mehr da, dafür drei Frauen verschiedenen Alters: eine alte, eine dicke und eine junge.

Der Zug bremste mit widerwärtigem Kreischen. Jura stieg hinter den Frauen aus, sah sich um. Nur wenige waren ausgestiegen, liefen die hölzerne Plattform entlang auf das Dorf zu, dessen Häuser sich klein am Horizont hinter dem Grün abzeichneten. Der Zug kroch davon. Jura fiel ein, dass er auf den gegenüberliegenden Bahnsteig musste, er sprang hinab auf die Schwellen, überquerte die von der Sonne erhitzten Gleise, entdeckte ein paar Holzstufen, stieg hinauf. Auf dem Bahnsteig war niemand. Hier und da eine platt getretene Kippe. Am Stationsschild, einem langen Lattenspalier, hingen nur noch drei Buchstaben: BOR, die übrigen waren als Schatten lesbar. Seljony hat sich verpisst, dachte Jura einen müden Witz, ging zur Bank, deren weißer Anstrich blätterte, setzte sich.

Er schaute auf seine Armbanduhr der Marke Lutsch, ein Geschenk seines Vaters zur Immatrikulation: 18:42.

Die fangen ohne mich an, dachte er.

Er holte die Zigaretten hervor, überlegte kurz und steckte sie wieder weg.

»Ich Idiot!«, stieß er hervor, blinzelte gegen die in den Kiefern hängende Sonne, rotzte vor sich auf die staubigen, abgewetzten Planken.

Es vergingen zwölf Minuten.

Dann noch mal dreizehn.

Dann noch mal zwanzig.

Es kam keine Bahn.

»Das ist der Anschiss. Happy birthday, Natascha!«

Jura erhob sich, lief auf dem Bahnsteig auf und ab. Er war immer noch der Einzige, der hier wartete. Die Sonne stand merklich tiefer nun, zwischen den Stämmen. Mit um die Hüfte baumelnder Tasche trabte Jura über die staubigen Planken, ließ die Sandalen wütend knallen bei jedem Schritt:

»Arschkarte!«

»Scheißladen!«

»Saustall!«

Die Planken dröhnten dumpf unter Juras Sohlen. Das brachte ihn noch mehr in Fahrt. Als er den Bahnsteig in ganzer Länge entlangmarschiert war, machte er kehrt, nahm Anlauf und machte Riesensätze, so wie die Leichtathleten beim Dreisprung, hämmerte seine ganze helle Wut auf sich in das abgenutzte Holz:

»Traumtänzer!«

»Saftsack!«

»Hurensohn!«

Die Planken donnerten gewaltig.

Jura war auf Höhe des Stationsschildes angelangt. … BOR.

»Nasenbohrer!!«

»Laborratte!!«

»Boroul! Wann! Kommt! Die! Scheiß! Bahn!«

»In acht Minuten«, hörte er jemanden sagen.

Jura fuhr herum. Auf der Bank, an der er eben vorbeigejumpt war, saß ein Mann. Das kam so überraschend, dass Jura in seinen Bewegungen erstarb, er stand wie angenagelt. Da saß ein dicker, leicht aufgedunsen wirkender Mann in hellen Sommerklamotten und blickte ihn an.

»Hä? Wie …«, knurrte es aus Jura, der seinen Augen nicht traute.

»In acht Minuten kommt die Bahn«, sprach der Mann.

Sein großes mehlweißes, birnenförmiges Gesicht war ausdruckslos. Nichts, absolut nichts war ihm zu entnehmen. Ein solches Gesicht hatte Jura noch nie im Leben gesehen.

»Die Bahn?«, fragte er zurück und konnte die Augen nicht losreißen.

»Die S-Bahn.«

Nichts-, nullkommanichtssagende Äuglein, die Jura anblickten. Das Gesicht erschien wie eingefroren. Der ganze Mann mausetot, eine Leiche aus der Kühlkammer. Jura wurde mit einem Mal schlecht, wie von zu viel Hitze, das war ihm vorigen Sommer in Baku passiert. Die Knie wurden ihm weich.

»Setzen Sie sich«, kam es aus dem gefrorenen Mund. »Sie haben, scheint’s, zu viel Sonne abgekriegt. Ist ja auch arg heiß für Anfang Juni.«

Jura ließ sich auf die Bank fallen. Ächzte ein wenig und wartete, dass es vorüberging, fuhr sich mit der Hand über die schweißige Stirn.

»Dreisprung ist nicht der passende Sport bei der Hitze«, sprach der Dicke.

