Die Sache mit Maria - Herbert Otto - E-Book
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Die Sache mit Maria E-Book

Herbert Otto

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Beschreibung

„Ein Reh tauchte plötzlich von links auf, ganz dicht. Der Fahrer hatte noch sachte gebremst, es fehlten nur Zentimeter. Mit hundertzwanzig voll auf ein Tier dieser Größe. Amen. Alles wäre weitergegangen ohne sie. Und Willi wäre dran gewesen mit der Rede. Ungeschminkt, das war die Bedingung. Trauergäste. Macht eure längsten Gesichter. Wo, zur Hölle, stand das nur wieder. Also, Leute. Dieser hier, Robert Gassen, Rohrschlosser von Natur, Kommunist mit stark anarchistischem Einschlag, Trunkenbold und Schürzenjäger, immer zwischen Held der Arbeit und Parteiverfahren - dieser, Trauergäste, starb unverdient früh. Er hat gern gelebt, aus vollem Halse. Es kotzte ihn an, und er liebte es. Die Mathematik liebte er, einen Großbau beherrschte er. Fast alle Mittel waren ihm recht, wenn er einen Kessel baute und Termine hielt. Oder wenn er ein Weib wollte. Er hinterlässt einundzwanzig Dampferzeuger, den letzten unvollendet. - Er hasste die Heuchelei, die Selbstsüchtigen und die Bürokraten, die er reizen konnte bis zu Infarkt und Magengeschwür. Er empfing noch die Würde eines Oberingenieurs. Direktor für Produktion zu werden, lehnte er strikt und bis zum letzten Augenaufschlag ab; denn zu seinem Weltbild gehörte die Vorstellung, jeder solle genau den Platz in dieser Gesellschaft einnehmen, den auszufüllen er imstande sei. Er hinterlässt Mariechen, die noch nichts weiß und die wir nicht finden konnten. Vielleicht ahnt sie etwas. Denn sie war anders. Und auch er zu ihr. Und war schon geändert worden durch sie. Das fing eben an: das Hinausdenken über sich selbst und auf sie. - Sterben wollte er in Gummistiefeln. Gestorben ist er in den beigefarbenen Schuhen, den einzigen, die er besaß, und in dem billigen grauen Flanell, den er widerwillig anzog und nur selten oder wenn es Orden gab. Dieselben sehen Sie dort links, Trauergäste. Bis auf einen, der verlorenging. Und bis auf die, die ihm nicht verliehn wurden, obwohl er sie verdient hatte. Denn ein Held, Trauergäste, war er nie. Ein Held hat rund zu sein, wie wir wissen ...“

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Seitenzahl: 347

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Impressum

Herbert Otto

Die Sache mit Maria

Roman

ISBN 978-3-95655-317-2 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1976 im Aufbau-Verlag, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1. Kapitel

Es war der fünfte April. Das Datum vergaß er später, den Tag aber nicht.

Sie fuhren in die Stadt, und Robert war auffallend gut gelaunt. Das Fernschreiben war gegen neun gekommen. Er trug es bei sich und hatte noch zu keinem ein Wort gesagt. Alles erst auskosten, in aller Ruhe und innerlich, zergehen lassen auf der Zunge.

Er hatte dann Willi gesucht und gefragt: Nichts zu erledigen in der Stadt.

Doch. Müsste zu Irenchen. Kindergartenplätze. Willi machte nebenher allerlei Soziales. Kommissar für Freud und Leid, was er früher schon mal war. Das lag ihm, und er konnte es nicht lassen.

Erst fuhren sie zu Cox, weil sie Reifen brauchten. Der Mann war kein reines Vergnügen: Fuhrunternehmer, adrett und immer schmutzig, listenreich und stadtbekannt. Aber sie brauchten ihn gelegentlich, weil es praktisch war. Cox telefonierte nur, und sie bekamen, was sie wollten. In seinem Büro tranken sie auf Gott und die Welt und auf die Hand, die eine andere wäscht. Witze auch. Und wieder neue Fotos an den Wänden. Bei Cox gab es mehr Fotos nackter Damen als Geschäftspapiere. Sie tranken eine Flasche zu dritt, und es war elf Uhr fünfzehn.

Was sollte noch werden aus dem Tag.

Unterwegs zum Parkplatz am Theater, wo Schnuppe mit dem Auto wartete, blieb Robert plötzlich stehen. Es war das Sarggeschäft in der Spremberger Straße. Nach einer knappen Minute des Schweigens und der Sammlung fühlten sie sich eingestimmt. Der passende Gesichtsausdruck war gefunden. Sie betraten den Laden. Einen Hut hätte man haben müssen oder irgendetwas für die Hände.

„Guten Tag, die Herren“, sagte die Dame.

„Guten Tag.“

Ton und Haltung schienen angemessen. Um so weniger war es ihre Kleidung, denn sie trugen blaue Wattejacken, grobes Schuhwerk und die Arbeitshosen.

Kurz gesagt: ein Todesfall. Man hat uns beauftragt. Sie verstehen. Es kam überraschend, wie so oft. Und viel zu früh natürlich. Die Dame sagte, sie verstünde. Was es denn sein sollte. Schlicht oder doch mehr feierlich.

„Er war ein schlichter Mensch“, sagte Willi unnützerweise.

Sechs oder acht verschiedene Exemplare standen im Halbdunkel des Ladens, alle auf Böcken, die man schwarz verkleidet hatte, helles Holz oder dunkler, glatt oder mit Schnitzwerk und Beschlägen. Alles nur eine Sache des Preises.

„Der Preis spielt keine Rolle“, sagte Robert, und von nun an würde er besser den Mund halten, das merkte er schon.

„Dieser hier ist ein sehr schönes Stück. Die Beschläge natürlich Handarbeit.“

„Wie viel? Ich meine etwa“, sagte Willi.

„Vierhundertachtzig“, sagte die Dame bescheiden.

Nur Willi jetzt nicht ansehen, wie er die treuen Augen machte und artig nickte, die Hände unschuldig verschränkt wie ein Pastor.

„Und der Deckel?“, fragte er vorsichtig. „Kann man ihn öffnen?“

Die Dame tat es.

„Auch innen, sehen Sie.“

„Das Problem ist“, sagte Willi. „Der Mann. Der Tote, meine ich, war ein starker Mann. Und groß.“

„Ja ...“ Es hätte nun gepasst, wenn er und Robert einen fragenden Blick gewechselt hätten. Das trauten sie sich aber nicht. Willi hob flach die Hand in die Höhe, etwa so. Oder.

Und nun geschah es und ging sehr schnell.

„Wissen Sie“, sagte Willi und bückte sich. Robert sah ihn die Schuhbänder öffnen. Tatsächlich. Der schöne Willi, dreiundvierzig Jahre alt im kommenden Oktober, mehrfacher Aktivist, Verdienter Meister des Volkes, machte es wahr. Die Dame hatte dergleichen nie erlebt, das sah man.

Schon stand er auf einem der verkleideten Böcke und sagte: „Wird das halten. Sie gestatten doch.“ Er stieg hinein. Sekundenlang saß er regungslos, streckte sich dann schnell aus, die Augen bereits geschlossen. Er griff noch über sich, um den verbleibenden Abstand zwischen Kopf und Stirnwand mit der Hand zu messen.

„Passt“, sagte er.

