Die Schatten des Löwen - Al Steiger - E-Book

Die Schatten des Löwen E-Book

Al Steiger

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Beschreibung

Das Schicksal von Burg Wildstein im Schatten des Löwen An einem eiskalten Januartag ersucht der halbwüchsige Knabe Tankred um Quartier auf Burg Wildstein. In seinem Besitz befindet sich eine geheimnisvolle Botschaft seiner verstorbenen Mutter, die ausschließlich für den Burgherrn Markward, dem einstigen Vertrauten von Richard Löwenherz, bestimmt ist. Die Begegnung mit Tankred weckt in dem Ritter alte Erinnerungen, weshalb er dem Jungen erlaubt, auf seiner Burg zu bleiben. Er soll von Markwards einstigem Kreuzzug-Gefährten, dem Sarazenen Malik, zum Knappen ausgebildet werden. Doch in der Festung brodelt es: Rainald, Markwards leiblicher Sohn, sieht seinen Anspruch auf das Erbe Wildsteins bedroht. Doch während er verzweifelt versucht, seinen Platz zu behaupten, wird Tankred mehr und mehr vom dahergelaufenen Landstreicher zu einem edlen Ritter. Zwischen Verrat, Intrigen und der schweren Last der Vergangenheit könnte Tankreds mysteriöse Botschaft das Machtgefüge der Burg Wildstein für immer verändern - wäre da nicht Rainalds Hass auf alles, was mit dem Herrschergeschlecht der "Welfen" zu tun hat ...

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Für Gundola

INHALT

Der Knappe

Der Ritter

Der Erbe

Epilog

Nachwort und Glossar

DER KNAPPE

1.

Als wollte er all dies mit Blicken schier zertrümmern, stierte Ritter Markward auf Platten und Schüsseln samt Fleisch und Brot und allerlei Gebäck, die auf der gedeckten Tafel vor ihm reich platziert standen.

Mit der Rechten hielt er seinen silbernen Weinbecher gepackt, und der Duft des mit Honig gesüßten Weins stieg ihm in die Nase – doch selbst jener vermochte seinen wachsenden Grimm nicht annähernd zu besänftigen. Denn ihm gegenüber hockte Adalbert von Aue, Nachbar und auch Gefährte vor langer Zeit auf dem Zug ins Heilige Land – und der Anlass für seinen Grimm.

Trotz des prasselnden Feuers im hohen, offenen Kamin war es bitterkalt an jenem Abend im Januar des Jahres 1206; doch Markward spürte die Kälte nicht. Er knallte den Becher auf die Tafel, erhob sich und versetzte seinem Hocker einen Fußtritt, der das Möbel ans Ende des Rittersaals bis vor den Kamin schleuderte. Die Flammen der Fackeln an den Wänden aus groben Feldsteinen fingen an zu züngeln, so als fürchteten sie den Grimm des alten Ritters mit den wallenden, eisgrauen Haaren und den dunklen Augen.

Mit klobigen Händen stützte der sich nun schwer auf den Rand der Tafel und musterte den Nachbarn mit finsterem Blick aus schmalen Augenlidern. »Nehmt Euer Schandwort zurück, Adalbert«, mahnte er mit leiser Stimme. »Ich warte, Adalbert.«

Die hagere Gestalt aber blieb ohne Regung. Nur ein spöttisches Lächeln spielte über das schmale Antlitz mit der langen Hakennase. »Sucht Ihr Streit? Wollt Ihr Feindschaft um der alten Geschichten wegen?«, und das Lächeln verschwand. »Doch was wahr ist, darf gesagt werden: Es war einzig die Schuld von Richard Löwenherz, dass wir Jerusalem nicht erstürmen durften. Da er zauderte, blieb uns die Heilige Stadt verwehrt. Nur er allein vermochte den Angriff zu befehlen.«

Ungestüm stieß Markward sich von der Tafel ab, und seine massige Gestalt richtete sich drohend auf. »Unsinn!«, dröhnte die tiefe Stimme sodann durch den Saal. »Richard durfte den Angriff nicht wagen, da der feige Philipp von Frankreich ihn im Stich gelassen hatte! Johanniter, Templer, die Barone: Alle hatten sie gezaudert, keiner hatte sich getraut. Und mit solch verkommenem Haufen hätte der König einen Angriff wagen sollen? Ich danke Gott, dass Richard dereinst kein solcher Narr gewesen ist, wie Ihr nun einer seid.« Markward spürte sein Herz pochen. Nahezu vierzehn Jahre waren seither vergangen, doch immer noch sah er König Richards Abbild so klar und lebendig vor sich, als sei all dies erst vor Jahresfrist geschehen …

Malik, der Sarazene, der an einer der Längsseiten der Tafel saß, hatte bisher zu allem geschwiegen und nur immer wieder von einem zum anderen geblickt. Das dunkle, von einem schwarzen Vollbart umrahmte Antlitz zeigte keine Regung. »Ritter Markward hat recht«, wandte er sich nun an Adalbert. Er gebrauchte die ihm fremde Sprache fehlerlos, doch klangen die Worte rau und hart. »Richard durfte nicht angreifen. Bedenkt: Nach Philipps Abzug war er alleiniger Befehlshaber; seine Entscheidungen und seine Erfolge der einzige Halt für die Truppen. Was, hätte er versagt?«

Abschätzig verzog Adalbert die Mundwinkel. »Ihr verteidigt ihn, Malik – Ihr? Ihr ward doch unter den Gefangenen, denen Richard den Schädel abschlagen ließ. Allein durch Markwards Fürsprache seid Ihr am Leben, sonst hätte man Euch geköpft wie all die anderen.«

Maliks Gestalt straffte sich, und die große Narbe auf der rechten Wange schien dunkel werden zu wollen gleich den Augen. »Es war Krieg, Adalbert. Solche Dinge geschehen, selbst wenn sie nicht geschehen sollten. So schmälert denn mit Eurem Gerede nicht das edle Ansehen eines des größten Eures Standes.

