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Hamburg, Februar 1982: Kallsens verstorbener Halbbruder hat der Nachwelt etwas hinterlassen: die Schatzkiste. Vor deren hochbrisantem Inhalt zittert man sogar im weit entfernten Bonn, auch dort könnten Köpfe rollen. Doch die Entscheidung fällt in Hamburg, denn Wegner und Kallsen machen sich berechtigte Hoffnungen, sie als erste zu finden. Dabei gerät der Mord an einer Frau und deren Sohn beinahe in Vergessenheit. Doch spätestens als klar wird, dass auch diese schreckliche Bluttat mit der Schatzkiste zu tun hat, setzen die Kommissare alles auf eine Karte. Dabei ist ihnen irgendwann jedes Mittel recht … (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Die Schatzkiste
Wegners erste Fälle
Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.0
Cover: Titel: Jeeni / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an meine lieben Testleserinnen und meinen einzigen Testleser (in alphabetischer Reihenfolge):
Antje, Bärbel, Birgit, Frau Flöter, Nicolas, Renate Schmidt
Hamburg, Februar 1982: Kallsens verstorbener Halbbruder hat der Nachwelt etwas hinterlassen: die Schatzkiste. Vor deren hochbrisantem Inhalt zittert man sogar im weit entfernten Bonn. Doch die Entscheidung fällt in Hamburg, denn Wegner und Kallsen machen sich berechtigte Hoffnungen, sie als erste zu finden. Dabei gerät der Mord an einer Frau und deren Sohn beinahe in Vergessenheit. Doch spätestens als klar wird, dass auch diese schreckliche Bluttat mit der Schatzkiste zu tun hat, setzen die Kommissare alles auf eine Karte. Dabei ist ihnen irgendwann jedes Mittel recht …
Bisher sind in der Reihe Wegners erste Fälle erschienen:
»Eisiger Tod« (Teil 1)
»Feuerprobe« (Teil 2)
»Blinde Wut« (Teil 3)
»Auge um Auge« (Teil 4)
»Das Böse« (Teil 5)
»Alte Sünden« (Teil 6)
»Vergeltung« (Teil 7)
»Martin« (Teil 8)
»Der Kiez« (Teil 9)
»Die Schatzkiste« (Teil 10)
»Wir holen dich schon hier raus«, verkündete Hauptkommissar Kallsen, als hätte er das Allheilmittel gegen Krebs gefunden. Mit dem nächsten Satz relativierte er seine Aussage allerdings gleich wieder: »Auf jeden Fall sieht’s ganz gut für dich aus – also mach dir keine Sorgen, Manfred!«
»Keine Sorgen!«, wiederholte Wegner und schickte ein genervtes Stöhnen hinterher. Wer konnte es ihm auch verdenken? Schließlich war es Sonntagmorgen und er hockte schon seit über anderthalb Tagen im Keller des Präsidiums. Genauer gesagt: im Zellentrakt. Dieses Mal jedoch – zumindest aus seiner Sicht – auf der falschen Seite der Gitterstäbe.
Wohl auch deshalb fühlte sich Gerd Kallsen zu weiteren tröstenden Worten berufen: »Wenn du’s tatsächlich nicht warst, dann wird das früher oder später herauskommen und …«
»Wenn!«, fuhr Wegner lautstark dazwischen und sprang von der harten Pritsche hoch, auf der er bis eben noch gehockt hatte. Er rüttelte an den Gitterstäben, als wollte er sie aus dem Mauerwerk reißen. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Da draußen läuft jemand rum, der mir zwei Morde in die Schuhe schieben will! Sag mir lieber, wie du’s anstellen willst, mich hier rauszuholen. Lange genug dauert’s ja schon!«
Kallsen konterte diese Attacke mit einer Frage: »Erinnerst du dich noch an Katja Bauer?«
Auf der Suche nach einer Geschichte oder wenigstens einem Gesicht, das zu diesem Namen passte, kniff Wegner die Augen zusammen. Doch das Grübeln endete mit Kopfschütteln und neuer Frustration. »Keine Ahnung! Wer soll das sein?«
Kallsen versuchte es in ungewohnt herzlichem Tonfall. »Ist auch lange her und du warst damals noch ziemlich blö… – egal. Ich denke, das Mädel ist im Moment unsere einzige Hoffnung.«
»Dann sag mir endlich, wer diese Katja ist!«, polterte Wegner zurück. »Hat sie was gesehen oder wie sonst soll sie dafür sorgen, dass ich hier rauskomme?«
»In erster Linie ist die Lütte viel zu früh gestorben. Leider! Aber ihr Vater scheint noch immer was für dich übrig zu haben.« Kallsen beugte sich mit geheimnisvoller Miene nach vorne. Seine Nase berührte beinahe die Gitterstäbe und er flüsterte nur. »Glaub mir: In deiner Situation kannst du jeden Freund gebrauchen.«
Wegner war anzusehen, dass er es plötzlich mit einem Geistesblitz zu tun hatte. »Der Vater heißt Wilhelm Bauer und war früher Justizsenator hier in Hamburg. Da war die Geschichte mit Katjas Schule – einer ihrer Mitschüler hat sie umgebracht.«
»War einer deiner ersten Fälle.«
»Der Senator ist damals in meinen Armen zusammengebrochen. Ein paar Wochen nach Katjas Beerdigung ist er zurückgetreten, weil er sich von dem Schock einfach nicht erholt hat.«
»So ist es, Jungchen! Und frag mich nicht, wie das möglich ist: Aus irgendeinem Grund hat er ’nen Narren an dir gefressen.«
»Inwiefern?«
»Sieht so aus, als hätte er Richter Matthiesen überredet, den Haftbefehl gegen dich außer Vollzug zu setzen. Wenn das wirklich klappt, kommst du erst mal auf freien Fuß – mit den üblichen Auflagen, versteht sich!«
Eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch in Wegners Gesicht war keinerlei Freude zu erkennen, nicht mal Erleichterung.