Den Unterkiefer ließ er nun langsam fallen, und er hatte kaum die Hände gefaltet, als das Zucken begann, vom Bauch her, wo die Hände lagen, wie Stöße eines Bebens. Die ersten konnte er noch niederhalten, dann war nichts mehr zu machen. Er lachte los und hörte, wie Robert den Laden verließ.

Er lag noch und lachte, begann herauszuklettern. Wenn er nur den Bock jetzt nicht verfehlte. Er sah fast nichts, denn die Augen tränten. Hineinzukommen war wirklich einfacher gewesen.

„Das ist empörend, wissen Sie!“, sagte die Dame.

„Ja, das stimmt“, sagte er, wischte die Tränen und suchte seine Schuhe. „Es gibt auch keinerlei Entschuldigung.“

„Nein. Die gibt es wahrhaftig nicht.“

„Der Herr, der schon gegangen ist, und ich“, sagte Willi. „Wir kennen uns schon hundert Jahre. Oder länger. Und jeder hat jedem angedroht, an seinem Grab die Rede zu halten. Wir wissen nur noch nicht, wer es sein wird.“

„Ich muss Sie jetzt auffordern, mein Geschäft zu verlassen!“

„Ich hatte doch Schuhe.“ Willi suchte immer noch. „Wir mussten einfach sehen, wie das aussieht. Wenn Sie uns für diesmal verzeihen.“

Da standen die Schuhe. Er stieg nur hinein.

„Wir melden uns, wenn es so weit ist“, sagte er und schlurfte hinaus.

Robert saß schon im Auto. Schnuppe, der Fahrer, wollte wissen, wohin, bekam aber keine Antwort. Sie lachten nur. Probeliegen hatten sie früher schon gemacht, in der Zwischenbelegung auf den Betten, mit Laken und einer Kerze, die man auf die Stirn bekam. Sie hatten viel Spaß gehabt. Aber verglichen mit heute.

„Ohne Sarg ist eben Scheiße“, sagte Willi. „Du musst einen Sarg haben.“

„Müssen wir bauen“, sagte Robert.

„Also wohin?“, fragte Schnuppe wieder.

„Auf die Baustelle“, sagte Robert.

Unterwegs hielten sie an der Bärenschenke bei Witwe Margot. Ihr Mittagstisch war in der ganzen Gegend berühmt. Sie kamen aber selten so früh am Tage hierher.

Robert ging in die Küche. Margot umarmte ihn nicht, weil eine der Frauen aus dem Dorf, die ihr zur Hand gingen, am Herd stand. Dabei hätte sie es tun können, es wusste ohnehin jeder Bescheid. Sie drückte nur seine Hand fest gegen ihren Leib.

Die Schenke brauchte endlich einen Mann. Während dieser Monate hatte sie immer wieder vom Haus und seinen Bewohnern erzählt, so, als könnte sie ihm die Tragödien der Familie anhängen wie Gewichte.

Und eines Tages müsste er bleiben.

Fünfzig Jahre war die Bärenschenke alt, gegründet vom Großvater, der Schmied war und im ersten Krieg den linken Arm verlor. Einarmig beschneidest du keinen Huf und beschlägst kein Pferd. Bald danach wurde der älteste Sohn vor der Haustür vom Viehhändler Sauer aus Räschen überfahren. Die Straße machte schon immer diese scharfe Kurve. Neununddreißig übernahm der jüngste Sohn Erich die Wirtschaft, marschierte später bis in die Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo er, wie die Nachricht behauptete, einen heldenhaften Tod fand.

Seine einzige Tochter Margot heiratete mit zwanzig; ihr Mann starb früh an einer kranken Leber. Ihr Sohn hieß auch Erich. Nach einem künftigen Gastwirt sah er nicht aus, versprach eher Fußballer zu werden oder Dichter, denn er schrieb seltsame Geschichten, immer das Unverhoffte, wie in der Prosa von Joyce, von dessen Existenz freilich niemand im Haus wusste.

Margot war jetzt zweiunddreißig, eine Spur zu stark bereits, um als Schönheit zu gelten, aber energisch und gesund. Haus und Küche hielt sie zusammen, eine angenehme, aber strenge Wirtin. Sie packte fest zu, wenn sie was tat.

Auch im Bett.

Nur Robert kam infrage. Von allen nur er und in jeder Hinsicht. So musste ein Gastwirt beschaffen sein, kräftig und Figur machen hinter der Theke. Es gibt immer mal Ärger am späten Abend, und da ist es gut, wenn der Wirt Respekt einflößt, einfach dasteht und dem Schreihals ein Zeichen macht mit dem Kopf. Schluss jetzt. Raus und Feierabend.

Als sie nach dem Essen abfuhren, ging Margot mit hinaus. Sie küsste ihn im Flur. Sie wollte wissen, ob er am Abend käme.

„Viel zu tun“, sagte er

Das Gegenteil stimmte. In letzter Zeit hatte er so wenig auf dem Bau zu tun wie selten vorher, und er mochte ihn nicht mehr. Kein gutes Zeichen, wenn er anfing, einen Bau nicht mehr zu mögen. Nun war es so weit; er konnte weg. Endlich was Neues. Er sagte auch Margot nichts, die ein gewisses Recht gehabt hätte, es zu erfahren. Er wird es ihr heute nicht sagen. Morgen. Wer weiß.

Willi zeigte er das Fernschreiben auf der Rückfahrt.

„Na also. Ist doch in Ordnung“, sagte der.

„Na ja“, sagte Robert, denn die Sache gefiel ihm und gefiel ihm auch wieder nicht.

Der Text lautete: Von Kombinatsdirektor an Baustellenleiter in Breitenbach. Mit Wirkung vom 10. April vorübergehend Kraftwerk Knappendorf als Beauftragter der Kombinatsleitung. Mit Sondervollmacht ausgestattet. Stippekohl.

Senkfuß hatte zugeschlagen, hatte lange überlegt und aus dem Hinterhalt zugeschlagen.

Seit der Kindheit führten sie ihren Krieg, damals jeder Häuptling einer anderen Bande. Und sie hatten sich gegenseitig reingelegt. Das bestimmte ihr Verhältnis his auf den heutigen Tag. Weisungen seines Chefs nannte Robert Befehle. Um die Absichten des anderen früh genug zu erkennen, schickten sie gegenseitig Späher aus oder lagen selbst auf der Lauer. Zu Sitzungen in die Zentrale fuhr Robert nur widerwillig; er mochte es noch immer nicht, wenn Walter ihn zu sich rief.

Auch die letzte Beratung Anfang März in Berlin hatte er versäumt. Unterwegs auf der Autobahn war er umgekehrt, aus plötzlicher Wut übet Stippekohl, den er nicht Senkfuß oder Walter nannte, wenn er wütend war, sondern Stippekohl. Er hatte in der „Seeterrasse“ Station gemacht, sich an Rita erinnert, natürlich, zwei Tische weiter hatte sie gesessen, er sein Auge auf ihr, überwindet sich und tanzt. Daran sieht man, wie lange das her ist. Beim Tanz fragt er, ob sie Zeit hätte. Am besten bis morgen früh. Und weil sie wieder nicht antwortet, sagt er: Na, wie ist das. Stunde zwanzig Mark. Da lässt sie ihn stehen, bezahlt und geht mit der Freundin. Halbe Stunde später gehen sie auch. Wer steht draußen. Sie. Er hat sich aber nie entschuldigt für die Grobheit, nur bisschen erklärt. So erfährt man manchmal, wer wer ist. Das Geld übrigens hat sie genommen. Zwei Kinder, und der Mann im Gefängnis. Inzwischen hatte sie den zweiten Mann und wieder Pech. Also los, Schnuppe. Zu meiner alten Freundin Rita. Zeit, dass wieder was losgeht. Und er war hängen geblieben bis zum Morgengrauen.