Dies legt Euch ein Sarazene ans Herz, der gegen Richard und seine aufrechten Ritter gefochten hat.«

Sogleich fingen Markwards Augen an zu leuchten. »Gut gesprochen, Malik!«, und er warf Adalbert einen abfälligen Blick zu. »Im kleinen Finger vereint Ihr mehr Ritterlichkeit als so mancher, für den dies bloß ein hohles Wort ohne jeden Wert sein mag.«

»Welfenpack!«

Aller Blicke richteten sich zugleich auf den bald fünfzehnjährigen Rainald, der Malik gegenüber saß, und nun Markward, seinen Vater, anschaute, ohne eine Miene zu verziehen. »Heinrich, den sie den Löwen nannten. Richard, kein Welfe, doch wiederum ein Löwe – und just Otto, der Sohn des Heinrich. Dein halber König, den man dereinst allenfalls Otto, der zahnlose Kater heißen wird. Deine Herren, mein Vater.«

Zufrieden ruhte Adalberts Blick auf seinem jungen Knappen. Nun wies sich, Rainald war nicht nur im Umgang mit den Waffen sein gelehriger Schüler. Groß war er für sein Alter, beinah so groß wie sein Vater, und von kräftiger Statur, mit der die weichen Gesichtszüge, die ihm nahezu engelgleiches verliehen, nicht so recht zusammenstimmen wollten.

Dichtes blondes Haar, in Locken bis weit über die breiten Schultern fallend, verstärkten dies Bild noch.

Gebieterisch hob Markward die Rechte. »Dass du mein Sohn bist und seit geraumer Zeit Knappe dieses … dieses Ritters da, gibt dir noch lange nicht das Anrecht, derartig über König Richard und das Geschlecht zu reden, mit dem er verschwägert ist. Es wäre besser …« Hinter ihm hatte es an die alte Eichentür geklopft, und Markward wandte sich um.

»Tritt ein!« Knarzend schwang die Tür zur Seite hin auf, und Thomas, der junge, wohlbeleibte Kaplan der Burg, trat in den Saal, tief und heftig schnaufend.

Gewogen nickte Markward ihm zu. »Was wünscht du dringliches?«

»Verzeiht, ihr Herren, falls ich störe. Draußen vor dem Tor wartet ein frierender Knabe im tiefen Schnee. Er bittet um Quartier und überdies um ein Gespräch mit Euch, Herr. Er meinte, er habe eine wichtige Botschaft.«

»Ich erwarte aber keinen Knaben mit wichtiger Botschaft«, brummte Markward. »Lass ihn ein und gib ihm zu essen und zu trinken. Und sodann möge er die Nacht hier verbringen. Bei dem Wetter scheucht man keinen Hund vor die Tür. Und sage ihm, ich werde morgen früh mit ihm reden.«

»Ja Herr.« Thomas nickte, machte kehrt, watschelte schnaufend aus dem Saal und ließ die Tür weit offen stehen.

»Streunendes Gesindel«, murmelte Rainald nun und trommelte mit den Fingerspitzen der Rechten auf die Tafel. »Man sollte sie mit Fußtritten in den Schnee treiben.«

Doch Markward hatte es sehr wohl vernommen. »Bringt dir solches dein Meister bei?«, brauste er auf.

Adalbert jedoch lächelte Rainald zu. »Mir scheint, als habe dein Vater eine Schwäche für Gesindel, Knappe. Wie eigenwillig er eben noch Richard und seine …«

»Kein Wort!«, tobte Markward weiter. »Oder ich werde Euch die Antwort nicht schuldig bleiben!«, und er fasste mit der Rechten hurtig an den leeren Schwertgurt.

Adalbert fuhr von seinem Hocker auf. »Wolltet Ihr das Schwert ziehen, Nachbar …? Nur zu, holt es. Ich bin geneigt, gegen Euch zu fechten, obgleich wir einst Waffengefährten waren und Nachbarn sind.«

Nun stand auch Malik auf und hob die Arme zur Seite. »Genug jetzt! Ich bitte Euch – wozu der unselige Streit um längst Vergangenes? Lasst es doch ruhen, es gibt reichlich hier und jetzt, um das sich zu kümmern lohnt!«

»Schweig, schwarzer Heide!«, fuhr Adalbert ihn an. »Ein verfluchter Sarazene hat mir nicht zu gebieten – geh dorthin zurück, von wo du hergekommen bist!«

Da fing Markward jäh an zu schnauben, packte dann die Tafel mit beiden Händen an der Kante, hob an und schleuderte sie zur Seite. Rainald hatte gerade noch hastig aufstehen und zurückweichen können, ehe Schüsseln, Platten, Trinkgefäße, Brot und Fleisch verteilt auf dem Fußboden gelandet waren.

Schnellen Schrittes war Markward sogleich bei Adalbert, baute sich drohend vor ihm auf und ballte die Hände.

Der jedoch starrte ihn nur erhobenen Hauptes an.

»Höre, du edler Herr«, knurrte Markward sodann. »Du hast Malik geschmäht, der mein Gast ist und Freund – somit hast du auch mich geschmäht. Meine Ehre lässt nicht zu, dich noch zur Stunde hinaus in Nacht und Kälte zu jagen. Doch vor Sonnenaufgang bist du fort von hier, andernfalls werfe ich dich an ihrer höchsten Stelle eigenhändig über die Mauer.«

Er schaute zu seinem Sohn, der bis zur Wand des Saales zurückgewichen war. »Ich mag dir nicht verwehren, ihm ferner als Knappe zu dienen. Entscheide also hier und jetzt, ob du mit ihm ziehst – oder fortan einem anderen Ritter als Knappe folgen willst.«

Rainald stieß sich mit dem Rücken von der Wand ab und nickte Markward zu. »Wir leben in einem Land, in dem man zwischen zwei Königen wählen darf«, und er spuckte zur Seite hin aus. »Otto auf der einen, und Philipp von Schwaben auf der anderen Seite. Trete ich dereinst in den Ritterstand, werde ich an der Seite Philipps stehen. Und darum will und muss ich mit Ritter Adalbert ziehen, der gewiss eher kalt und tot sein wollte, als je einem Welfen zu gehorchen.«

Markward zog die Stirn in Falten. »Zanken wir nicht über den wahren Herrschaftsanspruch. So wirst du morgen zusammen mit diesem Ritter da die Burg verlassen«, und er schaute abermals zu Adalbert. »Ihr geht mir rasch aus den Augen, ehe ich meine Entscheidung bedaure und Euch sogleich davonjage.«

Ohne ein Wort schloss Adalbert den Gürtel seines blauen Mantels, wandte sich von Markward ab und ging mit langen Schritten aus dem Saal, auf dem Fuße gefolgt von Rainald, der die Tür krachend hinter sich zuwarf.

Wortlos schüttelte Malik den Kopf und bückte sich nach einem der heruntergefallenen Becher auf dem Boden.

