Die Schlafwandlerin - Ingolf Hirth - E-Book

Die Schlafwandlerin E-Book

Ingolf Hirth

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Was, wenn du einen Mord begangen hast, dich aber nicht mehr daran erinnern kannst? Bereits seit ihrer Kindheit leidet Marlene Lukaci an Somnambulismus – Schlafwandeln. Als sie eines Morgens neben ihrem erstochenen Ehemann aufwacht, ist sie außer sich vor Verzweiflung. Da sich ansonsten niemand im Haus befand, gilt sie in dem Fall sofort als Hauptverdächtige. Lediglich ihre Zurechnungsfähigkeit während der Tat ist unklar. Hat sie ihren Mann im Schlaf getötet? Ihr Anwalt hofft mit diesem Argument einen Freispruch bewirken zu können. Er gibt ein medizinisches Gutachten bei der Ärztin Renée Döring in Auftrag. Als Renée beginnt, Marlene zu untersuchen, stellt sich jedoch heraus, dass viel mehr hinter der Tat steckt, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Schließlich gerät Renée selbst in die Schusslinie des Täters …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Der Autor Ingolf Hirth, geboren 1975 in Pirmasens, ist gelernter Krankenpfleger und promovierter Neurobiologe und lebt mit seiner Familie bei München. Während seiner Dienstreisen begann er die Abende im Hotel zu nutzen, um erste Kurzgeschichten zu schreiben. Heute liegt sein Schwerpunkt auf Medizinkrimis und Wissenschaftsthrillern.

Das Buch

Was, wenn du einen Mord begangen hast, dich aber nicht mehr daran erinnern kannst?

Ingolf Hirth

Die Schlafwandlerin

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2018 (1)   © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Theresa Meyer   ISBN 978-3-95819-147-1   Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Prolog

Regen prasselte auf sie herab. Ihr Nachthemd und ihr sonst so fülliges Haar klebten an Körper und Kopf. Langsam setzte sie einen nackten Fuß vor den anderen.

Sie ignorierte sowohl das Wasser als auch die Kieselsteine, die sich in ihre Fußsohlen bohrten. Unbeirrt ging sie weiter.

Plötzlich quietschte etwas neben ihr. Sie drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zwei Augen funkelten sie an. Es wirkte, als würde derjenige, dem sie gehörten, jeden Moment auf sie losstürmen.

Als nichts dergleichen passierte, und die Augen still in der Dunkelheit verharrten, ging sie weiter, Schritt für Schritt, Fuß um Fuß.

Jeder Tropfen, der ihr Gesicht traf, fühlte sich an wie ein Nadelstich. Sie sah kaum noch etwas. Trotzdem ging sie immer weiter durch den Regen und die Dunkelheit.

In den größer werdenden Pfützen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen wider. Trat sie in eine der Schmutzlachen, so verschwammen die Lichtreflexe zu kreisförmigen Wellen.

Etwas berührte ihre Hand. Schnell zog sie sie zurück und ging weiter.

Nur noch wenige Schritte, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Es konnte nicht mehr weit sein, nachdem sie schon so lange unterwegs war.

Sie verspürte einen Druck an ihrer Schulter. Jemand rief ihren Namen und versuchte, sie aufzuhalten. Sie aber wollte nicht stehen bleiben, nicht so kurz vor ihrem Ziel. Sie entwand sich dem Griff und lief weiter durch den Regen und die Dunkelheit.

Da stellte sich ihr jemand in den Weg, packte sie an beiden Armen und rief ihren Namen. Er tat ihr weh. Sie versuchte, sich erneut aus dem Griff zu befreien. Doch je mehr sie sich bemühte, umso stärker wurde der Druck. Der Unbekannte schüttelte sie. Ihr Kopf flog unkontrolliert nach hinten. Sie wollte das nicht. Sie wollte weiterlaufen.

Endlich gelang es ihr, einen Arm aus der Umklammerung zu befreien. So stark sie nur konnte, hämmerte sie mit der Faust auf das gesichtslose Wesen ein. Plötzlich ließ der Angreifer sie los, aber sie schlug weiter, immer weiter, bis sich unter die kühlen Regentropfen warme Blutstropfen mischten.

1

23. Mai 2014, 3:29 Uhr

Dominik Berger lenkte seinen BMW in Richtung der Menschentraube, die sich vor dem Eisentor gebildet hatte. Einige der Schaulustigen hatten sich Jacken über ihre Schlafanzüge gezogen und waren in Straßenschuhe geschlüpft, andere standen zitternd in ihren Pantoffeln vor dem Zaun und warfen neugierige Blicke auf das dahinterliegende Anwesen. Kaum jemand von ihnen sah mehr als die von blauen Signallichtern angestrahlten Bäume, hinter denen die Einsatzfahrzeuge von Polizei und Notarzt parkten. Gerade die eingeschränkte Sicht auf das Geschehen musste ihre Neugierde ins Unermessliche steigern.

