Die Schattenliga
Von Elias Schank
Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Straßen der Stadt, als
Felix durch die Dunkelheit lief. Sein Atem war schwer, seine
Hände zitterten. In seiner Jackentasche lag der Brief – schlicht
weiß, mit einem mysteriösen Symbol auf der Vorderseite: drei
verschlungene Schlangen, die sich zu einem Kreis formten. Kein
Absender, kein Hinweis. Nur eine schlichte Botschaft im Inneren:
„ Du wurdest ausgewählt. Treffpunkt: Bahnhof Gleis 13, 22 Uhr.
Ein Wunsch wird dir erfüllt – um jeden Preis. “
Felix konnte sich nicht erinnern, woher der Brief kam. Er hatte ihn
vor drei Tagen in seinem Briefkasten gefunden, eingeklemmt
zwischen Werbebroschüren und einer Mahnung von der Bank.
Anfangs hatte er ihn ignoriert, überzeugt, dass es sich um einen
schlechten Scherz handelte. Aber jetzt, wo die Zeit knapp wurde
und seine Schulden ihn wie ein Würgegriff erdrückten, schien es,
als hätte er keine Wahl. Als er am Bahnhof ankam, war die
Plattform leer. Nur der Wind pfiff durch die Gänge, und das
schwache Licht der Laternen schien gegen die Dunkelheit zu
kämpfen. Dann hörte er Schritte. Eine wachsende Menge hatte
sich eingefunden – Männer, Frauen, alle Altersklassen. Felix zählte
grob, und es mussten Hunderte sein, mindestens 600. Manche
sahen aus wie Felix: verzweifelt, nervös, abgenutzt. Andere
wirkten ruhig, beinahe unheimlich gelassen. Eine Frau mit
schulterlangen, schwarzen Haaren und einem Mantel, der sie wie
eine Geschäftsfrau aussehen ließ, trat vor. Sie hielt ein
Klemmbrett in der Hand. „ Willkommen “ , sagte sie mit einer
Stimme, die weder warm noch kalt klang. „ Ihr wurdet alle
eingeladen, weil ihr etwas verloren habt. Hoffnung, Geld, Liebe.
Vielleicht alles. Aber heute könnt ihr es zurückgewinnen – oder
alles verlieren. “ Felix schluckte schwer. „ Was müssen wir tun? “
fragte ein großer, breitschultriger Mann aus der Gruppe. Die Frau
lächelte. „ Steigt ein. “ Ein Zug rollte lautlos heran, seine Fenster
schwarz, sein Inneres unsichtbar. Die Türen öffneten sich mit
einem Zischen, und eine unerklärliche Kälte drang hinaus. Felix
zögerte. Aber der Gedanke an seine Schulden, die bevorstehende
Räumung und die enttäuschten Gesichter seiner Familie drängten
ihn weiter. Einer nach dem anderen stiegen sie ein. Die
AnkunftDas Innere des Zuges war luxuriös, beinahe absurd.
Plüschsessel, goldene Verzierungen, ein Kronleuchter, der in der
Mitte hing. Doch niemand setzte sich. Die Spannung war greifbar.