»Brauchst dich nicht zu bedanken«, knurrte Kallsen. »Jochen und ich haben ja auch nur das ganze Wochenende geopfert, um einen, der unter dringendem Mordverdacht steht, aus dem Gefängnis zu holen. Das war ’ne echte Meisterleistung!«
»Und jetzt erwartest du wahrscheinlich ein Freudentänzchen?«, fauchte Wegner zurück. »Wenn wir nicht schnell herausfinden, was wirklich hinter der Sache steckt, dann grillen mich die Scheißkerle von der Inneren. Die würden mich doch am liebsten schon heute am Galgen baumeln sehen.«
»Bis dahin fließt noch viel Wasser die Elbe runter«, erwiderte Kallsen gelassen. »Und wenn du’s tatsächlich nicht warst, dann …«
Wegners mittlerweile hochrotes Gesicht stoppte seinen Redefluss abrupt.
»Okay, okay … du warst es nicht. Jetzt zufrieden?«
»Seid ihr mit meiner Sporttasche schon weitergekommen?«, wollte Wegner plötzlich wissen.
Dieser Themenwechsel kam Kallsen offensichtlich gelegen, denn er klang beinahe euphorisch. »Du hast gesagt, dass dir das Teil vor etwa anderthalb Jahren beim Boxtraining geklaut wurde.«
»Eben! Außerdem war ich noch am selben Abend auf dem 41. Revier, um Anzeige zu erstatten. In der Tasche waren mein Dienstausweis, mein Perso und … habt ihr bei den Kollegen etwa immer noch nicht nachgefragt? Das muss doch aktenkundig sein, verdammt!«
»Entschuldige bitte, dass wir dich erst mal hier rausholen wollten! Deine alte Sporttasche kriegt keine Beine und läuft uns nicht davon.«
Nach dieser Zurechtweisung fuhr Wegner ein wenig beherrschter fort: »Ich hab’s mittlerweile auch ohne dich kapiert: Weil die Geschichte so lange her ist, hat sie wenigstens nichts mit unseren letzten Fällen zu tun. Du weißt schon, was ich meine.«
»Irrtum! Wenn du mich fragst, hängt das alles zusammen und es gibt eine Verbindung. Muss ich dir etwa erklären, wie die aussieht?«
Wegner schüttelte den Kopf. Vor einem Kommentar schaute er zur Tür, um sicherzugehen, dass niemand lauschte. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verzweiflung mit. »Wenn das stimmt, hat es wieder mit der Schatzkiste zu tun und ihr müsst noch tiefer graben.«
»Ihr?«, wiederholte Kallsen leicht pikiert und zeigte auf sich selbst. »Glaubst du etwa, du kannst dich auf die faule Haut legen, wenn du hier raus bist? Die haben dich nur vom Dienst suspendiert … nicht enteiert!«
Bei diesem Hinweis musste Wegner sofort an die vergangene Nacht und daran denken, dass er um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Doch vom Zellenbesuch eines vermeintlichen Mörders wollte er Kallsen lieber nichts erzählen. Noch nicht! Stattdessen drehten sich seine Gedanken um das für ihn vorrangige Thema. Er deutete auf das Schloss der Gittertür. »Glaubst du, das wird heute noch was?«
»Kann sein. Ich muss mal sehen, ob ich Jochen erreiche. Wenn nicht, dann …«
»Bist du vielleicht so scheißfreundlich und probierst es einfach mal? Ich krieg hier drin nämlich langsam ’nen Koller!«
Kallsen stöhnte, als ginge es bei dieser Aufgabe um den Fortbestand der Erdrotation. Er war schon im Begriff, sich wegen eines Telefonats zu verabschieden, doch dann drehte er sich nochmal um und verzog nachdenklich das Gesicht. »Glaub mir: Ich hab in all den Jahren ’ne Menge Mist erlebt, aber …«
»Was?«, fragte Wegner, denn es ging nicht weiter.
»Da gibt sich einer ganz viel Mühe«, sinnierte Kallsen, während sein Blick in Richtung Decke wanderte. Über Wegners Kopf klebten zahlreiche Essensreste, die andere Inhaftierte aus Frust dort hinterlassen hatten. »Ist das da oben der Apfelkuchen von gestern?«
»Welcher Apfelkuchen? Hier ist keiner angekommen!«
Kallsens Miene machte klar, dass er sich ertappt fühlte. Sein Kopf fiel herunter und er vollführte einen abrupten Themenwechsel. »Überleg mal, Jungchen! Was ändert sich, wenn du hinter Gittern hockst? Denkt da etwa einer, ausgerechnet du würdest in der Mordkommission regelmäßig Wunder vollbringen?«
Zumindest über die erste Frage machte sich Wegner schon Gedanken, seitdem sich die vergitterte Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dennoch war er bisher zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen. Aber zunächst ging es ohnehin um etwas ganz anderes.