Berger hielt an. Kurz überlegte er, das Blaulicht aufs Dach zu setzen und sich so den Weg zum Tor zu bahnen. Doch er entschied sich dagegen. Er wusste bereits, was ihn dahinter erwartete, und hatte es deshalb nicht eilig.

Er stieg aus, verschloss den Wagen und schob sich dann zwischen den Schaulustigen hindurch. Kaum jemand nahm Notiz von ihm oder beschwerte sich, wenn er von Berger sanft zur Seite gedrückt wurde.

Auf der Innenseite des Tores hielten zwei Streifenpolizisten Wache. Berger sah in ihrem Blick, wie froh sie darüber waren, hier ihre Aufgabe als Wachposten erfüllen zu können und nicht dabei helfen zu müssen, den weiter hinten gelegenen Tatort zu sichten.

Er zückte seinen Dienstausweis. Der Ältere der beiden musterte ihn, dann nickte er seinem Partner zu, der das Tor einen Spalt weit öffnete, durch den Berger hindurchschlüpfte.

»Ich hoffe, Sie haben noch nichts gegessen«, raunte ihm der jüngere Polizist zu, bevor das Eisentor wieder ins Schloss fiel. Sein Atem roch sauer, nach Erbrochenem. »Wir waren die Ersten, die nach dem Notruf hier eingetroffen sind.«

Berger schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er noch nicht gefrühstückt. Sein Handy hatte ihn kurz nach drei Uhr geweckt. Seitdem waren noch keine dreißig Minuten vergangen. Er hatte lediglich an einer Tankstelle gehalten, um sich einen Kaffee zu kaufen. Leider hatte er erst vor dem Automaten bemerkt, dass er seine Brieftasche vergessen hatte. So war ihm der ersehnte Wachmacher verwehrt geblieben.

Er schritt voran, bevor der Polizist noch mehr sagen konnte. Ein weiteres Mal wollte er sich dem üblen Geruch nicht aussetzen.

Plötzlich rief jemand seinen Namen. Berger drehte sich um. Das grelle Blitzlicht eines Fotoapparates blendete ihn.

»Können Sie schon etwas sagen?«

Franz Plank war freier Journalist und – wie für einen Reporter wichtig – stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Vermutlich hörte er entweder den Polizeifunk ab oder er hatte Informanten bei der Polizei, die ihn mit wertvollen Tipps versorgten.

Berger war keiner dieser Tippgeber. Wortlos stapfte er weiter auf dem Kiesweg, der als Buchenallee zur weiter hinten auf dem Grundstück gelegenen Villa führte.

Kühler Wind spielte sanft mit den Blättern der Bäume. Eine Maus huschte vor ihm über den Boden.

Auf den letzten Metern öffnete sich der Weg zu einem Platz, auf dem neben einem Krankenwagen drei Polizeiautos standen, deren Signallichter die Umgebung erhellten.

Etwas abseits parkte ein schwarzer Kombi mit abgedunkelten Scheiben und einer weißen Beschriftung auf Seitentüren und Heckfenster. Der Kofferraum des Leichenwagens war geöffnet. Zwei südländisch aussehende Männer, beide mit schwarzen Anzügen und Krawatten sowie weißen Hemden bekleidet, standen daneben und warteten.

Nahezu synchron zogen sie an ihren Zigaretten und klopften anschließend die Asche ab, die zu den bereits neben ihren Füßen liegenden Kippen fiel.

Berger fluchte. »Was soll das? Das ist ein Tatort. Wie sollen wir denn so wissen, was vom Täter stammt und was von irgendwelchen Idioten?«

Die Männer schauten ihn beschämt an und suchten nach einer Möglichkeit, ihre Zigaretten auszumachen. Schließlich drückten sie sie auf der Stoßstange aus und legten die Zigarettenstummel in den Kofferraum neben den Sarg. Berger wunderte sich über die Pietätlosigkeit, mit der die beiden Bestatter dem Tod gegenübertraten.

Halbwegs zufrieden stieg er die drei Stufen zur Veranda hoch. Rechts und links stützten zwei Rundsäulen den Balkon darüber. Die Eingangstür stand offen. Ein weiterer Polizist in blauer Uniform stellte sich ihm in den Weg. Berger zeigte auch ihm seinen Ausweis. »Wer ist schon alles hier?«

Der Polizist trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die Treppe. »Von der Spurensicherung sind insgesamt drei Leute oben. Erster Stock, zweite Tür rechts. Die Frau ist mit einem Arzt unten im Wohnzimmer. An der Treppe vorbei und dann immer geradeaus. An Ihrer Stelle würde ich aber nicht hochgehen. Es ist kein schöner Anblick.«

Berger trat dennoch zur Treppe. Er musste selbst sehen, was sich dort abgespielt hatte.

