Die Schicksalsbrecherin - Kilian Braun - E-Book
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Die Schicksalsbrecherin E-Book

Kilian Braun

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Beschreibung

Die Zauberer der Halbelben im Reich der Qel’tar können ihre Zauberkraft für unterschiedlichste Zwecke verwenden, nur eines können sie nicht: die Magie zum Kampf einsetzen. Einem Forscher sind in dem totgeglaubten Bereich bahnbrechende Fortschritte gelungen, und nun wird nach diesem Instrument der Macht mit allen Mitteln gejagt. In der entlegenen Stadt Horant werden Gardekommandant Agram Praei, die Senatsvorsitzende Sirina Dworant, der Geheimagent Rigo und eine junge Frau ohne Erinnerung von dem Strudel der Geschehnisse mitgerissen – der schon bald lebensbedrohlich wird …

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Seitenzahl: 808

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Kilian Braun

Die Schicksalsbrecherin

Die Wulferan-Saga

Roman

Die Ankunft

Kamilla

Mit einem erschrockenen Schrei kam sie wieder zu sich. Ihr Blick irrte aus weit aufgerissenen Augen umher.

Wo bin ich?

Sie schnappte nach Luft, da sie unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Ein gut zwei Schritt hoher und ebenso breiter Gang führte nach links und nach rechts. Im schummrigen Zwielicht einer nicht auszumachenden Lichtquelle erkannte sie Steinwände. Ihre Augen brannten und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Langsam versuchte sich die junge Frau zu bewegen. Jeder Muskel schmerzte und gequält stöhnte sie auf, während sie sich behutsam aufrichtete und an die feuchte Wand lehnte. Verwundert starrte sie ihre Hände an. Sie sahen so fremd aus.

Bin das ich?

Abgewetzte, etwa vier Finger breite Lederarmbänder zierten ihre Handgelenke, die geschwungene Verzierung darauf in verblasstem Weiß kam nicht mehr zur Geltung. Mit fahriger Geste fuhr sie sich über die Augen, dann über den Kopf. Eine Kurzhaarfrisur?Stimmt das? Sie wurde von der Tatsache abgelenkt, dass die Luft nicht nur schlecht war, es stank erbärmlich. Im Boden vor ihr war eine breite Rinne gemauert, an der beidseitig ein schmaler Stieg entlangführte. Auf einem davon war sie gelegen und hatte sich gerade mühsam aufgesetzt. In der Rinne gluckerte eine dunkelbraune Brühe gemächlich voran und war ohne Zweifel die Quelle des üblen Geruchs. Angewidert verzog sie das Gesicht. Als sie ihre Füße in der Kloake hängen sah, musste sie ein Würgen unterdrücken. Rasch zog sie die Beine an, trotz der protestierenden Muskeln aufgrund der schnellen Bewegung. Sie erstarrte und ihr entsetzter Blick wanderte über ihre schmutzigen Beine hoch zu ihrem Oberkörper. Sie war nackt.

Oh Götter …

Panik quoll in ihr hoch, ließ ihre Hände zittern. Ihr Atem ging stoßweise durch den leicht geöffneten Mund und die kalten Finger bodenloser Furcht streckten sich nach ihr aus.

»Ganz ruhig, Kamilla, ganz ruhig …«

Kamilla?

Ja, das war ihr Name! Kamilla rang mit der Beklemmung, wies sie mit Mühe in ihre Schranken. Trotz des beißenden Gestanks atmete sie durch und mit schlimmer Erwartung tastete sie sich ab.

Bin ich etwa …

Nein, es fühlte sich nicht nach Missbrauch an. Ein wenig Erleichterung überkam sie und gesellte sich zur unterschwelligen Panik dazu. Lieber hatte sie nur dringend ein Bad nötig, als wenn man sich an ihr vergangen hätte. Kamilla schauderte bei der bloßen Vorstellung und sah erneut in beide Richtungen den Gang hinunter. Sie war allein ohne Kleidung in einem Abwassersystem, das hätte zu einer wilden Feier mit reichlich Branntwein gepasst, aber da war nichts dergleichen in ihrem Gedächtnis.

Wer bin ich überhaupt?

Sie schluckte schwer, mehrmals, gegen die allumfassende Verstörung ankämpfend. Kamilla konnte sich an nichts mehr erinnern und nach einem heftigen Rausch fühlte sich ihr Kopf nicht an. Sorge versuchte sich ihrer zu bemächtigen und hatte damit wesentlich mehr Erfolg als zuvor das Strohfeuer der Panik. Irgendetwas war mit ihr geschehen, so viel stand fest, denn es zählte ganz sicher nicht zu Kamillas Gewohnheiten, nackt in Abwassersystemen zu marschieren.

»Also gut«, begann sie mit brüchiger Stimme und räusperte sich. »Es gibt sicher eine einfache Erklärung dafür.« Sie hörte selber den Zweifel und die Angst, wo sie sich doch eigentlich hatte Mut zusprechen wollen. Kamilla kam auf die Beine, wobei sie sich an den Fugen und Unebenheiten der Wand festkrallen musste. Ihre Knie drohten wegzuknicken und ihre Muskeln zitterten vor Anstrengung. Ein kurzer Schwindelanfall ging vorüber, dann kam endlich Stabilität in ihre Beine. Es war nicht kalt, eher feuchtwarm, dennoch schlang Kamilla ihre Arme um den Körper. Sie wollte sich nicht wärmen, sondern am liebsten komplett bedecken, aber das gelang ihr nicht. Sie empfand auch ohne Betrachter Scham und Bloßstellung.

»Also gut«, versuchte sie es noch einmal und erreichte jetzt schon eher die gewünschte Wirkung. Kamilla hatte zur Atmung durch den Mund gewechselt, um der Übelkeit erregenden Wirkung zu entgehen. Unsicher tappte sie los und musste rasch eine Hand benutzen, um sich an der Mauer abzustützen. Sie schwankte ein wenig und wollte auf keinen Fall in die Rinne in der Mitte treten. Wie tief sie wohl war? Seicht sah es nicht aus und allein der Anblick des Inhalts an der Oberfläche war widerlich. Was am Grund alles schlummerte, wollte sie gar nicht wissen. Mit einer Hand an der Wand und dem anderen Arm vor der Brust tappte Kamilla voran. Nach und nach wurden ihre Schritte sicherer, auch wenn sie sich immer noch entkräftet fühlte. Sie brauchte dringend einen Schluck Wasser. Kamilla ging eine Weile, ehe der Gang eine leichte Biegung machte und sie eine Kreuzung vor sich sah. Sie beschleunigte ihre Schritte, rutschte prompt mit dem rechten Fuß weg und um ein Haar wäre sie der Länge nach hingefallen. Wieder langsamer ging sie weiter und streckte den Kopf in die Kreuzung. Gänge führten links, rechts und geradeaus weiter. Nach links sah sie bereits eine weitere Kreuzung, rechts eine Abzweigung. Kamillas Kinn bebte vor Furcht, als sie ein Gefühl für die Größe der Anlage bekam.

Ich finde hier nie wieder raus, schoss es ihr durch den Kopf.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Was ist denn hier nur los? Wo, bei allen Göttern, bin ich denn nur?« Mit zittriger Hand wischte sie die Augenwinkel frei und rief sich zur Ordnung. Sich der Furcht hinzugeben war keine Option, wenn sie schon sonst nichts wusste, diese Gewissheit hatte sie. Diesmal musste sie dreimal durchatmen, doch es half. Kamilla besann sich, sortierte ihre Gedanken und kramte in ihrem Gedächtnis. Da musste doch irgendetwas sein, woran sie sich erinnerte. Sei es nur eine Kleinigkeit! Sie versuchte es viele Atemzüge lang, horchte in sich hinein. Vergeblich. So kam sie nicht weiter.

Wenn ich keinen Ausgang finde, brauche ich mich an nichts mehr zu erinnern, dann wird das hier zu meinem Grab.

Sie staunte, wie nüchtern sie gerade über den Tod nachgedacht hatte. Aber nur so konnte sie emotional etwas Abstand halten, klare Gedanken fassen, sich ein Ziel überlegen. Und das hieß zunächst einmal, Hinweise zu entdecken, Hinweise darauf, wo sie war, und vor allem, wo es hier hinausging.

»Ich schaffe das«, bekräftigte sie ihr Vorhaben und gerade wollte sie sich wieder in Bewegung setzen, als ein Brummen in der Ferne erklang. Kamillas Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Wie ein Schwarm zorniger Bienen hallte es von den Wänden wider, dann konnte Kamilla das Geräusch dem Gang zu ihrer Linken zuordnen. Instinktiv kauerte sie sich nieder und starrte in diese Richtung. Mit dem näher kommenden Brummen verschwand das Licht mit jedem Lidschlag. Die Dunkelheit huschte auf sie zu, schneller als erwartet, und schon war sie über die Kreuzung gerast, hüllte alles in absolute Finsternis. Kamillas Blut rauschte in den Ohren und ihr Herz schien bei jedem Schlag zerspringen zu wollen. Etliche bange Atemzüge später erklang das Brummen erneut und das Licht tauchte in gleicher Weise auf, wie es verschwunden war. Kurz danach sah alles so aus, als wäre nie etwas geschehen.

»Interessant.« Kamilla versuchte, es nüchtern zu betrachten. Das gehörte bestimmt hierher, das war sicherlich etwas völlig Harmloses. Hoffte sie zumindest inständig, als sie den Gang wählte, aus dem das Brummen gekommen war. Vielleicht konnte ihr die Quelle davon weiterhelfen.