Drei Tage später fuhr er doch in die Zentrale, ungerufen diesmal. Anfangs redeten sie das Übliche. Robert sagte dann: „Ich muss weg dort.“

„Wieso weg? Wohin?“

„Na, weg. Was Neues.“

Diese Unrast immer. Er kann nicht ertragen, wenn ein Bau geht wie von selber, wie am Schnürchen. Da stimmt was nicht, und das Fieber fängt an. Weg und was Neues. Er meinte die Baustelle Hopppenrade, und Walter wusste das genau, ging aber nicht darauf ein.

„Mach erst mal zu Ende.“

„Es ist zu Ende“, sagte Robert.

Dabei steckten sie mitten in der Arbeit. Von den acht Blöcken, die das Kraftwerk Breitenbach bekommen sollte, waren drei am Netz, der vierte lief zur Probe. Kessel fünf stand vor dem Abschluss und der sechste war zur Hälfte montiert.

Das hieß für Robert: es war zu Ende. Selbst der schlechteste Bauleiter konnte nun nichts mehr verderben. Es machte ihn krank, nur noch die Zeit abzusitzen, dabeizustehen und zuzusehen, wie alles lief. Er wollte Hopppenrade, wo in achtzehn Monaten die Montage beginnen sollte. Er wollte die neuen großen Kessel bauen. Man musste jetzt dort anfangen, denn gute Vorbereitung ist der halbe Bau. Er wäre auf der Stelle und zu Fuß hingegangen.

Aber Walter würde ihn nicht schicken, würde sich der Mehrheit in der Direktion beugen und einen anderen bestimmen. Die Gründe kannte Robert. Es gelang heute viel seltener, einen hinters Licht zu führen; denn die Mittel waren fein und leise geworden, man brachte weit mehr Geduld auf als damals, um den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten. Und schließlich: es war kein Spiel mehr.

„Du musst mit Kessel fünf abrechnen“, sagte Walter.

„Wenn er fertig ist, kriegst du ihn“, sagte Robert. „Zwanzigsten April.“

„Viel zu spät. Ich brauch ihn im ersten Quartal. Schreib Teildruckprobe oder was. Ich brauch das Geld.“

„Zwanzigsten März?“

„Das reicht.“

„Ganove“, sagte Robert.

„Zuhälter“, sagte Walter.

Das war Anfang März gewesen. Und nun hatte Stippekohl zugeschlagen. Das Schreiben gefiel Robert nicht, obwohl er sich etwas Ähnliches gewünscht hatte: weg hier und wieder etwas an fangen und riskieren. Was bekam er? Eine verfahrene Karre, die man aus dem Dreck ziehen sollte. Bitte sehr. Auch das, denn er hatte Übung. Und Sondervollmacht hörte sich schließlich gut an. Was ihn störte, war die Machart. Walter musste vor vier Wochen genau gewusst haben, was er vorhatte. Storch, der Bauleiter in Knappendorf, war von der Arbeitsbühne gefallen und lag mit schweren Brüchen im Krankenhaus. Sein Vertreter schafft es nicht. Also. Du musst hin. Und du hast Spaß an so was. Kenn dich doch. Aber nein. Kein einziges Wort.

Dieses Fernschreiben las Robert: so: Der Räuberhauptmann hier bin ich. Das musste mal wieder gesagt werden. Stippekohl.

Diese Runde geht an dich. Senkfuß. Aber warten wir ab. Es kommen noch mehr.

Am frühen Abend sagte er zu Willi und Ludwig: „Fahren wir was trinken.1

Er war zu feige, allein zu fahren. Margot freute sich, dass er doch noch kam. Wie immer saßen sie hinten rechts in der Gaststube und tranken zunächst nur Bier. Früher als sonst bestellte Robert den ersten Kaffee. Sein Schweigen fiel nicht sonderlich auf, er schwieg häufig. Über das Fernschreiben hatte er, außer mit Willi, noch zu keinem gesprochen.

In der anderen Ecke saßen Männer aus dem Dorf, unter ihnen Maurer Heinrich, den sie Fluchtenmaurer nannten. Ludwig zettelte wieder ein Wortgefecht mit ihm an, aber Robert hörte nicht zu.

Die Geschichte vom Kohlenhändler Jonas und dem Pferd war ihm eingefallen. Er hatte sie schon öfter im Leben als Vergleich benutzt. Es war ein einfaches Stück mit zwei Rollen, die man vertauschen konnte.

Diesmal spielte Margot das Pferd.

Die Geschichte trug sich in der Turmgasse zu, in der Robert seine Kindheit verbracht hatte. Die Gasse, nur knapp drei Meter breit, führte zum Hügel hinauf, wo die Kirche stand. Die Häuser waren schmal und schwach, einige schon dreihundert Jahre alt, und sie hatten begonnen, sich über die Gasse hin einander zuzuneigen.

Etwa auf halber Höhe der Steigung stand Großvaters Haus, schräg gegenüber das des Kohlenhändlers Jonas. Sein Holz-und-Kohlen-Platz lag in der Unterstadt, aber nach fünfundvierzig gab es weder Holz noch Kohlen zu verkaufen. Ein kleiner Wagen und ein Pferd waren ihm wunderbar erhalten geblieben, und der alte Jonas machte Fahrten für die neue Stadtverwaltung: Tische, Schränke, ein Klavier von da nach da. Es schien ihm sicherer, das Gespann abends mit nach Hause zu nehmen. Nach hinten zu lag ein winziger Hof, und Olga, das Pferd, kam in den Schuppen. Eine Toreinfahrt gab es natürlich nicht, nur die Haustür und eine flache steinerne Stufe davor.

Wenn Jonas abends kam, hielt er unten an der Turmgasse an und holte die Frau, die hinten am Wagen schieben musste. Jonas zog das Pferd. Die Steigung war beträchtlich, das Pflaster schlecht, und Olga halte ihre Jugend lange hinter sich. Aber Jonas zog und redete ihr zu. Sie gab ihr Bestes. Nach zwanzig Metern, wenn Olga schon fast erschöpft war, nahm Jonas die Rinde Brot aus der Tasche und hielt sie ihr vors Maul. Olga roch das Brot, kam aber nicht heran. So gab sie das Allerletzte, stemmte sich, glitt aus und zog. Immer der Geruch des Brotes und das Verlangen nach Wärme und nach Wohlbehagen im Bauch. Immer nahm sie noch Kraft von irgendwoher. Und weiter, nach links nun durch die Haustür in den schmalen Flur; die Stufe vor der Tür war die letzte Anstrengung.

Endlich stand sie im Schuppen, erschöpft und traurig. Es war wie jeden Abend: keine Spur mehr von Brot. Olga hat es nie bekommen, es war nicht die Zeit, um Pferden Brot zu geben. Jonas legte den Kanten in der Küche auf den Tisch, und nächsten Morgen, wenn Brot im Hause war, schnitt er ein anderes Stück zurecht und packte es ein für den Abend. Für Olga.