»Hast du meinen Apfelkuchen aufgefuttert?«
Zuerst schüttelte Kallsen energisch den Kopf, schaute dazu empört. Doch diese Kopfbewegung ging mehr und mehr in ein Nicken über. »Stell dir vor, du hockst hier unten mit Bauchschmerzen rum. Ich wollte dir nur was Gutes tun ... und so dankst du es einem.«
Wegner entglitten sämtliche Gesichtszüge. Weil er jedoch in den letzten Jahren schon weit schlimmere Erfahrungen mit seinem Chef gesammelt hatte, beließ er es bei einem strafenden Blick und kehrte zum ursprünglichen Thema zurück. »Wenn du recht hast, dann hat jemand den Inhalt meiner Sporttasche verhökert – um mir anderthalb Jahre später falsche Beweise unterzuschieben.«
»Hör gefälligst richtig zu! Darum hab ich mich doch schon gekümmert! Und vielleicht bedenkst du mal, dass wir uns in letzter Zeit nicht unbedingt Freunde gemacht haben.«
Wegner nickte nachdenklich. »Hast du zufällig auch ’ne Idee, warum sich da jemand so viel Mühe macht?«
»Ist doch logisch: Da meint wahrscheinlich einer, ich würde alles tun, um deinen Arsch vorm Knast zu retten.«
Wegner wartete noch einen Moment auf die Fortsetzung, aber es folgte nichts mehr. Deshalb wagte er eine Frage: »Ist das denn so?«
Kallsen ließ sich vielleicht ein bisschen zu viel Zeit. »Würdest du deinen Kopf für mich hinhalten, wenn ich in Not wäre?«
»Hab ich doch schon ’n paar Mal! Denk mal an die Sache damals mit Franke, als du …«
»Eben, du Torfkopp! Deswegen sparst du dir solche dämlichen Fragen in Zukunft auch lieber!« Kallsen hätte sicherlich noch mehr zu sagen gehabt, doch hinter ihm öffnete sich die Tür zum Zellentrakt. Kurz darauf stand Jochen Spangenberg – ein blutjunger Kommissar-Anwärter, der erst seit ein paar Monaten zur Hamburger Mordkommission gehörte – ebenfalls vor den Gitterstäben. Sein Blick fand sofort den von Wegner, ein gequältes Lächeln war die Folge.
»Wie geht’s dir, Manfred?«
»Hör auf zu labern!«, motzte Kallsen und streckte dem jungen Kollegen seine offene Rechte entgegen. »Hast du den versprochenen Wisch?«
»Schneller ging’s nicht, Chef. Ich hab ’ne Stunde bei Eiseskälte vorm Gericht gestanden, bis die Sekretärin von Richter Matthiesen endlich rausgekommen ist.«
»Und … reicht der Wisch für den Schlüssel?«, fragte Wegner, denn Kallsen überflog die wenigen Zeilen ein ums andere Mal und sah währenddessen nicht besonders glücklich aus.
»Wir werden sehen«, war dann sein nüchternes Fazit, als er widerwillig aufschaute. Und er setzte noch einen obendrauf: »Ich hatte eigentlich auf ein bisschen mehr gehofft – das ist doch alles Scheiße!«
Freitagmorgen, zwei Tage zuvor
»Das wird unser erster gemeinsamer Urlaub«, schwärmte Gisela schon beim Frühstück. Sie schaute Wegner an, der auf der anderen Tischseite mit der Zeitung beschäftigt war und nur hin und wieder zustimmend murmelte. Das sorgte gleich für den üblichen Protest. »Hörst du mir überhaupt zu, Manfred? Nur noch heute und dein Bereitschaftsdienst am Wochenende … danach haben wir das erste Mal richtig zusammen Urlaub.« Gisela klang, als wäre sie fertig, doch dann berichtigte sie sich selbst überhastet: »Natürlich nur, wenn bei euch in den nächsten zwei Tagen kein neuer Fall reintrudelt.«
Wegner faltete die Zeitung und platzierte sie zwischen Kaffeebecher und Kanne. Er streckte beide Hände aus und umschloss die vergleichsweise zarten Finger seiner Verlobten. »Selbst wenn am Wochenende jemand auf die Idee kommen sollte, einen anderen umzubringen: Kallsen meinte, dass Jochen und er leicht auf mich verzichten können. Er denkt sogar, es würde ohne mich wahrscheinlich schneller gehen – und einfacher.«
»Was heißt das jetzt genau?«, hakte Gisela vorsichtig nach.