Sie marschierte voran, musste aber auf dem stellenweise glitschigen Steinboden weiterhin vorsichtig sein. Nicht alle Gänge waren gleichmäßig ausgeleuchtet. Manche kamen ihr heller vor, andere schummriger, einige lagen sogar komplett im Dunkeln. Wie bodenlose Abgründe sahen diese Gänge aus, so vollkommen war dort die Finsternis. Es war sonderbar, dass der Verstand geradezu übereifrig solche schwarzen Flecken mit ganzen Kohorten von Monstern oder vielbeinigen Insekten befüllte, die am Rand des Lichtbereichs bereitstanden wie Wettkämpfer auf einer Laufbahn. Kamilla stieß zitternd die Luft aus und tappte weiter. Abzweigungen führten mal nach links, mal nach rechts, mal waren sie ansteigend, mal absteigend.

Ein Labyrinth, na toll.

Kamilla hatte es bereits befürchtet und jetzt bittere Gewissheit. Vielleicht gab es ja eine Logik in der Bauweise, nur sie erkannte sie nicht. Kamilla passierte gerade eine weitere Abzweigung, die weitestgehend im Dunkeln lag, und beinahe wäre sie achtlos weitergegangen, als sie im Augenwinkel die Silhouette einer Gestalt am Ende des Gangs zu erkennen glaubte. Kamilla erstarrte in der Bewegung, zog kurz in Erwägung, in Deckung zu gehen, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie war sicherlich schon bemerkt worden.

»Hallo?«, rief sie zaghaft und spähte zu der Gestalt.

»Hallo?«, versuchte sie es ein zweites Mal, als sich nichts rührte. Mit Unbehagen ging sie auf den menschlichen Umriss im Halbdunkel zu. Kamilla gab sich Mühe, mit ihren Armen den Schambereich zu verbergen. »Ich habe mich verirrt. Könnt … könnt Ihr mir helfen?« Langsam kam sie näher. Grinste der Typ etwa? Als sie etwa auf zwei Schritte heran war, erkannte sie nicht nur den Gang als Sackgasse, sondern auch einen Totenkopf, der sie aus dunklen Augenhöhlen anstarrte.

»Bei allen gütigen Göttern!« Kamilla schlug eine Hand vor den Mund. Die Gestalt trug noch Stiefel, Hose und Hemd, jedoch hingen die Sachen überwiegend nur noch in Fetzen von den blanken Knochen. Trotz des gruseligen Anblicks war Kamilla von Neugier gepackt und schob sich noch etwas näher heran. Die Kleidung sah verwittert aus, war aber schätzungsweise auch im Neuzustand nichts Nobles gewesen. Die linke Knochenhand hielt eine Keule umklammert. Nicht nur ein simples Stück Holz, sondern ein wohlgeformtes, eisenbeschlagenes Schlaginstrument. Damit konnte man kämpfen, dafür war es gemacht worden. Hatte sich die Person verteidigen müssen? Kamilla bemerkte unzählige Löcher in den Hosenbeinen und wagte es, mit spitzen Fingern und verkrampftem Gesichtsausdruck am Stoff zu ziehen. Bleich schimmerten die Beinknochen durch zahlreiche Risse, teilweise fehlten ganze Stoffteile.

»Bisswunden«, sagte Kamilla gedankenversunken. Den rechten Arm hielt die Person dicht am Körper vor dem Bauch, womöglich wegen einer Verletzung des Oberkörpers oder des Armes.

»Gegen wen hast du dich wehren müssen?«, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie kauerte sich hin und stützte sich nach hinten ab. Ihre Hand berührte etwas Ledriges und mit einem erschrockenen Laut fuhr sie herum. Ein Lederband lag dort im sichtbaren Bereich und Kamilla zog daran. Aus dem Dunkel der anderen Ecke brachte sie so einen Rucksack zutage. Das Leder sah brüchig aus, hielt aber noch. Vorsichtig öffnete sie die Verschnürung und schlug die Abdeckung zurück. Sie warf dem Skelett einen schuldbewussten Blick zu, obwohl der Eigentümer sicherlich nichts mehr dagegen haben würde, wenn Kamilla in seinen Sachen wühlte. Und das tat sie. Zum Vorschein kam ein Stück Stoff, das Kamilla nach einigem Drehen und Hochhalten als löchrigen Umhang identifizieren konnte. Es folgte ein Wasserschlauch, den sie zwar ganz automatisch schüttelte, aber sogleich angesichts des Zustandes des ehemaligen Besitzers wusste, dass hier kein genießbarer Inhalt mehr enthalten sein konnte. Ebenso verhielt es sich mit dem Proviantbeutel. Ein kleines Büchlein kramte sie schließlich noch hervor, dessen Seiten zwar vollgeschrieben waren, aber ihr selbst beim vorsichtigen Durchblättern sofort entgegenbröselten. Kamilla erhob sich und betrachtete missmutig den Umhang. Ein dünner Stoff, ohne Verzierungen, also weder für lange Reisen noch für frostige Winter geeignet. Er war mehrfach geflickt worden und trotzdem löchrig. Als sich Kamilla ihn dennoch überwarf, kam es ihr vor, als hüllte sie sich in einen Lumpen, aber es war ihr einerlei. Der Stoff kratzte auf ihrer Haut, aber endlich konnte sie sich ein wenig bedecken. Sie knotete die Verschnürung zusammen, vorsichtig, um die Bändchen nicht abzureißen, ging ein paar Schritte, stoppte aber noch einmal. Grübelnd sah sie zurück zu der Gestalt, insbesondere zu der Keule in ihrer Hand. Brauchte sie eine Waffe? Konnte sie damit umgehen? Sie fühlte sich schwach und rechnete sich keine großen Möglichkeiten aus, kraftvoll zuschlagen zu können. Also drehte sie sich um und verließ die Sackgasse. Kamilla setzte ihren Weg den Gang entlang fort. Schweiß begann auf ihrer Stirn zu perlen, der Umhang hielt wärmer, als sie vermutet hatte.

Wie viel Zeit war seit ihrem Erwachen vergangen? Kamilla konnte es nicht sagen. Sie hatte sich noch nicht weit von dem Fundort der Leiche entfernt, als das Brummen erneut zu vernehmen war. Kamilla drückte sich an die Wand und beobachtete gebannt, wie das Licht wie zuvor zunächst verschwand und dann wieder auftauchte.

»Was ist das?«, fragte sie sich, weniger ängstlich, eher neugierig. Gerade wollte sie weitergehen, als sie ein Geräusch vernahm und mitten in der Bewegung erstarrte. Angestrengt lauschte sie, und gerade als sie weitergehen wollte, erklang es erneut. Waren das Schritte? Nein, es war ein sich näherndes Tippeln. Ungleichmäßig erklang es, mal schnell hintereinander, dann wieder Stille, ehe es abermals zu hören war. Das waren definitiv keine Schritte, sondern Kamilla vermeinte, bei jedem Laufgeräusch ein Kratzen auf den Steinen zu hören.

Krallen.

Schlagartig kamen ihr wieder die Bisswunden an den Beinen der Leiche in den Sinn. Erneut bewegte sich etwas begleitet von einem kratzenden Geräusch voran. Ein wildes Tier hier unten? Gut möglich. War es gefährlich? Sehr wahrscheinlich. Kamilla blinzelte, drehte sich um und holte die Keule. Die Schlagwaffe machte ihrem Namen alle Ehre. Zusammen mit den Metallstreifen rings herum hatte die Keule ein beachtliches Gewicht und Kamilla glaubte sofort, dass man damit eine zerstörerische Wirkung bei genügend Schwung hervorrufen konnte. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob ihre Kraft dafür reichte. Die momentane Schwäche mochte ein wenig irreführend sein, aber Kamilla hatte nicht den Eindruck von sich, eine Kämpfernatur zu sein. Ihr Körperbau war schlank, etwas zu schlank, wie sie fand. War das Absicht? Hatte sie sich dazu entschieden? Ihre dünnen Arme waren nicht dafür gemacht, schwere Keulen oder andere Waffen zu schwingen. Gleiches galt für die feingliedrigen Finger. Ein Waffengriff passte nicht dazu, eher Papier und eine Feder. Kamilla stockte, da sie das Gefühl hatte, einer Erinnerung auf der Spur zu sein. Könnten Feder, Tinte und Dokumente ihr täglich Brot gewesen sein? Der Gedanke fühlte sich stimmig an, auch wenn sie zu ihrem Bedauern keine Erinnerung überkam. Sie würde alles tun, um wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt zu ihrem Leben zu erhalten. Irgendetwas, mit dem sie sich einordnen konnte. So fühlte sie sich wie im freien Fall, wusste weder, woher sie kam, noch wer sie war. Kamilla rief sich zur Ordnung und umklammerte die Keule etwas fester. Hier und jetzt war ihr die Waffe lieber als eine Schreibfeder und sie fühlte sich etwas sicherer mit einem Gegenstand in den Händen, mit dem sie sich zur Wehr setzen konnte.

So gewappnet setzte sie ihren Weg fort. Die Gänge waren manchmal etwas abschüssig, manchmal ansteigend. Einmal ging es sogar mehrere in den Stein gehauene Stufen hinab. Für das Abwasser wurde die Rinne in der Mitte fortgeführt, sodass die Kloake weiterhin folgen konnte. Kamilla stieg die Treppe vorsichtig hinunter, der Stein stach in ihre blanken Fußsohlen. In der Fließrichtung musste es einen Ausgang geben. Sicher war sie sich nicht, aber sie redete es sich fest ein, klammerte sich an diese Vermutung.