Vor der beschriebenen Zimmertür kniete eine Person in einem weißen Overall neben einem geöffneten Koffer. Eine Kapuze war über ihre Haare gezogen, die Hände steckten in blauen Einmalhandschuhen.

Sie hatte gerade eine Plastikdose dem Koffer entnommen, als sie Berger bemerkte. Sie stand auf, zog sich die Kapuze vom Kopf und ging auf ihn zu.

Er hob leicht die Hand. »Hallo Karen.«

»Schön, dass du dich noch an meinen Namen erinnerst. Warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?«

Berger konnte ihren Zorn nachvollziehen. »Ich hatte wenig Zeit. Du weißt selbst, wie unsere Arbeitszeiten manchmal sind.«

Karen Romahn nickte zögerlich. »Morgen habe ich frei.«

»Ich überleg es mir«, antwortete Berger.

Dann wartete er, bis Karen sich umgedreht und die Tür geöffnet hatte.

»So etwas Seltsames habe ich noch nicht erlebt«, sagte sie. »Und ich mache den Job nun auch schon einige Jahre.«

Karen betrat das Zimmer, Berger blieb im Türrahmen stehen. Er trug keinerlei Schutzkleidung. Das Risiko, den Tatort mit Haaren oder sonstigen Kleinstpartikeln zu verunreinigen, die an Kleidern oder Schuhen hafteten, war zu groß.

Zwei weitere Forensiker waren in dem Schlafzimmer beschäftigt. Einer suchte mit einer Lupe auf dem Bett nach Haaren, Stofffasern und anderen Spuren, die Auskunft über das Geschehene geben könnten. Der andere fotografierte den Raum aus verschiedenen Perspektiven.

Im Bett lag ein Mann, der die sechzig bereits hinter sich gelassen hatte. Seine Füße ragten unter der Decke hervor, sein linker Arm hing über den Rand des Bettes hinaus in der Luft. Blut war daran heruntergetropft und hatte auf dem Boden eine Lache gebildet, die bereits eingetrocknet war.

Die Bettwäsche musste ursprünglich weiß gewesen sein. Nun war sie mit Blut getränkt. Der Kopf des Mannes war zur Seite gedreht, die Augen weit geöffnet. Berger glaubte, selbst jetzt noch Überraschung in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen.

»Wie lange ist er bereits tot?«, fragte er vom Türrahmen aus.

»Als wir gekommen sind, war seine Körpertemperatur bei dreiunddreißig Grad. Ich schätze, er ist vor etwa fünf Stunden gestorben.« Karen bemerkte erst jetzt, dass Berger nicht neben ihr stand. Sie musterte ihn fragend, dann verstand sie, warum er an der Tür geblieben war. »In meinem Koffer sind Überschuhe.«

Nachdem Berger die schützende Folie über seine schwarz-weißen Sneaker gezogen hatte, betrat auch er das Zimmer.

Die Decke, die den Leichnam teilweise bedeckte, war an mehreren Stellen eingerissen, ebenso das Pyjamaoberteil.

»Er wurde erstochen«, stellte Berger fest.

»Mindestens zwanzig Stiche. Der Mörder muss ziemlich wütend gewesen sein.« Karen beugte sich über die Leiche und deutete auf einen Einstich in der Brust. »Dabei hätte dieser eine hier bereits gereicht. Er geht genau zwischen der dritten und der vierten Rippe hindurch und hat das Herz getroffen. Das Opfer ist ziemlich schnell verblutet und war nach diesem Stich auch gar nicht mehr in der Lage, sich zu wehren.«

Berger blickte auf die Hände des Toten. Er konnte weder abgebrochene Fingernägel noch Schnittwunden an den Unterarmen entdecken, die darauf hindeuteten, dass der Mann sich gewehrt hatte.

»War das der erste Stich?«

»Das kann ich nur vermuten.«

Vor dem Zimmer räusperte sich jemand. Berger schaute auf und sah einen Rettungsassistenten im Türrahmen stehen.

»Wir werden jetzt fahren und sie ins Krankenhaus bringen.«

Berger wollte zuerst fragen, um wen es sich handelte. Dann fiel ihm ein, dass der Polizist an der Haustür eine Frau erwähnt hatte, die mit dem Arzt im Wohnzimmer sei. »Warten Sie!«, sagte er und ging auf den Rettungsassistenten zu.