Jeder war irgendwann im Leben Olga oder Jonas, lief der Rinde Brot nach, ohne sie je zu bekommen, oder zeigte sie vor, um sie wieder einzustecken. Robert kannte auch Leute, die spielten immer das Pferd oder immer den Jonas. Oder sie spielten einen Jonas, der gar kein Brot hatte und Versprechungen machte. Und manche spielten eine Olga, die schon wusste, dass sie leer ausging, oder einen Jonas, der das Brot hergab oder doch teilte mit dem Pferd, oder schließlich einen, der einfach sagte: Wir haben jetzt kein Brot. Das gibt es später, vielleicht.

Margot jedenfalls spielte das Pferd. Er ging zwar voraus, aber er hielt nichts in der Hand, er ging voraus und schwieg. Und sie stellte sich das Brot nur vor. Sie würden bald ankommen, und sie würde im Schuppen stehen etwas müder als das letzte Mal. Und traurig. Es war nicht mehr weit. Sie würden wohl heute noch ankommen.

„Etwas Bier, Frau Wirtin!“, rief Ludwig.

Robert stand plötzlich auf und ging, vom Beifall seiner Leute begleitet, hinter die Theke, was er leider viel zu selten tat; denn es gefiel Margot, ihn am Bierhahn zu sehen, wie er die verschiedenen Flaschen nahm, öffnete, eingoss. Die Gläser wurden immer eine Spur zu voll. Er machte noch Fehler mit den Plastemarken, die man von einem Teller auf einen anderen legen musste, wenn ein Bier abgezapft war. Das würde er schon noch lernen. Weit und breit gab es keinen Gastwirt von solcher Statur. Wenn er erst die Lederschürze trüge, die aus Nappa, die vom Großvater stammte und schon bereitlag. Ihren Beifall sollten sie sich sparen. Schon manchem ist der Witz plötzlich ausgegangen.

„Frau Wirtin“, rief Ludwig. „Fragen Sie mal den Wirt, ob er einen mittrinkt.“

Da gab sie keine Antwort, lächelte nur kurz hinüber zur Theke, zum Wirt.

Also stand er und hielt die Gläser schräg, strich den Schaum ab in andere Gläser. Der Rohrschlosser und Meister und Ingenieur des Großkesselbaus. Träger des Ordens Banner der Arbeit, der Mathematiker und Praktiker, dem kaum einer etwas vormachte, der unhaltbare Termine hielt mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln, der Partisan in dieser Schlacht um mehr Energie. Er zapfte Bier, der Kommunist und Kesselschreck, und goss drei Deutsche ein.

Doppelte!

Ja doch. Doppelte.

Es war höchste Zeit, dass er damit Schluss machte. In der Gaststube gab es jetzt kaum noch einen leeren Stuhl. Alle kannten ihn und hätten ihn als Gastwirt angenommen, bezogen ihn immer mit ein und mochten seine knappe Rede und sein Schweigen. Er spielte noch mit, und ihm war jämmerlich zumute. Zum ersten Mal tat Margot ihm leid. Eine miese Regung ist das Mitleid. Man kann sich anständig vorkommen und kann der mieseste Jonas sein, wenn man nur schön Mitleid hat mit dem Pferd.

Als Schnuppe kurz vor Mitternacht mit dem Auto kam, hatten die letzten Gäste aus dem Dorf das Lokal verlassen. Margot schloss ah. Alle, außer Robert, wollten noch ein Schnitzel mit Ei. Schon hatte er die Katze wieder auf dem Schoß, dieser Ludwig.

„Dass Sie mir das Tier in Frieden lassen!“

„Aber Frau Wirtin“, sagte Ludwig. „Eine Katze nur im Notfall. Fragen Sie den Chef.“ Zu seiner Wirkung bei Frauen, die man ihm zuschrieb, gehörte wohl, dass er einen zugleich durchtriebenen wie treuherzigen Blick beherrschte und auf gewinnende Art frech und anzüglich sein konnte. Bei Margot traf er nur auf Abneigung, und es wurmte ihn, was er nie zu erkennen gab. Er hütete sich, den Chef zu verärgern.

Nachdem sie gegessen hatten, zapfte Robert noch eine Runde Bier ab. Margot ging eilig ins Wohnzimmer hinüber, nahm das Päckchen aus dem Schrank, das sie so lange gehütet hatte, und kehrte zurück.

„Nimm die Arme hoch“, sagte sie entschlossen und band ihm feierlich die feine lederne Schürze um. Vor aller Augen machte sie ihren Antrag. Die Tränen kamen ihr. Ein weißes Hemd dazu dachte sie noch. Wie er nun ging mit dem Bier und der Schürze. Großvater hätte ihre Wahl gutgeheißen.

„Sieh dir das an“, rief Willi. „Er kann anziehen, was er will. Er macht was her.“

Margot verschwand in der Küche. Einen anderen wollte sie nicht. Es gab ja auch keinen. Keiner, der so war. Manchmal trank er zu viel. Na gut. Oder er kam mit seiner ganzen Meute an wie am ersten Abend. Einundzwanzigster Oktober. Ein Donnerstag. Das wusste sie noch. Ein schönes halbes Jahr, wenn sie manches wegstrich. Sie war bereit, das wegzustreichen. Sein launisches Verhalten, das von Überarbeitung herrühren mochte, dieses maßlose Trinken, wenn die anderen mitkamen. Gegen Morgen sah die Küche zum Fürchten aus, die Bratensoße überall verschüttet, auf Tisch und Stühlen und am Fußboden Gurkenlauge. Bier, Eierschalen. Einer hatte fünf rohe Eier gegessen und der Katze Likör gegeben. Sie ertappte ihn, wie er, die betrunkene Katze auf dem Schoß, ihren Schwanz in eine Flasche mit Tomatenmark schraubte. Es war dieser Ludwig, und sie mochte ihn nicht. Sie mochte das Warten auf Robert nicht, das vergebliche Warten und die Meute. Aber Robert brauchte diese Leute wohl, und lieber sollte es so sein, als dass er eines Tages überhaupt nicht mehr käme.

Margot heulte wahrscheinlich draußen. Er hatte gehen und sie trösten sollen, konnte aber nicht. Was zu sagen wäre, würde er heute doch nicht mehr sagen. Übermorgen vielleicht. Er wollte allein herkommen. Und am Tage. Es war kein Gespräch für die Nacht.

Eine halbe Stunde später fuhren sie ab.

„Warum bleibst du nicht“, fragte Margot, als die anderen schon draußen waren.

„Ich muss zeitig weg morgen“, sagte er. Es stimmte nicht.

„Lass dich abholen.“

„Ich muss nach Berlin. Und noch allerhand vorbereiten.“

Wenn schon gelogen, dann so, dass man die Lüge auch gebrauchen konnte.

„Aber du kannst dich holen lassen. Wie oft hast, du dich holen lassen. Du willst nicht bleiben.“

„Wollen. Man will, und andere wollen wieder ganz was anderes.“ Und nun sagte er: „Ich muss wahrscheinlich weg hier.“

„Wohin?“

„Andere Baustelle.“

„Und wann? Wohin?“

„Hinter Leipzig. Vielleicht bald.“

Er spürte noch immer, wie ihre Schultern und Arme schwer wurden wie von Müdigkeit. Sie hatten im Flur gestanden, nur die Lampe vor der Haustür hatte gebrannt. Im Halbdunkel waren ihre Augen unnatürlich groß und fremd gewesen. Die Trauer und der Zorn in ihrem Blick hatten ihn nicht so erschreckt wie die Fremdheit ihrer Augen.