»Dass absolut nichts mehr unseren ersten richtigen Urlaub stören kann. Egal, was kommt … wir fahren! Comprende?«
Plötzlich strahlten Giselas Augen vor Begeisterung. »Sag nicht, du hast in dem Wörterbuch geblättert, das ich dir zu Weihnachten geschenkt hab?«
»Naturalmente!«, log Wegner auf Italienisch. Solche Notlügen waren mittlerweile ein trauriger Dauerzustand, wenn es um Unterhaltungen zwischen ihm und seiner Verlobten ging. Tatsächlich hatte er in den letzten zwei Monaten keinen einzigen Blick in das Wörterbuch geworfen. Trotzdem lieferte er grinsend eine Fortsetzung: »Amore mio.«
»Ich glaub dir kein Wort«, erwiderte Gisela dennoch lachend. »Wenn wir nächsten Montag nach Rom aufbrechen, dann schwing ich mich zuerst hinters Steuer und fahr am besten runter bis München. Du wirst noch genug Zeit zum Vokabeln büffeln haben. Vertrau mir!«
Wegner wollte schon antworten – wenigstens einen Anflug von Empörung loswerden – doch das Telefon im Wohnungsflur hielt ihn davon ab. Gisela warf einen Blick auf die Uhr über der Küchentür. »Lass mich raten: Kallsen will seine Brötchen-Bestellung aufgeben und gleich wissen, wo du damit bleibst. Wie immer!«
Weil es in der Regel keinen Sinn machte zu widersprechen und Gisela am Ende meistens Recht behielt, stemmte sich Wegner hoch und schlurfte durch den Flur. Er meldete sich mit Namen, doch das Resultat war anders als sonst. Nach kurzer Begrüßung rief er spöttisch: »Deine Mutter ist dran!«
Als Gisela ihm im Flur entgegeneilte, hielt er die Sprechmuschel zu. »Frag sie doch bitte, was für Brötchen sie will.«
»Nur weil du einmal Recht behältst!«, zischte seine Verlobte und riss bereits am Hörer.
Doch Wegner hielt ihn fest. »Ich will ’nen Kuss … sonst wird das nix, Fräulein.«
Gisela riss weiter am Hörer, musste aber feststellen, dass es aussichtslos war. Also stellte sie sich auf Zehenspitzen und verpasste ihrem Verlobten einen Schmatzer auf die Lippen. »Zufrieden, du Aushilfs-Italiener?«
Wegner lachte und hielt ihr den Hörer entgegen. »Nur noch drei Tage bis zum Urlaub. Sag deiner Mutter, ich bring ihr aus Rom was Schönes mit.«
»Und was genau soll das sein?«
»Vielleicht einen rassigen Italiener? Einen Luigi oder Paolo.«
»Da wird sich mein Vater aber bedanken.« Gisela langte erneut nach dem Hörer und durchbohrte Wegner beinahe mit Blicken. »Noch drei Tage, Freundchen ... mach bis dahin bloß keinen Blödsinn!«
***
»Ich weiß nicht … war Manfred schon mal drei Wochen am Stück im Urlaub?« Diese Frage stammte von Irmgard Maria Block, Schreibkraft und gute Seele der Mordkommission. »Vorletztes Jahr wollte er mal zwei Wochen nacheinander machen. Da kam der Mord an diesem …«
»Wenn’s danach ginge, dürfte ich an keinem einzigen Tag fehlen und Urlaub könnte keiner von uns machen«, unterbrach Kallsen angriffslustig. Doch sein Blick gehörte Jochen, der mal wieder Wegners Schreibtisch annektiert hatte. Sein eigener war lediglich eine winzige Platte mit klapprigem Stuhl davor. »Und Sorgen müssen wir uns erst recht nicht machen. Hier wird’s gar nicht auffallen, wenn Manni nicht da ist.«
Jochen und Irmgard tauschten einen der typischen Blicke, bei dem es zunächst auch blieb.
Für Kallsen Grund genug fortzufahren: »Es ging doch vorher auch ohne ihn.«
»Ich frag mich, wie du jemals ohne uns klargekommen bist«, grübelte Irmgard laut. Sie zeigte auf einen der Büroschränke und fuhr prustend fort: »In dem da hab ich letzte Woche ganz hinten einen Bericht von 1962 gefunden. In der Geschäftsstelle konnte man sich noch genauestens erinnern. Angeblich hast du damals jede Schuld abgestritten und die da oben haben drei Tage lang nach deinem Geschmiere gesucht.«
Für derlei Heldentaten schien sich Kallsen nicht zu interessieren, denn er hatte schon wieder seine Zeitung in den Händen und lag beinahe auf seinem Stuhl.
Die Tür zum Büro der Mordkommission flog auf und Wegner platzte herein. Im Eiltempo flog eine Papiertüte in hohem Bogen durch die Luft. Die landete punktgenau auf Kallsens Schreibtisch und auch die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: »Ein Mohn, ein Sesam …« Wegner hielt Irmgard lächelnd eine zweite Tüte entgegen. »Für dich Vollkorn, liebste Irmie.«
Kallsen nahm seine Tüte mit spitzen Fingern und platzierte sie mit angeekelter Miene in möglichst weiter Entfernung. »Du bist zu spät, Jungchen! Müsste ich auf dich warten, wär ich wahrscheinlich schon vor Monaten verhungert.«
»Ich hab auch schon Brötchen mitgebracht«, gab Jochen kleinlaut zu. »Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal lieber absprechen und …«
Wegner fuhr genervt dazwischen: »Ist hiermit passiert! Von mir gibt’s ab sofort überhaupt keine mehr.« Es folgte ein Fingerzeig in Kallsens Richtung. »Soll er doch verhungern – ist mir egal!«
Die Zeitung raschelte und landete ebenfalls auf dem Schreibtisch. Obendrein setzte Kallsen eine überlegene Miene auf. »Wenn er verhungert, kann er hier aber keine Sonderschichten mehr schieben, damit sich der liebe Manni drei Wochen lang nach Italien verpissen kann. Schon mal drüber nachgedacht, du Tiefflieger?«
»Was denn für Sonderschichten?«, erkundigte sich Irmgard ketzerisch von hinten. »Redest du vom Kuchen, den Manfred nicht schafft, wenn er im Urlaub ist?«
Kallsen warf einen Blick in die Runde, erhielt jedoch von keiner Seite Verstärkung. »Ihr könnt mich alle mal kreuzweise! Spätestens, wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, werdet ihr sehen, was ihr an mir verloren habt. Einen Chef wie mich findet ihr garantiert nicht an jeder …« Das Telefon klingelte und sorgte für eine willkommene Unterbrechung.
