Die Schatten von Nizza - Ein Fall für Pomelli und Vidal: Band 1 - Michelle Cordier - E-Book

Die Schatten von Nizza - Ein Fall für Pomelli und Vidal: Band 1 E-Book

Michelle Cordier

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Beschreibung

Zwei Gegner müssen Verbündete werden, um gegen den Feind zu bestehen: Das Krimi-Highlight »Die Schatten von Nizza« von Michelle Cordier jetzt als eBook. Seit Damien Pomelli von einem Einsatz in Mali zurückgekehrt ist, will er nichts weiter, als endlich sein Leben in den Griff zu bekommen. Kurz darauf wird eine Leiche gefunden: ein Mann, der Damien in den letzten Sekunden seines Lebens anrief – nur der Grund wird für immer ein Geheimnis bleiben. Als er in das Fadenkreuz des ermittelnden Kommissars Vidal gerät, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Spur des Täters zu begeben … und diese Spur führt ihn zurück in dunkle malische Nächte und Ereignisse, die er verzweifelt zu vergessen sucht. Es beginnt ein rasantes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sich Pomelli mit seinem Feind Kommissar Vidal zusammentun muss, um schneller zu sein als ein Täter, der vor nichts zurückschreckt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Lernen Sie die dunklen Seiten der Côte d'Azur kennen – das Krimi-Highlight »Die Schatten von Nizza« von Michelle Cordier. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Über dieses Buch:

Seit Damien Pomelli von einem Einsatz in Mali zurückgekehrt ist, will er nichts weiter, als endlich sein Leben in den Griff zu bekommen. Kurz darauf wird eine Leiche gefunden: ein Mann, der Damien in den letzten Sekunden seines Lebens anrief – nur der Grund wird für immer ein Geheimnis bleiben. Als er in das Fadenkreuz des ermittelnden Kommissars Vidal gerät, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Spur des Täters zu begeben … und diese Spur führt ihn zurück in dunkle malische Nächte und Ereignisse, die er verzweifelt zu vergessen sucht. Es beginnt ein rasantes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sich Pomelli mit seinem Feind Kommissar Vidal zusammentun muss, um schneller zu sein als ein Täter, der vor nichts zurückschreckt …

Über die Autorin:

Michelle Cordier, geboren 1962, arbeitete viele Jahre als Sekretärin, bevor sie das Geschichten erfinden und Schreiben für sich entdeckte. Von vielen Genres begeistert, veröffentlicht sie inzwischen unter verschiedenen Pseudonymen Krimis und historische Romane.

Michelle Cordier veröffentlichte bei dotbooks bereits den Roman »Mord an der Côte d'Azur. Ein Fall für Pomelli und Vidal«.

Die Website der Autorin: www.michelle-cordier.de

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eBook-Neuausgabe Juli 2018

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Doppelter Tod« bei dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/brickrena, Grisha Bruev

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95824-401-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Michelle Cordier

Die Schatten von Nizza

Ein Fall für Pomelli und Vidal

dotbooks.

Kapitel 1

An Zufälle glaubte er nicht. Alles hatte Ursache und Wirkung, Ursprung und Absicht. Auch die Schritte, die ihn seit seinem Besuch im Restaurant begleiteten. Sie verstummten, sobald er stehen blieb, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie verfolgten ihn, wenn er seinen Weg durch die Gassen fortsetzte. Verdunkelte Schaufenster, vergitterte Eingänge und herabgelassene Rollos – dieser Teil der Altstadt wirkte gerade in der Nacht bedrohlich und abweisend.

Er ignorierte den Schauder, der über seinen Rücken zog, doch als er wieder das gleichmäßige dumpfe Tapsen hörte, sah er sich um. Matter Lampenschein fiel auf das Pflaster, ein Schatten verschwand in einem Torbogen. Als plötzlich eine schwarze Katze aus einem vergessenen Pappkarton heraussprang, zuckte er zusammen. Dio mio, ob ihm Unglück drohte?

Er riss sich zusammen. Diesen dummen Aberglauben hatte er schon viel zu oft während seiner Einsätze gepflegt. Es war doch kein Wunder, dass er nervös war. Vielleicht war er unvorsichtig gewesen, hatte sich eine Blöße gegeben. Warum hatte ihn niemand in dem Restaurant erwartet? So lange hatte er am Tisch gesessen.

Sein Atem ging ebenso schnell wie die eigenen Schritte. Auf der immer noch belebten Place Rossetti ragte die geschwungene Barockfassade von Sainte-Réparate in den mondhellen Nachthimmel. Unwillkürlich blieb er stehen und legte seine Hand an den eisernen Türgriff. Doch dann verbot ihm sein Stolz, in der Kirche Zuflucht zu suchen. Wahrscheinlich war sie sowieso verschlossen.

Hastig strebte er weiter in Richtung der Strandpromenade. Sein Verfolger ließ sich nicht abschütteln, er hörte ihn trotz der Umgebungsgeräusche.

Er passierte den Cours Saleya mit seinen Pavillons, in denen noch späte Gäste speisten. Schon war er an den ehemaligen Fischerhäuschen angekommen, die den Blumenmarkt vom Strand trennten und seit langem in kleine Restaurants, Wohnungen und Garagen umgewandelt worden waren. Instinktiv tastete er die Türen und Tore ab, bis sich zu seinem Erstaunen eine Seitentür öffnete.

Er trat in einen geräumigen Lagerraum. Das Licht der Straßenlampen schien durch das vergitterte Fenster. Er atmete auf und versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen. Da blitzte der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos auf und erhellte eine unförmige Masse. Zwei riesige Augen starrten ihn aus zwei Meter Höhe an. Und dort – noch mehr Augen! Da, eine große Hand, die auf ihn wies. Dann erlosch das Licht. Er sog die staubige Luft ein und presste sich mit dem Rücken an die Tür. Im nächsten Moment trat ein Schatten in den Vordergrund, der Umriss eines Teufels, er erkannte deutlich die Hörner auf dem Kopf.

»Madonna!«, rief er. Seine Stimme klang verdammt erbärmlich. Er tastete nach der Türklinke, erwischte einen Schalter. Grelles Neonlicht blinkte auf, und er stieß ein Kichern aus, ein wenig panisch und doch erleichtert. Unförmige, bizarre Pappmascheefiguren vom letzten Karneval standen in Reih und Glied. Verstaubt, ihre Farben verblasst, eine Parade stummer Vergänglichkeit. Die Augen, die ihn eben noch so geängstigt hatten, waren tot.

»Was für ein Unfug«, dachte er und löschte schnell das Licht, als er wieder an seinen Verfolger dachte. Er ging hinaus, nutzte den Schatten der Wände, strebte weiter in Richtung Promenade. Schritte konnte er nicht mehr hören, er schien allein zu sein. Als die Promenade des Anglais sich vor ihm auftat, wandelte sich die Furcht in eine zaghafte Erleichterung. Hier und dort Passanten, ein Junge fuhr mit einem Roller über das gepflegte Pflaster. Niemand folgte ihm. Das Rauschen der leichten, fast schaumlosen Brandung beruhigte ihn. Auch der nächtliche Verkehr auf dem Boulevard, der sich wie eine blendende Lichterkette an der Engelsbucht entlangzog, strahlte tröstliche Sicherheit aus.

Er ärgerte sich über seine Feigheit. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet. Er betrachtete die Belle Époque-Gebäude, Hotels und Luxuswohnungen, die sich entlang der Straße erhoben. Während er der hell erleuchteten Promenade in westlicher Richtung folgte, horchte er noch einmal auf verdächtige Geräusche, doch er hörte nur ein Liebespaar, das kichernd über eine der Treppen zum tiefer gelegenen Strand hinunterstieg. Die salzige Luft prickelte auf seiner Haut. Er zog die nächste Zigarette aus der Packung, zündete sie an und pustete den Rauch entspannt in den Nachthimmel. Langsam setzte er den Heimweg fort. Hin und wieder drehte er sich um und blickte auf die Lichter der Stadt, die sich die östlichen Hügel hinaufzog, bis sich die Konturen im dunklen Himmel verloren.

Plötzlich horchte er auf, ein unangenehmes Kribbeln lief in seinen Nacken. Rasselnde, eilige Schritte – jemand lief ihm nach, über den Kies des Strandes. Er beugte sich über das Geländer, das die Promenade säumte. Das Paar war weit entfernt. Er vermochte im Halbdunkel niemand anderen zu erkennen. Vielleicht drückte sich sein Verfolger dort unten in den Schatten der Befestigungsmauer.