Unterwegs öffnete Ludwig die Flasche Eierlikör, die er aus dem Regal hinter der Theke genommen hatte. Es kam gelegentlich vor, dass sie etwas einsteckten in irgendeiner Kneipe. Ludwig reichte die Flasche nach vorn zu Robert. Der nahm sie aber nicht.

„Ihr sollt dort nicht klauen, hab ich gesagt.“

„Ja, ja“, sagte Ludwig und trank. „Geht alles ab von deinem Anteil.“

„Halt an!“, sagte Robert laut. Schnuppe bremste scharf und stand.

„Willst du wieder aussteigen?“

Ludwig brummte nur etwas vor sich hin.

Es war zwei Wochen her, als Ludwig aussteigen musste auf dieser Strecke. Sie hatten bei Margot Roberts vierzigsten Geburtstag gefeiert, und auf der Heimfahrt, früh am Morgen, fingen sie an zu singen. Ludwig, lauter als alle, gibt immer den Ton an, singt plötzlich los: Die Fahne hoch. Alkohol, der auch den Bodensatz aufrührt. Die Reihen fest geschlossen. Daa daa marschiert, singt Ludwig. Bei Kriegsschluss war er höchstens zehn. Die anderen schweigen. Und Robert schreit: Schluss. Halt an. Steig aus, los. Wortlos stieg er aus. Dreizehn Kilometer noch bis Breitenbach.

Da war das heute harmlos. Wahrhaftig.

„Fahr weiter“, sagte Robert zu Schnuppe.

2. Kapitel

Seit drei Tagen lief er im Gelände umher, immer ohne Begleitung und scheinbar planlos. Er redete mit niemandem, es sei denn, er traf einen alten Bekannten, was zwei- oder dreimal täglich geschah. Er saß oder stand irgendwo, rauchte und prägte sich ein, was er sah. Nur darauf verließ er sich; mit Berichten oder Erklärungen fing er nichts an.

Eine Woche hatte er sich Zeit gegeben, dann würde er wissen, was vorging und was man ändern musste.

Die ersten beiden Kessel waren übergeben und liefen ziemlich stabil. Er sah sich Kessel zwei an und ging dann ins Turbinenhaus. Er wird fünfundneunzig machen oder weniger. Weniger, dachte Robert. Und er hätte es wieder vergessen können. Was ging es ihn an, wie viel Megawatt der Block im Augenblick leistete. Fertige Kessel gingen ihn nichts an, von Garantiearbeiten abgesehen. Wegen der vier anderen war er hier, der fast fertigen, halb fertigen und noch nicht begonnenen. Wegen der Pannen und Stillstände, der Löcher und Fallgruben in der Technologie. Was stehst du also rum und glotzt die Turbine an. Sie bekommt ihren Dampf und läuft. Fertig.

Aber seltsamerweise ging er doch in die Blockwarte. Später hat er oft an diesen Augenblick zurückgedacht. Vielleicht wären sie sich nie begegnet. Sicher nicht. Tausende Menschen, drei Werktore, drei Verkaufsstellen für Lebensmittel und Getränke, zwei Speisesäle. Und jeder ging in einen anderen. Nur an diesem Vormittag konnten sie sich treffen, und nur, weil er nicht nach rechts weiterging durchs Turbinenhaus zurück zu Kessel vier und fünf, sondern nach links und in die Blockwarte.

Fünf, sechs Leute im Raum. Er sah sie sofort. Sie saß nur halb auf ihrem Drehstuhl, schräg zum Pult und setzte Zahlen in ein Vordruckpapier ein. Zwischendurch blickte sie auf eines der Instrumente. Dann konnte er ihr Profil sehen. Die Brille stand ihr gut. Das Haar trug sie streng nach hinten und zu einem Knoten gekämmt. Sie hatte tiefschwarzes Haar, das sie vielleicht färbte . Und wenn. Ihr Kleid war blau und orange gemustert, nach der Art türkischer Tücher. Im Haarknoten eine Schleife von hellblauer Farbe. Schwarze Lederstiefel.

Minutenlang stand Robert an der Tür und sah sie an, ohne noch zu wissen, weshalb er gekommen war. Plötzlich setzte sie die Brille ab, nahm das Blatt und ging eilig hinaus. Der Blick, den sie ihm zuwarf, besagte nichts. Dutzende solcher Blicke wechselt man täglich, und das Leben geht weiter wie bisher.

Als er nach einer Weile die Blockwarte verließ, war sie verschwunden. Wenn er von da ab an sie dachte, nannte er sie die Bunte. Und er würde morgen wieder vorbeigehen.

Am frühen Mittag dieses Tages sah man ihn oben auf Kessel drei sitzen, eine Stunde oder länger, sah ihn rauchen, plötzlich aufstehen und umhergehen. Dann saß er wieder, starrte hinunter, immer in dieselbe Richtung. Entweder starrte er die Gleise an, die hinüber zur Vormontage liefen, oder die Kräne oder die Lasten, die sie von den Waggons zogen und einschwenkten.

Inzwischen hatte sich herumgesprochen, wer er war, denn es gab viele, die ihn nicht kannten oder nur vom Hörensagen.

Gassen Robert.

Hat der was am Kopp?

Läuft rum wie falsches Geld.

Ein Verrückter.

Wieso?

Der holt jeden verfahrenen Kessel aus dem Dreck.

Ein Schlaumeier, wie?

Saß also auf fünfzig Meter sechsundachtzig, wo die Kesseldecke noch fehlte, weil der Winter zu lange gedauert hatte und sie nicht ausmauern konnten, turnte über die Träger wie im Zirkus, stieg hinunter und erschien dreißig Minuten später wieder dort oben. Diesmal hatte er Jeschke Fritz, den sie Eule nannten, mit hinaufgenommen. Eule, Ende Dreißig, war Rohrschlosser und leitete den Meisterbereich Vormontage.

Bisher hatte Robert kaum zehn Sätze mit ihm gewechselt, und immer hatte Eule widersprochen, knapp und unbeherrscht und ohne den geringsten Versuch zu machen, mit seiner Meinung über Robert hinterm Berg zu halten. Wenn du denkst, du kommst hier an und kannst alles umschmeißen von heut auf morgen.

Nicht mit mir. Jeder Bau hat Puls und hat sein Innenleben. Besserwisser haben wir die Menge hier. Und Spinner.

Robert brauchte solche Leute. Er brauchte den Widerstand. Wer sofort einverstanden war, mit dem konnte man nichts umkrempeln.

„Was meinst du, was ich hier oben alles sehe?“, fragte er.

„Landschaft“, sagte Eule nach einem giftigen Schweigen.

An einem grauen regnerischen Tag wie heute fühlte sich auch die Landschaft nicht wohl. Die Teiche hinterm Dorf hatten krauses Wasser vom Wind, wirkten kleiner als sonst und schmutzig.