»Lasst es gut sein«, beschied Markward ihm. »Dies können die Mägde am Morgen ebenso verrichten.«

Er stellte einen der umgestürzten Hocker auf die Beine, ließ sich schwer darauf nieder und holte tief Atem.

»Was mag bloß sein mit ihm? Ich kenne ihn nicht wieder.«

Malik ging zum Kamin und legte Holzscheite nach. Das Feuer prasselte auf und Funken stoben nach allen Seiten hin davon. Sodann kam er zurück und blieb vor Markward stehen. »Er ist treuer Gefolgsmann der Staufer, und Ihr seid Gefolgsmann der Welfen. Euer Lehen ist dreimal so groß wie seins. Ihr habt einen Sohn, auf den dieses Lehen übertragbar ist – er nur ein Mündel. Eine Maid, die nur das ihr Eigen nennen durfte, welches sie am Leibe trug, als er sie bei sich aufnahm.«

»Frühjahr 89 zogen wir gemeinsam gen Regensburg, wo Kaiser Friedrich sein Heer für das Heilige Land sammelte. Als der Kaiser im Fluss Saleph ertrunken war, zerstreute das Heer sich in alle Winde, wir aber zogen mit seinem Sohn Friedrich und dem Rest weiter. All die Jahre danach lebten wir als gute Nachbarn – und nunmehr dies …«

Malik griff sich einen der Hocker und setzte sich neben Markward. »Mich konnte er nicht kränken. Ihr solltet Euch eher Gedanken darüber machen, weshalb Rainald so verbunden an seiner Seite steht.«

Markward zuckte mit den Schultern. »Rainald ist ein Knabe, doch kein Kind mehr! Bald schon wird er der Ritterschaft des Reichs angehören, und es ist wohl an der Zeit für ihn, eigene Entscheidungen zu treffen.«

»Und…?«

»Morgen früh reiten beide von der Burg – sorgt Ihr dafür?«

Malik stand auf, reckte sich und gähnte ausgiebig.

»Wer jener Knabe wohl sein mag, den der Kaplan kundgetan hat«, sinnierte Markward. »Ein Knabe mit einer Botschaft für mich … bringt ihn zu mir, Malik, sowie Adalbert und Rainald fort sind.«

2.

Burg Wildstein thronte einsam auf einer baum- und strauchlosen Anhöhe unweit der alten Handels- und Heerstraße, die von Norden her durch Augsburg und weiter über den Brenner bis nach Italien führte. Nach Norden und Osten hin fiel die Anhöhe steil ab, und bot so an zwei Seiten einen natürlichen Schutz vor Angriffen. Zudem führte eine hohe Mauer mit Wehrgängen um die gesamte Burganlage, und ein tiefer Wassergraben um den Hügelgrund herum vervollständigte die Wehranlagen.

Der Palas mit seinen drei Stockwerken – im mittleren neben anderen Räumlichkeiten auch mit dem Rittersaal – diente mit seiner meterdicken Außenwand zugleich als Teil der Burgmauer.

Der quadratische, vierstöckige Bergfried inmitten des Burghofs überragte alle anderen Gebäude der Anlage beinah um das Zweifache.

Reglos stand Markward an einem der Fenster des Rittersaals und starrte hinaus. Trüb und grau hatte er angefangen, der neue Tag, und dicke Schneeflocken schwebten durch die eiskalte Januarluft.

Die ganze Nacht über hatte er tief in Gedanken auf dem Hocker verbracht, ehe er nach Sonnenaufgang aufgestanden und an das Fenster getreten war.

Adalbert und Rainald mochten nun wohl fort sein; Malik würde dafür gesorgt haben. Sie würden ihre Rösser treiben müssen, wollten sie denn Adalberts Burg Eck bis Einbruch der Dunkelheit erreichen – das Tageslicht war knapp um die Jahreszeit.

Von Rainalds Geschicklichkeiten als Knappe hatte er ihm berichten wollen, der Nachbar. Doch was hatte er stattdessen? Einen Streit vom Zaun gebrochen und Malik geschmäht! Aus derlei konnte nichts Wahres entstehen – oftmals gar eine Fehde. Markward indes musste Adalbert nicht fürchten, denn er hatte, zusammen mit den wehrhaften Bauern aus dem Dorf, gut dreißig Krieger an seiner Seite. Adalbert würde sich arg zu mühen haben, zumindest in die Nähe der Hälfte zu kommen.

Doch wo würde Rainald stehen, sollte es denn gar so weit kommen …?

Markward wandte sich vom Fenster ab und wollte soeben zum längst erloschenen Kamin gehen, als von draußen jemand laut an die Tür pochte. »Ritter Markward?«

»Tretet ein.« Die Tür ging auf; Malik kam herein und ließ die Tür offen stehen. »Harrtet Ihr hier die ganze Nacht über – bei der Kälte?«, und er ging prompt weiter zum Kamin, legte Holzscheite nach und machte Feuer.

Markward schaute indes zur Tür. Dort verharrte ein Knabe und hoffte wohl darauf, jemand möge ihn auffordern, in den Saal zu kommen. Der Knabe war wenig größer noch als Rainald, und von ähnlich kräftiger Statur. Unter dem langen, rötlichen Haarschopf wiesen Kinn und auch Mundpartie männliche Linien auf gleich denen eines Erwachsenen. Dieses Antlitz … Markward schien es vertraut; doch wie wohl, sah er es ja zum ersten Mal. Der Knabe trug nur noch Lumpen, die ihm in Fetzen vom Leib hingen – und gewaschen hatte er sich wohl seit Wochen nicht mehr. Malik kam vom Kamin zurück und blieb neben der umgeworfenen Tafel stehen. »Adalbert und Rainald sind fort. Die Verpflegung, die ich ihm reichte, hat Euer Nachbar in den Schnee fallen lassen. Eher wolle er am Hunger sterben, denn von Wildstein etwas anzunehmen«, und er zuckte mit den Schultern. »Wir würden noch von ihm hören, drohte er, ehe sie in den Schnee hinausritten.« Er wies mit der Rechten zur Tür. »Dort ist der Knabe, den ich zu Euch bringen sollte. Tritt näher, Tankred.

Du wolltest mit dem Herrn der Burg reden – so komm und sprich.«

Bescheiden zögernd schritt Tankred nun in den Saal. Sein Blick wanderte dabei über das rußgeschwärzte Dachgebälk bis hin zu den bunten Teppichen an den Wänden. Sodann verharrte er wenige Schritte vor Markward und schaute ihn erwartend an.