Weil niemand Anstalten machte, langte Wegner, der immer noch vor den Schreibtischen stand, zum Hörer. »Mordkommission!« Er lauschte eine Weile. »Wo?« Erneut kurzes Schweigen. »Okay … wir machen uns direkt auf den Weg.«
»Was war denn?«, wollte Jochen wissen, nachdem der Hörer auf der Gabel lag.
Kallsen tat zwar, als wäre er wieder mit seiner Zeitung beschäftigt, doch seine Ohren standen definitiv auf Empfang.
»Wir haben zwei Leichen … Volksdorfer Weg, draußen in Sasel.«
Jochen wollte schon nachhaken, doch Kallsen hielt ihn mit einer rigorosen Handbewegung ab. »Das ist was für alte Hasen.« Er zeigte auf Wegner, dem anzusehen war, dass er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. »Manni und ich rücken aus. Irmgard und unser Jungspund kümmern sich ums Büro.«
»Ich bin mit allem fertig«, signalisierte Jochen, was wie ein Hilferuf klang. »Ablage, Bestellungen … die Verhöre von Anfang der Woche hab ich gestern schon alle abgetippt.«
Kallsen tat, als würde er überlegen. Das sorgte in Jochens Gesicht für einen aufkeimenden Hoffnungsschimmer, doch den machten die nächsten Worte des Hauptkommissars gleich wieder zunichte: »Du kannst dir lieber Rex schnappen und ’ne Runde mit ihm drehen. Langsam solltest du mal lernen, Prioritäten zu setzen!«
»Ist das wirklich Ihr Ernst?«, jammerte Jochen und zeigte parallel auf den Korb, in dem der Schäferhund wie ein Toter schlief. »Ich brauch mindestens ’ne Viertelstunde, um ihn richtig wach zu bekommen. Und letzte Woche hat er sogar versucht, mich zu beißen, weil ich ihn aus dem Schlaf gerissen hab.«
Kallsen war kurz zuvor aufgestanden und musste sich, während er auf seiner Prothese balancierte, am Schreibtisch festhalten. »Dann fang gefälligst an, Jungchen! Und wenn du nicht bald mit dem ständigen Gejammer aufhörst, dann suchen wir uns ’nen neuen Leichtmatrosen. Einen wie dich finden wir unter jeder zweiten Laterne.«
Jochen suchte krampfhaft mit Blicken Hilfe bei Wegner, fand dort aber auch nur die übliche Ratlosigkeit vor. Wenigstens gab es eine halbe Erklärung obendrauf: »Unter der Schreckensherrschaft leide ich schon seit Jahren. Falls du’s nicht aushältst, suchst du dir wirklich besser ’ne andere Abteilung. Ändern wird sich hier nämlich nie was – wird höchstens noch schlimmer.«
Jochen schnaufte geräuschvoll und zeigte auf einen der Aktenschränke. »Ist eigentlich noch Futter für Rex da?«
Die Antwort kam von Kallsen: »Vielleicht schaust du mal nach, anstatt so blöd zu fragen. Und falls nicht, ist es hoffentlich nicht zu viel verlangt, wenn du neues kaufst!«
»Krieg ich dieses Mal wenigstens das Geld zurück?«
»Hab ich es dir jemals nicht zurückgegeben?«
»Wenn ich ehrlich sein darf … noch nie, Chef.«
Grund genug, dass auch Irmgard ihren Senf beisteuerte, der sich direkt an Jochen richtete: »Wenn du hier noch ein paar Monate überstehst, kann dich hinterher nichts mehr schocken, glaub mir!«
Wegner stand schon an der Bürotür und legte seinem jungen Kollegen eine Hand auf die Schulter. »Und falls du nicht durchhältst, ist es auch nicht so tragisch. Danach bist du sowieso reif für die Klapsmühle.«
»Deine Mutter geht übrigens schon seit Wochen nicht mehr ans Telefon und sie ruft mich auch nicht zurück«, beschwerte sich Kallsen, als er wenig später neben Wegner auf dem Beifahrersitz hockte. »Ich hab ihr sogar einen Brief geschrieben! Kannst du mir mal verraten, warum sie sich plötzlich tot stellt?«
»Vielleicht, weil sie seit Monaten deine Wäsche macht und nicht mal ’n Dankeschön dafür bekommt?« Wegner war die seltsame Beziehung zwischen seiner Mutter und seinem Chef seit jeher ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass sich am Verhältnis zwischen den beiden im Laufe der vergangenen zwei Jahre einiges verändert hatte. Nicht zum Besseren. Als Beleg dafür fiel Wegner schon ein weiteres Beispiel ein: »Neulich hat sie deine ganzen Socken gestopft und du hast dich hinterher beklagt, dass alle zu eng wären. Hast du ’ne Ahnung, wie man sich da fühlt?«