Er hatte in seinem Beruf bereits zahlreiche Mordopfer gesehen. Aber an den Anblick gewöhnt hatte er sich nie. Auch weil es jedes Mal anders war. Kurz nach ihrem Kennenlernen hatte er Karen gefragt, wie das bei ihr sei, da er während ihrer Arbeit keinerlei Gefühlsregung bei ihr hatte wahrnehmen können. Ihre Antwort hatte ihn erschüttert. Sie empfand in solchen Situationen rein gar nichts. Sie konnte ausblenden, dass das, was vor ihr lag, wenige Stunden zuvor noch ein lebendiger Mensch gewesen war. Es war für sie ein Forschungsobjekt. Ein Gegenstand.

Berger konnte sich nicht derart distanzieren. Er war erleichtert, endlich diesem Ort mit der blutgetränkten Bettdecke, den Flecken auf dem Boden und dem toten Menschen im Bett entfliehen zu können. »Ich komme mit.«

Nachdem er zum Rettungsassistenten getreten war, zog er die Überschuhe aus und steckte sie in seine Jackentasche.

Nebeneinander gingen sie zur Treppe.

Unten im Wohnzimmer gab es nur wenige Möbel: ein Sofa, einen Beistelltisch und einen Bücherschrank. Dominiert wurde der Raum von Unterhaltungselektronik. An der Wand hing der größte Fernseher, den Berger jemals gesehen hatte. In jeder Ecke des Raumes stand jeweils ein Lautsprecher, ein weiterer war unterhalb des Fernsehers positioniert.

Eine Glasfront erlaubte den Blick in den hinter dem Haus gelegenen Garten. Mehrere Wege führten vom Gebäude weg. Leuchtende Steinlaternen hüllten den gesamten Bereich in ein warmes Licht. Berger kannte solche Lampen nur als Dekoration aus Gärten, die nach japanischem Vorbild gestaltet waren. Diese hier wurden nicht mit Teelichten betrieben, sondern mussten mit elektrischem Licht nachgerüstet worden sein.

Zentral im Raum stand das braune Ledersofa, dessen Rückseite Berger zugewandt war. Darauf saßen zwei Personen, die ebenfalls in den Garten blickten, ohne die beiden Neuankömmlinge zu bemerken.

Berger bedeutete dem Rettungsassistenten zu warten. Dann ging er um das Sofa herum.

Der Arzt trug die klassische weiße Arbeitskleidung sowie eine rote Jacke mit Reflektorstreifen und dem Aufdruck »Notarzt«. Mit krakeliger Handschrift füllte er ein Formular aus. Als er Berger wahrnahm, hob er kurz den Kopf, nickte ihm zur Begrüßung zu und schrieb dann weiter.

Die zweite Person war eine Frau, Berger schätzte sie auf Ende dreißig. Sie trug einen weißen Bademantel. Ihre Haare waren frisch gewaschen. Ein leichter Aprikosenduft ging von ihr aus. Ihre Beine hatte sie eng an sich herangezogen und mit ihren Armen umschlossen. Ihre Augen waren feucht, ihr Blick von Trauer und Schmerz erfüllt. Sie schien geistig abwesend.

Berger bat den Arzt aufzustehen, was dieser nur zögernd tat.

Die Frau schien Berger auch dann noch nicht wahrzunehmen, als er sich neben sie setzte. Unverändert durchbohrte ihr Blick das Fensterglas. Berger wollte sich gerade vorstellen, als sie sagte: »Ich habe ihn gefunden.«

Berger hielt inne. Es war immer besser, wenn Zeugen eines Verbrechens von sich aus sprachen und nicht lediglich auf Fragen antworteten. Die Frau hatte gerade den ersten Schritt getan, und er wollte sie auf gar keinen Fall davon abhalten, auch noch den nächsten zu tun. Deshalb schwieg er.

»Er hat einfach so dagelegen, in seinem eigenen Blut. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Er war schon tot, als ich ihn gefunden habe. Ich habe sofort den Notarzt und die Polizei gerufen. Aber es war zu spät.«

Berger versuchte, sich in ihre Situation hineinzuversetzen. Es musste ein großer Schock für sie gewesen sein, nach Hause zu kommen und den Ehemann tot im Bett liegend vorzufinden.

»Wo waren Sie?«, fragte er schließlich.

»Ich war nirgendwo. Ich habe in meinem Bett gelegen und geschlafen. Die ganze Zeit über. Ich habe geschlafen und bin nicht aufgewacht.«

Sie wirkte, als ob das Reden sie stark anstrengte. Immer wieder machte sie eine Pause, um die richtigen Worte zu finden, und schloss dabei für einen kurzen Moment die Augen. Wahrscheinlich hatte der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, das sie nun schläfrig machte. Das war nicht gut, weil sie deshalb vielleicht nicht mehr lange vernehmungsfähig sein würde. Berger musste sich beeilen, um so viel wie möglich von ihr zu erfahren.