»Dein Name ist Tankred?«

»So hieß mich meine Mutter.«

»Und wer ist deine Mutter, und wer dein Vater?«

»Meine Mutter war Agnes von Hagenau, meinen Vater kenne ich nicht«, und er griff in die Falten des zerlumpten Rockes und holte einen versiegelten Brief hervor. »Diese Botschaft schrieb meine Mutter kurz vor ihrem Hinscheiden. Sie gab sie mir und schickte mich, sie Euch zu übergeben. Entsiegeln und lesen jedoch sollt Ihr sie erst am Tag meiner Schwertleite. Dies war ihr ausdrücklicher Wunsch.«

Erst schaute Markward Tankred aus großen Augen an, alsdann holte er tief Atem. »Gemach, Knabe, gemach! Wer bürgt dafür, dass du nicht ein hergelaufener Landstreicher bist, der sich behaglich hier einnisten will? Du redest wie selbstverständlich von deiner Schwertleite, als ob du längst mein Knappe wärst. Du wirst mir noch so manches zu erklären haben – oder ich jage dich auf der Stelle davon!«

Tankreds Gestalt straffte sich, und seine Augen funkelten. »Ich sagte doch, meine Mutter war Agnes von Hagenau! Hier der Brief, und hier der Siegelring dazu.« Er streckte Markward die rechte Hand mit dem Brief entgegen, damit der den Ring am Mittelfinger sehen konnte. »Es ist das Siegel derer von Hagenau«, fuhr Tankred fort. »Und ich bin von edler Herkunft.

Es war dies der letzte Wunsch meiner Mutter selig, Ihr mögt mich als Knappe in Eure Dienste nehmen und dereinst in den Ritterstand erheben. Danach werdet Ihr alles verstehen, meinte sie …«

Markward nickte stumm, trat zu seinem Hocker, ließ sich darauf nieder und rieb die kalten Hände. »Weshalb hat deine Mutter dich stracks zu mir gesandt? Ich kenne deine Mutter nicht, und auch nicht euren Namen.«

»Die Antwort wird Euch dereinst der Brief geben.«

»Hast du Verwandte, Geschwister, oder sonst jemanden?«

Tankred schüttelte den Kopf. »Mutter und ich haben bis zu ihrem Ende allein gelebt. Es gab nur ein paar Nachbarn.«

»Wo habt ihr gelebt?«, forschte Markward weiter.

»Nahe der Stadt Worms. Mutter nannte dort ein kleines Gut ihr Eigen. Einst gehörte ihrem Geschlecht ein gar großes Lehen; später jedoch haben sie beinah alles durch die Fehde mit einem Nachbarn verloren.«

»Durch eine Fehde mit einem Nachbarn also … Aha.« Markward schaute nun Malik an. »Was meint Ihr?«

Malik lächelte – und spielte wie nebenbei mit einem kurzen, gekrümmten Dolch, den er zuvor aus dem Gurt unter dem langen Mantel gezogen hatte. »Was habt Ihr zu verlieren, wenn Ihr ihm glaubt? Ist er ein Schelm, wird er sich verraten. Sagt er die Wahrheit, werdet Ihr später den Brief lesen und wissen, weshalb er just zu Euch gesandt wurde. Lasst ihn bleiben.« Er machte ein paar Schritte hin zum Kamin, verharrte kurz, ging wiederum zurück, ließ Tankred nicht mehr aus den Augen und spielte beharrlich mit dem Dolch. Und wie gebannt hing Tankreds Blick seinerseits am Dolch in Maliks Händen. Zugleich aber folgte der Blick jeder Bewegung Maliks – und Tankred schlich prompt geradeso wie dieser hin und her, geschmeidig und lautlos gleich einem sprungbereiten Raubtier.

Ratlos dagegen Markwards fragender Blick zwischen beiden.

Just bewegte Tankred sich zwischen der Tür zum Saal und Malik. Und dann ging alles ganz schnell … Maliks Rechte mit dem Dolch zuckte nach vorne – zugleich duckte Tankred sich weg und warf sich zur Seite hin auf den Boden. Ganz nah zischte der Dolch an ihm vorbei und bohrte sich sodann federnd in den Türrahmen.

Wie von einem Schwarm Hornissen gestochen fuhr Markward von seinem Hocker auf. »Seid Ihr wirr, Malik?«, tobte er los. »Beinahe hättet Ihr ihn abgeschlachtet!«

Malik jedoch schaute zu Tankred, der soeben auf die Beine kam, den Brief, der ihm entfallen war, wieder an sich nahm, und danach mit der linken Hand die rechte Schulter rieb. »Harte Böden habt ihr«, meinte er nun, und sein Antlitz verzog sich zu einem breiten Grinsen.

Malik erwiderte es. »Wir werden draußen üben, sobald der Winter vergangen ist. Im Gras fällst du weicher.«

Nun aber trat Markward entschlossen zwischen die beiden. »Noch einmal: Was sollte das eben? Ihr müsst mir mein Urteil, welches diesen Knaben hier angeht, nicht abnehmen, indem Ihr ihn schlachtet.«

Doch Malik schüttelte gleichmütig den Kopf. »Peinlich verfolgte er die geringste meiner Regungen. Er wusste gar, wann ich den Dolch werfe und wohin. Hätte er mich angestarrt wie ein Lamm, welches zur Schlachtbank trottet – nie hätte ich den Dolch geworfen. Dies war wie ein … wie ein geheimer Austausch: Er wusste, was ich tun, und ich wusste, wie er dem begegnen würde. Er wird Euch weder als Knappe, denn früher oder später als Ritter Schande bereiten.«

»Ich bin um etliches zu betagt für die Erziehung eines Knappen – übernehmt Ihr das? Ihr seid weit mehr als zwanzig Jahre jünger und ein ungleich besserer Streiter, als ich je einer im Leben hätte sein können.«

Malik warf Tankred einen Blick zu. »Was hältst du davon?«

Wieder funkelten Tankreds Augen. »Ich vermag mir keinen trefflicheren Lehrmeister zu wünschen, Herr!« »Nicht Herr, bloß Malik. Unsere gemeinsamen Anstrengungen sollten darunter wohl nicht arg leiden.«

»Ich werde ein gelehriger Novize sein, He … Malik.«

Markward machte einen Schritt auf Tankred zu und schnupperte. »Wann bist du zuletzt mit Wasser in Berührung gekommen, Kerl? Du stinkst wie ein Schweinestall!«