»Wenn ich hier raus bin, glaubt mir das keiner. Und ich weiß noch nicht wer, aber irgendjemand wird sich da von mir ganz schön was anhören müssen!« Es fühlte sich gut an, die eigene Stimme zu hören und sich von der Endlosigkeit des Tunnelsystems abzulenken. Ein plötzliches Fiepen ließ Kamilla erschrocken herumwirbeln. Schon riss sie ihre Waffe empor, doch so nah war nichts hinter ihr. In gut vier Schritt Entfernung war ein Tier aus einem Seitengang aufgetaucht. Etwa einen halben Schritt hoch, vier Beine mit Krallen, die bereits zu hören gewesen waren. Graues Fell bedeckte den gesamten Körper. Aus kleinen schwarzen Knopfaugen über der spitzen Schnauze wurde Kamilla gemustert. Das Näschen bewegte sich unentwegt, vermutlich hatte ein guter Geruchssinn es zu Kamilla geführt. Zögerlich ließ Kamilla die Keule sinken. Dieses Ding sollte gefährlich sein?

»Husch, verschwinde«, rief sie, mehr Bitte als Befehl, und wedelte mit der freien Hand. Unbeeindruckt wurde Kamilla weiterhin gemustert und gewittert. Sie ging in die Offensive, wollte gleich für klare Verhältnisse sorgen und nicht die Beute darstellen, als die sie sich fühlte.

»Weg mit dir!« Entschlossen machte sie einen Schritt nach vorne. Sogleich kam ein protestierendes Fiepen als Antwort, was Kamilla zusammenzucken ließ. Ihr Vorwärtsdrang war weg.

»Ich schlage zu«, sagte sie und hoffte, das in die Tat umsetzen zu können, falls nötig. Plötzlich duckte sich das Tier und fletschte die Zähne. Nadelspitzes Beißwerkzeug kam zum Vorschein, zusammen mit einem angriffslustigen Fauchen, und hatte der kleine Kanalisationsbewohner so etwas wie ein bisschen Niedlichkeit besessen, war diese spätestens jetzt wie fortgeblasen. Der Nager hatte sich in ein kleines graues Biest verwandelt.

»Schon gut, nicht aufregen.« Kamilla tendierte zur Rückwärtsbewegung, als ein zweites Tier um die Ecke kam. Dann gleich noch eines. In die Gruppe kam Bewegung, kleine scharfe Krallen wetzten über die Steine und die drei waren so schnell wie ein Wimpernschlag heran. Schon spürte Kamilla einen stechenden Schmerz, als einer der Nager seine Zähne ihr ins Bein trieb.

Mit einem Aufschrei taumelte Kamilla zurück und schlug mit der Keule nach dem Angreifer. Der Schlag ging vorbei, dennoch zuckte das Tier kurz zurück. Das zweite und dritte im Bunde drängten nach vorn, wieder spürte Kamilla einen Biss, diesmal im anderen Bein. Diese kleinen Biester waren schnell und setzten vehement nach. Kamilla stolperte rückwärts, geriet ins Straucheln und schlug der Länge nach hin. Die Keule wurde ihr aus der Hand geprellt und landete in der Abwasserrinne. Schon waren die Nager heran, schnappten nach ihren Füßen. Einer erwischte nur den Umhang, riss ein Stück mit wütendem Fauchen heraus. Der Nächste sprang und landete auf Kamillas Unterleib. Schmerzhaft bohrten sich die Krallen in ihr Fleisch. Mit entsetztem Kreischen stieß sie ihn weg, für Ekel über das struppige Fell blieb keine Zeit. Kamillas Waffe trieb im Abwasser gemächlich davon, der Beschlag aus Metall sorgte aber dafür, dass sie langsam aber sicher nach unten gezogen wurde. Mehrmals trat Kamilla nach den anstürmenden Tieren und konnte sie tatsächlich einen Moment von sich fernhalten. Rücklings krabbelte sie davon, wagte nicht, ihren Angreifern den Rücken zuzudrehen, aber sie musste ihre Waffe erreichen. Möglichst bevor sie in der Brühe verschwunden war, denn die Vorstellung, nach angriffslustigen Kanalisationsbewohnern tretend nach der Keule am Grund der Abwasserrinne zu wühlen, war wenig verlockend. Nur noch der Griff trieb oben, das mit Metall beschlagene Ende der Waffe war bereits versunken, als Kamilla zupackte.

Erneut ein Biss, wieder am rechten Bein, und sie hatte einen ersten Anflug von Todesangst. Die zwickten nicht nur ein wenig, die verursachten echte Verletzungen. Abermals wurde sie an ihren Knochenfund erinnert, den Eigentümer der Keule, die Kamilla wieder in Händen hielt. Nein, so wollte sie keinesfalls enden. Energisch trat sie mit den Beinen aus, um aufzustehen. Ihre drei Angreifer lauerten, fiepten und fauchten unentwegt. Kamilla suchte einen sicheren Stand, denn nun war sie entschlossen, die Keule zu benutzen. Dann erst wurde ihr bewusst, dass auch hinter ihr Geräusche waren. Ein Blick zurück zeigte vier weitere Nager, die sich näherten, beinahe anschlichen. Also waren sie gerissene Jäger, was bei Kamilla ein wegsackendes Gefühl in der Magengegend verursachte. Sie stieß die Luft aus und versuchte ihre schlotternden Knie zu beruhigen. Wenn sie noch einmal stürzen würde, wäre es jetzt vermutlich um sie geschehen. Und ohne Einsatz der Keule auch. Von vorn und hinten näherten sich die Biester, nur in kleinen Etappen nach vorne huschend, aber immer ein Stückchen näher. Es wirkte, als könnten sie jeden Moment bei der kleinsten Unachtsamkeit seitens Kamillas nach vorne schnellen. Das durfte Kamilla nicht abwarten und somit eröffnete sie die nächste Runde. Entschlossen ging sie nach vorn und schlug zu. Die Keule knallte auf den Stein, das Tier ließ sich leider davon weniger beeindrucken, als erhofft. Nur kurz zuckte es zurück, dann wuselte es heran und hatte es erneut auf Kamillas Bein abgesehen. War sie tatsächlich so leichte Beute in deren Augen? Gepackt vom Mut der Verzweiflung, schlug sie sofort erneut zu. Volltreffer! Mit einem hässlichen dumpfen Laut traf die Keule den Kopf und das Tier blieb regungslos liegen. Ein Schmerz in der Wade des hinteren Beines ließ Kamilla herumfahren. Wild schlug sie zu. Vorbei, vorbei, Treffer! Wieder eines der Biester erledigt. Sie waren zwar schnell, hatten aber mit den Schlägen von oben ihre Schwierigkeiten. Beflügelt von ihrem Erfolg setzte Kamilla nach und die übrigen zwei hinter ihr nahmen Reißaus. Sogleich wollte sie sich den restlichen zuwenden, doch auch die suchten angesichts ihrer erlegten Artgenossen ihr Heil in der Flucht. Außer Atem sah Kamilla ihnen nach. Grelle Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen und sie musste sich an der Wand abstützen. Sie rang nach Luft, doch die war kaum erfrischend. Erst nachdem sich ihr wild pochendes Herz etwas beruhigt hatte, nahm sie die schmerzenden Stellen an ihren Beinen wahr. Die Bisse waren klein, aber tief. Blut rann heraus, beschrieb rote Bahnen auf ihren schmutzigen Beinen. Bei einem Biss fehlte sogar ein ganzes Stück Fleisch, was gar nicht gut aussah. Noch so eine Begegnung wäre ausgesprochen schlecht und Kamilla beschloss, die Suche nach einem Ausgang zu beschleunigen.

Sie war nur wenige Schritt vorangehumpelt, als ein entferntes Geräusch sie erstarren ließ. Ging das Licht wieder aus? Nein, das war es nicht. Mit böser Vorahnung drehte sie sich um und sah in der Ferne des Ganges eine vielbeinige Bewegung am Boden. Dutzende Krallen flitzten über den Steinboden, Fauchen und Zischen mischten sich in die Geräuschkulisse. Kamilla musste hart schlucken, als ihr klar wurde, dass da eine Meute von den Dingern auf sie zueilte. Sie würden sie einfach überrennen, so machte es den Anschein, denn sie hetzten rücksichtslos voran, kletterten übereinander, wenn der vordere zu langsam war, oder drängten ihre Artgenossen in die Abwasserrinne. Ängstlich fiepend landeten sie in der braunen Suppe und versuchten mit paddelnden Bewegungen wieder zum Rand zu kommen. Der Rest stürmte weiter, unbeirrbar auf Kamilla zu. Von der Gier nach Fleisch getriebene Jäger – viel zu lange starrte Kamilla auf diese graue Flut, dann wirbelte sie herum und hastete los. Flucht war ihre einzige Option. Aber wohin? Alles sah gleich aus, sie nahm die erste Abzweigung und rannte weiter. Willkür und Bauchgefühl waren ihre einzigen Helfer. Der alte Umhang wehte hinter ihr, bremste ein wenig, aber sie wollte ihn nicht abwerfen. Es war das einzige Kleidungsstück und etwas, an das sie sich klammern konnte, wenn sie schon weder Erinnerung noch sonst irgendetwas besaß. Bei den ersten Schritten hatten die Beinwunden noch geschmerzt, nun spürte sie sie nicht mehr. Die Aussicht, von Dutzenden scharfzahnigen Kanalisationsbewohnern komplett zerbissen und abgenagt zu werden, wog viel schwerer. Und half, die Panik über ihren Gedächtnisverlust nebensächlich werden zu lassen. Wieder eine Abzweigung, Kamilla stürmte hinein und nahm gleich die nächste, um nicht zu lange geradeaus zu laufen. Auch ohne jegliche Orientierung dachte sie nicht daran, sich widerstandslos in ihr Schicksal zu ergeben. Ihre Lungen brannten und schwarze Flecken tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Noch war Kamilla nicht in Sicherheit. Noch längst nicht, denn den Geräuschen nach zu urteilen waren sie immer noch an ihr dran. Aber Kamilla hatte etwas Zeit gewonnen und stoppte keuchend. Dieser Gestank! Ihre Gedanken überschlugen sich. Rannte sie weiter, würde sie sicherlich schon bald erschöpft zusammenbrechen. Die Geräusche ihrer Verfolger hallten von den Wänden wider, schienen allgegenwärtig zu sein. Einen Moment lang hoffte sie, die Meute vielleicht doch abgeschüttelt zu haben, doch das war nur ein frommer Wunsch. Kamilla erinnerte sich an das Witterungsverhalten der Tiere. Sie war zu riechen! Eine neue Welle aus Verzweiflung und Panik rollte in ihr hoch. Egal wo sie sich auf die Schnelle verkriechen würde, sie würde aufgespürt werden. Wie zum Beispiel in der dunklen Sackgasse, in die sich der Vorbesitzer der Keule zurückgezogen hatte. Er hatte es womöglich für eine gute Idee gehalten, sich dort zu verbergen. Die Nager hatten es auch für eine gute Idee gehalten: Er konnte nicht mehr fliehen.