»Wo haben Sie geschlafen?«

»In unserem Bett. Direkt neben ihm! Verstehen Sie denn nicht? Ich habe geschlafen, während er …« Sie beendete den Satz nicht. »Als ich wach wurde, war er tot und voller Blut. Ich habe sofort die Polizei und den Notarzt gerufen. Erst danach habe ich bemerkt, was alles an mir klebte, und bin duschen gegangen.«

Der Arzt mischte sich ein: »Wir haben Frau Lukaci im Badezimmer vorgefunden. Sie saß in der Duschkabine auf dem Boden.«

Ungläubig wanderte Bergers Blick zwischen Notarzt und Witwe hin und her.

2

9. Juni 2015, 8:37 Uhr

Renée Döring tippte auf dem Zahlenfeld zwei Ziffern ein und wartete darauf, dass eine der Metallspiralen sich drehen und einen der Schokoladenriegel zur Glasscheibe hin befördern würde, wo er nach unten in das Entnahmefach fallen sollte. Doch nichts geschah. Kein Surren, kein Lichtreflex, der Schokoriegel bewegte sich nicht. Renée drückte ungeduldig auf den dicken schwarzen Knopf, um das eingeworfene Geld zurückzuerhalten. Der Automat reagierte nicht. Mit der flachen Hand schlug sie gegen die Glasscheibe.

Während der vergangenen Nacht war sie kaum zum Schlafen gekommen. Ein junges Mädchen war eingeliefert worden. Da ihr Freund sich von ihr getrennt hatte, war eine Welt für sie zusammengebrochen und sie war weinend weggelaufen. Eine Polizeistreife hatte sie schließlich aufgegriffen und ins Krankenhaus gebracht. Nachdem Renée ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sowohl mit ihr als auch mit den besorgten Eltern gesprochen hatte, war das Mädchen wieder entlassen worden. Aber die Gespräche hatten mehrere Stunden gedauert. Zusätzlich hatte es die üblichen Anrufe der diensthabenden Krankenschwestern gegeben.

Renée hatte sich angewöhnt, am Ende einer Nachtschicht gegen den aufkommenden Hunger einen Schokoriegel zu naschen, der nun auszufallen drohte. Ausgelaugt und hungrig machte sie sich auf den Weg zum Dienstzimmer. Die Krankenschwestern lagerten stets einen Vorrat an Süßigkeiten in einem Wandschrank, der über der Kaffeemaschine hing.

Nachdem sie die Schranktür geöffnet hatte, sah sie sofort die vertraute gelbbraune Verpackung. Sie riss die Folie auf und biss gierig in den Riegel. Der Geschmack von Erdnüssen und Karamell breitete sich in ihrem Mund aus, als sie ein Vibrieren in der rechten Tasche ihres Arztkittels spürte. Sie hatte ihr Smartphone lautlos gestellt. Wenn sie arbeitete, wollte sie nicht von irgendwelchen Lappalien abgelenkt werden. Ihre Aufmerksamkeit gehörte dann voll und ganz ihren Patienten.

Sie kramte das Handy aus ihrer Tasche hervor. Das Display identifizierte den Anrufer, indem es ein Foto zeigte, unter dem drei Buchstaben standen: »Eli«.

Elias mochte es nicht, wenn jemand seinen ohnehin kurzen Namen noch abkürzte. Manchmal tat Renée es trotzdem, um ihn zu ärgern.

Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Daumen über die grünen oder die roten Pfeile ziehen sollte, um das Gespräch anzunehmen oder abzulehnen. Sie wollte eigentlich nur in Ruhe ihren Riegel zu Ende essen, nach Hause fahren und schlafen. Doch ein Anruf ihres Freundes so früh am Morgen war ungewöhnlich.

Renée entschied sich für die grünen Pfeile. »Hallo Elias.«

»Renée, gut, dass du dich meldest. Ich hatte schon befürchtet, du liegst noch im Bett und schläfst.«

Sie hatte Elias von ihren Nachtdiensten erzählt. Entweder hatte er ihr nicht zugehört oder es einfach vergessen. Sie sprach ihn nicht darauf an, da er das als Vorwurf auffassen könnte und sie die darauf folgende Auseinandersetzung vermeiden wollte. Davon hatten sie in den letzten Monaten bereits zu viele gehabt.

An solchen Tagen war sie froh darüber, dass Elias auf zwei getrennte Wohnungen bestand. So besaß jeder von ihnen eine Rückzugsmöglichkeit. Gäbe Elias seine abwehrende Haltung gegenüber ihrem Wunsch nach einer gemeinsamen Wohnung irgendwann auf, wäre dies vielleicht auch der erste Schritt hin zu einer Familie.