Die Angst kroch erneut in ihm hoch und schnürte ihm die Kehle zu. Die Zigarette fiel zu Boden. Er war nicht mehr in der Verfassung für klare Gedanken, das musste jemand anderer übernehmen. Hastig sah er auf die Uhr. Für einen Anruf war es bereits unhöflich spät, doch er konnte nicht auf die Befindlichkeiten anderer Rücksicht nehmen. Er wich ein paar Schritte zurück, zog das Handy aus seiner Hosentasche und blieb an einer der weißen Bänke stehen, auf denen tagsüber die Flaneure den Fähren nach Korsika nachschauten. Schnell tippte er die Nummer ein, er hatte sie sich eingeprägt. Viel zu langsam kam die Verbindung zustande. Er lauschte. Nur sein Atmen und der Rufton. Er nagte an den Lippen. Nun geh doch endlich dran! Wo zum Teufel steckte der Kerl? Wie üblich. Immer, wenn man ihn brauchte … Die Mailbox sprang an.

»Cazzo!«, zischte er. Wieder Schritte im Kies. Schweiß trat auf seine Stirn, als er bemerkte, dass die nächsten Nachtschwärmer erst in geraumer Entfernung auftauchten und ihm keinen Schutz boten. Er musste Distanz schaffen. Es war besser, auf die andere Straßenseite zu wechseln und im Park unterzutauchen. Er wandte sich dem Boulevard zu, um ihn zu überqueren. Er umklammerte das Handy, drückte auf die Wahlwiederholung.

Mit einem Mal erschien ein Kopf mit dunklen Haaren auf Höhe  der Strandtreppe. Augen funkelten im Schein der nostalgischen Straßenlampen.

Er hielt die Luft an, konnte den Blick nicht abwenden, als fesselte ihn die Gestalt, die weiter die Stufen hinaufstieg, allein durch ihre Existenz. In der Hand hielt sie eine Waffe. Er blickte genau in die Mündung. Seine Lippen begannen zu zittern.

Das Handy! Eine Stimme meldete sich. »Oui?«

Die Waffe zuckte, neben seinem Kopf spritzte ein Stück Rinde vom Stamm der Palme. Er hatte den Schuss wie durch Watte gehört.

»Damien!«, schrie er ins Telefon. Nur weg von hier! Wieder ein Knall. Ein heißer Stich in seiner Hüfte! Santa Madonna! Im Reflex stieß er sich von der Bordsteinkante ab und hörte noch das Quietschen von Reifen, dann einen dumpfen Aufprall und knackendes Glas. Das Handy entglitt seiner Hand und schlitterte über den Asphalt. Der graue Wagen rollte aus und blieb stehen. Jemand hupte. Die Kälte begann im Kopf und kroch an ihm hinab. Er verstand, dass sie nie wieder enden würde.

»Oui? Hallo? Wer ist denn da?« Damien Pomelli lauschte auf die seltsamen Geräusche und drückte das Gespräch schließlich weg. Verdammt schlechtes Timing. Sylvie wandte sich bereits wieder von ihm ab.

»Keiner dran«, sagte er und steckte das Telefon wieder in die Tasche seines Sakkos. Zu spät. Sie lächelte ihm kurz zu und ging davon. Für einen Moment hielt er die Luft an und betrachtete ihren schmalen, hinreißenden Hintern, bedeckt von einem schwarzen Etuikleid von Dior. Sie hatte das braune Haar hochgesteckt. Eine Perlenkette schimmerte an ihrem Hals und steigerte die Eleganz, die die Natur ihr ohnehin in die Wiege gelegt hatte. Wie sie ging, so weiblich und selbstsicher, dass er sich für einen Augenblick abgeschmettert fühlte. Was natürlich nicht so war. Sie mochte ihn, sie liebte ihn sogar, das wusste er. Verdammt, warum war er überhaupt ans Telefon gegangen?

»Sylvie, warte!« Er folgte ihr in den Flur, der von mehreren Wandlampen sanft beleuchtet wurde.

»Ich will nur eben nach Amélie sehen«, sagte sie und verharrte.

Damien schluckte. »Darf ich mit?«

Ihr Blick wurde ein wenig traurig, und er fühlte sich aus gutem Grund schuldig.

»Warum willst du sie sehen?«

»Du weißt, warum«, sagte er und heftete seinen Blick auf ihr klares, ebenmäßiges Gesicht, das er liebte, seitdem er sie vor vier Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Am Arm seines Bruders.

»Sie ist nicht dein Kind.« Sie wandte sich ab und setzte ihren Weg fort.

»Beweise es mir!« Er keuchte fast vor Anspannung, als Sylvie stehen blieb.

»Das brauche ich nicht. Ich bin dir keine Rechenschaft über mein Leben schuldig.«

Schnell legte er die Hand auf ihren Unterarm. »Ich weiß. Ist mir nur so rausgerutscht.«

Sie nickte und seufzte kaum hörbar. Nachdem sie auf ihre goldene Armbanduhr gesehen hatte, setzte sie sich auf ein Louis-quatorze-Sofa, das an der vertäfelten Wand stand. »Damien.«

Er setzte sich neben sie auf das unbequeme Möbelstück. Immer noch voller Herzklopfen und einem Verlangen, das ihn umwarf. Warum zum Teufel war es noch nicht vorbei? Sein Herz hatte er definitiv verloren, aber warum reagierte sein Körper trotz der langen Trennung immer noch so verdammt schnell auf ihren Anblick? Vielleicht wegen der langen Trennung?

»Es ist nicht besser geworden, nicht wahr?«, stellte sie fest.

»Nein.« Er musterte die Drucke an der Wand gegenüber. Es war eine blöde Idee gewesen, zum Diner anlässlich des 35. Geburtstags seines Bruders zu kommen. Zuerst hatte er ablehnen wollen, er kannte sich ja. Doch die Sehnsucht war stärker gewesen, der Anreiz zu übermächtig.

»Obwohl wir uns über drei Jahre nicht gesehen haben.«

»Richtig.«

»Wie willst du weitermachen, Damien? Mir bei jeder Gelegenheit den Hof machen? Mir Küsse rauben wie früher? Obwohl du weißt, dass Albert und ich …«

»Du liebst ihn nicht«, unterbrach er sie grob. Sogleich senkte er den Kopf. Verdammt, er konnte einfach nicht die Schnauze halten. Prompt seufzte Sylvie wieder auf.

»Verzeih.«

»Ach, Damien.« Sie rieb sich die Stirn.

Eine Weile schwiegen sie. Damien schloss die Augen und genoss die Berührung ihres Knies. Er roch ihren Duft und hörte sie atmen. Seit jener Nacht, der einzigen, hatte sich sein Leben auf den Kopf gestellt. Er war eben ein Idiot, ein romantischer, sturer Trottel, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, in der sich Männer wegen einer Frau duellierten oder sich gleich aus verschmähter Liebe die Kugel in den Kopf jagten. Ja, in diese Zeit hätte er wunderbar hineingepasst.

»Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Damien.«

»Du hast recht. Ich habe morgen früh eine Mediation.«

»Worum geht es?« Um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln.

»Um nichts, wie immer.«

»Ich finde es gut, dass du dich um nichts kümmerst.«

Er nickte automatisch, stützte sich auf den Knien auf und ließ den Kopf hängen. Von fern hörte er das Klirren von Gläsern, Gespräche und Lachen. Trotz seiner Arbeit, wenn er es überhaupt so nennen sollte, fühlte er sich meilenweit entfernt von diesem Leben, zu dem er früher so selbstverständlich gehört hatte. Drei Jahre war er nicht mehr in Nizza gewesen. Seit vier Monaten war er wieder da und fühlte sich so fremd, als käme er vom Mars.

Da spürte er mit einem Mal ihre Hand, die sich auf seine Schulter legte. Sie brachte seine Nerven zum Vibrieren. Sofort dachte er an jene Nacht, als Sylvie seinen Avancen nachgegeben hatte, aus Mitleid, das wusste er wohl, und mit einer Souveränität, die ihm imponiert hatte. Sie hatten sich immer fast blind verstanden, tauschten bis heute Gedanken mit einem einzigen Blick. Das war es, was ihn mit aller Macht glauben ließ, dass sie zueinander gehörten. Sylvie spielte mit seinem kurzen Nackenhaar, klopfte dann leicht auf seinen Rücken und stand auf. Sie ging, und ihr Duft folgte ihr wie eine Schleppe.