Jura schaute ihn an. Der Mann saß da wie zuvor, vor sich hin starrend mit eisigem Blick. Seine Kleidung hatte einen altmodischen Chic: weißer Panamahut, beiger Sommeranzug, darunter ein weißes Hemd mit besticktem Stehkragen. Unter den weiten beigen Hosenaufschlägen schauten weiße Leinenschuhe hervor. Solche hatte ein lustiger Bekannter seines seligen Großvaters immer zur Sommerzeit getragen, Münzsammler, Possenreißer, Suffkopp, auch längst tot. Die komischen Schuhe holten Jura in die Wirklichkeit zurück. Er atmete geräuschvoll aus. Ein, aus. Er hatte sich wieder im Griff, der Schwächeanfall war so schnell vorüber, wie er gekommen war. Die Anspannung verflog. Wo der Typ auf einmal herkam, fragte er sich. Wie vom Himmel gefallen. Wieso hatte er ihn übersehen? Wohl tatsächlich ein Sonnenstich.

Reglos und stoisch blickte der Dicke vor sich hin.

»Acht Minuten, sagten Sie? Sie kennen den Fahrplan wohl auswendig?«

»Nicht nur das.«

»Acht Minuten?«

»Jetzt nur noch sieben.«

»Eine Uhr haben Sie auch noch im Kopf?«

»Nicht nur das.«

Juras Laune wurde immer besser. Er lachte geringschätzig auf und kratzte sich den Nacken.

»Sie sind überhaupt allwissend, wie?«

»So ziemlich, ja.«

»Was folgt auf die Rochade im Schach?«

»Das Mittelspiel.«

»Aha. Und was ist … Beteigeuze?«

»Stern im Sternbild Orion. Roter Überriese, wie die Umlaufbahn des Jupiters um die Sonne so groß.«

»Korrekt! Aber wer ist Dave Brubeck?«

Anstelle einer Antwort spitzten sich die gefrorenen Lippen und pfiffen Take Five – und das ziemlich exakt.

»Boah!«, ächzte Jura beeindruckt, schlug sich auf die Knie und lachte. »Sie sind Musiker, stimmt’s? Musiker sind gute Schachspieler, hab ich recht? Spielen Sie Jazz?«

»Nein«, gab der Dicke ruhig zur Antwort.

»Kommen Sie! Was spielen Sie – Sax? Trompete?«

Der Dicke schwieg.

»Na gut. Sie machen ein Geheimnis draus … Dann sagen Sie mir bitte noch, wo liegt … äh-mm … das Sauerloch, Gniloje Butschilo?«

»Bezirk Twer, Kreis Selisharowo.«

Jura war sprachlos. Diese Örtlichkeit kannte nur, wer in dem Kuhdorf lebte, wohin er mit seinem Vater und Großvater zur Jagd fuhr. Chutor hieß es, im Kreis Selisharowo gelegen. Das Sauerloch war ein von Wald umgebener Sumpf, wo mit Vorliebe Wasservögel nisteten.

Woher wusste er das?

Der Dicke saß da, ohne sich zu rühren.

Wohl ein Telepath? Oder Hypnotiseur! Na genau! So einer wie Wolf Messing, das Geschäft grassierte in letzter Zeit. Dem musste man anders kommen … Jura ließ den Blick durch die Umgebung schweifen. Und sah auf einmal, neben einem Flachbau aus Silikatsteinen, ein verblichenes Transparent stehen: Unser Ziel ist der Kommunismus!

Unter der Schriftzeile ein Lenin-Kopf im Profil.

»Jetzt sagen Sie bitte: Wer war Wladimir Iljitsch Lenin?«, fragte Jura laut und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.

»Der Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte.«

Jura blieb der Mund offen stehen.

»Wie bitte? Die Pyramide des roten was?«

»Des roten Rauschens.«

»Von der hab ich noch nie was gehört.«

»Sie erzeugt das permanente rote Rauschen.«

»Und wo steht die?«

»Im Zentrum der Hauptstadt.«

»Wo genau?«

»Genau in der Mitte.«

»Im Kreml?«

»Nein. Auf dem Roten Platz.«

»Mitten auf dem Platz? Eine Pyramide?«

»Ja.«

»Und wo steht sie da, ganz konkret?«

»Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Platz ein.«

»Den ganzen Platz?! …«

Jura lachte auf. Der dicke Mann blickte stoisch wie zuvor vor sich hin.

»Na wissen Sie!«, meinte Jura. »Ich wohne zufällig ganz in der Nähe vom Roten Platz, in der Pjatnizkaja. Eine rote Pyramide hab ich dort nie stehen sehen.«

»Sie können sie nicht sehen.«

»Aber Sie?«

»Ja.«

Alles klar, dachte Jura. Der Mann halluziniert.