Plötzlich flackerten die Lichter, und die Türen schlossen sich mit
einem metallischen Knall. „ Das Spiel beginnt jetzt “ , erklang eine
Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern. „ Die Regeln sind
einfach: Überlebt. Folgt den Anweisungen. Wer sie bricht, wird
disqualifiziert. “ Felix spürte, wie sich eine Hand auf seine
Schulter legte. Es war die junge Frau neben ihm, kaum älter als
zwanzig. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „ Was… was passiert
hier? “ flüsterte sie. Bevor Felix antworten konnte, stoppte der Zug
abrupt, und die Türen öffneten sich. Sie standen in einem riesigen
Raum, der wie ein Kinderparadies wirkte: farbenfrohe Wände,
riesige Spielzeugfiguren, ein gigantischer Springbrunnen in der
Mitte. Doch etwas daran war falsch. Die Farben waren zu grell, die
Figuren zu grotesk, und die Stille zu erdrückend. „ Willkommen im
ersten Spiel “ , sagte die Stimme wieder. „ Treten Sie in das farbige
Raster in der Mitte des Raumes. “ Felix und die anderen
gehorchten. Der Boden war in verschiedene Farben unterteilt –
Rot, Blau, Gelb und Grün. „ Das Spiel heißt: Das letzte Feld. “ Ein
Summen ging durch die Gruppe. „ Die Regeln: Wählen Sie ein
Feld. Sie dürfen es nicht verlassen, bis Sie dazu aufgefordert
werden. Jede Runde wird eine Farbe disqualifiziert. “ „ Was heißt
das – disqualifiziert? “ rief jemand. Die Stimme lachte leise. „ Das
werden Sie bald herausfinden. “ Felix trat auf ein blaues Feld, sein
Herz raste. Einige andere wählten Rot, manche Gelb, wenige
Grün. Dann ertönte ein schrilles Signal. „ Gelb ist disqualifiziert. “
Die Lichter im Raum flackerten, und plötzlich stürzten
Metallstangen von der Decke und bohrten sich in die gelben
Felder. Die Spieler dort hatten keine Zeit zu schreien. Felix wandte
den Blick ab, als Blut den Boden färbte. „ Die nächste Runde
beginnt in zehn Sekunden “ , verkündete die Stimme. Das
Schreien hörte nicht auf. Felix starrte auf den Boden vor sich,
unfähig, den Blick zu heben. Die Überreste der disqualifizierten
Spieler waren bereits von Maschinen, die wie Roboterarme aus
der Decke herabkamen, in eine unsichtbare Öffnung geschoben
worden. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Doch der
metallische Geruch des Blutes lag schwer in der Luft. „ Die
nächste Runde beginnt jetzt “ , verkündete die Stimme. „ Wählen
Sie erneut ein Feld. “ Felix zögerte. Blau hatte ihn gerade gerettet,
aber sollte er darauf vertrauen, dass es sicher blieb? Die anderen
Teilnehmer wirkten genauso unsicher. Manche wechselten
panisch die Farbe, während andere auf ihrem bisherigen Feld
verharrten. Felix wagte einen Schritt nach vorne – auf ein grünes
Feld. „ Die Zeit ist abgelaufen “ , sagte die Stimme. Felix hielt den
Atem an. „ Rot ist disqualifiziert. “ Wieder ertönte das Klirren der
Metallstangen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Felix wagte
einen Blick – mehrere Spieler, die auf roten Feldern gestanden
hatten, lagen reglos am Boden. Manche Teilnehmer begannen zu
weinen, andere standen wie erstarrt da. „ Bleiben Sie ruhig “ ,
forderte die Stimme. „ Die nächste Runde beginnt in zehn
Sekunden. “ Felix‘ Gedanken rasten. Das Spiel war nicht zufällig.
Die Farben wurden nicht wahllos ausgewählt – es musste einen
Hinweis geben, ein Muster. Doch was? Der
ÜberlebensinstinktFelix beobachtete die anderen Spieler. Ein
Mann mit einem grauen Anzug, der aussah, als hätte er in seinem
Leben nie einen Fehler gemacht, trat selbstbewusst auf ein
blaues Feld. Eine ältere Frau, deren Hände zitterten, blieb auf
Grün stehen. Felix entschied sich, diesmal auf Rot zu wechseln. „
Zeit abgelaufen. “ „ Blau ist disqualifiziert. “ Die Metallstangen
schossen herab. Felix sah, wie der Mann im Anzug gerade noch
einen letzten Atemzug tat, bevor er fiel. Ein weiteres Dutzend
Spieler verschwand. Felix spürte, wie sein Herz hämmerte. Es
waren zu viele Teilnehmer für so ein Spiel. 600 waren gestartet,
doch nach nur drei Runden blieben vielleicht die Hälfte übrig. Die
Stimme sprach wieder: „ Noch zwei Runden. Wählen Sie weise. “
Felix schloss die Augen. Er musste nachdenken. Die Farben – sie
mussten etwas bedeuten. Aber was? Er dachte an das farbige
Raster, an das Symbol auf dem Brief: die drei verschlungenen
Schlangen. Drei Farben, die sich wanden, um eine vierte
einzuschließen. Blau, Rot, Gelb, Grün. „ Gelb war zuerst dran.