Er blieb sitzen und versuchte, das erregende Gefühl so lange wie möglich festzuhalten. Sylvie war ihm auf ihre eigene Weise sehr nah, sonst hätte sie ihn nicht so berührt. Doch niemals würde sie seinen Bruder verlassen. »Er braucht mich mehr als du«, hatte sie damals bei seinem Abschied erklärt. Zu seinem Leidwesen waren die beiden das, was man ein schönes Paar nannte. Beide liebenswürdig und selbstbewusst. Albert, sein älterer Bruder, groß und schlank, mit seinem durchgeistigten Ausdruck, der ihn oft abwesend erscheinen ließ. Als wälzte er unaufhörlich Gesetzesbücher. Albert, der Anwalt, der die beste und größte Kanzlei Nizzas von ihrem verstorbenen Vater übernommen hatte, und der mit Wirtschaftsbossen und der Hochfinanz per Du war. Albert, der hin und wieder in Monaco zu Gast war, bei seinem Namensvetter, dem Fürsten.

Und er, Damien Pomelli, der kleine Bruder, dessen Hingabe zum Tauchen, Kiten und Heliboarding ihm nur Alberts abfällige Blicke eingebracht hatte. Der seine Studienfächer wechselte wie seine Freundinnen und der trotz seiner achtundzwanzig Jahre noch keinen richtigen Beruf hatte, sondern vom Erbteil seines Vaters lebte.

Und zwischen ihnen Sylvie, die ihren Mann unterstützte, die Büroboten und Hausangestellte leitete. Die ihrem Mann Aspirin reichte und ihn mit sanfter Gewalt dazu brachte, das Büro zu verlassen, wenn er wieder einen seiner Migräneanfälle hatte.

Es stimmte vielleicht. Albert brauchte sie mehr, als Damien lieb war.

Mit dieser niederschmetternden Gewissheit verließ er die große Villa, ohne sich von ihr und seinem Bruder verabschiedet zu haben. Er war nicht einen Schritt weitergekommen, er saß auf einem Karussell und drehte sich immer weiter. Wohin gehörte er überhaupt? Auf seinem Weg zum Taxi sah er auf die glänzenden Lichter der Stadt, die zu seinen Füßen lag. Nizza, die Strahlende, die Schöne. Seine Stadt – und doch ebenso abweisend wie Sylvie. Wo war sein Zuhause? Legio Patria Nostra? Nein, das war auch nicht seine Heimat gewesen.

»Legio Patria Nostra.«

Kommissar Joseph Vidal drehte das Notizbuch mit der geprägten Aufschrift hin und her, um es zu begutachten.

»Die Legion, unsere Heimat. War der in der Fremdenlegion, oder was?«, fragte Inspektor Giraud, der ihm über die Schulter linste.

Der Kommissar überreichte ihm wortlos das Notizbuch und betrachtete den Unfallort, als hätte diese Stelle es verdient, noch einmal mit ganz neuen Augen gesehen zu werden. Der Unfallwagen, ein Maserati Quattroporte, hier und dort Glassplitter auf der Straße. Reste von Mullbinden und medizinischer Verpackung. Ein mittelgroßer Blutfleck. Sosehr er seine Augen auch anstrengte – leider war immer noch nichts Besonderes zu erkennen. Alles blieb so profan und normal wie zuvor. Ein Auto hatte einen Fußgänger erwischt, das kam fast wöchentlich vor.

Die Palmenblätter wiegten sich im auffrischenden Wind, und in den Bäumen des nahen Parks rauschte es. Er trug sein ältestes Sommerjackett, das an den Ellbogen bereits ordentlich aufgenähte Flicken trug, und spürte, wie die Gänsehaut an seinen Armen heraufzog. Es war Herbst, und die Stadt hüllte sich tagsüber in stechend klare Farben. Doch in der Nacht konnte man hier und dort den Verfall erkennen, den Geruch von nassem Laub, die kalte Luft auf der Haut und die kleinen Blütenblättchen, die aus den Blumenkübeln hinunterfielen. Er ließ seinen Blick schweifen über die Schatten der Hotels und Geschäftshäuser, die sich jenseits des Parks erhoben. Alles schien normal. Doch er wusste, das Profane war vorgeschoben. Dieser Fall war nicht normal, sonst hätte man ihn ja nicht informiert. Es gab etwas Geheimnisvolles, was ihn beunruhigte. Er liebte es ganz und gar nicht, beunruhigt zu werden.

War es diese Aufschrift gewesen, der Wahlspruch der Fremdenlegion? Hatten ihn diese Worte irritiert, und wenn ja, warum? Was zuerst wie ein normaler Unfall mit Todesfolge ausgesehen hatte, geriet zu einem Rätsel, seitdem der Notarzt noch während der vergeblichen Reanimierung eine Schussverletzung an der rechten Hüfte des Toten entdeckt hatte. Um die Unfallstelle herum flatterten Absperrbänder. Einige Passanten standen dahinter und kommentierten das Eintreffen des Leichenwagens.

Giraud hatte sich inzwischen wohl selbst eine Antwort auf seine Frage gegeben und das Notizbuch eingetütet. So wandte Vidal sich an den Fahrer des Maserati, der im Notarztwagen saß. Der Mann zog seine Schultern zusammen, als würde er frieren, und auch der Wagen sah mit der zerborstenen Scheibe aus, als hätte er eine Wand aus Eiskristallen durchbrochen.

»Monsieur Marchaud, Sie sagen also, der Mann wäre direkt von der Promenade aus auf Ihren Wagen zugelaufen.«

Der stämmige Mann nickte eifrig. Er wirkte entsetzt und aufgeputscht zugleich. »Ja, monsieur le commissaire. Mon Dieu, der hat mich gar nicht gesehen! Der ist mit einem Ruck vor mein Auto gefallen. Ich war nicht schnell, nein, das war ich nicht!«

Natürlich nicht.

»Mit einem Ruck?«

»Ja, als hätte man ihn geschubst oder als wäre er gestolpert.«

Oder als hätte ihn eine Kugel getroffen, dachte Vidal.

»Ich hoffe, der Schock lässt gleich nach. Bitte kommen Sie im Lauf des Vormittags auf das Kommissariat, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.«

Er reichte seine Visitenkarte, bemerkte dabei gleichgültig, dass die Finger des Mannes zitterten, und verabschiedete sich. Langsam ging er von der Unfallstelle – er sollte lieber Tatort sagen – auf die Promenade zu, die die meisten Nizzaer nur »Prom« nannten. Die Bürgersteigkante, die Palme, das glatte, saubere Pflaster. Dort lagen einige Rindensplitter. Weshalb? Das Rätsel löste sich auf, seine Unruhe wandelte sich in Genugtuung, als er nach nur einer Minute den Einschuss im Stamm gefunden hatte.

»Giraud!«, rief er. »Bitte Fotos und die Spurensicherung. Hier ist noch eine Kugel drin.«

Sein Inspektor kam herbeigelaufen und betrachtete mit dem Ausdruck eines neugierigen Jungen das winzige Loch. »Mann, tatsächlich! Also zwei Schüsse. Da können wir gut die Schussbahn nachvollziehen.«

»Wer ist er?« Vidal holte einen Zigarillo aus einem silbernen Kästchen, zündete es umständlich mit einem Streichholz an und lauschte dem Bericht seines Inspektors.

»Giovanni Boletti, laut seinem Führerschein. Im Notizbuch stehen einige Telefonnummern, keine Termine oder so was. Hat er vielleicht nur wegen der schicken Prägung bei sich gehabt, diesem Legio Patria Nostra. Als Souvenir oder so. Wir kriegen raus, ob er bei der Legion war oder so. Sonst keine Papiere oder so was bei sich, nur eine kleine Geldbörse mit einer Quittung von heute Abend, von einem Restaurant in der Rue Droite.«

»Oder so was …«, murmelte Vidal mit dem Zigarillo zwischen den Lippen.

»Was, Chef?«

Vidal zupfte sich die Hemdsärmel aus dem Sakko und rückte kurz an der Krawatte, bevor er sich den Glimmstengel aus dem Mund zog. »Eine klare Ausdrucksweise, Giraud. Wie soll ich die Fakten aufnehmen, wenn Sie sie dermaßen verwässern? Oder so was, oder so, vielleicht – das will ich nicht mehr hören, klar?«

»Klar, Chef«, sagte Giraud und zwinkerte hektisch. »Und … aber …«

»Giraud!«, zischte Vidal. Er war schließlich keine zwanzig mehr, und es wurde für ihn immer anstrengender, sich zu motivieren, egal, ob es um profane oder geheimnisvolle Morde ging.