„Außer Landschaft sehe ich eine Kesseldecke, die nicht da ist. Dann sehe ich“, und Robert blickte auf die Uhr, „dass heute der Vierzehnte ist. Am Dreißigsten soll die Turbine laufen, und ich sehe, dass sie nicht laufen wird.“

„Das sehe ich auch unten alles“, sagte Eule.

„Ich meine, wenn wir so weitermachen, läuft sie nicht“, sagte Robert. „Dann sehe ich, dass hinten bei euch zu wenig vormontiert wird.“

„Und ich sehe“, sagte Eule, „dass du mich jetzt bald am Arsch lecken kannst.“

„Lass mich ausreden. Das Verhältnis stimmt nicht. Wir müssen den Grad der Vormontage erhöhen. Der Rückstand an Kessel vier muss kleiner werden. Und nicht noch größer. Setz dich!“

„Ich bleib stehen.“

„Außerdem sehe ich, dass die Vormontage und die Montage zusammengelegt werden müssen. Wir könnten den Bereich Heizflächen nennen. Willst du den übernehmen?“

„Nein“, sagte Eule einfach.

„Dann hört der lästige Zustand auf, dass du und der Meister von Montage dauernd Krieg führen, einer den anderen beschuldigt, während jeder sein Schäfchen ins Trockene bringt. Die beiden Bereiche sind eine Einheit. Du kannst sie übernehmen.“

„Nein. Ich mach meine Arbeit und fertig.“

„Du machst deine Arbeit nicht gut genug.“

„In Ordnung. Ich hau jetzt ab.“

„Du bleibst hier!“, brüllte Robert, es gefiel ihm, wie der andere die Zähne zeigte. Ohne Einsicht rühren sie kein Bein, diese Typen. Er gehörte selbst zu dieser Sorte. Früher ganz bestimmt und heute auch noch oft.

„Du sollst herkommen!“

Eule kam aber nicht. Robert sah ihn fluchend die Leiter hinuntersteigen. Genau der richtige Mann. Wir gründen einen Bereich für besondere Aufgaben. Und er bekommt ihn. Angefangen wird mit der Kesseldecke, und Robert ahnte auch schon, wie. Eule wird diese Arbeit übernehmen. In einer knappen Woche muss das geschafft sein. Aber einen Bereich für Besonderes werden wir nicht bilden. Das wäre natürlich Quatsch. Das kam so aus dem Augenblick. Als Eingebung, wie man sagt . Bei Eingebungen musst du aufpassen. Das weißt du.

Im Zimmer des Bauleiters in der Baracke hatte Robert einen Tisch, der bis auf einen Aschenbecher und ein Telefon vollkommen leer war. Klein, der amtierende Bauleiter, saß ihm gegenüber. Robert teilte ihm seine Entscheidungen mit: Die beiden Bereiche werden zusammengelegt, die Leitung hat vorübergehend der Meister der Montage. Eule übernimmt die Kesseldecke. Termin: sofort.

„Es ist dreizehn Uhr. Eule kann jetzt nach Hause gehen. Um neunzehn Uhr geht seine Schicht weiter. Er soll hierherkommen. Sag ihm das. Und er soll sich erkundigen, wo man hier in der Gegend Kies auftreiben kann. Ja, ja. Kies Und sag ihm, dass es Sachen gibt, da vertrage ich keinen Spaß.“

Dann suchte Robert den Verantwortlichen für Transport und Hebezeuge. Er fand ihn in der Werkstatt.

„Wo kriegen wir Kies her?“

„Wann?“

„Sofort. Morgen.“

„Wie viel?“

„Zwanzig Kubikmeter.“

„Das dauert wenigstens eine Woche“, sagte der Mann. Er machte einen ruhigen, verlässlichen Eindruck, und Robert glaubte ihm.

„Gibt es keine Kiesgruben in der Nähe?“

„In der Nähe nicht.“

„Horch dich mal um. Sag mir nachher Bescheid. Und wenn wir das Zeug irgendwo klauen müssen in der Nacht. Zwei Fünftonner und einen kleinen Greifer brauch ich. Ab morgen Nachmittag.“

„In Ordnung.“

„Und ich brauch einen Fahrer“, sagte Robert, denn Schnuppe hatte er nicht mitnehmen wollen. Der war ein Familienmensch. Die ließ man besser dort, wo sie hingehörten.

„Was für einen Fahrer?“

„Du kennst die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und das Maul halten. Und trinkfest muss er sein. Den Rest sag ich ihm selber.“

„Ich wüsste schon einen“, sagte der Mann. „Er ist Filmvorführer bei Landfilm und mein Schwager. Hat gerade Urlaub.“

„Schick ihn heut Abend her“, sagte Robert.

Also fing es an.

Auf dieses Gefühl hatte er gewartet: anstoßen und Bewegung erzeugen, die dich mitbewegt und hochträgt. Du bist wieder im Ring und hast Gegner und ein Risiko. Du hörst das Knirschen im Getriebe, das widerwillige Anlaufen. Hier musst du beschleunigen, dort etwas weniger. Pass auf. Behalt die Kontrolle.

In der Verkaufsstelle summten laut die Neonröhren wie ein Schwarm Insekten. Man musste einen Klaps kriegen, wenn man hier den ganzen Tag stand. Robert kaufte Brötchen, Heringsfilets in Tomaten und zwei Äpfel. An seinem Schreibtisch schnitt er mit dem Messer die Büchse auf und aß sie leer.

Also Willi.

Der Sekretärin hatte er die Nummer gegeben und hörte draußen das Klicken im Telefonschrank. Die Null, die Null, die Neun, die Drei. Schluss. Wieder von vorn. Er aß den Apfel. Willi wird Augen machen. Und mancher in Berlin wird Augen machen. Wütende Fernschreiben werden kommen, er wird sie lesen, eine Nummer drauf schreiben und abheften lassen. Entweder Sondervollmacht oder keine. Stippekohl wird ankommen, denn sie werden ihm die Hölle heiß machen. Sieh dir das an. Was der dort macht, dein Verrückter. Spielt den Produktionsdirektor und den Kaderleiter und alles zusammen.

Es klingelte.

„Willi!“

„Ja.“

„Hast du schon gehört?“ Er konnte überhaupt nichts gehört haben. Von wem denn?

„Was?“

„Du kommst hierher. Noch nichts davon gehört?“

„Nein. Wer sagt das?“

„Ich sag das. Pack deinen Karton und lass dich herfahren. Wann bist du hier? Gegen neunzehn Uhr? Bis dann.“

Was sollte ich machen, Genossen. Brauchen wir Strom? Ja. Und ich brauch den Willi. Fertig.

Er aß den zweiten Apfel, und die Bunte fiel ihm ein, wie sie schräg da saß, schwarze Stiefel, kurzes Kleid, und dann vorbeiging. Ein gewöhnlicher Blick, eher ungnädig als herausfordernd. Etwas schwimmend und weich. Wie nackt. Ein Blick ohne Folgen. Hast du dir gedacht, mein Kind.

Der Friedhof sollte ziemlich genau zwischen beiden Dörfern liegen, etwa dreihundert Meter abseits der Straße. Ein Feldweg mit Bäumen sollte hinüberführen. Der Tipp stammte von einem Schweißer, der hier in der Nähe wohnte.

Es war schon dunkel, aber sie fanden die Stelle.