»Denk nach, Kamilla, denk nach!« Sie versuchte ihre Atemzüge zu normalisieren, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es musste doch irgendwie eine Lösung geben! Ihr Blick fiel auf die Abwasserrinne.

Sollte ich etwa …

Das mittlerweile bekannte Fauchen und Fiepen wurde deutlicher, weit konnten sie nicht mehr sein. »Verdammter Mist!« Sie ließ die Keule fallen und riss sich den Umhang herunter. Einen Moment lang starrte Kamilla die Abwasserrinne mit ihrem ekelhaften Inhalt an und konnte sich nicht überwinden. Kurz sah sie hoch und den Gang entlang. Doch lieber laufen? Nein, das brachte nichts, das war ihr klar.

»Komm schon, reiß dich zusammen.« Sie verzog angewidert das Gesicht und stieg mit dem ersten Bein in die Rinne. Der Boden war nicht zu sehen, so trüb war der Inhalt des Abwasserkanals. Ihr Fuß stand auf glitschigem, schmierigem Grund, während die Brühe ihr bis zum Knie reichte. Tief genug, um … Kamilla würgte und musste sich wegdrehen.

Ich kann das nicht!

»Du musst.« Sie fuhr sich verzweifelt durch die Haare, und stieg mit dem zweiten Bein hinein. Die Wunden begannen zu brennen, aber dafür hatte Kamilla keine Zeit. Die beißwütige Meute rollte heran, sicherlich lag nur noch eine Biegung zwischen ihnen.

»Tu es, und zwar jetzt!« Kamilla zwang ihren Körper nach unten, versank in der lauwarmen Kloake. Mit den Händen stützte sie sich ab, fand aber in der glitschigen Rinne kaum Halt. Gelegentlich streifte etwas Festes ihren Körper und sie wollte gar nicht genau wissen, was das war. Sie saß, das Abwasser reichte ihr bis knapp unter die Brust, aber das genügte noch nicht. Jetzt kam das Schlimmste – und tief Luftholen war es nicht. Mit gefüllten Lungen und fest zugepressten Augen und Mund lehnte Kamilla sich nach hinten und versank vollständig in der Rinne mit den Fäkalien.

Ein warmes Bad, das ist nur ein warmes schönes Bad daheim. Vor Ekel hatte sie ihren Körper angespannt und versuchte sich ein wenig zu lockern. Das Wasser hatte ihre Ohren verschlossen, sodass ihr Blut rauschte und sie befürchtete, ihr laut schlagendes Herz würde die Biester herführen. Sie musste sich unbedingt beruhigen, um Luft zu sparen. Waren sie schon vorbei? Sie musste es hoffen und das Auftauchen so lange wie möglich hinauszögern. Sollten sie dennoch dort oben lauern, hatte Kamilla wenigstens alles versucht. Verwundert stellt sie fest, dass sie mühelos die Luft anhalten konnte, länger als erwartet. Sie horchte in sich hinein und meinte ein feines Kribbeln ausgehend von ihren sonderbaren Armbändern zu spüren. Sie hatte die einzigen Gegenstände aus ihrer im Dunkeln liegenden Vergangenheit völlig vergessen. Offenbar trug sie sie täglich, vermutlich immer, wenn sie so sehr an das Tragen gewöhnt war, dass es sich wie eine zweite Haut anfühlte. Was könnte es damit auf sich haben? Kamilla nahm sich fest vor, sie sofort zu untersuchen, wenn das hier vorbei war. Diese Armbänder konnten vielleicht ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen!

Ein warmes Bad, nur ein – zarte Erschütterungen rollten über sie hinweg. Erschütterungen ihres Geistes, kein Beben der Erde. Etwas … näherte sich. Als das diffuse Licht durch ihre Augenlider mit einem Mal schwarz wurde, wusste Kamilla, was es war. Die ihr noch unbekannte Lichtquelle legte wieder einmal eine Pause ein und machte Platz für allumfassende Dunkelheit. War das gut oder schlecht in ihrer Situation? Die Nager waren sicherlich daran gewöhnt und konnten sich auf ihren Geruchssinn verlassen. Kamilla hingegen lag in orientierungsloser Schwärze unter Wasser in … Nein, nicht bloß Wasser, sondern …

Bei den Göttern … Sie konnte sich nicht länger selber austricksen, der Würgereflex wurde übermächtig. Sie musste hier raus, jetzt sofort! Zusammen mit der Finsternis war es einfach zu viel und sie hatte die Konzentration verloren. Die Luft wurde knapp und das Kribbeln ausgehend von ihren verdeckten Handgelenken war weg. Der Drang zu atmen hatte ihren Verstand umschlossen und drückte immer stärker zu. Irgendwann, das wusste sie, würde sie nachgeben, den Mund weit aufreißen und dann würde diese braune, ekelhafte, stinkende Brühe in – mit einem Ruck setzte sie sich auf, schnappte geräuschvoll nach Luft, und musste sogleich ausspucken, da ihr etwas in den Mund gelaufen war. Die Finsternis war absolut, noch nicht einmal ihre Hand vor Augen konnte sie erkennen. Wild ruderte sie mit den Armen in der Luft, fand endlich den Rand zu ihrer rechten Seite und klammerte sich fest. Sie wollte nur noch raus aus dem Kanal, so schnell wie möglich, dafür brauchte sie kein Licht. Breitbeinig fand sie einen stabilen Stand und zog sich über die Kante, angetrieben von tief verborgenen Kraftreserven, die durch die Widerlichkeit ihres Verstecks mobilisiert worden waren. Mit fahrigen Bewegungen tastete sie sich bis zur Wand vor, um dort zusammengekauert sitzen zu bleiben. Sie zitterte, aus Angst und tatsächlich vor Kälte, denn das Abwasser war lauwarm gewesen und die Luft im Vergleich kühler. Aber überwiegend war es Angst, die so allgegenwärtig war wie die Dunkelheit um sie herum. Einmal mehr drohte die Panik sie zu überwältigen. Welches Verbrechen hatte sie begangen, welche verbotene Pforte geöffnet, sodass sie hier mit leeren Händen und leerem Kopf umherkroch? Angeekelt versuchte sie so viel wie möglich von ihrem Körper abzustreifen, dann schlang sie die Arme um ihre angezogenen Beine. Es fühlte sich sicherer an und minderte ein wenig das Zittern in den Gliedmaßen. Gleich würde es wieder hell werden, so wie es schon einmal der Fall war. Dauerte es diesmal länger oder kam es ihr nur so vor?

Die Bisswunden an ihren Beinen brannten sicherlich schon eine ganze Weile, aber jetzt erst bemerkte es Kamilla und tastete vorsichtig danach. Mit offenen Wunden in dieses verschmutzte Wasser zu gehen, war keine gute Idee gewesen. Wo waren ihre Verfolger? Kamilla hielt inne und lauschte in die Stille. Vielleicht verharrten sie genauso wie Kamilla bei Dunkelheit? Vorsichtig begann sie umherzutasten und spürte Stoff. Ihr Umhang! Sie raffte ihn an sich und legte ihn um. Das Gefühl der Schutzlosigkeit hatte sich über sie gelegt wie die Dunkelheit, der Umhang milderte es ein wenig. Die Keule konnte ebenfalls nicht weit sein. Die Waffe hatte ihr bereits gute Dienste geleistet und Kamilla war klar, dass sie ohne sie sicherlich schon Nagerfutter geworden wäre. Die Hiebwaffe war ihre Rettung und mit ihr in der Hand würde sie sich besser, wehrhafter fühlen. Auf allen vieren tastete sie in der Dunkelheit den Stein ab. Sorgfältig arbeitete sie sich nach vorne, links war die Kante von der Abwasserrinne, die Begrenzung, rechts die Wand. Dazwischen lag etwa ein Schritt breit Weg, den Kamilla absuchte. Wo blieb das Licht? Es war diesmal länger dunkel, da war sie sich ganz … – Kamilla stieß mit der Hand gegen etwas Hartes. Das musste sie sein! Vorsichtig tastend erforschte sie die Lage des Gegenstandes, denn sie wollte ihn nicht versehentlich wegschleudern. Kurzerhand packte sie zu, um die Keule an sich zu nehmen, doch da rührte sich nichts. Sie schien mit einem Mal wie angewachsen. Die Waffe war schwer gewesen, aber so schwer auch wieder nicht. Kamilla tastete verwundert weiter und prüfte genauer. Sie erstarrte. Das war keine Keule, das war ein Stiefel!