»Ich meine nur, Chef, er hat noch ein Handy gehabt. Ist aber kaputt.«

»Die Techniker sollen sich anstrengen. Haben sich Zeugen gemeldet?«

»Ein junges Paar, das eine Gestalt hat weglaufen sehen. Die beiden konnten den Täter nicht näher beschreiben.«

Nicht viel an Material. Langsam drehte Vidal sich um und ging auf die Trage zu, auf der der Tote bereits in seiner Plastikumhüllung lag. Er trat die Kippe sorgfältig aus, hob sie auf und hielt sie in der Hand fest, bevor er die Umrisse der Leiche betrachtete. Wer war dieser Mann? Warum war er hierhergekommen und auf die Straße getrieben worden? Hatte er kurz vorher telefoniert? Mit wem? Vidal musste prüfen, ob die Kollegen vom Notruf einen Anruf um kurz vor Mitternacht erhalten hatten. Auf dem Weg zum Auto warf er die Kippe in einen Mülleimer.

Es war halb zwei in der Nacht, als er das Sakko auf einen Kleiderbügel streifte. Er rückte den Stoff gerade, entfernte einen Fussel vom Kragen und hängte den Bügel vorsichtig an den Garderobenhaken. Dann ließ er sich in seinem Bürostuhl nieder. Mit einer gewissen Befriedigung betrachtete er seinen aufgeräumten Tisch. Er rückte einen Kugelschreiber in Reih und Glied. Die Akten in den Regalen waren säuberlich beschriftet. Auf der Fensterbank stand ein Aschenbecher. Vidal erhob sich und ergriff ihn mit den Fingerspitzen, um ihn in eine Schublade in Girauds Schreibtisch zu stellen. Er rauchte nie in einem Zimmer, die Zigarillos schmeckten ihm in Verbindung mit frischer Luft am besten. Als er die Lade mit Schwung zuschob, segelte im Luftzug ein loses Blatt Papier auf den Stuhl hinunter. So ein Saustall. Bleistiftreste, Konfetti vom Locher.

Vidal runzelte die Stirn und stellte sich an das Fenster, um auf die Straße zu schauen. Vor dem Gebäude parkten einige Streifenwagen. Die Ermittlungen liefen weiter, er konnte nichts beschleunigen. Die Beamten fragten telefonisch in Hotels und Pensionen nach, und die Techniker nahmen morgen die beiden Kugeln unter die Lupe. Der Schütze musste in der Nähe einer Strandtreppe gestanden haben. Eine Schießerei auf offener Straße, sehr riskant. Es muss ein dringender Grund vorgelegen haben, das Opfer nicht klammheimlich in einem Hinterhof um die Ecke zu bringen. Legio Patria Nostra. Was hatte es damit auf sich? Warum dachte er immer wieder an die Legion?

Plötzlich richtete er sich auf und umklammerte die Tischplatte, rollte näher an den Computer heran und gab mit fliegenden Fingern mehrere Stichworte ein. In den Datenbanken der Kripo fand er vielleicht das, was ihn irritiert hatte. Nach einem Suchlauf von dreißig Sekunden öffnete sich zu seiner Befriedigung ein Bild. Ein Bericht erschien, den er mit zusammengekniffenen Augen vom Bildschirm ablas, zu ungeduldig, um erst seine Brille hervorzukramen. Ein Fremdenlegionär war in Marseille tot aufgefunden worden, erschossen. Vor nur vier Tagen. Ja, er hatte davon gehört.

Vidal rieb sich die Hände, als hätte man ihm ein Geschenk gemacht, das er nur noch auszupacken brauchte. Nun ging es dem Rätsel an den Kragen. Die Ballistik würde etwas zu tun bekommen. Bestand eine Verbindung zwischen den beiden Toten? Gehörten sie gar der gleichen Einheit an? Vidal hob den Telefonhörer und verlangte von der Zentrale die Telefonnummer der Mordkommission in Marseille und der Truppenverwaltung in Aubagne. Mitten in der Nacht würde er keine Auskünfte erhalten, aber am nächsten Morgen war ein Gespräch fällig.

Damien Pomelli war auf Höhe der Avenue de Verdun angekommen und ging über die Promenade des Anglais weiter in Richtung der Altstadt. Ob ihm das üppige Diner im Magen lag oder das Gespräch mit Sylvie, wusste er nicht zu sagen. Auf jeden Fall hatte er das Taxi soeben fortgeschickt. Er hatte eine kleine Runde gedreht, sich die Beine vertreten. Die Bewegung erleichterte ihn, auch wenn seine Wade wieder etwas schmerzte. Er sah auf das Meer hinaus, tröstete sich an der Beständigkeit, der Ewigkeit der sanften Wellen. Wenigstens das Meer blieb gleich und unverändert. Er sog die salzige Luft ein und ging weiter, ein wenig getröstet in seiner verdammten Melancholie.

Als er von fern die zuckenden Lichter der Einsatzfahrzeuge auf dem Boulevard sah, bog er ab und nahm den Weg quer durch den Jardin Albert I. Es hatte sich wohl ein Unfall ereignet, auch wenn er den Einsatz von fünf Polizeifahrzeugen für übertrieben hielt. Ein etwas ernsterer Hintergrund wahrscheinlich. Niemand wusste besser als er, der in den Gassen der Altstadt aufgewachsen war, dass Nizza hinter den glänzenden Fassaden auch hässliche Seiten besaß.

Er seufzte und starrte in den Sternenhimmel. Wolkenfetzen zogen vorbei, es wurde kühl. Hinter einer der Bananenstauden raschelte es. Die rund beschnittenen Buchsbaumkugeln hockten wie Gnome auf den exakt ausgerichteten Rasenflächen, und die Palmen erhoben sich so stolz, als würdigten sie das Geschehen unter sich keines Blickes. Das Rauschen des Meeres verschmolz mit vereinzelten Motorgeräuschen. Nizza kam zur Ruhe, es war ein Werktag.

Das Gefühl, verfolgt zu werden, kam aus heiterem Himmel. Blicke tasteten ihn ab, fast spürbar. Ein Kribbeln zog in seinen Nacken, und unwillkürlich schlug er einen 90-Grad-Haken. Verschwand dort nicht gerade ein Schatten? Es war so spät, dass sich höchstens Junkies oder Betrunkene noch im Park aufhielten, trotz der regelmäßigen, rigorosen Polizeistreifen. Wer würde ihm jetzt an diesem Ort die Geldbörse rauben wollen? Schließlich standen nicht weit entfernt zwei Beamte der Police Municipale auf der Fahrbahn und regelten wegen des Unfalls den spärlichen Verkehr.

Er sah sich um, konnte niemanden hinter sich erkennen. Vielleicht hatte er sich geirrt, auch wenn sein Gespür für Gefahr gut ausgebildet war, und es ihm bereits einige Male aus gefährlichen Situationen geholfen hatte. Er ging weiter. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine schmale Gestalt schräg links hinter sich, doch dann nahm der Triton-Brunnen ihm die Sicht. Als er am Karussell vorbeikam, war er allein auf weiter Flur. Vielleicht nur ein weiterer Passant, der nach Hause wollte. Die Altstadt war leer bis auf einige Nachtbummler wie ihn.

Das diffuse Licht der Straßenlampen versetzte ihn in seine Kindheit, als er hier mit einem ängstlichen Schauder durch die nächtlichen Gassen gerannt war, um schnell heimzukommen. Er überquerte die Straße und hielt auf die viergeschossigen Reihenhäuser in der Rue de la Préfecture zu. Die Fassade leuchtete in hellem Beige, unterbrochen von den gleichmäßigen Reihen der hellblauen Fensterläden. Das Plätschern des Springbrunnens unweit des Justizpalastes drang zu ihm. Er umging drei Motorroller, die recht ungünstig vor seiner Haustür parkten, schloss die dunkle Holztür auf und trat in den Flur.

So unscheinbar das Haus von außen aussah, so gediegen war es im Inneren. Den Aufzug ließ er links liegen, er stieg die elegant geschwungene Marmortreppe zur dritten Etage hinauf, die ihm sein Vater zur Gänze hinterlassen hatte.

Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog, lehnte er sich an das Türblatt und atmete auf. Ob er diese fünf geräumigen Zimmer seine Oase nennen konnte? In Mali gab es Oasen – eine Ansammlung von kümmerlichen Häusern im Schutz einiger Bäume, und nur die Tatsache, dass es dort eine Quelle gab und gefühlte fünf Felder, machte diesen Ort zur Zuflucht von Menschen, obwohl er nichts wirklich Lebenswertes bot. Jedenfalls nicht für ihn. Das Lachen der Kinder dort kam ihm in den Sinn. Die Jungs hatten immer wieder einen alten Ball vor eine Mauer geschossen, deren Putz von den noch frischen Einschusslöchern durchsiebt war. Ja, natürlich war diese Wohnung seine Oase. Er sollte dankbarer sein. Auch wenn sie an den von Touristen gefüllten Straßen der Altstadt lag, war ihm nie in den Sinn gekommen, an den Boulevard de Cimiez zu ziehen, wo Albert in seiner Jugendstilvilla residierte.

Er stieß sich vom Türblatt ab und ging ins Bad. Der Lüster hüllte ihn in warmes Licht, er fühlte sich für einen Moment lang wirklich heimisch. Als er vor dem Spiegel über sein dunkles Haar strich, ließ ein Geräusch ihn aufhorchen. Er hielt inne, drehte sich um und hastete mit seinem Schlüssel aus der Wohnung heraus. Er schloss die Tür zur gegenüberliegenden Nachbarwohnung auf, trat in die Räume ein und eilte zum Bad, das die Wand mit dem seinen teilte. Das Rauschen der Wasserleitung hatte ihn alarmiert.

»Robert! Warum bist du noch auf?«

Missbilligend sah er zu, wie sein Freund die Zahnbürste auf eine Ablage legte und seinen Rollstuhl mit geschickten Handbewegungen zu ihm herumdrehte.

»Hattest du vor, die ganze Nacht im Stuhl zu verbringen?«, fragte Damien.

Roberts braunes Haar stand ein wenig zerzaust vom Kopf ab. Die Augen in seinem regelmäßig geschnittenen Gesicht funkelten belustigt. »Ich kann allein ins Bett.«

»Ja, aber ist Aisha heute Abend nicht hier gewesen?«

»Hat sich krankgemeldet.«

Damien holte sein Handy aus der Tasche. »Hast du mich etwa vor einer Stunde angerufen?« Er prüfte die Nummer, doch sie gab ihr Geheimnis immer noch nicht preis.

»Nein. Wie gesagt, ich kann …«

»Einen Scheißdreck kannst du. So lass dir doch helfen, du Idiot.« Damien boxte Robert auf die Schulter, dann schob er ihn im Rollstuhl über den Parkettboden ins geräumige Schlafzimmer. Über dem Pflegebett baumelte ein Griff, auf dem Nachttisch lag ein leerer Katheterbeutel. Er spürte immer noch den Stich, wenn er diese stummen Zeugen des Schicksals sah. Drei Monate waren vergangen, seitdem er seinen Studienkollegen zu sich geholt hatte, mit dem er die Uni und ein Faible für gefährliche Skipisten geteilt hatte. Letztere waren Robert zum Verhängnis geworden. Warum er sich seiner angenommen hatte, wusste er immer noch nicht. Er konnte nicht anders. Es ging ihm besser, wenn es denen gut ging, die er mochte. Jedenfalls steckte da etwas in seiner Brust …

Unsinn, dachte er und schob die trüben Gedanken von sich. »Mann, wie kann eine Pflegerin einfach so krank werden«, schimpfte er. »Sie wird immer unzuverlässiger. Such dir eine andere.«

Robert zog sich gerade das T-Shirt über den Kopf. »Hm, so übel ist sie gar nicht«, erklang es dumpf.

Damien, der gerade die Bettdecke zurückziehen wollte, hielt erstaunt inne. »Wie meinst du das? Leistet sie etwa speziellen Extraservice?«

Robert legte den Kopf ein wenig schräg und musterte interessiert die Zimmerdecke. »Die Fensterläden sind noch offen, Damien«, sagte er und knipste das Nachtlicht an.

»Jetzt lenk nicht ab. Schläft sie mit dir?«

Robert lächelte.

Sein Schweigen war Damien Antwort genug. »Oh Mann, du bist ja drauf. Lass dich bloß nicht von ihr übers Ohr hauen«, warnte er und stellte sich vor den Rollstuhl. Robert stützte sich ab und hob seinen Hintern etwas hoch, so dass Damien ihm Jogginghose und Unterhose hinunterziehen konnte. Er faltete die Kleidung zusammen und betrachtete Roberts muskulöse Arme. Das Rollstuhlbasketball tat ihm offensichtlich gut. Natürlich schaffte er es allein ins Bett, doch die Einreibungen konnte er nicht selbst vornehmen.

Sein Freund hatte inzwischen sein Pflegebett heruntergefahren und das Seitenteil des Rollstuhls entfernt. Damien stellte sich nah vor ihn, sicherte die schlaff herabhängenden Füße mit seinem Fuß und beugte sich zu Robert vor. Er legte beide Arme um seine Hüfte, hob ihn empor und drehte ihn zum Bett. Robert hatte schon seine Arme ausgestreckt und stützte sich auf der Matratze ab, um sich endgültig herumzuwuchten.

»Danke«, sagte Robert und plazierte sich richtig.

»Hast du noch Franzbranntwein?«

»Im Nachtschrank unten.«

Eine Viertelstunde verging, in der Damien seinem nackten Freund den Branntwein auf Rücken, Schenkel und Po verteilte, um die Haut zu kräftigen und das Wundsitzen zu vermeiden. Besorgt betrachtete er zwei rote Flecken auf dem Gesäß. »Du musst einen neuen Gelring zum Sitzen besorgen.«

»Bestelle ich morgen«, sagte Robert müde und zog sich das Pyjamaoberteil an.

»Soll ich deinen Schwanz auch einreiben? Nur für alle Fälle.«

Robert verdrehte die Augen. »Mach dich ruhig über mich lustig.«

Doch Damien legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn an. »Mein Freund, ich vermute, dass du momentan ohnehin mehr Sex hast als ich.«

»Selbst dran schuld. Warum rennst du ihr noch nach? Es ist vorbei, Damien.«

»Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Die Wendung des Gespräches gefiel ihm nicht. Er drehte die Plastikflasche zu und wischte sich die stechend riechenden Hände an der Hose ab.

»So, jetzt wird geschlafen.«

»Jawoll, Legionaire Pomelli!« Robert salutierte zackig, und Damien lachte auf.

»Bis morgen früh.«

»Merci, Damien.«

Auf dem Weg durch den Flur warf er einen kurzen Blick in Roberts Salon. Ein Monitor leuchtete, ein weiterer Monitor stand auf einem riesigen Schreibtisch. Überall Tastaturen, Kabel, Drucker, Computer, Scanner und weitere Gerätschaften. Roberts Fenster zur Welt. Er hatte Informatik studiert und war der virtuellen Welt treu geblieben. Mit dem Schreiben von Programmen verdiente er sogar ein wenig Geld zusätzlich zu seiner Schwerbehindertenrente. Und Damien wollte gar nicht wissen, was die schrägen Gestalten, die Robert manchmal empfing, von ihm wollten. Alles Hacker und Nerds, dachte er und hütete sich, den Monitor oder noch andere leuchtende Gerätschaften auszuschalten. Am Ende würde er wieder etwas löschen. Er hoffte inständig, dass nicht irgendwann ein Kurzschluss die ganze Wohnung in Schutt und Asche legte. Mitsamt dem schlafenden Robert.

Kapitel 2

»Ich bin Künstler. Mit solchen Lappalien befasse ich mich nicht.«

Mit einem arroganten Schwung warf Monsieur Dufabre sein langes Haar zurück, während Monsieur Ravel irritiert seine Brille auf der Nase zurechtschob und sein Gegenüber skeptisch anblinzelte. Damiens Hände lagen zusammengefaltet auf der Tischplatte neben seiner Kaffeetasse, doch unwillkürlich zuckten seine Finger.

Er räusperte sich. »Nun, Monsieur Dufabre, eine Lappalie würde ich das nicht nennen.« Mit diesen Worten schob er ein Foto zu seinem Klienten hinüber, auf dem acht wohlgefüllte Plastiksäcke voller Laub zu sehen waren.

»Das ist Laub von Ihren Platanen. Laub, das Monsieur Ravel aus seinem Garten entfernt hat.«

»Warum lässt er es nicht liegen?«

»Weil es meinen Rasen kaputt macht. Die Gerbstoffe, die Bitterstoffe. Ich habe meinen Rasen nicht angesät, um später eine gelbe Fläche zu haben, Herr Nachbar!«

Eine solch freche Stimme hätte Damien dem dicklichen Mann gar nicht zugetraut, der sich erhoben hatte und sich auf der Tischplatte abstützte.