Von der Straße aus gingen sie zu Fuß: der neue Fahrer, der einen brauchbaren Eindruck machte und so gut wie eingestellt war, Eule, der hartnäckig schwieg, und Willi und Robert. Von Weitem wirkte der Friedhof wie ein Wäldchen. Rechts und links, jedes Mal einen guten Kilometer entfernt, schimmerten die Lichter der Dörfer, die sich den Totenacker teilten.

Vor dem Portal am Zaun lag der Kies. Tatsächlich. Er war wohl für die Haupt- und Nebenwege des Friedhofs gedacht gewesen und lag schon ein Weilchen hier, denn das Unkraut wucherte bereits. Nun würde er überraschend eine eigenwillige Verwendung finden. Kies hatte man für diesen Zweck noch nie benutzt.

Es war, soweit man das beurteilen konnte, gute Qualität. Waschkies.

„Was schätzt du, Eule“, fragte Robert. „Wie viel ist das?“

„Hab ich Ahnung von Kies“, sagte Eule. „Brauch keinen Kies.“

„Und wie wir den brauchen“, erwiderte Robert. „Was schätzt du. Zehn Kubikmeter.“

„Das sind fünfzehn, mindestens“, sagte Willi.

„Eule, wo steckst du denn?“

Er stand irgendwo abseits, um damit anzudeuten, dass er mit solchem Schwachsinn nichts zu tun haben wollte. Kies für die Kesseldecke. Hatte man so was schon gehört. Da steh ich doch nur da und denke, mein Schwein pfeift. Da denk ich doch, mich streift ein Bus.

„Was ist denn?“

„Morgen Nacht holen wir das Zeug“, sagte Robert. „Um drei Uhr früh ist hier nichts mehr davon zu sehen. Hörst du, Eule?“

„Ja, ich höre.“

Robert lief immer noch aufgeregt um den Haufen, freute sich, rieb die Hände wie ein Gaukler. Scharrte oder griff mit den Händen hinein: kleine und mittelgroße Steine. Lächerlich. Ein Haufen Kies. Nichts weiter. Aber dass man ihn jetzt brauchte und dass er hier lag und man ihn holen konnte.

Welch ein Schnippchen schlug man der Zeit und den Bedingungen, die so verstockt und unerbittlich waren. Im Augenblick spürte Robert nur dieses einfache Vergnügen: einen Wettlauf gewinnen, der nicht mehr zu gewinnen war, auch durch übermächtige Anstrengung nicht. Eine Idee aber hatte genügt. Etwas Gedankenkraft. Und das Spiel gegen die Uhr war entschieden. Die Rechnung würde er vielleicht später irgendwann aufmachen. Knapp tausend Stunden Arbeitszeit gespart, den Block Tage früher ans Netz gebracht, die Konventionalstrafe wegen Terminverzug, wenn nicht eingespart, so doch verringert. Einige Hunderttausend auf der einen Seite, auf der anderen dieser vergessene Haufen Kieselsteine, der Kubikmeter zu zwölf Mark fünfzig.

Seine eigene Idee war es übrigens nicht; er hatte sich nur zur rechten Zeit erinnert. Der Vorschlag war ihm vor Jahren begegnet, in irgendeiner Baubude bei der Durchsicht alter Akten. Wer weiß, wie dein Name war, Kumpel. Keiner hat dich damals ernst genommen. Sie haben dein Papier abgeheftet und vergessen. Morgen Nacht holen wir alles nach. Und die Trauergemeinden mögen uns verzeihen, dass die Wege zwischen den Gräbern nun so bleiben werden. Den Toten ist es gleichgültig.

In der Gastwirtschaft von Altliebel saßen sie am Tisch hinter dem Ofen. Runde Bier und Schnaps, Herr Wirt. Und ein Blatt Papier. Und Bleistift, wenn Sie haben.

Robert zog zwei waagerechte Striche, dazwischen liegt der Todraum, den jeder Kessel oben hat. Unterer Strich: die feuergasberührte Decke; oberer Strich: die Abschlussdecke. Unten die Lage Feuerbeton und statt des Isoliermauerwerks und der Abdichtungen, was uns zwei Wochen kosten würde und viel Geld - nun doch schon der Gedanke an die Kosten - statt dessen schütten wir eine schöne Lage schönen Kies, zweihundert Millimeter stark. Zwei Lagen Isolierung drüber. Fertig. Drei, vier Tage. Länger darf das nicht dauern, Eule. Ganz allein deine Sache, wie lange das jetzt dauert.

Robert hielt sein Glas hoch. Eule auch. Eine Zeit lang sahen sie sich in die Augen, und es schien, als wollte Eule anstoßen mit diesem Kerl, gegen den er sich sträuben und zur Wehr setzen musste, weil der übergeschnappt und geltungssüchtig war und alles besser wusste, aber auch alles, und dem die Sturheit aus den Augen guckte. Weiß man selber vielleicht nichts und kommt vom Mond und muss sich sagen lassen, man arbeitet schlecht.

Aber das hier war nicht von der Hand zu weisen. Wirklich. Und könnte sogar gehen. Sein Zögern dauerte eine Spur zu lange. Robert trank jetzt und hatte einen respektablen Schluck.

Eule, ohne zu trinken, stellte sein Glas wieder hin. Es gefiel ihm nicht, dass er bereit gewesen wäre, anzustoßen.

Nun zu dir, mein Freund.

Der neue Fahrer hieß Anton, gelernter Betriebsschlosser für Landtechnik. Er hatte eine Frau und ein Kind.

„Du führst also Filme vor“, sagte Robert. „Richtige Filme.“

„Na ja“, sagte Anton fast schuldbewusst.

„Und du verwechselst immer die Akte, sagt dein Schwager.“

„Verwechseln ist selten. Aber manchmal fehlt eine Rolle. Irgendwo liegen geblieben. Und dann fehlt sie.“

„Merkt doch keiner“, sagte Willi.

„Bei den ganz schlechten Filmen vielleicht nicht“, sagte Anton.

„Und bei den weniger schlechten?“, fragte Robert.

„Ich erzähl eben, was in der Rolle passiert, mach Licht an und erzähl das bisschen, und dann geht’s weiter“, sagte Anton.

„Also willst du bei uns anfangen?“

„Wenn sie mich weglassen.“

„Du machst den Aufhebungsvertrag und erledigt“, sagte Robert. „Kraftwerke sind wichtiger als Kino. Erst Strom und dann Kultur.“

Diese Formel benutzten sie gern. Sie klang beinahe wissenschaftlich und war bequem.

„Kultur aufs Land ist genauso wichtig“, erwiderte Anton, denn auf dem Lehrgang für Filmvorführer hatten sie nicht nur Technik gelernt.

„Aber das siehst du falsch“, sagte Willi, und wer ihn nicht kannte und den Schalk nicht bemerkte, im Blick und in der Stimme, nahm ihn ernst. „Ohne Elektrizität gibt es rein gar nichts. Das hat Lenin schon immer gesagt. Kein Bier, keine Zeitung, keine Revolution, kein Fernsehen. Kannst du dir Kino ohne Strom vorstellen? Also. Erst kommt der Strom, wie ein berühmter Dichter sagt, dann kommt die Moral. Kultur heißt Strom. Was ist denn Kultur? Ein anderes Wort für Strom. Sonst gar nichts.“

Anton zeigte sich beeindruckt. Und er wusste nicht genau.