Tankred senkte das Haupt. »Ich war viele Wochen auf dem Weg zu Euch. Und ich besaß nicht eine Münze, um in Gasthöfen zu nächtigen oder gar ein Bad zu nehmen. Mit dem Schweinestall habt Ihr jedoch recht: Ich musste oftmals dort schlafen und den Viechern ihr Futter stehlen, wollte ich nicht erfrieren und am Hunger sterben …«

Seite an Seite stiegen Malik und Tankred die breite Steintreppe hinab, die vom Rittersaal aus in die unteren Stockwerke samt den Wirtschaftsräumen führte. Auf einmal fing Malik an, laut und dröhnend zu lachen. »Du stibitzt somit den Schweinen ihr Futter? Dies Angesicht Markwards vergesse ich nie! Hoffentlich hast du dich nicht zu sehr an den Schweinefraß gewöhnt und verschmähst nun gar unsere Küche.«

Auch Tankred musste jetzt lachen. »Von all dem, was eure Küche feilhalten mag, wird wenig übrig sein, habe ich sie erst besucht. Überdies durfte ich ja gestern Abend bereits Bekanntschaft mit ihr machen.« Unten angekommen, gingen sie rechterhand weiter in die Burgküche, einem dämmrigen Raum unter dunklem Gewölbe, welches auf mächtigen Steinpfeilern ruhte. Eine junge Magd stand still vor einem der gemauerten Herde und rührte mit langem Besteck bedächtig in einem dampfenden schwarzen Kochtopf.

Der Geruch von gebratenem Fleisch und gekochten Feldfrüchten stieg Tankred in die Nase, und abermals verspürte er jenen wütenden Hunger, der auf dem langen Weg stets sein treuer Begleiter gewesen war.

Malik trat neben die Magd. »Sag mir, wo Sieglind sein mag.«

»Sieglind werkt wohl im Turm«, und rührte unentwegt.

»Was hast du da in deinem Topf?«, wollte Tankred wissen.

»Stückchen von gebratenem Schweinefleisch, Herr.«

Tankred spürte Maliks Rechte auf der Schulter.

»Dein Hunger kann warten, Knappe. Just gibt es einen Zuber mit heißem Wasser und sodann frische Kleider. Doch für all jenes brauchen wir Sieglind.«

Sie verließen die Küche und gingen über den Flur zur Bogentür in den Burghof. Malik machte auf, trat hinaus und zog rasch den Mantel über Schultern und Nacken. »Allah – dreimal verfluchter Winter!«

Tankred war neben ihm stehen geblieben und starrte in das wilde Schneetreiben. Der kalte Wind verwehte seine langen, rotblonden Haare in alle Richtungen.

»In deinem Land gibt es demnach keinen Winter?«

»Das fehlte gerade noch! Wie du bloß wochenlang in solch dreckigen Lumpen umherziehen konntest?«

»Vor geraumer Zeit waren sie noch ganz ordentlich.«

Durch das Schneegestöber eilten sie über den Burghof zum Bergfried. Malik stieß eine schmale Tür auf, und sie traten in eine dämmrige Kammer ohne jedes Mobiliar. Gegenüber der Tür führte eine steile Holztreppe hinauf in den Turm. Tankred machte die Tür zu, und Malik ging weiter zur Treppe: »Sieglind, bist du da oben?«, rief er hinauf. »Es gibt zu tun für dich.«

Eine Weile verging, sodann hörten sie von oben her Stufen knarzen. »Wer schreit hier so?«, tönte es verärgert.

Nun stieg eine ältere, stämmige Frau in grauem Gewand und schwarzem Kopftuch über eisgrauen Haaren die letzten Stufen herab und erblickte Malik. »Ah, Ihr seid es, Herr.« Schwer atmend blieb sie neben ihm stehen, und ihr Blick fiel auf Tankred. »Ist der Vielfraß immer noch hier?«, schimpfte sie los. »Gestern hat er mir schier die Küche leer gefressen. Hinfort mit dir, Taugenichts, hier gibt es nichts zu holen.«

Malik legte den rechten Arm um ihre Schultern und wies mit der Linken auf Tankred. »Dies ist Knappe Tankred. Er steht von nun an in den Diensten unseres Herrn Markward und wird dereinst selber ein Herr sein.«

»Gar wohl eher ein Herr des streunenden Lumpenpacks!«

»Deshalb bedarf er dringlich neuer Kleider – vorher jedoch eines heißen Bades, und du wirst ihm beides richten.«

Sieglind musterte Tankred nun von oben bis unten. »Ich werde dir von Rainalds Sachen geben«, meinte sie dann, etwas milder gestimmt. »Ihr habt schier die gleiche Größe. Keine Kinder mehr und doch noch keine Männer. Geht Ihr mit dem Knaben voraus in die Badestube, Herr; ich folge alsdann mit den Kleidern nach. Die sind oben in dem verdammten Turm – wo sonst!« Brummend machte sie kehrt und entschwand über die Treppe schnaufend wiederum nach oben. Tankred hatte ihr bis zuletzt still hinterher geblickt. »Der wollte ich aber nicht im Finstern begegnen …«

Malik lachte. »Ach was! Sie ist die gutmütigste Frau.«

»Rainald?«

»Markwards Sohn. Er weilte bis zum Morgen noch auf der Burg, zusammen mit Ritter Adalbert, Markwards Nachbarn. Rainald dient Adalbert als Knappe. Die beiden Alten hatten am Vorabend einen schlimmen Streit. Markward jagte Adalbert daraufhin von der Burg – und Rainald zog mit ihm. Zu der Zeit hast du aber gewiss noch tief und fest geschlafen.«

»Und worum ging es bei dem schlimmen Streit?«

Malik schnaubte und schüttelte den Kopf. »Uralte Geschichten – und überdies noch zwei herrschaftliche Lager: Der eine auf Seiten der Welfen, der andere auf Seiten der Staufer. Damit hatten sie sich bereits auf dem Kreuzzug ihr Dasein erschwert.«

»Solch Plunder hat mich nie berührt: Staatskunst und dergleichen.«

»Und dennoch werde ich dich damit vertraut machen, Knappe. Es wird zu deiner Erziehung gehören, da es nicht genug sein kann, allein den Umgang mit Schwert und Lanze zu beherrschen. Du solltest auch wissen, welch Herr dereinst über deine Kampfkunst verfügt.«

»So unterweise mich gut, Malik, denn ich kenne nicht viel. Ich ahne nur, die Zeiten sind schlimm, und vieles ist nur schwer zu durchschauen.«

3.