Kallsen schien tatsächlich nachzudenken. Seine nächsten Worte machten allerdings deutlich, dass er rein gar nichts begriffen hatte. »Sonst noch was … oder geht’s nur um Schmutzwäsche und Socken?«
In diesem Moment kamen Wegner in erster Linie seine eigenen Unzulänglichkeiten in den Sinn. Er hatte es in den letzten Wochen und Monaten nicht allzu häufig zu seiner Mutter geschafft. Aber immer noch regelmäßiger als in den Monaten davor. Es gab also Anlass zur Hoffnung. Trotzdem konnte er nicht sagen, weshalb seine Mutter aktuell für seinen Chef nicht zu sprechen war. Abgesehen von einer weiteren vagen Vermutung, die er mit schadenfrohem Unterton preisgab: »Vielleicht liegt’s auch daran, dass du ihren letzten Geburtstag vergessen hast. Zu Weihnachten gab’s auch nichts und …«
»Ist ja gut, ich hab’s kapiert!«
Wegner witterte seinen Vorteil und holte tief Luft. »Meine Mutter ist nun mal keine Frau, die man so nebenbei laufen lässt und …«
»Lass uns lieber über den neuen Fall reden!«, fauchte Kallsen dazwischen. »Zwei Leichen – was wissen wir außerdem?«
»Kruse ist schon vor Ort.« Wegners Stimme klang plötzlich ganz anders. »Eine Frau und ein Junge – vermutlich Mutter und Sohn. Die zwei liegen wohl schon ein paar Tage tot in der Wohnung.«
»Das sind die schlimmsten Fälle. Ich hätte doch besser Jochen mitnehmen sollen.«
»Wieso? Weil er immer noch grün und blau anläuft, wenn er ’ne Leiche sieht und du dich darüber lustig machen kannst?«
»Weil du dich heut Nachmittag aus dem Staub machst und uns mit der Arbeit allein lässt, du Drückeberger. Aber vielleicht kannst du dich vorher wenigstens noch ’n bisschen nützlich machen.«
Wegner lenkte den Audi nach rechts in den Volksdorfer Weg. Diese Straße verbindet die Hamburger Stadtteile Bergstedt und Volksdorf miteinander. Beide befinden sich im äußersten Nordosten der Hansestadt, nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein.
Als Wegner in eine Parklücke vor dem richtigen Haus steuerte – ein frisch gestrichener Wohnblock mit fünf Stockwerken –, lag seine Stirn in Falten.
Kallsen hatte sogleich die passende Frage parat: »Was ist los, Jungchen? Sitzt dir einer quer?«
»Ich war schon mal hier«, murmelte Wegner. Er lehnte sich nach vorne, um über das Lenkrad hinweg die Fassade hinaufschauen zu können. »Ist schon ’ne ganze Weile her. Da oben, zweiter Stock, links … Viola Zimmermann. Deshalb kam mir die Adresse auch so bekannt vor.«
Kallsen lehnte sich ebenfalls nach vorne. »Im zweiten Stock schaut ’n Kollege in Uniform aus dem Fenster. Linke Seite.«
»Oh Scheiße!«
***
Jochen saß Irmgard beim zweiten Frühstück gegenüber und klang nach aufrichtiger Verzweiflung. »Ich weiß immer noch nicht, wie man mit Kalle umgeht. Was heute richtig ist, kann morgen schon total verkehrt sein. Wie soll man sich denn darauf einstellen?«
»Am besten behandelst du ihn wie einen Chef und nennst ihn Herr Kallsen – auch, wenn er nicht da ist.« Irmgard war anzusehen, dass sie mit einem Grinsen kämpfte. »Das ist nicht einfach, aber man bekommt es irgendwann halbwegs vernünftig hin. Glaub mir, ich sprech da aus Erfahrung.«
»Und Manfred?«
Irmgard überlegte kurz. »Der hat schon lange gelernt, wie man mit Kalle umgehen muss. Die beiden zanken sich zwar unentwegt, sind ansonsten aber ein Herz und eine Seele. Die wissen ganz genau, was sie aneinander haben.«
Jochen wollte antworten, aber das Telefon bremste ihn aus. Er langte zum Hörer. »Spangenberg, Mordkommission!«
»Geben Sie mir Kallsen!«
»Wer ist denn da?«
»Paul Franke. Ich leite das Präsidium hier und möchte Herrn Kallsen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Verzeihung … hab Ihre Stimme nicht erkannt. Und zu Ihrer Bitte: Herr Kallsen ist unterwegs.«
»Zusammen mit Wegner?«
»Ja.« In Jochen machte sich ein mulmiges Gefühl breit. »Wieso fragen Sie?«
»Das spielt in Ihrem Fall keine Rolle.« Paul Franke senkte seine Stimme. »Sollte sich einer der beiden Herren melden, dann …«
»Ja?«
»Vergessen Sie’s! Und falls jemand fragt: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ist das klar?«
»Sonnenklar, Chef!«
»Wer war das?«, wollte Irmgard wissen, nachdem der Hörer wieder auf der Gabel lag.