Bisher war Elias seine Anwaltskarriere wichtiger gewesen, was Renée nicht nachvollziehen konnte, aber sie musste das akzeptieren. Sie tröstete sich, indem sie sich einredete, dass Elias einem Kind neben Liebe und Geborgenheit auch eine finanzielle Absicherung bieten wolle. Gesagt hatte er das nie. Aber es konnte ihrer Ansicht nach ein Grund für die langen Tage sein, die er in seiner Kanzlei verbrachte.

Er hatte es als Sohn aus einer Arbeiterfamilie bereits weit gebracht, aber noch nicht so weit, wie ihn sein Ehrgeiz trieb. Zwar hatte er seinen Kleinwagen, der sie zu ihrer gemeinsamen Studentenzeit noch zuverlässig nach Italien, Spanien und Portugal gebracht hatte, inzwischen gegen einen gebrauchten Porsche eingetauscht, aber diesen nach einem Unfall bereits wieder durch einen fabrikneuen SUV ersetzt.

Und er kaufte seine Anzüge seit seiner Zulassung als Strafverteidiger nicht mehr von der Stange, sondern ließ sie, ebenso wie seine Schuhe, nach Maß anfertigen. »Kleider machen Leute«, argumentierte er immer dann, wenn sie ihn fragte, ob etwas Günstigeres zum Anziehen nicht auch reichen würde.

Aber seine Wohnung lag noch immer im äußeren Stadtring. Die teuren Penthouse-Apartments in den Prospekten auf seinem Schreibtisch waren noch außerhalb seiner Reichweite. Luxus und Statussymbole bedeuteten ihm viel mehr als ihr.

»Du musst mir helfen, Renée«, sagte Elias nun am Telefon.

Sie kannte diesen Satz allzu gut. Immer wieder bat er sie um Hilfe wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Mal hatte er vergessen einzukaufen, mal hatte er seine Geldbörse verlegt, und sie musste die Rechnung übernehmen. Ein andermal verließ er seine Wohnung ohne Schlüssel, und sie musste mitten in der Nacht durch die halbe Stadt fahren, um ihren auf den Treppenstufen sitzenden Freund aus seiner misslichen Lage zu befreien.

»Worum geht es denn diesmal? Hast du deine weißen Hemden mit der Buntwäsche vermischt, und ich soll sie nun wieder entfärben?«

»Ich wasche nicht selbst, sondern gebe alles in die Reinigung. Ich brauch deinen ärztlichen Rat.«

»Bist du krank?«

»Nein, mir fehlt nichts. Du musst jemanden für mich untersuchen und ein Gutachten schreiben.«

Renée mochte es nicht, wenn sich ihr Privat- und ihr Berufsleben miteinander vermischten. Nur selten erzählten sich die beiden gegenseitig von ihren Jobs. Wenn Elias sie nun aber in einen seiner Fälle einband, ging diese Trennung verloren.

»Es ist mir wirklich sehr wichtig, dass du dir meine Mandantin anschaust und ein Gutachten verfasst. Ich könnte sie zu irgendeinem anderen Arzt bringen. Aber du bist die Beste in deinem Fachgebiet.«

Renée zögerte noch immer.

»Ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht besonders wichtig für mich wäre.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Renée, ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann und dem auch meine Mandantin vertrauen wird.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Dir vertraue ich.«

»Ich kann dir einen Kollegen empfehlen.«

»Ich möchte keinen Kollegen. Ich möchte für meine Mandantin die beste Ärztin, die ich bekommen kann. Und das bist du.«

Renée begann in ihrer Abwehr zu wanken, was auch Elias bemerken musste.

»Renée, bitte …«

Resigniert ließ sie den Kopf hängen. Es war eine ihrer großen Schwächen, nicht Nein sagen zu können. Elias wusste das und nutzte es aus. Manchmal hasste sie ihn dafür.

»Ich hatte Nachtwache und bin wirklich müde. Ich möchte erst etwas schlafen. Bring sie heute Nachmittag in die Klinik.«

Elias bedankte sich, dann hauchte er sehr viel leiser noch einen letzten Satz in das Telefon: »Ich liebe dich.«

3

9. Juni 2015, 16:23 Uhr

Als sie ihren weißen Kittel überstreifte, bereute Renée ihre Entscheidung, ihren freien Nachmittag Elias’ Mandantin zu opfern. Lieber hätte sie sich mit ihm in einem Straßencafé getroffen, die wärmenden Sonnenstrahlen genossen, um anschließend mit ihm nach Hause zu gehen. Stattdessen wartete sie in der Klinik auf ihn und seine Mandantin.