»Sie wissen, wie aufwendig die Pflege eines Rasens hier an der Côte ist. Nein, Sie wissen’s natürlich nicht«, winkte er ab und ließ sich mit einem Seufzer wieder auf den gepolsterten Stuhl sinken.

Die Mediation fand in Damiens Büro statt, an einem Konferenztisch in einem behaglich eingerichteten Raum. Ein befreundeter Richter hatte ihm empfohlen, Seminare zu besuchen, die Damien von einem Ex-Fremdenlegionär in einen ausgeglichenen, vermittelnden Mediator verwandeln würden. Sein damaliges Studium in Psychologie und die vier Semester Jura waren ihm hilfreich gewesen. Und nicht zuletzt sein Name. Das war mal etwas anderes, als vom Feuer bedrohte Dörfer zu evakuieren oder verwundete Soldaten einzusammeln. Damien genoss es im Allgemeinen, mit der Alltäglichkeit zu spielen, mit dem Normalsein, das seinem Leben ein wenig Halt bot. Doch heute war er ungeduldig, nervös. Er hatte schlecht geschlafen, und das war der Grund, warum er am liebsten unter dem Tisch mit den Füßen gescharrt hätte.

»Monsieur Dufabre«, setzte er an. »Natürlich kann niemand etwas dafür, wohin die Blätter vom Wind geweht werden. Doch in Ihrem Fall entsteht eine Ungleichstellung zweier Nachbarn. Sie sind Besitzer der Bäume, deren Blätter auf das Nachbargrundstück fallen. Und das seit vier Jahren. Also, seitdem Monsieur Ravel dort gebaut hat. Bisherige Einigungsversuche schlugen fehl und …«

»Einigungsversuche?«, schrie der Künstler auf. »Er hat mich unter Druck gesetzt, mich bedroht. Ich war völlig außer mir, konnte den Pinsel nicht mehr halten, so sehr haben meine Finger gezittert. Ich könnte Schadensersatz von ihm fordern für meine Arbeitsunfähigkeit.«

»Pinsel«, blaffte Ravel abfällig. »Sie spielen doch sowieso immer Pétanque in Ihrem Garten. Ein Faulenzer sind Sie!«

»Das brauche ich zur Inspiration!«

Damien sah ihm tief in die blauen Augen. »Ist es für Ihre Inspiration wirklich besser, ein Gerichtsverfahren mit unsicherem Ausgang besuchen zu müssen?«

»Unsicherer Ausgang?«, beschwerte sich Monsieur Ravel.

Damien warf sich schnell zur anderen Seite des Tisches. »Ja, ungewiss, Monsieur Ravel, auch für Sie. Ich bin mir nicht sicher, ob der Richter aus Frust über eine geplatzte Mediation nicht Sie als Kläger für seinen Arbeitsaufwand verantwortlich macht. Ich wäre da vorsichtig.«

»Ich kann in Berufung gehen!«, rief Ravel.

»Ich auch!«, rief Dufabre.

Damien presste seine Lippen zusammen und atmete tief ein. Er strich sich das Haar aus der Stirn und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Sofort strömten mit der warmen Luft Stimmengewirr und das Knattern eines Rollers ins Zimmer. Draußen drehte sich die Welt. Die Brasserien und Bistros waren gefüllt. Eine Reisegruppe bewunderte gerade die Säulen des Palais de Justice, das sich hundert Meter entfernt auf dem gleichnamigen Platz erhob.

»Ein schöner Tag heute. Viel zu schade, um länger als nötig über Bäume und Blätter zu sprechen. Finden Sie nicht auch?«

»Ich sowieso«, murmelte der Maler, während Ravel verstimmt an seiner Lippe nagte.

»Bald werden die Blätter fallen. Ich denke, in zwei Wochen geht es los, und nach weiteren vier Wochen sollten alle Blätter runter sein. Sollten wir uns bis dahin nicht geeinigt haben?«

»An mir liegt es nicht«, sagte Ravel betont desinteressiert, was Dufabre mit einem Schnaufen quittierte.

»Sehen Sie meinen Vorschlag als so gut wie bindend an, wenn Sie die Kosten eines Gerichtsverfahrens meiden möchten: Im Schnitt fallen ein Dutzend Säcke Laub an. Monsieur Ravel und Sie, Monsieur Dufabre, werden sich zu vorher bestimmten Terminen und nach vorheriger Besichtigung der – nun ja, der Laublage um die Beseitigung des Laubs kümmern. Je zur Hälfte, also immer abwechselnd.«

»Zur Hälfte?«, beschwerte sich Ravel.

»Ja, zur Hälfte. Sie hätten beim Erwerb des Grundstücks die weiteren Umstände berücksichtigen können. Sie können Monsieur Dufabre nicht anlasten, dass er Bäume besitzt, deren Blätter der Wind auf Ihr Grundstück weht. Und doch ist Monsieur Dufabre moralisch in der Pflicht, den von seinem Eigentum ausgehenden Unrat zu beseitigen. Oder sehen Sie das anders, Monsieur Dufabre?« Er warf dem Maler einen herausfordernden Blick zu.

Dieser schwieg.

»Sie können warten, bis das Gericht Sie verurteilt, die Bäume zu fällen oder einen Hausmeisterdienst zu bezahlen. Oder Sie gehen durch die Gartenpforte auf den Rasen Ihres Nachbarn, der Ihnen Harke und Säcke dort zur Verfügung stellt.«

»Harke und …« Die Luft, die Ravel sich in die Wangen pumpte, verwandelte ihn in einen Kugelfisch.

»So ist es. Harken und Säcke. Und Sie beide geben mir bis morgen Bescheid, ob Sie dem Vergleich zustimmen oder lieber das Gericht bemühen möchten. So machen wir es, nicht wahr?«

Seine uneinsichtigen Klienten verdienten einfach keinen Raum für Einwände. Die Einigung würde kommen, unter Protest wahrscheinlich, aber immerhin.

»Darf ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten, meine Herren? Monsieur Dufabre, in welche Richtung geht Ihre Malerei eigentlich?«

Bevor der verblüffte Künstler antworten konnte, wurde die Mittagskanone von der Colline du Château abgefeuert. Der tägliche Knall, der durch das Fenster schallte, ließ Damien zusammenzucken, und er verfluchte sich für seine Empfindlichkeit. Was er seit seiner Kindheit kannte, kam seit dem Mali-Einsatz dem Einschlag einer Mörsergranate gleich.

Da schellte es an der Wohnungstür. Damien fasste sich und runzelte die Stirn. »Pardon, einen Augenblick bitte.«

Er ließ seine Gäste allein in der Gewissheit, dass diese sich nun mit feindseligen Blicken taxierten, und öffnete die Tür. Vor ihm standen zwei Männer, die ihm in speckigen Hüllen steckende Ausweise unter die Nase hielten. Der Ältere von ihnen war ein breitschultriger, etwas mürrisch dreinschauender Brummbär, während der jüngere und schlankere Mann über die Schulter des anderen hinweg Damiens Flur zu inspizieren versuchte. Seine Anspannung wich einem gewissen Amüsement. Dick und Doof? Pat und Patachon? Doch sein inneres Schmunzeln verschwand, als er die ernste Stimme des Älteren hörte.

»Kriminalpolizei Nizza, Mordkommission, Kommissar Vidal, Inspektor Giraud. Sind Sie Monsieur Damien Pomelli?«

»Ja. Kann ich etwas für Sie tun?« Also Sherlock Holmes und Watson. Montalbano und Mimi. Bruder William und Adson. Hatte ein ehemaliger Klient seinem Gegner die Kehle durchgeschnitten?