»Niemand.«
»Du hast den Niemand ›Chef‹ genannt. Willst du mich für dumm verkaufen?«
»Ich darf nichts sagen«, jammerte Jochen. »Ich will doch nur nicht schon wieder …«
»Ist gut! Was wollte Niemand denn?«
»Keine Ahnung.«
»Dann mach einfach weiter!« Irmgard lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Wenn du mir die Abschriften von Dienstag rübergibst, sind wir mit der Mordakte Kleinweber fertig.«
»Danach landet sie im Archiv und ist für alle Zeit vergessen«, fügte Jochen nachdenklich hinzu.
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Kleinwebers Mörder hockt doch hinter Gittern. Wir haben etliche Zeugen und die Geschichte endet für den Täter garantiert mit lebenslänglich.«
»Damit ist ihm aber auch nicht mehr geholfen.«
»Wem?«
»Dem Kleinweber.«
Irmgard sprach mit mütterlicher Stimme, was bei ihr nur selten vorkam. »Du musst aufpassen, dass du dich nicht von jedem Fall so weit hineinziehen lässt. Das frisst einen von innen auf, glaub mir!«
Diese Ermahnung hinterließ Spuren in Jochens Gesicht. Nachdem die gewünschten Unterlagen auf Irmgards Schreibtisch lagen, fuhr er schon um einiges munterer fort: »Und was jetzt? Wie geht’s weiter, Frau Block?«
Irmgard schaute zu ihm empor. »Hast du doch gehört: Auf uns wartet bereits Nachschub. Hoffe, zwei Leichen reichen dir erstmal. Oder brauchst du noch mehr?«
»Das gerade eben am Telefon war Herr Franke«, gestand Jochen, als er wieder hinter Wegners Schreibtisch angekommen war. »Zuerst wollte er Herrn Kallsen sprechen und dann Manfred.«
»In der Reihenfolge?«
»Ja, wieso?«
»Weil die da oben immer noch nicht kapiert haben, an wen man sich hier vorzugsweise wendet.«
Auf dem Weg in den zweiten Stock tat Kallsen, als fehlten ihm die kompletten Beine und nicht nur ein Unterschenkel. Vor der richtigen Tür angekommen, keuchte der Hauptkommissar wie eine alte Dampflok. »Warum kann sowas nie im Erdgeschoss passieren … kannst du mir das mal erklären? Oder warum können sich Mörder nicht wenigstens Häuser mit Fahrstuhl aussuchen?«
Wegner gab keine Antwort, sondern zeigte auf das Namensschild über der Klingel.
»Viola Zimmermann«, las Kallsen laut vor. »Woher kennst du die Frau eigentlich? Nein, lass mich raten: aus deiner Sturm- und Drangzeit? Ging’s da um ’ne Romanze mit kurzer Haltbarkeit?«
Wegner nickte nur, sah dabei aufrichtig betroffen aus. Und er wollte gerade die Wohnungstür vor sich aufschieben, als sich eine zweite Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete. Eine alte Frau steckte den Kopf ins Treppenhaus. »Ich hab was gesehen«, krächzte es durch den Hausflur.
Kallsen nahm das Heft in die Hand und schob Wegner beiseite. »Du übernimmst die Wohnung mit den Leichen, ich hör mal, was die Alte zu erzählen hat.«
Wegner beugte sich nach vorne und flüsterte nur. »Auch wenn die Frau vielleicht nur noch ein bisschen hören kann, hat sie das eben trotzdem mitbekommen. Du bist echt unmöglich!«
»Mach lieber! Ansonsten vertrödelst du nur deine Zeit und spekulierst wahrscheinlich darauf, dich von hier direkt in den Urlaub zu verabschieden. Das kannst du dir abschminken, Freundchen!«
Wegner ignorierte einfach das weitere Geschimpfe hinter sich. Im Wohnungsflur schlug ihm sofort der typische Gestank entgegen. Seine Kollegen hatten zwar sämtliche Fenster aufgerissen, aber solange sich noch zwei Leichen, die man erst nach Tagen gefunden hatte, in der Wohnung befanden, würde sich an der furchtbaren Geruchskulisse nichts ändern.
»Ich hoffe, Sie haben noch nicht gefrühstückt«, sagte Doktor Kruse zur Begrüßung. Der Rechtsmediziner hatte sich links, aus der Küche kommend, an Wegners Seite geschoben. Es folgte ein Fingerzeig durch die offene Schlafzimmertür. »Die Frau liegt da drinnen auf ihrem Bett. Sieht für mich nach ’ner regelrechten Hinrichtung aus.«
Wegner schob die Tür weiter auf und betrachtete das Doppelbett eine ganze Weile wortlos. Wenn es in dieser Wohnung überhaupt einen Ort gab, den er bestens in Erinnerung hatte, dann war das eine Matratze von zwei mal zwei Metern. Er war Viola Zimmermann in einer Kneipe auf dem Kiez über den Weg gelaufen und die beiden hatten sich spontan ineinander verguckt. Diese gegenseitige Anziehungskraft war seinerzeit dafür verantwortlich, dass schon der erste Abend in der Horizontalen endete. Doch die Faszination ließ ebenso schnell nach und scheiterte in erster Linie an Wegners Dienstplan. Wenig später hatte er Gisela kennengelernt und seitdem zum ersten Mal das Gefühl, es könne was Ernstes werden. Schließlich hatten sich die zwei nicht aus einer Bierlaune heraus, sondern aus gutem Grund verlobt.