„Also bist du eingestellt als Reparaturschlosser im Kombinat Kessel- und Turbinenbau“, sagte Robert. „Und bist mein Fahrer. Du hörst nichts und siehst nichts. Und lass die Weiber in Frieden, die mir gefallen. Ich hatte einen, der konnte das nicht. Den musste ich rausschmeißen.“

„Geht schon in Ordnung“, sagte Anton.

In der folgenden Nacht holten sie den Kies, und vier Tage später war die Kesseldecke fertig.

Deine Prämie, Kumpel, hätte sich sehen lassen können.

Und Eule war der richtige Mann. Auch wenn er es Robert gegenüber nicht zugab noch zeigte: es hatte ihn gepackt. Die Sache selbst überzeugte ihn. Die unglaubliche Kiste mit dem Kies für die Decke. Nicht der Mann, der ihn beleidigt hatte und nichts mehr davon zu wissen schien, gegen den er kühl blieb, dem er, wo es ging, auswich, den er nicht einbezog, wenn er seine Geschichten erzählte, und der ihn, hol’s der Henker, stark an den Ochsen erinnerte, den sie damals bekamen und mit dem er sich tief verfeindete; ein Vorfall, den fast alle hier kannten. Nur der Gassen noch nicht, der noch lange nicht.

Kam jedenfalls schön in Schwung, dieser Eule. Gegen seinen Willen. Wer dauernd widerspenstig ist und die Widerstände, die er aufrichtet, dauernd überwinden muss, kommt richtig in Schwung davon.

Aber die Bunte war tagelang überhaupt nicht zu sehen, bis sie in der Spätschicht wieder auftauchte. Die Sache muss endlich angepackt werden. Hier muss Willi einspringen mit seiner Erfahrung und seinem Talent. Die Sache mit der Bunten. Der schöne Willi.

Schön, dass er da ist.

Er sah zwei Kraftfelder, die die Welt und sein Leben bewegten: die Frauen und der Klassenkampf. Nicht, dass er die beiden Zentren säuberlich getrennt sah; sie griffen ineinander, bauten sich gegenseitig auf und aus. Das eine mehr Natur, natürlich auch Gesellschaft; das andere mehr Gesellschaft, natürlich auch Natur. Und es kam vor, dass sie sich störten. Störung wurde Kampf, dem dann die Einheit wieder folgte.

Vor zweiundzwanzig Jahren, als er und Robert sich in Alberts Kesselbude kennenlernten, überwog die Störung. Willi war zwanzig, noch etwas mehr Wesen der Natur als der Gesellschaft. In kurzer Zeit erhielt er zwei Parteistrafen wegen Unmoral. Das Wort Vielweiberei wurde in den Sitzungen nie verwendet.

Im oberen Querfach seines Kleiderschranks in der Wohnbaracke - es war die Montagezeit in Stralsund - lagen links die Werkzeuge des Klassenkampfs: zwei Bände Lenin, ein Heft von MaoTse-tung, das Manifest und zwei Bände Marx und Engels, Lesezeichen bei den Feuerbach-Thesen und bei der Rede Engels’ an Marxens Grab. Daneben die anderen Werkzeuge: Bürste, Kamm, Pomaden und Duftwässer. Die Locken, die er vom Vater hatte, wuchsen zu jener Zeit noch üppig, und er verstand sie einzusetzen wie eine Waffe. In der Agitation war ihm kaum einer gewachsen, bei Frauen hielt er nie stand.

Einen Anzug besaß er damals nicht. Otti besaß einen, der von Willis Vorgänger stammte und einfach dageblieben war: englischer Stoff mit original Webekante, dunkles Braun und Überkaro. Im Ganzen gesehen, passte der Anzug, und Willi durfte ihn manchmal mitnehmen, natürlich nur, wenn er triftige Gründe vorbringen konnte, und niemals am Wochenende. Ihn auch noch ausstaffieren und herausputzen zum Fremdgehen. Nicht bei Otti.

Robert und die anderen verfassten einen Brief: Lieber Herr Willi. Ob Sie sich noch an mich erinnern? Als ich mit meiner Freundin Waltraut in der „Seeschwalbe“ war. da hatte ich den rot gestreiften Pulli von meiner kleineren Schwester an. Sie erinnern sich bestimmt an den Pulli. Er sitzt ganz schön zu eng bei mir. Sie sprachen immer viel von dem Pulli. Sie haben auch gefragt, ob ich mal Zeit habe. Am Mittwoch komme ich nach Stralsund. Gegenüber von der „Seeschwalbe“ ist das Uhrengeschäft. Dort bin ich zwischen halb sieben und sieben. Oder ich fahre erst mit dem nächsten Bus. Dann komme ich um halb acht. Ich habe halblange rotblonde Haare. Jetzt erinnern Sie sich bestimmt. Damals habe ich einen falschen Namen gesagt. In Wirklichkeit heiße ich Ingeborg. Ich würde mich wirklich freuen. Sie auch? Viele Grüße ...

Das Briefpapier war rosa. Einer hatte seiner Schwester eine Pressblume ausgespannt, die sie mit einigen Tropfen von Willis Duftwasser veredelten.

Der Brief traf am Montag ein und setzte Willi in Flammen. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, denn die erwähnten Einzelheiten stammten alle aus seinen Erzählungen.

Also saßen sie am Mittwoch in der „Seeschwalbe“ an einem Tisch am Fenster, tranken und sahen ihn schräg gegenüber auf und ab laufen. Ein kalter Tag Ende März. Er trug Ottis Anzug und seinen alten Übergangsmantel. Unterm Anzug, wie stets in solchen Fällen, den Schlafanzug - sauber war er immer schon.

Draußen ging scharfer Wind. Zwei Schaufenster hatte der Laden, und Willi machte immer zwölf Schritte hin und zwölf Schlitte zurück. Wie im Käfig. Blieb nur stehen, wenn er auf die Uhr über der Ladentür sah. Und weiter. Auch das war eine seiner Stärken: die Ausdauer. Nun lief er schon eine Stunde, durchgefroren bis aufs Mark, aber immer noch ungebrochen in seiner Zuversicht. Auf den Gedanken, hinauszugehen und ihn herüberzurufen, kam niemand. Kurz vor acht erst gab er endlich auf, kam in die „Seeschwalbe“, wo der Tanz schon begonnen hatte, und sah sie alle am Fenster sitzen.

„Sieh mal, der Willi!“

„Der sieht ganz blau aus.“

„Wie ist das mit Grog“, sagte Robert.

„Ihr Hunde“, sagte Willi und blieb heiter und lachte, als hätte er den Schabernack erfunden.

Oder später im Juni dreiundfünfzig. Am Siebzehnten gegen neun Uhr verließen einige den Arbeitsplatz. Es gelang Willi nicht, sie zurückzuhalten. Zwei Stunden später, von dieser Kundgebung kommend, waren sie böse und aufgeheizt, machten Krawall und fingen an, die Werkzeugkisten umzustoßen und die Schweißbrenner von der Arbeitsbühne hinunterzuwerfen.

Seid ihr verrückt geworden, musste Willi gesagt haben, und einer schrie: Du hältst dein Maul. Klugscheißer. Sonst hauen wir dir die Fresse voll. Oder so ähnlich. Willi ging dazwischen. Sie hätten ihn zusammengeschlagen und womöglich von der Bühne gestoßen, die neun Meter hoch war.

Wenn Robert neutral geblieben wäre.