Den spitzen Schrei konnte sie nicht verhindern und zuckte zurück. Ein Lufthauch ging knapp an ihrem Kopf vorbei, dann fühlte sie, wie der Umhang gepackt und nach oben gezerrt wurde. Die Verschnürung zwang Kamilla auf die Beine und sie schlug wild um sich, überwiegend nach vorne, da dort der Unbekannte sein musste. »Lass mich los«, schrie sie schrill und schlug mit ihren Fäusten unbeholfen durch die Luft. Sie traf etwas, war es Kopf, Schulter oder Arm? Sie wusste es nicht. Dann kehrte mit einem leichten Brummen das Licht zurück und einen Moment lang war sie geblendet. Mit einem Ruck wurde sie freigegeben.

»Götter, du bist nackt!«, hörte sie und blinzelte gegen die Helligkeit an. Mit einer Hand schirmte Kamilla ihre Augen ab und erkannte vor ihr einen jungen Mann, etwa einen halben Kopf größer als sie, mit braunen, wuscheligen Haaren. Sein Blick aus grünen Augen zeigte Verwirrung.

»Wer oder was bist du?«, fragte er entgeistert. Dünn war er, seine einfache zweckmäßige Kleidung schlackerte um seinen Körper. An einem breiten Gürtel waren etliche Taschen befestigt, Riemen über den Schultern verrieten, dass er etwas auf dem Rücken trug. Auffällig waren fast kniehohe Lederstiefel, deren Vielzahl an Scharten und Kratzern davon zeugten, den beißfreudigen Bewohnern der Kanalisation erfolgreich getrotzt zu haben. Sie bemerkte seinen Blick auf ihrem Körper, schloss eilig den Umhang und hielt ihn von innen mit einer Hand zu. Der junge Mann wirkte sprungbereit, aber nicht angriffslustig. Er war vielmehr völlig perplex. Immer wieder wanderte sein Blick an ihr auf und ab, dann zur Abwasserrinne. »Warst du da wirklich gerade drin?« Jetzt, wo er es aussprach, war es wirklich absurd.

»Ich hatte keine andere Wahl«, antwortete Kamilla leise und wurde sich bewusst, dass sie ziemlich stinken musste. »Sonst hätten mich diese … diese Dinger totgebissen.«

»Du meinst Orlaks, nehme ich an.«

»Ich weiß nicht. Heißen sie so?«

Der junge Mann runzelte die Stirn. »Woher kommst du? Von hier offenbar nicht.«

Kamilla schüttelte den Kopf. »Nein, ich … nein.« Ihr unsteter Blick huschte herum, zeigte, wie sehr sie in ihrem Gedächtnis kramte, aber da war nichts. »Ich bin Kamilla.« Sie schluckte die Verzweiflung hinunter. »Das … das ist leider das Einzige, was ich momentan weiß.«

»Nur deinen Namen? Du weißt nicht, warum du nackt durch die Kanalisation von Horant läufst?«

»Horant?« Kamilla griff das neue Wort sofort auf. War es ihr bekannt? Hatte sie es schon einmal gehört?

»Ja, Horant!«, wiederholte der junge Mann etwas genervt. »Eine der vier Metropolen der Provinz Braashan, genau dieses Horant.«

Kamilla versuchte die Begriffe einzuordnen. Metropolen, Provinzen, Städte, ja, da war etwas in ihrem Gedächtnis. Sie konnte es bereits erahnen, aber den Schleier nicht lüften. »Wie heißt du?«, fragte sie stattdessen.

»Toran. Ich bin Orlakjäger.« Er drehte sich ein wenig, um ihr den Blick auf seinen Rücken zu ermöglichen. Toran trug einen Käfig, in dem einige von den Nagern lagen.

Kamilla nickte verstehend, auch wenn Horant und Orlakjäger weiterhin Fremdwörter für sie waren. Sie kam einen kleinen Schritt näher, woraufhin Toran sofort zurückwich und den Abstand beibehielt. »Kannst du mich hier rausbringen, Toran?« Da war mehr Flehen in der Stimme, als ihr lieb war, aber es war nicht unbegründet. Toran, der Orlakjäger, war womöglich Kamillas einzige Chance hier wegzukommen – lebend, wenn möglich.

Toran musterte sie prüfend. »Was, bei allen Göttern, ist mit dir? Niemand mit nur einem Funken Verstand steigt ohne Ausrüstung nackt in die Kanalisation.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kamilla verzweifelt. »Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir los ist.« Sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. »Ich weiß nicht, wer ich bin und was passiert ist.«

Toran sah sie prüfend an, Kamillas erbärmlicher Anblick mit flehenden Augen ließ ihn nachgeben. »Na schön. Ich bringe dich hier raus.«

Kamilla hatte ihre Keule entdeckt und hob sie eilig auf. »Danke. Ist es weit bis …«

»Psst!« Toran horchte alarmiert. »Diese Meute, die dich gejagt hat.«

»Was soll mit ihr sein?«

»Sie sind noch in der Nähe.«

»Oh.« Kamilla sah sich besorgt um. »Wie können wir …«

Unvermittelt packte Toran sie hart am Arm. »Lauf! Sie kommen!«

»Was?! Aber woher …«

»Los doch«, rief er und zog an ihr, bis sie rannte.

Nach wenigen Momenten vernahm Kamilla wieder Fauchen und Fiepen, auch Krallen auf dem Steinboden. Sie waren tatsächlich hinter ihnen.

»Hier lang!« Toran bog links ab. Er rannte schnell und Kamilla war schon wieder außer Atem. Ihre Füße schmerzten, nicht nur wegen der Bisswunden, sondern auch wegen des rauen Steins unter ihren Fußsohlen. Aber ohne Toran wäre sie verloren, also biss sie die Zähne zusammen und blieb an ihm dran. Ohne zu zögern, nahm er noch zwei Abzweigungen. Hinter Kamilla wurde es langsam, aber sicher lauter und sie wagte einen Blick zurück. Tatsächlich, da waren sie, mehr und wütender als zuvor, wie es Kamilla schien. Sie strauchelte, schalt sich in Gedanken einen Narren, und konzentrierte sich wieder voll auf das Laufen. Ein Sturz und es wäre um sie geschehen. Unvermittelt verschwand Toran nach links und beinahe wäre Kamilla weitergerannt. Das war keine Abzweigung.

»Hier rein!« Er packte Kamilla, um sie die letzten zwei Schritte regelrecht mitzuzerren. Er platzte mit ihr durch eine Tür aus dickem, dunklem Holz in einen finsteren Raum hinein. Schon erschienen die ersten Orlaks und Toran knallte die Tür zu. Nur einen Herzschlag später trommelten die Nager dagegen. Zornig wurde vor der Tür gefiept und gekratzt, Kamilla wagte kaum zu atmen. Nach langen Momenten wurde es weniger.

Kamilla spürte einen Lufthauch, dann einen Griff an der Schulter. Erschrocken schrie sie auf.

»Das bin nur ich«, erklang Torans Stimme. »Ich mache uns Licht.«

»Wo sind wir?«

Kamilla hörte Toran herumhantieren, dann erklang ein Ratschen. Ein kleiner Funke tauchte im Schwarz auf, fand sein Ziel und wurde zur stattlichen Flamme einer Kerze, die eine Laterne ihr Zuhause nannte. Unstetes Licht erhellte den Raum und Kamillas Blick folgte den verdrängten Schatten. Der Raum war klein, vielleicht drei Schritte in Länge und Breite mit niedriger Decke. Schon ein schneller Blick machte deutlich, dass der Begriff Zuflucht passte. Keinesfalls war es eine modrige, leer stehende Kammer, sondern eine eingerichtete Bleibe, um zu überleben. In einer Ecke war ein Lager aus alten Fellen und Decken, daneben reihten und stapelten sich handliche Kisten und Fässer. Ihr Holz war dunkel und furchig, aber noch funktionsfähig.

»Das sind Vorräte«, erklärte ihr Toran. »Eine Notration, für den Fall, dass …«

Schon war Kamilla herangetreten, öffnete zittrig die oberste Kiste und ergriff das Erstbeste. Jetzt, mit den Lebensmitteln vor Augen, wurde ihr klar, wie hungrig sie war. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft angesichts des Trockenbrots und sie biss hinein. Es bröselte und knirschte, aber für Kamilla war es ein Gaumenschmaus.

»… gut, bedien dich nur«, sagte Toran leise und schnaufte.

Kamilla stopfte sich bereits den dritten Bissen hinein, brachte das Brot aber kaum hinunter. »Ist das Wasser?«, fragte sie mit vollem Mund und deutete auf ein Fass. Toran nickte nur, alles Weitere schaffte Kamilla alleine. Sie war regelrecht ausgehungert – oder ausgezehrt? Was auch immer mit ihr geschehen war, es hatte ihre Kräfte geraubt und sie brauchte dringend etwas zur Stärkung. Lange gehungert hatte sie nicht, sie war nicht abgemagert. Aber was war es dann? Ihr Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, auf der etwas eingezeichnet war. Furchen waren in den Stein geritzt und sorgsam mit Kalk weiß gefärbt. Gänge mündeten ineinander, Kreuzungen und Abzweigungen waren zu erkennen, aber auch offene Enden. An manchen Stellen waren sich die Kartenzeichner offenbar nicht einig, denn es gab Ausbesserungen und Überlagerungen, wodurch man nicht mehr sagen konnte, was galt und was nicht.