»Wir hätten einige Fragen zu dem Todesfall Giovanni Boletti. Kennen Sie diesen Namen?«

Damien schüttelte den Kopf. »Weiß nicht genau. Wer ist das?«

Der Kommissar zog ein Foto aus einer Mappe und reichte es ihm. Ein bleiches Gesicht war dort zu sehen, ein Mann mit geschlossenen Augen. Auf der Stelle kam die Erinnerung an einen im Zelt schlafenden und schnarchenden Italiener. »Das ist Bolle! Ja klar, Giovanni! Ich kenne ihn.« Er atmete laut aus, seine Knie wurden weich. »Wie ist das geschehen?«

»Ein Auto hat ihn auf der Promenade erwischt.«

»Der Unfall von gestern Nacht?«

»Sie haben es gesehen?«

»Nicht direkt.« Damien trat zwei Schritte zurück, um seinen Arm in einer einladenden Geste auszustrecken. »Kommen Sie herein.«

Er eilte voraus, um seine Klienten aufzuscheuchen. »Meine Herren, ich darf mich von Ihnen verabschieden, da ich unvorhergesehenen Besuch erhalten habe. Bitte melden Sie sich, sobald Sie drüber geschlafen haben. Danke.«

Er schüttelte die Hände seiner Gäste, die daraufhin ein wenig ungehalten die Wohnung verließen. Damien atmete auf, als die Tür ins Schloss fiel, und bot den beiden Männern die angewärmten Stühle an. Vidal setzte sich und strich mit einem Anflug von Ekel mit dem Finger über die Tischplatte, dort, wo sein Vorgänger Handabdrücke hinterlassen hatte.

»Ich habe nur die gesicherte Unfallstelle gesehen. Ist er überfahren worden?«

»Ja, doch die Umstände sind ein wenig ernster. Es geht um Mord.«

Damien zog die Augenbrauen hoch. »Was hat das mit mir zu tun?«

»Darf ich fragen, was Sie zu dieser Zeit auf dem Boulevard gemacht haben?«

Er musste sich räuspern, bevor er antwortete: »Ich war auf der Geburtstagsfeier meines Bruders, bis halb zwölf. Bin dann heimgefahren und noch durch die Stadt gelaufen.«

Der Kommissar gab mit keiner Miene zu verstehen, was er von dieser Antwort hielt. »Kennen Sie auch einen Benito Licardi?«

Damien warf sich in die Lehne seines Stuhls zurück. »Benito? Der kleine Benito? Natürlich kenne ich den. Was ist mit ihm?«

»Tot. Ermordet.«

Ein kalter Schauer floss über Damiens Rücken. Seine Sorge war offensichtlich berechtigt. Er sah sich gerade keinen Krimi im Fernsehen an, nein, der Kommissar hielt ihn wohl für einen der Tatverdächtigen.

»Aber … aber das gibt es doch nicht. Wer macht so was? Sie haben wahrscheinlich noch keinen Täter?« Fassungslos wischte er sich über die Augen. Boletti und Licardi, seine Kameraden beim Mali-Einsatz. Der lange und der kleine Italiener. Und nun waren beide tot.

»Nein, noch keinen Verdächtigen. Wir haben herausgefunden, dass Sie zusammen in einer Kompanie waren.«

»Ja, beim 1. Kavallerieregiment der Fremdenlegion. Wir waren sogar in einem Zug. Und deshalb kommen Sie zu mir?«

»Sie sind der einzige Kamerad, der in Nizza wohnt. Und ich glaube, Sie hatten um kurz vor halb zwölf einen Anruf, nicht wahr?«

Für einen Moment versetzte er sich in die Nacht zurück, dann erinnerte er sich an das unpassende Klingeln seines Handys.

»Stimmt, aber als ich dran ging, hatte der andere wohl schon aufgelegt. Sie glauben, dass das Bolle war?« Eine Mischung aus Unbehaglichkeit und Sorge stieg in ihm auf. Was hatte das alles zu bedeuten?

»Wer war noch in diesem Zug? Gab es dort vielleicht weitere – Italiener?«

Damien schwieg. Diese Worte warfen ihn mit Vehemenz zurück zu den Anfängen seines kurzen militärischen Intermezzos und vor allem zu seinen Beweggründen. Er spürte, wie eine heiße Welle über seine Wangen lief. Hoffentlich fragte der Kommissar nicht nach. Es wäre zu peinlich. »Ich habe mich als Italiener ausgegeben. Ich wusste nicht, ob die Legion auch Franzosen nimmt.«

»Ja, ich erinnere mich, dass Ihre Familie bereits länger bei uns heimisch ist.« Vidal blickte an die Stuckdecke und rekapitulierte, als hätte er das Who is who der Côte d’Azur auswendig gelernt: »Ihr Großvater – florierende Immobiliengeschäfte bis in die 60er-Jahre hinein, dazu zwei Baufirmen. Der Sohn hat die Firmen übernommen, dazu reich geheiratet und die Kanzlei gegründet, die von dessen ältestem Sohn übernommen wurde. Dieser hat die geerbten Unternehmen kurz vor der Wirtschaftskrise mit enormem Gewinn verkauft und betreibt nur die Kanzlei. Hervorragende Schulen, hervorragende Verbindungen.«

»Hausaufgaben gemacht, Monsieur Vidal«, sagte Damien lächelnd.

Vidals Kopf fiel wieder in seine Ausgangslage zurück. Er zog an seinen Hemdsärmeln. »Sie jedoch gehen zur Legion«, stellte er fest.

»Ja. Was ist schlimm daran?« Warum fühlte er sich gerade so, als müsste er eine vollkommen abstruse Handlung verteidigen? Mit Mühe hielt er Vidals forschendem Blick stand, der sich bis in den letzten Seelenwinkel zu bohren drohte.

Schließlich entspannte sich der Kommissar, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Also, weitere italienische Kameraden?«

»Vielleicht zwei oder drei, doch die waren in einer anderen Kompanie.« Damien stutzte und beugte sich dem Kommissar entgegen. »Sie glauben an einen Verrückten, der italienische Legionäre tötet?«

Vidals Miene blieb ausdruckslos. »Ich glaube nichts. Ich suche nur nach einer Verbindung zwischen den beiden Toten. Und nach einem Motiv. Erzählen Sie mir ein wenig über diesen Zug, in dem Sie alle dienten. Wo waren Sie eingesetzt? Wie lange lebten Sie zusammen?«

»Mit diesen beiden war ich ein halbes Jahr zusammen. Im Quartier Labouche in Orange sind sie zu meiner Einheit gestoßen. Von dort aus ging es nach Mali.«

»Operation Serval?«

Damien zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Ja. Bekämpfung der islamistischen Terroristen und Tuaregs. Wir kämpften in Dibali.«

»Also bei der mit gepanzerten Spähwagen ausgerüsteten Kompanie. Wer war noch dabei? In Ihrem Zug?«

»Unser Sergent Chef Marc Rambinier, dann kenne ich noch vier Russen und ein paar Afrikaner, aber keine mit Nachnamen. Drei oder vier Niederländer oder Deutsche, ich weiß es nicht genau. Ich kenne nur die Vornamen und weiß, wie sie aussehen. Aber die Namen können Sie vom Regiment erfahren.«

»Steckten Sie also öfter mit den beiden Toten zusammen?«

»Beim Serval-Einsatz, ja. Da waren wir insgesamt zwanzig Männer im Zug, und ich war mit sechs Männern auf einem Zimmer. Später dann im Zelt, die beiden Italiener, ich und drei Männer aus Osteuropa. Wie gesagt, Marc war unser Zugführer. Und im Spähpanzer hockten wir natürlich auch zusammen.«

»Wer war der Fahrer?«

»Ich.« Er roch Diesel und Motoröl, spürte wieder den Sand zwischen seinen Zähnen, hörte das sanft-kraftvolle Motorgeräusch des AMX und das Knallen der 105er-Bordkanone. Er atmete seine Beklemmung fort.

»Wann nahmen Sie Ihren Abschied?«

Nun waren sie schon beim Abschied angelangt. Das war gut. »Ich habe bei einem der letzten Gefechte einen Minensplitter in die Wade bekommen, der meine Muskulatur zerfetzt hat. Bin sozusagen ehrenvoll entlassen worden, genau gesagt vor einem halben Jahr. Dann lag ich einen Monat im Krankenhaus.«

Er strich sich unwillkürlich über das Bein. Bei Nordwind taten die Narben immer noch weh.