»Und was tut die Pyramide noch mal?«

»Sie strahlt das rote Rauschen aus.«

»So was wie … ein Lautsprecher?«

»Etwas in der Art. Aber mit ganz anderen Wellen. Anderen Schwingungen.«

»Und wozu … strahlt sie die aus?«

»Um die Menschen mit dem roten Rauschen zu infizieren.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Um die innere Ordnung des Menschen zu stören.«

»Stören? Wozu?«

»Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein.«

Ein Staatsfeind, dachte Jura und schaute sich nach allen Seiten um. Aber der Bahnsteig war menschenleer wie zuvor.

»Also, Lenin hat diese Pyramide gebaut?«

»Nicht gebaut. Nur in Gang gesetzt.«

»Eingeschaltet?«

»Sozusagen.«

»Und wer sind die Erbauer?«

»Die kennen Sie nicht.«

»Die Deutschen vielleicht? Marx? Engels?«, grinste Jura.

»Nein, keine Deutschen.«

»Die Amis?«

»Nein.«

»Wer denn dann? Wo kamen die her?«

»Wo sie halt herkamen«, erwiderte der Dicke. »Ihre Bahn kommt.«

Jura sah auf die Gleise, die linker Hand weit hinten in der erhitzten Luft ineinanderliefen, es war noch nichts zu sehen, doch er stand auf, richtete den Riemen seiner Umhängetasche auf der Schulter. Fasste noch einmal das Lenin-Plakat ins Auge.

»Und der Kommunismus?«

Der Dicke hob den gefrorenen Blick.

»Was ist mit dem?«

»Der ist doch die lichte Zukunft, oder nicht?«

»Der ist nicht die lichte Zukunft, sondern das rote Rauschen von heute.«

In dem Moment erklang von ferne das Pfeifen der Lokomotive, und Jura sah die S-Bahn nahen. Einstweilen lautlos, sie war noch weit weg. Jura wollte dem dicken Mann zum Schluss noch etwas sagen, das ihn kränken und lächerlich machen sollte, doch im letzten Moment kam er davon ab. Stumm stand er da, wippte auf der Stelle, wie er es gerne tat, und betrachtete den seltsamen Mann, der da saß und vor sich hin schaute. Nun war die Bahn auch zu hören. Ganz langsam fuhr sie am Bahnsteig ein. Auf einmal wurde Jura bewusst, dass er den Mann nie wiedersehen würde. Dass dieser merkwürdige Mensch unter Garantie auf dem staubigen, leeren Bahnsteig sitzen bleiben, nicht etwa nach Moskau fahren würde. Dass er überhaupt nirgendwohin fuhr. Nicht vorstellbar, wohin dieser Mann hätte fahren können. Er war wie verwachsen mit dieser Bank. Mit einem Mal wurde Jura furchtbar schwer ums Herz. So sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten.

Mit dem üblichen Kreischen kam die Bahn zum Stehen.

Wie automatisch stieg Jura ein. Betrat das Innere des Wagens, setzte sich. Fuhr mit den Fingern durch die Augen, sah durchs Fenster hinaus auf den Bahnsteig. Der Mann saß auf der Bank. Schaute vor sich hin. Etwas an diesem Mann kam ihm jetzt quälend vertraut vor.

Die Bahn fuhr wieder an.

Reglos saß Jura auf seinem Platz. Schwermut hatte sich breitgemacht in ihm, aber auch Ruhe war eingekehrt. Er hatte es nicht mehr eilig. War völlig gedankenlos. Anstelle von Gedanken hatte der letzte Satz des Dicken sich in seinem Kopf verhakt: »das rote Rauschen von heute«.

Starr blickte Jura aus dem Fenster auf all das Grün, die Telegrafenmasten, Häuser, Autos, Müllkippen, Laderampen, Kräne, Kohlehaufen, Heizhäuser, Menschen, Vögel, Ziegen, Hunde.

Nataschas Geburtstag hatte er vollkommen vergessen. Stieg in Mytischtschi nicht aus.

Erst als der Zug in den Jaroslawler Bahnhof einfuhr, schrak er aus der Versenkung. Kaum stand der Zug, war die Erstarrung wie weggeblasen, Jura sprang auf. Stieg mit den übrigen Fahrgästen aus, trat beiseite, zog die Zigaretten hervor.

Und was war mit dem Geburtstag? Sagorjanka, Natascha, war da was? … Ich bin bescheuert, dachte er, die Bahnsteinkante entlangtrabend.

»Idiot!«, fluchte er und spuckte herzhaft aus.

Rauchend trollte er sich durch das abendliche Moskau. Querte die Sadowaja, lief auf die Pjatnizkaja zu, nach Hause.

Die Zigarette half ihm in die Realität zurück.