Dann Rot. Dann Blau … “ , murmelte er. Die Farben schienen sich
in einer Reihenfolge zu wiederholen. Die Entscheidung fiel: Grün
war die sicherste Wahl. Er trat auf ein grünes Feld. „ Zeit
abgelaufen. “ „ Gelb ist disqualifiziert. “ Wieder fielen Spieler. Felix
hatte recht. Das Muster drehte sich, und die Farben wiederholten
sich in einer bestimmten Reihenfolge. Doch bevor er jemanden
warnen konnte, begann die letzte Runde. „ Wählen Sie Ihr finales
Feld. “ Diesmal gab es keine Panik. Die verbleibenden Spieler
hatten begriffen, dass sie allein auf ihre Instinkte angewiesen
waren. Felix schloss erneut die Augen, seine Gedanken wirbelten.
Die Reihenfolge – Gelb, Rot, Blau … Grün. Grün war jetzt dran. Er
trat auf ein grünes Feld, das Zittern seiner Beine war kaum zu
unterdrücken. „ Zeit abgelaufen. “ Ein Moment der Stille folgte,
dann sprach die Stimme. „ Rot ist disqualifiziert. “ Felix öffnete die
Augen und sah, wie die Metallstangen zum letzten Mal
herabfielen. Die wenigen Überlebenden blickten sich atemlos an,
während der Raum in völlige Stille fiel. Die BelohnungDie Stimme
kehrte zurück. „ Glückwunsch. Sie haben das erste Spiel überlebt.
“ Eine Tür öffnete sich an der Seite des Raumes, und die
Überlebenden wurden angewiesen, in einen weiteren Bereich zu
gehen. Felix folgte der Menge, sein Herz raste immer noch. Die
Gruppe war deutlich kleiner geworden, was die Stille im Raum
noch bedrückender machte. Als sie die Schwelle zur nächsten
Kammer überschritten, änderte sich die Atmosphäre. Der neue
Raum war luxuriös eingerichtet, beinahe wie die Lobby eines Fünf-
Sterne-Hotels. Samtbezogene Sessel standen in kleinen Gruppen,
Tische waren mit goldenem Besteck gedeckt, und an den Seiten
des Raumes standen Buffets mit dampfenden Speisen. „ Bitte
bedienen Sie sich “ , sagte die Stimme. „ Dies ist Ihre Belohnung
für das Überleben des ersten Spiels. Nutzen Sie die Zeit, um sich
zu erholen. “ Felix hörte, wie einige Teilnehmer aufatmeten. Eine
junge Frau begann zu weinen, und ein Mann neben ihr stützte sich
an der Wand ab, als würden ihm die Knie nachgeben. Felix spürte
den Duft von frischem Essen, doch der Gedanke daran machte
ihm Übelkeit. Er sah die anderen, die wie in Trance auf die Tische
zugingen, sich mit zitternden Händen Teller nahmen und hastig
anfingen zu essen. Die Stimmen im Raum wurden lauter, das
Murmeln wurde zu Gesprächen, bis es schließlich wie ein
Summen klang. Die Unruhe breitet sich ausFelix setzte sich an
einen der Tische, ohne sich etwas zu essen zu nehmen. Er stützte
seinen Kopf in die Hände, versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Neben ihm ließ sich ein junger Mann nieder, vielleicht Mitte
zwanzig, mit kurzen, zerzausten Haaren und einem nervösen
Blick. „ Hast du das Muster erkannt? “ fragte der Mann plötzlich.
Felix zuckte zusammen. „ Was? “ „ Die Farben. Ich hab gesehen,
dass du gewechselt bist. Du hast’s rausgekriegt, oder? “ Felix
zögerte. „ Vielleicht. Aber es war knapp. Es könnte auch Glück
gewesen sein. “ Der Mann nickte langsam, sagte aber nichts