Dreikönigstag 1169:

Gespannt verfolgte der beinah zwölfjährige Knabe die Zeremonie, die vor seinen Augen im weiten Saal des Schlosses von Montmirail ihren Lauf genommen hatte.

Richard mochte solch prunkvolle Auftritte – waren sie doch Teil seiner Wirklichkeit als zweitgeborener Sohn von König Heinrich Plantagenet.

Richard warf einen Blick auf Ludwig, den König von Frankreich und Lehnsherrn seines Vaters. Blass wirkte er, der Franzmann, ganz im Gegensatz zum Vater: Eine beherzte, kraftvolle Erscheinung war dies im reich verzierten, pelzverbrämten Mantel. Den er noch offen trug, da er eingangs nach alter Feudalsitte mit geöffneter Degenkoppel vor seinem Lehnsherrn Ludwig gekniet war und den Lehnseid geleistet hatte.

Just jedoch harrten sie in Reihe vor dem König von Frankreich: Heinrich Plantagenet und seine Söhne Heinrich der Jüngere, Richard und Gottfried. Der jüngste Sohn Heinrichs jedoch fehlte: Der dreijährige Johann.

Soeben hatte Heinrich Plantagenet die Söhne dem Schutz des Königs von Frankreich empfohlen, und der musterte sie nun der Reihe nach. Zuletzt blieb sein Blick auf Richard haften, dem Schein nach beinah ein Halbwüchsiger. Entschlossene Gesichtszüge unter rotblondem Haarschopf ließen ihn älter wirken als seinen tatsächlich älteren Bruder, den fünfzehnjährigen Heinrich.

Heinrich würde dereinst König von England sein, doch auch Richard sollte nicht leer ausgehen: Ihm waren das Poitou und Aquitanien zugedacht, beides jetzig noch Lehen von Mutter Eleonore.

Eleonore war ehemals die Gattin Ludwigs von Frankreich gewesen. Alsdann jedoch hatte sie sich von ihm abgewandt und Heinrich Plantagenet geehelicht.

Und drei der gemeinsamen Söhne mit diesem standen nun vor Ludwig.

Verstohlen schielte Richard nach dem mit prachtvollen Schnitzereien verzierten Portal. Wo er nur blieb? Richard wusste, Ludwig hatte nach Thomas Becket geschickt, dem einstigen Kanzler von England, zudem Erzbischof von Canterbury und Erzieher seines Bruders Heinrich.

Ob er wohl nicht kommen wollte, da er wusste, Heinrich Plantagenet war zugegen, der ihn einst in die Verbannung schickte?

Richard nickte stumm. Wäre nur er der König, so wollte er Thomas Becket noch auf der Stelle heim gen England befehlen!

Tags darauf durfte Richard sodann seine künftige Gemahlin sehen, eine der Töchter Ludwigs. Mit dieser späteren Heirat gedachten die Könige ihren Frieden zu besiegeln.

Ob Richard die Maid dereinst nun lieben würde, war dabei nicht von Belang – und für den Augenblick wünschte Richard, nicht der Sohn eines Königs zu sein …

4.

»Den Schild nach oben – hinauf mit dem verfluchten Blech!«

Tankred hob den dreieckigen Schild noch weiter empor – doch es war zu spät. Tief musste er in die Hocke gehen, um Maliks Schwerthiebe auf den Schild abzuwehren. Jäh geriet er dabei aus dem Gleichgewicht und fiel, den Schild in der Linken und das Schwert in der Rechten, der Länge nach ins Gras.

Restlos außer Atem blieb er auf dem Rücken liegen. Wie nur sollte er in dem schweren Kettenhemd je wieder auf die Beine kommen?

Er ließ Schwert und Schild los, blinzelte, und schaute zu Malik auf, der just breitbeinig zu seinen Füßen stand und ihn angrinste. Die Mittagssonne brannte vom Himmel, doch Malik schien das Kettenhemd leicht wie ein Leinenrock, und auf der dunklen Stirn stand nicht ein Tropfen Schweiß. »Was sagte ich, Knappe? Zieh den Schild nach oben. Nun seid ihr beide am Boden, du und der Schild.«

Unter Tankreds eisernem Kegelhelm mit dem breitem Nasenschutz wurde es unerträglich heiß. »Ahnst du auch nur, wie lange du auf mich einschlägst, Malik? Ja, schau nur – seit dem Morgengrauen!«

»Du hast dich gut gehalten, doch an deiner Deckung haben wir noch reichlich zu arbeiten. Dies können wir jedoch nachmittags auch noch.« Er streckte Tankred die Rechte hin und half ihm auf die Beine.

Nahezu über Nacht war der Sommer ins Land gezogen, und auf ihrem Übungsplatz stand das Gras beinah kniehoch.

»Ob ich wohl je so kämpfe wie du?«, wollte Tankred wissen, als er neben seinem Lehrmeister stand.

»Gewiss. Als ich in deinem Alter war, hatte ich zwei Arten des Kampfes zu erlernen: Die meines Volkes und die eure – mein Vater wünschte es so. Ich verfügte über die besten Meister, doch brauchte ich Jahre, meine Form zu finden.«

Tankred legte ihm die Rechte auf die Schulter. »Und ich brauche jetzt etwas zu kauen. Danach reden wir über meine spätere Form – ich sterbe vor Hunger!«

Kaum war der Winter dem Frühling gewichen, hatte Malik mit Tankreds Schulung begonnen. Tagelang waren sie übers Land geritten, durch Wälder und schwieriges Gelände; sie hatten Flüsse durchquert und über Gräben und umgestürzte Bäume gesetzt. Tankred hatte rasch gelernt, und alsbald war er geritten, als habe er in seinem ganzen Leben nie etwas anderes getan. Malik brachte ihm bei, wie man Kettenhemd und Rüstung anlegt. Sodann hatten sie aus einer der Waffenkammern stumpfe Turnierschwerter und Schilde geholt und einen der grasbewachsenen Flecken in einem Winkel des Burghofs gewählt. Malik schonte seinen Schützling nicht: Selbst an stürmischen Regentagen hatten sie oftmals bis weit in die Abendstunden hinein den Schwertkampf geübt.

Als Tankred einmal darüber zu murren wagte, hatte er von Malik allein ein spöttisches Lächeln geerntet. »Willst gar ein Schönwetterkrieger werden? Bei Sonnenschein vermag ein jeder zu fechten. Geschwind hinaus mit dir in den Hof, sonst treibe ich dich mit dem scharfen Schwert vor mir her!«

Tage und Wochen vergingen, und jeder Tag war ausgefüllt mit der Schulung an den Waffen und dem Unterricht, den Malik ihm erteilte.