»Klarer Fall von Hypnose«, sprach er vor sich hin. »Ich Hirni bin dem Typen auf den Leim gegangen, aber heftig! Rotes Rauschen! Rrrausch, rrrausch-sch! Frisch aus der Pyramide!«

Er lief durch das Abendlicht. Zog im Gehen die Sektflasche aus der Tasche und öffnete sie. Der Korken schoss mit lautem Knall hervor, flog gegen die benachbarte Hauswand, eine Alte fuhr zusammen. Warmer, süßlicher Sekt schäumte hervor. Jura trank, besudelte sein Hemd dabei.

Noch ehe er vor seiner Haustür stand, hatte er das klebrige Zeug ausgetrunken, stellte die leere Flasche auf irgendeine Fensterbank.

Zu Hause las er die neue Nummer der Junost und ging früher als sonst schlafen.

 

Der nächste Tag war ein Sonntag.

Am Montag schrieb Jura zwei Testate. Am Dienstag nach der Uni fuhr er ins Dynamo-Stadion, wo die Spartakiade eben zu Ende ging. Beim Betreten des Turnsaals wäre er beinahe mit Natascha zusammengestoßen. Sie war im dunkelblauen Trikot, die Hände weiß vom Talkum, und auf dem Weg in die Umkleide.

»Hallo«, sagte er und blieb stehen.

»Hallo«, erwiderte sie, ihr ewiges Lächeln im Gesicht, und ging weiter.

Es war das letzte Mal, dass sie sich sahen.

 

Jura machte den Abschluss in Journalistik und heiratete Albina, deren Eltern mit seinen seit je befreundet waren. Mit Unterstützung seines Vaters, der einen hohen Posten im Verkehrsministerium innehatte, bekam er eine Stelle bei der Komsomolskaja Prawda. Albina brachte einen Sohn zur Welt, Wjatscheslaw. Ende der Sechziger trat Jura in die Partei ein und wechselte zu den Iswestija. Unterdessen kam Tochter Julia zur Welt. Mitte der Siebziger bekam er die Stelle als stellvertretender Abteilungsleiter beim Ogonjok angeboten. Er verließ die Iswestija und ging zum Ogonjok.

An jenem Julimorgen nahm er wie gewöhnlich ein schnelles Frühstück ein, setzte sich in den weißen Wolga des Vaters und fuhr zur Redaktion. Eben überquerte er die Große Moskwa-Brücke, als sein Herz zu krampfen und zu flattern anfing, dass ihm der Atem stockte. Er fuhr an den Straßenrand und hielt an. Atmete tief und gleichmäßig, massierte dabei die Hegu-Punkte auf den Handrücken, wie ein Arzt es ihn gelehrt hatte. Er hatte schon des Öfteren Herzprobleme gehabt. Das erste Mal nach dem Skandal auf seinen geharnischten Artikel in den Iswestija hin, den der Stellvertreter des Chefredakteurs während dessen Urlaub »unbedacht« hatte durchgehen lassen. Jura wurde in die Stadtparteileitung zitiert. »Sie haben eine rote Linie überschritten«, sagte dort einer zu ihm, der das Gesicht eines alten Wolfes hatte. Der stellvertretende Chef wurde krachend gefeuert. Juras Karriere hatte damals am seidenen Faden gehangen. Wie durch ein Wunder hatte er sich gehalten, wobei die Parteiverbindungen des Vaters das Wunder bewirkt hatten. Aber das Herz trug einen Knacks davon, er habe einen Mikroinfarkt gehabt, sagten die Ärzte. Er fuhr mit Albina acht Wochen zur Kur. Das zweite Mal hatte er unter den Eskapaden des Sohnes zu leiden gehabt, der in eine üble Geschichte geraten war, kollektive Vergewaltigung im Studentenwohnheim. Gegen den Jungen wurde ermittelt, Juras Vater war vor Kurzem gestorben und konnte nicht mehr helfen, Jura musste selbst den Canossagang durch die Büros antreten, betteln und sich erniedrigen. Der Sohn kam auf Bewährung davon. Selbst schluckte er im Anschluss ein halbes Jahr lang Tabletten. Hernach war alles ausgestanden.

Aber jetzt, aber jetzt, aber jetzt.

Das Herz flatterte.

So hatte er es noch nicht erlebt. Jura fing an zu keuchen. Er stieg aus, ging zur Brüstung, legte die Hände auf den kalten Granit, blickte hinab in die morgendliche Moskwa und atmete. Aus dem Fluss wehte es kühl herauf. Langsam bekam sich Jura wieder in die Gewalt. Aber das Herz hörte zu flattern nicht auf, es zappelte wie ein kleines Tier, das in der Falle saß. An der Angel hing. An Fäden tanzte. Cancan. Fanfan.

Jura atmete, atmete, atmete.