Die Wartezeit nutzte sie dazu, längst überfällige Berichte in ein silbernes Diktiergerät zu sprechen. Die Dateien musste sie anschließend nur noch als Anhang einer E-Mail an die medizinischen Dokumentare schicken, die dann alles abtippten, was sie aufgezeichnet hatte.

Als es klopfte, beendete sie den gerade begonnenen Satz, stand auf und ging zur Tür.

Elias strahlte sie an. Natürlich hatte er einen seiner anthrazitfarbenen Maßanzüge an. Dazu trug er ein smaragdgrünes Hemd und eine gleichfarbige Krawatte. Ein Bügel seiner Bogner-Sonnenbrille lugte aus der Brusttasche heraus.

»Danke, dass wir kommen konnten«, sagte er und drückte sich an Renée vorbei, wobei seine Hand kurz ihre Taille berührte und er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.

Früher, schoss es durch Renées Kopf, war der Empfang leidenschaftlicher gewesen.

»Guten Tag.«

Erst jetzt nahm Renée die Frau wahr, die noch immer vor der Tür stand und im Gegensatz zu Elias darauf wartete, hereingebeten zu werden.

»Marlene Lukaci.«

Renée ergriff die Hand, die ihr Marlene entgegenstreckte. Sie besaß einen kräftigen Händedruck, den Renée von der großen, aber sehr schlanken Frau nicht erwartet hatte. Ihre Finger waren langgliedrig, die Fingernägel kurz geschnitten und mit rotem Nagellack verziert.

»Renée Döring. Kommen Sie herein.«

Während Marlene zu dem in der Mitte des Raumes stehenden Schreibtisch ging, folgte ihr Renées Blick.

Ihre glatten dunklen Haare reichten bis zur Hüfte, die von einem eng anliegenden schwarzen Rollkragenpullover und einer taillierten, ebenfalls schwarzen Jacke betont wurde. Ferner trug sie eine Jeans, die mit ihren bunten Stickereien, goldfarbenen Verzierungen und Patches edel und teuer aussah. Die hohen Absätze ihrer ebenso mit einem bunten Stickmuster versehenen schwarzen Stiefeletten machten sie noch um einiges größer, als sie es ohnehin schon war.

Marlene Lukaci stellte sich neben Elias.

Renée schloss die Tür, ging zu ihrem Schreibtisch zurück und deutete auf zwei Stühle.

»Was kann ich für Sie tun?«

Mit diesem Satz begann sie fast jedes Gespräch. Sie hätte auch fragen können, was ihren Patienten fehle oder warum sie zu ihr kämen. Vielleicht auch einfach, welches Problem sie in die Klinik führe. Denn jeder, der vor ihr saß, hatte irgendein gesundheitliches Problem und erhoffte sich Hilfe. Aber wenn sie stattdessen fragte, was sie tun könne, fühlte ihr Gegenüber sich als Mensch wahrgenommen und nicht als Patient an den Pranger gestellt. Gerade bei psychischen Erkrankungen war der erste Kontakt sehr wichtig, und seine Qualität entschied oft darüber, ob ein Patient eine Therapie annahm oder nicht.

Elias setzte sich als Erster, während Marlene zögerte. Erst als er sie an der Hand nahm und leicht daran zog, nahm auch sie Platz.

»Ich weiß, du befasst dich normalerweise nicht mit meinen Fällen und willst auch nichts darüber wissen.«

Marlene drehte ihren Kopf und blickte Elias für einen kurzen Moment mit zusammengekniffenen Augen an. Dann entspannte sie sich wieder.

Renée war diese Gefühlsregung nicht verborgen geblieben. Störte es Marlene, dass Elias sie als Fall bezeichnete?

»Aber ich denke, das ist ein Fall, der dich sehr interessieren wird.«

Diesmal beherrschte sich Marlene und zeigte keine Reaktion.

Elias wiederum hielt es nicht auf seinem Stuhl. Er stand auf, trat hinter Marlene und legte seine Hände auf ihre Schultern.

»Du kennst Marlene sicher.«

Renée konnte sich nicht erinnern, dieser Frau jemals begegnet zu sein. Trotzdem kam sie ihr auf irgendeine Weise bekannt vor.

Bevor sie antworten konnte, breitete Elias einen Zeitungsausschnitt vor Renée aus, den er aus seiner Aktentasche gezogen hatte. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigte eine Frau flankiert von zwei Beamten vor einem Polizeiauto. Ihr Blick war gesenkt, die Hände hatte sie auf ihrem Rücken verschränkt. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Renée, dass man ihr Handschellen angelegt hatte. Die zu dem Foto gehörende Schlagzeile lautete: Ehefrau ist Hauptverdächtige in Ehedrama um Zeitungsmogul Milan Lukaci.