»Die Frau wurde von insgesamt vier Kugeln getroffen«, fuhr Doktor Kruse neben Wegner fort und zeigte erneut aufs Doppelbett. »Ziemlich makaber: Eine direkt in die Stirn, zwei durch die Hände und eine weitere in die Eingeweide, oberhalb vom Schambein. Mal davon abgesehen, dass da jemand auf Nummer sicher gehen wollte – für mich ähnelt das ’ner Kreuzigung.«
»Was ist mit dem Jungen?« In diesem Moment bedankte sich Wegner insgeheim bei einer höheren Macht, dass er Malte Zimmermann nie persönlich kennengelernt hatte. Das hatte seine Mutter stets umgangen und wusste seinerzeit wohl ganz genau, warum.
»Auch vier Schusswunden, exakt wie bei der Mutter. Aber es sieht wenigstens so aus, als wär’s für beide schnell gegangen. Ich gebe zu: ein schwacher Trost.«
Dennoch atmete Wegner erleichtert aus. »Wissen Sie schon, wie lange die Leichen hier liegen?«
»Die Nachbarn von oben haben sich heute Morgen bei der Polizei über den Gestank im Treppenhaus beschwert. Erfahrungsgemäß dauert sowas nach dem Tod drei bis vier Tage … hängt von der Temperatur ab.«
Anstelle weiterer Fragen warf Wegner einen erwartungsvollen Blick zur Seite.
Kruse fuhr bereitwillig fort. »Die Heizungen waren alle an. Dem Zustand der Leichen nach zu urteilen, tipp ich auf zwei, höchstens zweieinhalb Tage. Wenn ich mit meinen Untersuchungen fertig bin, kann ich Ihnen sicher mehr sagen. Außerdem sollten Sie mal bei den Nachbarn nachfragen, wer die Mutter oder den Sohn zuletzt gesehen hat.«
»Danke für den Tipp!«, kam es eine Spur zu herablassend von Wegner und er entschuldigte sich sofort mit einem Schulterklopfen dafür. »Hat die Spurensicherung schon was gefunden?«
»Ne Sporttasche«, meldete sich einer der entsprechenden Kollegen zu Wort. Der stand plötzlich hinter Wegner und Kruse. »Ich weiß nicht, ob das ein schlechter Witz sein soll, Manni.«
»Wieso ›schlechter Witz‹ ... was ist denn mit der Tasche?«, erkundigte sich Wegner nach einer halben Drehung um die eigene Achse.
Statt weiterer Erklärungen packte der Mann Wegner am Jackenärmel und zog ihn bis ins Wohnzimmer hinter sich her. Dort folgte ein Fingerzeig auf das Corpus Delicti, dessen Seiten mit riesigen Adidas-Emblemen versehen waren.
»Deshalb!« Der Kollege von der Spurensicherung ging stöhnend in die Knie und umfasste das Namensschild an der Sporttasche. »Hier hätten wir also den Namen, die Adresse und die Telefonnummer von einem gewissen Manfred Wegner.« Der bekam gleich einen weiteren schrägen Blick ab. »Kennst du den Kerl zufällig?«
Diesem Kerl schoss es wie ein Lavastrom durch die Eingeweide. Was daran lag, dass man Wegner genau diese Sporttasche vor etwa anderthalb Jahren nach dem Boxtraining geklaut hatte. Er erinnerte sich noch ganz genau an den weiteren Abend, den er mit seiner Diebstahlsanzeige auf dem 41. Revier verbracht hatte.
»Können Sie sich das erklären?«, fragte Doktor Kruse, der ebenfalls im Wohnzimmer angekommen war. »Wie kommt denn Ihre Sporttasche ausgerechnet hierher? Kannten Sie die Tote?«
Wegner war noch immer viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, die scheinbar jegliche Energie in Anspruch nahmen. Zumindest fühlte sich sein Sprachzentrum wie gelähmt an.
Aber die Fortsetzung übernahm ohnehin der Rechtsmediziner: »Am besten machen Sie sich schon mal Gedanken darüber, wie Sie das Kalle erklären. Kann mir vorstellen, dass er sich auch wundern wird. Wo steckt er eigentlich?«
***
Noch war Kallsen in der Wohnung nebenan mit der alten Frau beschäftigt, beziehungsweise in erster Linie mit deren Keksen und einer zweiten Tasse Kaffee.
»Die sind alle von Weihnachten übrig geblieben«, erklärte Käthe Eggers und zeigte in die mittlerweile beinahe leere Keksdose. »Mein Enkel war vor den Feiertagen einmal hier, um sich sein Geschenk abzuholen. Die Kinder haben sich gar nicht blicken lassen.«
»Ist ’ne Schande!«, schimpfte Kallsen mit halbvollem Mund. Er musste übertrieben laut sprechen, denn die alte Frau war extrem schwerhörig. »Wenigstens an Weihnachten könnte die ganze Bagage doch mal an einen denken. Oder etwa nicht?«