»Was sind das für Armbänder, die du da trägst?«, fragte Toran.

Mit der einen Hand hielt sie immer noch den Umhang sorgfältig zusammen, mit der anderen hielt sie das Stück Trockenbrot in der Hand. Mitten im Kauen stoppte sie und starrte ihr Handgelenk an, als sähe sie die Bänder zum ersten Mal. Rasch stopfte sie sich den letzten Brocken in den Mund, damit der Arm unter dem Umhang verschwinden konnte.

»Ich weiß es nicht.« Das wurde mittlerweile zu ihrer Standardaussage, was sie traurig und verzweifelt stimmte.

Torans Blick wurde hart. »Wie kannst du das nicht wissen?« Seine Hand wanderte zu einem Dolchgriff, der zwischen zahlreichen Gürteltaschen hervorlugte.

Kamilla verfolgte die Bewegung und riss entsetzt die Augen auf. »Halt, warte! Denk doch mal nach. Wie gefährlich kann dir eine nackte Frau schon werden?« Kamilla meinte ein Schmunzeln zu erkennen, wichtiger war aber, dass Toran seine Hand von dem Dolchgriff löste.

»Glaub mir, ich wüsste es liebend gern.« Sie machte einen Schritt und zog scharf die Luft ein. Ihre Bisswunden an den Beinen meldeten sich mit neuem Schmerz wieder zurück.

»Bist du verletzt?«

Als Antwort humpelte Kamilla zu den Fellen am Boden und ließ sich etwas umständlich darauf niedersinken. Der Umhang war im Weg, aber sie wollte ihn ohne Kleidung keinesfalls ablegen. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, streckte sie ihr rechtes Bein heraus. Hier hatte sie die meisten Bisse abgekriegt und die schmerzten jetzt mit jedem Wimpernschlag mehr.

»Du hast also Bekanntschaft mit den Orlaks gemacht, wie ich sehe.« Toran öffnete drei Kisten, ehe er fand, was er suchte.

»Für eine Erstversorgung sollte es reichen.« Er begann die Stellen mit einem benetzten Tuch zu säubern. Kamilla bemühte sich tapfer zu sein, obwohl es höllisch brannte.

»Wohnt hier sonst jemand?«, fragte sie, um sich abzulenken.

»Nein, natürlich nicht. Das ist nur eine Zuflucht.«

Kamilla nickte, ihre Frage war unsinnig gewesen. »Gibt es davon mehr?«

Toran hob ihr Bein ein wenig, um an die nächsten Stellen zu gelangen. »Nur wenige. Jeder versucht nicht länger hier unten zu bleiben als notwendig.«

»Und du kommst öfter hier runter?«

Er sah auf, aber rasch wieder weg. So nah an ihr dran schien er sich unwohl zu fühlen. »Es ist meine Arbeit. Damit verdiene ich Geld.« Dann machte er weiter.

»Ohne dich wäre ich wohl hier unten verloren.« Kamilla erschauderte bei der Vorstellung, hilflos umherzuirren, bis irgendwann ihre Kräfte nachließen, sie nicht mehr weiterkonnte und schließlich …

»Mit Sicherheit.« Toran legte das Tuch beiseite. »Du wärst nicht die erste und letzte Person, die in den Tunneln ihr Leben verliert. Viele unterschätzen das hier. Die glauben, es sind nur ein paar Gänge, aber wenn man sich nicht auskennt, ist man schnell verloren.«

Das konnte Kamilla bereits bestätigen. »Was hat es denn mit dem Licht auf sich?«

Toran hatte eine kleine Dose mit einer Paste in der Hand und sah verdrießlich drein. »Das wird jetzt etwas wehtun.« Er bestrich die erste Bisswunde und Kamilla stöhnte auf.

»Das Licht ist ein viel gelobtes Zauberwerk der Qellis. Ist schon ganz nett, aber ein wenig unzuverlässig.«

Es fühlte sich an, als würde eine glühende Nadel in Kamillas Wunden gestochen. »Oh Götter …«, stieß sie gepresst aus. Toran beeilte sich weiterzumachen und Kamillas Atem beschleunigte sich.

»Man sollte eine Laterne dabeihaben. Stiefel sind zum Beispiel auch ratsam …«

Sein kleiner Scherz konnte Kamilla tatsächlich ein kurzes gepresstes Lachen entlocken. Der flammende Schmerz trieb ihr den Schweiß aus den Poren.

»Geschafft«, verkündete Toran endlich und Kamilla schnappte nach Luft.

»Was ist mit deinem anderen Bein?«

Kamilla blinzelte. »Nichts.«

»Ganz sicher? Wenn du dort auch Bisse hast und die sich entzünden, wird dein Bein immer mehr wehtun, schließlich eine dunkle Farbe annehmen und …«

Wundbrand. Na toll, daran kann ich mich natürlich erinnern …

»Ja, schon gut!«

Kamilla streckte das linke Bein hervor und die peinvolle Prozedur wiederholte sich.

»Was ist das für ein dämonisches Zeug?«, fragte sie, als es endlich vorbei war und der abklingende Schmerz es zuließ, ihren verkrampften Körper wieder zu lockern.

»Dieses Zeug wird dich hoffentlich vor einer Blutvergiftung bewahren. Orlakbisse sind nicht ungefährlich und dein Bad in der Rinne war nicht unbedingt förderlich.« Sein Blick huschte ungewollt über ihren Körper, schnell wandte er sich ab. »Dein Umhang ist verrutscht.«

»Oh.« Rasch bedeckte sich Kamilla wieder. Toran räumte seine Sachen wieder weg und Kamilla hatte den Eindruck, dass er vermied, sie anzusehen.

»Stimmt etwas nicht mit mir?«, fragte sie frei heraus. »Du wendest oft den Blick ab.«

Toran hantierte eine Weile weiter, eher er antwortete. »Ich weiß nicht. Du siehst seltsam aus.«

»Seltsam?«

»Deine Gesichtszüge sind … sonderbar. Du kommst auf jeden Fall nicht von hier.«

Kamilla rückte sich in eine bequemere Position. So schmerzhaft die Behandlung ihrer Verletzungen auch gewesen war, jetzt fühlte sie sich tatsächlich bereits besser. »Du weißt momentan mehr als ich, Toran. Vielleicht kannst du meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wo genau sind wir?«

Toran kramte aus seinem eigenen Gepäck einen Apfel hervor und setzte sich Kamilla gegenüber. »Wir sind in der Kanalisation von Horant. Warst du schon mal in Horant? Horant liegt in der Provinz Braashan und ist eine der großen Metropolen. Padu möchte unbedingt ebenfalls in den Kreis der Metropolen eintreten, aber die alteingesessenen Städte Torya, Dariq, Xigart und Horant verweigern Padu diesen Status. Sie wollen die Exklusivität für sich. Aber ich will dich nicht langweilen …«

»Tust du nicht, wirklich!« Kamilla versuchte das Gehörte einzusortieren. Alles klang auf eine seltsame Art vertraut und doch unbekannt. Aber ihre Hoffnung war geweckt. Das war nicht alles völlig fremd, sie hatte mit all dem irgendwie zu tun. Es fühlte sich an, als läge ihr ein gesuchtes Wort auf der Zunge und jeden Moment würde es ihr einfallen.

»Was hat es mit diesen Provinzen auf sich?«

Toran biss in den Apfel. »Die neun Provinzen bilden das Land, in dem wir leben. Zwei sind von Menschen geführt, die übrigen stehen unter Qel’tar-Herrschaft.«

Kamilla setzte sich auf. »Qel’tar?« Dieses Wort durchfuhr sie.

»Qel’tar, die Zauberer. Einstmals gab es ein großes Reich, aber es ist zerfallen. Es wurde zu groß, oder so ähnlich. Weiß nicht genau.«

»Qel’tar …«, murmelte Kamilla nachdenklich. »Und die Menschen dienen den Qel’tar, richtig?«

Toran verdrehte die Augen. »Mehr oder weniger, ja. Wir sind die ausführenden Hände der schlauen Pläne der Qellis.« Er grinste spitzbübisch. »So nennen wir sie, aber nur, wenn keiner von denen in der Nähe ist. Sie sind oft sehr eingebildet und arrogant. Halten sich für etwas Besseres.«

»Sind sie das nicht? Sie können zaubern.«

»Schon, aber du glaubst doch nicht, dass ein Qelli hier runtersteigt und Orlaks jagt? Oder Müll aus den Straßen wegräumt, schwere körperliche Arbeit verrichtet oder dergleichen? Das wollen die aber alles gemacht haben, deshalb brauchen sie uns.«

»Hm.« Kamilla musste einen Moment das Gehörte verarbeiten. Langsam offenbarte sich ihr wieder ein diffuses Bild der Welt. Wo aber ihr Platz darin war, das wusste sie noch nicht.