»Wofür lerne ich all dies?«, wollte Tankred eines Tages wissen. »Warum nur sollte ein Krieger rechnen, schreiben und lesen können? Und wozu sollte er die Vergangenheit der Römer und die unserer Vorfahren kennen? Das … das passt doch nicht zu einem Ritter!«

»Nur hauen und stechen und saufen, wie? Es steht einem Ritter gut, kennt er ein wenig mehr von der Welt als die Bauern im Dorf. Niemand vermag zu ahnen, wohin dein Weg dich führen wird. Da kann ein Quantum Bildung mit im Bündel nicht schaden.«

An manchen Abenden durfte Tankred mit Markward und Malik im Rittersaal weilen – eine hohe Auszeichnung.

Gebannt lauschte er den alten Geschichten über die Kreuzzüge, denen über Richard Löwenherz und Sultan Saladin, über die Festung Akkon und den Kampf um sie, und jenen über all die Schlachten, die einst im Heiligen Land geschlagen worden waren.

In kurze Kettenhemden gerüstet rückten sie die Helme zurecht und hoben alsdann Schwert und Schild auf.

»Und hinauf mit dem Schild!«, mahnte Malik. »Halte ihn so weit oben, dass du mich über den Rand gerade noch sehen kannst. Falls notwendig, gar noch höher. Drehe dich ein wenig zur Seite und achte auf jede meiner Bewegungen – pass auf!«, und war schon mit wenigen schnellen Schritten bei Tankred und deckte ihn mit einem wahren Hagel wuchtiger Hiebe ein.

Tankred konnte gar nicht anders – er musste zurückweichen. Den Schild aber hielt er mit aller Kraft nach oben, denn er wollte Malik um keinen Preis der Welt die Deckung durchbrechen lassen. An Gegenwehr jedoch – wie auch immer – wagte er nicht zu denken.

Der Krach hatte fünf der Krieger der Burg angelockt. Im Frieden lebten sie als Bauern im Dorf am Fuß des Burghügels.

Markward hatte sie einbestellt, damit sie Wehrgänge ausbesserten. Just aber lungerten sie vor der Tür zum Bergfried herum und verfolgten das ungleiche Gefecht.

»Gönnt ihm eine Schonzeit, Herr!«, rief einer von ihnen lachend. »Er ist noch ein Kind und ohne Kraft!«

Malik senkte das Schwert und schaute zu der Gruppe am Bergfried. Tankred aber warf den Schild wütend ins Gras und richtete die Schwertspitze auf den Rufer. »Her mit dir, Ingo, alsdann zeige ich dir das Kind!«

Über Ingos Antlitz zog ein breites Grinsen. Er war ein Hüne von Mann, wohl einen halben Kopf größer noch als Malik und von breiter, wuchtiger Gestalt. Unter dem Leinenrock spielten die Muskeln an Brust und Armen.

Malik warf Tankred einen Blick zu. »Lass ihn«, mahnte er leise. »Ich kümmere mich um ihn. Schau allein gut zu, und sage mir sodann, was du gesehen hast.« Er legte Schwert, Schild und Helm ins Gras und ging zur Gruppe am Bergfried. Vor Ingo blieb er stehen und musterte ihn gründlich von oben bis unten. »Du denkst, er habe keine Kraft – somit entscheidet Kraft allein?«

Ingo nickte eifrig, und über sein Antlitz zog abermals ein Grinsen. »Ja Herr, was denn sonst? Schaut mich an: Wenn ich sage, es gibt weit und breit nicht auch nur einen Mann, der mich je hat besiegen können?«

»Und eben dies verlockt mich, mit dir zu kämpfen. Ohne Waffe, nur allein mit bloßen Händen. Nun …?«

Ingo zögerte erst, beugte sich dann zu Malik hinab. »Ich zerquetschte Euch gleich einer reifen Pflaume«, warnte er nachdrücklich. »Ihr könnt nicht gewinnen.«

»Der große Ingo ängstigt sich wohl vor dem kleinen Sarazenen?«

»Los«, brummte einer der Männer aus Ingos Gruppe. »Er will es doch – so erweise ihm denn die Gefälligkeit.«

Malik nickte ihm beifällig zu, machte kehrt und ging ein Stück weit zurück nach der Mitte des Hofes, gefolgt von Ingo, der bloß noch den Kopf schüttelte.

Malik blieb stehen und wandte sich zu ihm um. Auch Ingo verharrte und zeigte die Handflächen. »Keine Waffen.«

Malik ließ die Arme locker an den Seiten hängen. »Ich sehe, deine Hände sind deine Waffen – greif an!«

Ingo schnaubte, senkte das Haupt und stürmte mit geballten Fäusten auf Malik los. Der aber machte zwei rasche Schritte auf ihn zu, schlug ihm die Fäuste nach unten und packte mit beiden Händen geschwind seinen Rock. Sodann trat er mit dem Stiefel hart gegen Ingos linkes Schienbein, krümmte sich und ließ sich nach rückwärts fallen. Ingo verlor den Halt und wurde jählings von den Beinen gerissen. Im nächsten Augenblick flog er über Malik hinweg und landete mit dem Rücken voran unsanft im hohen Gras. Schon aber kauerte Malik neben ihm in der Hocke, drückte das rechte Knie gegen seine Kehle, packte den dichten Haarschopf und zog ihn nach hinten. »In einem wahren Streit wärst du jetzt schon hinüber«, raunte er. »Ich hätte längst zugedrückt – dies geht geschwind, und du kannst gar nichts tun. Habe ich dich besiegt?«

»Ja, Herr«, kam es benommen von Ingo. »Ich habe verloren.«

Sogleich nahm Malik das Knie von Ingos Kehle, richtete sich auf und reichte Ingo die Rechte. Der ließ sich hochziehen und glotzte sodann stumm auf seinen Bezwinger.

»Du konntest nicht gewinnen, du großer Tölpel!« Es war Markwards laute Stimme gewesen, der unweit vor der Tür zum Palas stand. »Und wärst du noch doppelt so groß, doppelt so breit und doppelt so stark – du kannst Malik nicht bezwingen.« Er wandte sich ab und verschwand alsdann durch die Tür im Palas. Tankred, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte, empfing Malik mit großen, leuchtenden Augen, als der nun zu ihm zurückkam. »Derlei habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen – du musst es mich lehren!«

»Vorab lernst du, wie man Schwert, Schild und Lanze vollendet führt, danach reden wir über anderes.« Malik legte die Stirn in Falten. »Einst kam ein Mann aus dem Osten in mein Vaterhaus.