»Und die anderen?«

»Keine Ahnung, neue Einsätze wahrscheinlich. Ich glaube, Marc, unser Chef, wollte auch gehen. Er hatte zehn Jahre rum.«

»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

Damien legte den Kopf schief. Marcs gewieftes Fuchsgesicht kam ihm öfter in Erinnerung als das der anderen Kameraden. Er war ein guter Führer gewesen, gewitzt, umsichtig und gerecht. Doch wenn Damien im Kampf ihm gegenüberstünde, würde er Fersengeld geben. An der Front verlor sich Marcs Gerechtigkeit, und Damien war froh, nicht mitbekommen zu haben, was er alles so getrieben hatte. Trotzdem hatte er sich an seiner Seite immer sicher und gut aufgehoben gefühlt. Sie waren beide Franzosen von der Côte und teilten einige Vorlieben. »Nein. Er schwärmte immer von einer Jacht an der Côte. Wenn er sich wirklich eine angeschafft hat, sollte er lieber nicht hier auftauchen. Scheint ja gefährlich zu sein für uns.«

»Haben Sie bei der Truppe denn nie Privates ausgetauscht? Aus welcher Familie man kam, Frauen, Beruf und andere Dinge?«

»Die meisten Männer gehen zur Legion, um nicht mehr davon zu sprechen«, gab Damien zu bedenken. »Die einen halten es so, die anderen so. Man will ja auch nicht als geschwätziges Weichei daherkommen, das der Heimat nachtrauert.«

»Wenn Sie etwas von ihm oder von anderen Zugmitgliedern hören, geben Sie mir doch Bescheid.«

Damien nickte. Ob Marc wirklich eine Jacht besaß? Bald kam die Zeit, in der die Segelboote abgetakelt wurden. Das machte man mit den Jachten im Port Lympia zwar nicht, aber trotzdem war es im Winter recht langweilig am Jachthafen. Er glaubte nicht im Geringsten daran, dass Marc ihm jemals über den Weg lief.

»Was waren die Italiener für Menschen?«, fragte Vidal und legte die gepflegten Hände akkurat neben seinen Notizblock auf die Tischplatte. Dabei machte er sich gar keine Notizen.

»Die entsprachen nicht ganz dem Bild eines Legionärs. Aber ich ja auch nicht.«

»Erklären Sie.« Der Kommissar beugte sich vor, während sein Laufbursche uninteressiert die Einrichtung musterte. Vidal stieß dem Inspektor in die Seite. »Machen Sie Notizen?«

»Ja … ja, Chef.« Giraud griff zum Kugelschreiber und setzte sich aufrecht hin.

Als Damien sich der Aufmerksamkeit Vidals gewiss war, wollte er sprechen. Doch seine Zunge lag ihm so schwer im Mund, seine Gedanken stolperten in seinem Kopf herum, ohne einen Ausgang zu finden. Warum musste dieser Kommissar in der Vergangenheit stochern? »Na ja, die gaben sich hart. Waren einerseits richtige Machos, vor allem, was Frauen betrifft. Doch ich glaube, die waren in Wirklichkeit schwul und ein Paar. Wenn sie dachten, sie wären allein, waren sie total vertraut miteinander, mehr als Kameraden. Sie waren sehr vorsichtig, aber ich habe sie mal zusammen gesehen, also beobachtet bei … Sie wissen schon, was ich sagen will.«

»Dass Sie auch schwul sind?«

Damien hob abwehrend seine Hände. »Nein, ich bin leider gar nicht schwul.«

»Sie wünschten, Sie wären es?«, platzte es plötzlich aus Giraud heraus, der ihn mit unverhohlener Verwunderung musterte.

»Nun ja, wäre ich schwul, hätte ich keinen Grund gehabt, zur Legion zu gehen. Verstehen Sie?«

»Also der romantische Typ.«

Das unmerkliche Lächeln des Kommissars gefiel ihm, und er atmete auf. »Ja, so kann man das sagen.«

»Verstehe ich nicht«, murmelte Giraud und machte sich Notizen.

»Ein schwules Paar wird umgebracht«, murmelte der Kommissar.

»Ein Schwulenhasser aus der Legion? Ein ehemaliger Kamerad, der die Ehre der Legion besudelt sieht?«, fragte Damien und war mit einem Mal sehr froh, nicht schwul zu sein.

»Ich weiß nicht …« Vidals Gesicht wurde noch brummiger als vorhin beim Eintreten. Wahrscheinlich wurmte es ihn, etwas nicht zu wissen. Er schien ein genauer und exakter Mensch zu sein, der jeder Frage eine bestimmte Absicht zugrunde legte.

»Waren sie gute Soldaten, gute Kämpfer?«

Kämpfer, was hieß das schon? Dass man sich nicht in die Hose machte, wenn man unter Sperrfeuer lag? Dass man nachts nicht wach lag aus Angst vor dem nächsten Tag? »Na ja, sie wussten, was sie taten. Mann gegen Mann haben wir ja nicht wirklich gekämpft. Schusswechsel eben. Den Gegner aus den Häusern und Stellungen rausschießen. Benito war gut mit dem Messer, er konnte damit richtige Kunststücke vormachen. Giovanni war aufmerksam, konzentriert und schnell. Er war wohl der beste Kämpfer von uns.«

»Und Sie?«

Damien stieß ein abfälliges Schnaufen aus. »Ich? Als reicher Schnösel hatte ich viel an Mobbing auszuhalten. Musste eben Prügeln lernen. Das konnte ich dann ziemlich gut.«

»Ich verstehe. Und im Einsatz?«

»Im Einsatz musste ich fahren. Hab mich rausgehalten, so gut es ging. Ging nicht immer. Man muss den Kameraden doch helfen.« Er verstummte und starrte auf die glänzende Tischplatte. Er wusste, dass Vidal sich nun die Frage stellte, ob er je einen Menschen getötet hatte.

Waren es Menschen gewesen? Oder nur Schatten, Geister, in lange, wallende Umhänge gehüllt? Geister mit nachlässig gewickelten Turbanen auf den Köpfen, die mit ihren Gewehren auf den Ladeflächen der Pick-ups hockten. Schatten, die hinfielen und vom wehenden Sand verschleiert wurden, sobald er den Finger vom Abzug des MG löste und der Klang der Salve in seinen Ohren verhallte.

»Ja, ich habe Menschen getötet. Terroristen eben.« Er war ganz erstaunt, dass er diese Worte geäußert hatte. Das hatte er nicht mal Sylvie oder Robert gesagt. Einem Fremden gegenüber fiel es wahrscheinlich leichter.

Vidal nickte nur. Giraud starrte auf seinen Zettel.

»Und?« Vidal machte Anstalten, sich zu erheben. »War sie eine Heimat, die Legion?«

»Nein, eher ein Katalysator.«

Der Kommissar runzelte die Stirn.

Was hatte er da für eine bescheuerte Theorie geäußert. Er versuchte zu erklären: »Die Côte ist wahrscheinlich meine Heimat, Monsieur Vidal. Ich muss da noch etwas Feldforschung betreiben.«

Blitzte da etwa ein wenig Wohlwollen im Gesicht des Kommissars auf? Doch der fegte sich nur einen imaginären Fussel vom Jackett und wandte sich bereits ab. Bevor Vidal durch die Tür in den Flur hinaustrat, drehte er sich noch einmal um und hob die Hand. »Eine Frage habe ich noch.«

Das war die einzige Ähnlichkeit mit Columbo.

»Sie planen nicht gerade eine Reise?«

Damien riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Nun war er sicher, dass der Kommissar ihn auf dem Kieker hatte.

»Gut, wir werden uns bestimmt noch öfter unterhalten.«

»Was halten Sie von ihm, Chef?«, fragte Giraud auf den letzten Marmorstufen, bevor sie die Haustür erreichten. »Ist er ein Schwuler, der andere aus Eifersucht umbringt?«

Vidal verdrehte die Augen und stieß fast vor einen eisernen Poller, der das Trottoir vor parkenden Fahrzeugen schützte. »Giraud, lesen Sie denn niemals die Klatschpresse?«

»Nein … ja, also …«

»Pomelli ist ein Sohn aus reichem Haus, der es früher richtig hat krachen lassen. Der hat die Eier, um sich zu outen, wenn er schwul wäre. Doch er hatte nur Mädchen, eine nach der anderen. Bis dann sein Bruder heiratete.«

»Verstehe ich nicht«, murmelte Giraud und ließ seinen Blick bedauernd in das Innere eines Bistros schweifen, in dem Flaschen und Kaffeeautomaten um die Wette leuchteten. Stammgäste saßen an kleinen Tischen und lasen Zeitung.

Vidal jedoch ging unbeirrt weiter und dachte an das Getratsche, das er zweimal auf den Gängen der Staatsanwaltschaft gehört hatte. »Pomelli ist wieder da, der jüngere. Der immer hinter seiner Schwägerin her war. Der Idiot, der aus Liebeskummer zur Legion gegangen ist. Soll jetzt Mediator sein. Richter Bosquet hat ihn protegiert. Scheint ja selbst nichts zustande zu bringen.«

Oh ja, Nizza war ein Dorf.