Sie bemerkte, dass Toran sie aus dem Schutz des Halbdunkels anstarrte. Fand er sie schön? Kamilla fühlte sich dreckig, ungewaschen und in einem zerlumpten Umhang gehüllt alles andere als ansehnlich. Er räusperte sich. »Wie wäre es, wenn du mir etwas von dir erzählst?«

»Wenn ich nur könnte, aber …«

»Kein aber. Da muss etwas sein. Zum Beispiel, wie du völlig unbekleidet in die Kanalisation von Horant kommst? Ich steige seit gut zwei Jahren beinahe täglich hier runter, aber so was hab ich noch nicht erlebt. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?«

Kamilla öffnete den Mund und schloss ihn tonlos wieder. Eigentlich wollte sie »an nichts« sagen, aber stimmte das wirklich? Abermals kramte sie in ihrem Gedächtnis.

»Einen Knall? Etwas Helles?«

»Ist das eine Frage? Wie, beim Seelenfresser, soll ich das wissen?«

»Richtig …« Kamilla ignorierte Torans schroffe Art, sie war etwas auf der Spur. »Ich erinnere mich an einen Ruck in meinem Körper, als würde er auseinandergerissen.« Sie schauderte. »Dann kam ich hier zu mir.«

Toran wischte sich über den Mund. »Großartig. Da hat dir vielleicht jemand mit einer Keule eins übergezogen.«

Kann das stimmen? Wären es tatsächlich Räuber gewesen, hätten sie mich wahrscheinlich nicht nur ausgeraubt, sondern noch andere Dinge mit mir getan …

Kamilla schlang die Arme um den Körper und berührte dabei unbeabsichtigt die Armbänder. Sie streckte einen Arm unter dem Umhang hervor und betrachtete sie bewusst.

»Warum habe ich nichts außer diesen Lederbändern am Körper?«, fragte sie in den Raum hinein.

»Ein weiteres Mysterium …« Der Orlakjäger starrte skeptisch auf Kamillas Arme.

Kamilla begann daran herumzuzupfen. »Die Verschnürung sitzt gut. Maßarbeit, würde ich sagen. Warte … Da ist etwas darunter. Auf meiner Haut!« Aufgeregt reckte Kamilla Toran ihren Arm entgegen. »Kannst du sie mir abmachen?«

Toran riss erschrocken die Augen auf. »Ich fass diese Dinger nicht an! Wer weiß, was es damit auf sich hat … oder mit dir.«

Kamilla versuchte es alleine, wollte aber den Sichtschutz ihres Umhanges nicht verlieren. Genervt gab sie nach einigen Momenten auf. »Ach komm schon, ich muss das sehen«, rief sie scharf und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.

Toran ruckte nach vorne. »Du befiehlst mir gar nichts. Ohne mich wärst du längst Orlakfutter.«

Kamilla sackte ein wenig in sich zusammen. Er hatte recht und es war ihr unangenehm, so impulsiv gesprochen zu haben. »Entschuldige. Es ist nur vielleicht ein wichtiges Detail, um meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.«

Toran zögerte einen Moment, dann lachte er freudlos. »Na schön, Frau ohne Kleider, aber nur, weil ich ehrlich gesagt neugierig bin, was dir widerfahren ist.« Er sah sie reserviert an. »Dann weiß ich, worauf ich aufpassen muss, damit mir nicht dasselbe passiert.«

Gerade wollte er sich der Verschnürung eines Armbandes annehmen, als er innehielt. Kamilla erkannte keinen Grund für die Verzögerung. »Was ist?«

»Die Orlaks vor der Tür sind verschwunden.« So wie er es sagte, war das nicht gut.

»Und das beunruhigt dich, weil …?«, fragte Kamilla vorsichtig.

»Ruhig!« Toran sprang auf und hastete zur Tür. Er presste sein Ohr dagegen. »Verflucht! Wir müssen weg, sofort.«

»Gerade war das noch unsere rettende Zuflucht und jetzt …«

»Keine Zeit, beeil dich!« Torans Hektik war nicht gespielt und Kamilla rappelte sich auf. Der Orlakjäger schulterte seinen Käfig, entriegelte die Tür und riss sie auf. Eilends schob er Kamilla nach draußen in den stinkenden Gang der Kanalisation und verschloss den Unterschlupf wieder.

»Was ist denn bitte jetzt schon wieder los?« Die Verwirrung nahm bei Kamilla kein Ende und langsam war sie genervt davon.

»Hörst du das?«

»Meinst du das Rauschen?«

Toran nickte aufgeregt und deutete ihr, ihm zu folgen, ehe er loshetzte. »Teile der Kanalisation werden regelmäßig von den Qellis geflutet«, rief er über die Schulter zurück. Kamilla bemühte sich Schritt zu halten, aber ihre Bisswunden schmerzten bei der Belastung wieder. »Die Wassermassen sollen die Kanäle freimachen.« Beinahe rutschte er aus, fing sich aber wieder. »Frei von Unrat und Orlaks.«

»Wassermassen?« Allmählich begann Kamilla zu begreifen, warum Toran es so eilig hatte. Das erst noch entfernte Rauschen war nicht nur näher gerückt, sondern zu einem Tosen angewachsen. Das klang nicht danach, als wenn hier lediglich ein wenig Frischwasser durchgeleitet werden würde, hier sollte eine Lanze aus Wasser hindurchgeschossen werden. Kamilla rannte noch etwas schneller.

»Da vorne können wir hochsteigen«, rief Toran und zeigte auf eine fest montierte Metallleiter. Kamilla hatte ihn kaum verstanden, so laut dröhnte es bereits hinter ihr. Sie glaubte, das Wasser bereits riechen zu können, und wagte es nicht, sich umzudrehen. An der Leiter schwang sich Toran rasch empor und hantierte am Ende an einem Verschluss. Kamilla kletterte ihm nach und befand sich auf halber Höhe. »Das verdammte Ding klemmt«, schrie er und hämmerte dagegen. Besorgt spähte Kamilla zurück und erkannte Bewegung am Ende des Gangs. Wie eine wild gewordene Herde Rinder donnerte das Wasser um die Kurve und auf sie zu. »Ich bekomme es nicht auf!« Toran riss und rüttelte an dem Hebel, der offenbar den Kanalisationszugang verschloss.

»Lass mich mal.« Kamilla schob sich an ihm vorbei, ihr Umhang verrutschte und die helle Haut ihres Körpers schien regelrecht zu leuchten, aber Toran hatte alles andere im Sinn als zu gaffen. Kamilla hielt sich mit der einen Hand fest, mit der anderen zog sie erst ebenfalls probehalber an dem Hebel.

»Ich sagte dir doch, dass er …« Weiter kam Toran nicht, denn wie selbstverständlich klopfte Kamilla dreimal schnell dagegen und ein blauer Funke entsprang ihrer Hand. Wieder betätigte sie den Hebel, der nun problemlos umklappte und die Luke freigab. Beinahe vergaß Toran hinauszuklettern, weil er Kamilla völlig perplex anstarrte. Er zog sich hoch und packte im letzten Moment Kamillas Arm, um ihr hinauszuhelfen. Donnernd schossen die Wassermassen durch den Tunnel, Kamilla konnte gerade noch ihre Beine herausziehen. Sie schob sich rücklings von der Luke weg, aus der Feuchtigkeit nach oben sprühte.

Die frische, klare Luft war überwältigend. Jetzt erst, im Vergleich, wurde ihr bewusst, wie sehr es dort unten stank. Toran packte die Luke und wuchtete sie mit einiger Anstrengung in die Höhe und schlug sie zu. Dann erst gestattete er sich, durchzuatmen. Langsam erhob sich Kamilla und war von dem Anblick, der sich ihr bot, wie gefesselt. Mehrstöckige Fachwerkhäuser reihten sich dicht an dicht an einer gepflasterten Straße. Alle zwanzig Schritt befand sich eine übermannshohe Metallstange, an deren Ende eine kopfgroße Kugel mattes Licht spendete. Die frische Luft tat gut, aber Kamilla fröstelte in der Kühle der Nacht. Die Szenerie kam ihr zwar unbekannt, aber dennoch vertraut vor. Sie kannte Gegenden wie diese. Stammte sie aus einer Stadt? Wohnte sie vielleicht irgendwo in so einem Haus? Ihr Blick ging nach oben. Am leicht bewölkten Himmel stand eine blaue Nachtscheibe und tauchte alles in ein diffuses, hellblaues Licht. Das Licht empfand Kamilla als angenehm und verspürte sogar ein wohliges Kribbeln auf ihrem ganzen Körper, wie eine warme, angenehme Dusche.

»Sirron.«

Ihre Lippen formten das Wort ohne ihr Zutun. Kamilla blinzelte. »Sirron«, wiederholte sie schnell, um den Begriff nicht zu verlieren. »Das ist Sirron, richtig?« Toran schwieg, Kamilla starrte wie gebannt nach oben. »Suran ist der andere, nicht wahr?« Ein feines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie hatte gerade gegen den Erinnerungsverlust einen Sieg errungen, wenn auch nur einen kleinen.

Zwei Nachtscheiben. Sirron, der Blaue, steht für die Magie. Suran, der Grüne, für die Natur. Je nach Weltanschauung halten manche es für nur einen Himmelskörper mit zwei Gesichtern. Die Jarlinhgar, die Nordlandbewohner, sehen darin sogar das Antlitz ihrer Weltengöttin Oedjleg, wachend und sehend über allem. Sirron flutet die Welt mit magischer Energie, die wir speichern und nutzen können. Suran hingegen verströmt Lebenskraft, lässt bestimmte Pflanzen erblühen und lockt Tiere hervor, die nur unter Suran ihr Versteck verlassen.