Er meinte, er stamme aus der Familie der Taira und war geflüchtet, da das Volk der Minamoto sein Geschlecht unterjocht habe. Er blieb etliche Jahre und lehrte mich diese Art zu kämpfen. Doch nun zu dir: Was hast du gesehen?«

»Kraft allein bedeutet nicht alles – Geschick ist geradeso wichtig.«

»Und …?«

Tankred dachte einen Augenblick nach. »Du hast Ingo sorgsam beäugt! So wusstest du, wie er angreifen würde?«

»Ja. Versuche vor jedem Streit, so viel wie nur möglich über deinen Gegner zu erkunden, sei es …«

»Ein Reiter!«, unterbrach ihn der Ruf des Wächters vom Wehrgang über dem Tor. »Es ist Junker Rainald, Herrn Markwards Sohn!«

5.

»Junker«, brummte Malik unwirsch. »Wenn er es nur nicht gehört hat – sonst will er gar den Wächter noch verprügeln.«

Sie gingen über den Hof zum Tor, um Rainald zu öffnen.

»Was mag ihm missfallen daran?«, wollte Tankred wissen.

»Du kennst ihn noch nicht. Mitunter ist er ein wenig … ja, eigensinnig, gelinde bemerkt. Junker: Dies hat gar Kindliches für ihn; etwas, von dem er denkt, er sei dem längst entwachsen.« Malik schüttelte den Kopf. »Er, der Knappe! Ich frage mich, was er begehrt. Die Sehnsucht nach Vater und nach Wildstein wird ihn kaum treiben.«

»Du magst ihn nicht …«

»Ich nehme ihn, wie er ist – er ist Markwards Sohn. Wäre er es nicht, hätte ich ihm beizeiten den Arsch versohlt.«

Am Tor angelangt, hoben sie den schweren Riegel aus der Verankerung. Der Torflügel knarzte hörbar, als Malik ihn zur Seite hin aufstieß.

Ross und Reiter mussten arg erschöpft sein, denn die braune Stute ging schwerfällig, und Rainald hing mehr im Sattel, als dass er saß. Die langen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht, und sein Lederrock war fleckig und mit Staub bedeckt.

Er kam durchs Tor geritten und zügelte das schweißnasse Pferd.

Sodann strich er mit der Rechten die Strähnen aus dem Gesicht und musterte Malik und Tankred unter zusammengezogenen Augenbrauen. »Ein Sarazene und ein fremdes Knäblein empfangen mich am Tor der väterlichen Burg?«, und er deutete eine Verneigung an. »Ich bin gerührt, Malik – welch Ehre!« Nun heftete er den Blick auf Tankred. »Und wer bist du? Besser, du hüpfst aus deinem Kettenhemdchen, ehe dir die Last gar noch die dürren Beinchen bricht und du vor mir im Dreck liegst.«

Tankred ballte die Hände.

»Runter vom Gaul – sodann werden wir wissen, wer von uns beiden als erster gebrochene Beinchen hat, Großmaul!«

Rainald legte das Haupt in den Nacken und lachte heiser. »Ein Held! Nach solch einem verlangt Wildstein, nicht wahr, Malik? Der böse Rainald darf nächstens freilich kein guter Held mehr sein, mein dunkler Sarazene, nicht einmal ein Knappe. Denn der gute Adalbert hat den bösen Rainald von seiner Burg gejagt, da der böse Rainald allzu artig zu Gisela gewesen sein soll, dem Mündel des …«

»Lass die Faselei!«, unterbrach Malik ihn grob. »Berichte all dies deinem Vater – der wird gar hoch erfreut sein. Wir haben Besseres zu tun.«

Rainald verneigte sich noch tiefer als beim ersten Mal, und die Strähnen fielen wiederum über Gesicht und Schultern. »Wie es beliebt, edler Malik aus dem Morgenland. Erkläre mir nur noch, wer der Jämmerling da an deiner Seite ist, sodann habt ihr Ruhe vor mir.«

Malik wollte eben antworten, doch Tankred hob gebieterisch die linke Hand. »Ich bin Tankred. Meine Mutter war Agnes von Hagenau. Ich bin der Knappe unseres Herrn Markward, und zudem Novize von Malik. Ist dir das genug – oder magst du gar wissen, was Malik mich bislang gelehrt hat? Dazu müsstest du aber vom Gaul steigen.«

Rainald verzog die Mundwinkel und winkte ab. »Später, du edler Held, später. Der Knappe meines Vaters also, dessen eigener Sohn betteln gehen wird. Wir sprechen uns noch – Knappe. Und nun hurtig zur Seite mit euch!«

Er gab die Sporen und ritt weiter in den Hof.

Malik wandte sich um und schaute hinterher. »Der scheint noch elender als ehedem!«, zürnte er. »Sieh dich vor, Tankred – ich kenne ihn. Er hat dich vom ersten Augenblick an gehasst.«

»Wen hasst er nicht?«

»Seinen Vater allenfalls, doch sicher bin ich mir selbst da nicht.« »Kennst du diese Gisela?«

»Eine gar anmutige Maid, wohl so alt wie du, und eine Anverwandte Ritter Adalberts. Vater und Mutter wurden einst bei einem Überfall umgebracht, als sie noch ein Kind war, und er nahm sie in seine Obhut.«

Das Mahl war zu Ende, und Sieglind brachte eben frischen, mit Honig gesüßten Wein.

Rainald war wieder zugegen, ihr schöner Knabe, den sie großgezogen hatte gleich ihr eigen Fleisch und Blut. Um nichts in der Welt hätte sie daher den Herren im Saal, bei denen auch Rainald saß, von einer der Mägde auftragen lassen.

Auch Tankred weilte mit an der Tafel – Markward hatte darauf bestanden. Tankred lebte nun schon geraume Zeit als sein Knappe auf der Burg, und die Abende, die er mit im Saal verbringen durfte, sah Markward indessen als Teil seiner Erziehung.

Just aber schaute Markward mit gerunzelter Stirn auf den leeren Teller vor sich. »Hast du die Wahrheit gesagt?«, wandte er sich sodann an Rainald ihm gegenüber. »Ist all dies so, wie du uns erzählt hast?«