So fühlte es sich also an, Wissen wiederzuerlangen. Kamilla genoss den Halt, den ihr dieses kleine Erfolgserlebnis gab. Ihr Blick kehrte vom Himmel auf den Boden zurück. »Wohnst du in einem der Häuser?«, fragte sie und sah jetzt erst zu Toran. Irritiert hielt sie inne. Der Orlakjäger sah ihr mit leicht gesenktem Blick hart entgegen und wirkte angespannt.

»Du hast die Luke geöffnet«, sagte er schroff und vorwurfsvoll.

»Hätte ich das nicht sollen? Hättest du lieber schwimmen wollen?« Kamilla verstand nicht, was sein Problem war.

»Du hast gezaubert.«

Habe ich das?

Es war alles so schnell gegangen, Kamilla versuchte zu rekapitulieren. Ja, es war offenbar ein Wirken von Magie gewesen, wobei sich Kamilla beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, wie sie es gemacht hatte. Sie hatte es so selbstverständlich getan, wie sie ihre Armbänder trug.

»Ich … also …«

Torans Blick fiel auf ihre umwickelten Handgelenke. »Ich habe es geahnt …«

»Was soll damit sein? Es sind nur …«

Wütend kam Toran einen Schritt auf sie zu. »Du bist nackt in der Kanalisation zu dir gekommen! Als wäre das nicht schon heftig genug, sind das Einzige, was du am Leib trägst, diese Dinger da, die wiederum etwas verbergen.« Woher kam sein plötzlicher Zorn? Kamilla fühlte sich hilflos, aber auch ein wenig ungerecht behandelt.

»Dann sehen wir halt nach. Ich habe nichts zu verheimlichen.«

Hoffe ich …

Kamilla kniete sich hin und drapierte den Umhang um sich herum, sodass sie beide Hände frei hatte, aber keine Sicht auf ihren Körper bot. Mit der linken Hand begann sie an dem Knoten der Verschnürung des rechten Armbands herumzufummeln.

»Götter, du kannst doch nicht mitten hier auf der Straße irgendwelche Geheimnisse lüften!« Toran sah sich um. »Es könnte jeden Moment eine Patrouille vorbeikommen.«

Kamilla hielt inne und sah ungerührt zu ihm auf. »Dann solltest du mir helfen, damit es schneller geht.«

»Oh nein. Wenn die Wachen kommen, bin ich weg, dann kannst du denen alles erklären.«

Kamilla fühlte stoische Ruhe in sich. »Werde ich. Zum Beispiel, dass Toran der Orlakjäger mich aus der Kanalisation geführt hat.« Sie hob entschuldigend die Augenbrauen. »Da werden sicherlich ein paar Fragen auf dich zukommen.«

Toran blinzelte, während er sich offenbar vorstellte, wie die Wachen an seine Tür klopften. »Verdammt!«

Er beugte sich nach unten und mit spitzen Fingern nestelte er an dem Knoten herum. Kamilla sah abwechselnd zu ihrem Arm und zu Toran. Er beeilte sich und fühlte sich nicht wohl, das sah sie. Traurigkeit machte sich in ihr breit, denn sie hatte angefangen, Toran zu mögen. Hätte er doch nur die Luke ohne ihre magische Hilfe aufbekommen. Er sah kurz auf und sein Blick blieb an ihrem betrübten Gesicht hängen. »Toran, ich wollte dich nicht erschrecken oder …«

»Schon gut«, gab er distanziert, aber etwas milder zurück. Er ging auf Abstand und Kamilla sah, dass das Lederband locker genug war, um es abzustreifen. Ein bedeutungsschwerer Moment der Wahrheit. Kamilla griff zu, hielt unwillkürlich den Atem an und schob das Armband behutsam über das Handgelenk. Toran neigte sich leicht nach hinten, sah aber trotz Bedenken neugierig hin. Kamilla war so aufgeregt, dass sie die feinen Linien auf ihrer Haut erst nicht erkannte. Sie hielt den Arm ins Licht und sogleich rann das blaue Sirronlicht wie durch kleine Kanäle um ihr Handgelenk und offenbarte ein rundherum geschlossenes Hautbild aus dünnen, aber zittrigen Linien. Das Bild, wenn es denn ein Bild sein sollte, wirkte dadurch stark verzerrt und unsauber. Dennoch war das darin glimmende Sirronlicht wundervoll anzusehen, wie schimmernde feine Ströme reinster magischer Kraft. Kamilla fuhr mit den Fingern darüber und es knisterte leise, ja sogar winzige blaue Funken schienen von der weichen Haut abzuperlen.

Toran zog scharf die Luft ein.

»Was ist das?«, fragte Kamilla ebenfalls ein wenig erschrocken.

»Magie.« Er sagte das Wort mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. Oder war es Neid? »Ich dachte erst, du bist ein Mensch, aus einer entlegenen Provinz, aber eben ein Mensch. Tja, ich habe mich geirrt: Du bist eine Qel’tar.«

Kamilla starrte durch ihn hindurch, während sich die Erkenntnis in ihr ausbreitete.

»Siehst du? Wenn du sie trägst, wird niemand dein Hautbild sehen und dich deswegen ärgern können.«

Gütig blickte Kamillas Mutter Nirina zu dem vierjährigen Mädchen hinab.

»Aber warum muss ich das verbergen? Ich will diese Dinger nicht tragen!« Kein anderes Kind hatte solche Linien auf der Haut, nur ausgerechnet sie. Zornig verzog das kleine Mädchen das Gesicht. »Das ist unfair.«

Nirina kniete sich vor ihrer Tochter. »Weißt du, du bist eben etwas ganz Besonderes. Als Baby hast du viel geschrien, dann mit drei Sommern warst du wie verstummt.« Sie lächelte. »Lustig, nicht wahr? Wenn ein Baby lange schreit, wünscht man sich sehnlichst, dass es zur Ruhe kommt. Wenn aus dem Baby ein kleines Kind geworden ist, wünscht man sich sehnlichst, die ersten Worte zu hören. Doch du warst lange stumm. Auch dein Vater wusste keinen Rat.«

»Und was ist mit Timorn? War es bei ihm genauso?«

Kurz huschte ein Schatten über Nirinas Gesicht, dann lächelte sie wieder. »Nein, er ist anders.«

»Er mag mich nicht«, sagte Kamilla leise.

Nirina rang nach passenden Worten. »Dein Bruder musste viel zurückstecken, als du klein warst. Es ist klar, dass ihm das nicht gefällt.«

»Er ärgert mich immer. Er sagt, ich bin schuld, dass alles anders geworden ist.«

Nirinas Blick wurde fester. »Darüber braucht er sich nicht zu beklagen. Wenn ein neues Familienmitglied hinzukommt, wird es immer anders. Damit muss er sich arrangieren. Wir haben uns immer eine Tochter gewünscht.« Sie stupste Kamilla an der Nasenspitze und lächelte. »Und hier bist du.«

Ein kurzer Moment der Stille verstrich.

»Na los, lass sie uns anprobieren! Wir haben diese Armbänder extra für dich machen lassen. Sie haben ein schönes Muster.«

Mit sanften, aber entschlossenen Bewegungen streifte Nirina ihrer Tochter das erste Armband über. Das weiche Leder passte wie angegossen, schließlich hatten Nirina und ihr Mann Seram viele Silberstücke in der Raturiaprägung dafür ausgegeben. Aber sie konnte die ständigen Sticheleien in den Kreisen der Eltern nicht mehr ertragen. Welch hässliches Hautbild sich da auf Kamillas Armen ausbreite, musste sich Nirina anhören. Die zittrigen Linien sahen beinahe wie Blitze und ein furchiger Acker aus. Ob es sicher keine Krankheit sei, wurde Nirina gefragt. Nein, das hatte jetzt endlich ein Ende. Mit zügigen Handgriffen verzurrte sie das Band, sodass es locker, aber dennoch fest genug saß.

»Sie sind verzaubert«, erklärte Nirina stolz. »Sie werden mit dir mitwachsen, sodass du sie immer tragen kannst. Ist das nicht toll?« Kamilla nickte betrübt, ihre Mutter ergriff den zweiten Arm.

»Aber die Linien sind doch nicht schlimm. Das hat Allwissender Peratus gesagt.«

Nirina hielt inne. Als sich das Muster vor etwa zwei Jahren langsam zu bilden begann und immer deutlicher wurde, hatten sie in großer Sorge den Zirkel der Gelehrten aufgesucht. Noch nie hatte man so etwas in Iram gesehen und schnell war die kleine Kamilla Cortis zum Stadtgespräch geworden. Auch die Allwissenden des Zirkels der Gelehrten konnten keine Erklärung finden, aber nach eingehender magischer Untersuchung war man sich sicher, dass es nichts Böses war. Allwissender Peratus bezeichnete es schließlich als Laune der Magie, eine offenbar ausgesprochen seltene Erscheinung. Zwar war Nirina erleichtert über diese Erkenntnis, dennoch würde sie mit einem Kind leben müssen, das auffiel und noch beim Verlassen des Gelehrtenhauses wurde ihr klar, dass über die Familie Cortis »gesprochen« wurde.

»Es mag nichts Schlimmes sein, das ist richtig, aber du bist die Einzige, die so etwas besitzt. Das macht anderen möglicherweise Angst, verstehst du?« Nirina schnürte trotz des verdrießlichen Gesichts ihrer Tochter weiter. »Und erinnerst du dich an manche Sirronnächte? Wenn die Linien so leuchten und dein Kopf schmerzt? Das wird damit sicherlich nicht mehr vorkommen.«

Stumm beobachtete Kamilla, wie ihre Mutter ihr das zweite Armband sorgfältig anlegte. »Warum haben das die anderen nicht? Warum habe ich es?«