Obwohl die Frau auf dem Foto etwas kräftiger wirkte und ihr Gesicht vor den Fotografen zu verbergen versuchte, waren sie und Marlene eindeutig dieselbe Person.

Der Ausschnitt weckte in Renée die Erinnerung. Es musste schon fast ein Jahr her sein, seit diese Nachricht nicht nur auf den Titelseiten der lokalen Zeitungen gestanden hatte.

Milan Lukaci hatte unter anderem jene Zeitung gehört, aus der dieser Bericht stammte. Er hatte als kleiner Reporter begonnen, später eine eigene Zeitung gegründet und diese erfolgreich geführt, bis er schließlich von seiner Frau erstochen worden war.

Er war eine lokale Berühmtheit gewesen, hatte aber nur ungern im Mittelpunkt gestanden. Viele kannten seinen Namen, nur wenige sein Gesicht. Trotzdem hatte die Nachricht von seinem Tod ein mittleres Medienbeben ausgelöst.

Irgendwann waren Neuigkeiten zum Mord an Lukaci nur noch auf der dritten Seite erschienen, dann wurden die Meldungen auch dort immer kürzer, und schließlich hatte Renée die Sache ganz aus den Augen verloren.

Bis heute.

»Ich wusste nicht, dass du dich damit befasst«, sagte sie.

»Warum hätte ich es dir erzählen sollen? Aber wir sind nicht hier, um über uns zu reden …«

Wir reden in letzter Zeit nie über uns. Vielleicht sollten wir das wieder einmal tun, dachte Renée.

»Ich möchte mit dir über Marlene reden«, fuhr Elias fort. »Wir brauchen deine Hilfe.« Er machte eine kurze Pause, in der er sich wieder setzte und Marlenes Hand ergriff, deren Finger unruhig über die Stuhllehne strichen. »Wir brauchen ein Gutachten von dir, weil Marlene sich nicht erinnern kann, ihren Mann getötet zu haben.«

Renée glaubte, sich verhört zu haben. »Ich soll dir ein Gefälligkeitsgutachten in einem Mordfall schreiben? Das ist weder moralisch noch juristisch zu rechtfertigen und kann mich meine Approbation kosten.«

Elias hob abwehrend die Hände. Bevor er etwas sagen konnte, mischte sich Marlene ein. »Ich glaube, Sie haben uns missverstanden. Ich bin mir sicher, meinen Mann getötet zu haben. Ich erkenne auch an, dafür geradestehen zu müssen. Aber ich möchte genauso wie die Richter, die über mich urteilen werden, die Umstände dazu erfahren, weil ich mich tatsächlich nicht an diesen Zeitraum erinnern kann.«

»Wir müssen dir mehr erzählen«, sagte Elias. »Damit du die Situation, in der wir uns befinden, besser einschätzen kannst. Danach kannst du natürlich vollkommen allein deine Entscheidung treffen.«

Renée lehnte sich zurück. »Dann fang mal an.«

»Darf ich uns erst etwas zu trinken einschenken?«

Elias schenkte drei Gläser Wasser ein. Danach begann er endlich zu erklären.

»Marlene wurde tatsächlich wegen Mordes an ihrem Mann angeklagt. Ich werde auch gar nicht versuchen, dies vor Gericht anzuzweifeln. Die Beweise sind erdrückend, und selbst Marlene glaubt mittlerweile, dass sie ihren Gatten getötet hat. Glücklicherweise konnte ich den Richter aber davon überzeugen, dass weder eine Flucht- noch eine Wiederholungsgefahr besteht. Sonst würde sie heute in Untersuchungshaft sitzen und nicht in deinem Büro.«

Marlene wischte mit ihrem Handrücken zunächst über ihr linkes und dann über ihr rechtes Auge, um die Tränen aufzufangen, bevor sie an ihren Wangen herunterlaufen konnten.

»Trotzdem ist Marlene unschuldig«, sagte Elias.

»Haben Sie aus Notwehr gehandelt?«

Obwohl Renée ihre Frage direkt an Marlene gerichtet hatte, antwortete Elias. »Davon kann keine Rede sein! Milan Lukaci hat tief geschlafen, als Marlene …« Mit Rücksicht auf seine Mandantin wog er seine nächsten Worte sorgfältig ab. »Er schlief, als es passierte. Trotzdem bin ich von Marlenes Unschuld überzeugt, da sie in diesem Moment schuldunfähig war.«

Nun ahnte Renée, warum Elias Marlene zu ihr gebracht hatte. Sie hatte im Rahmen ihrer Doktorarbeit einen Jugendlichen, der immer wieder wegen Körperverletzungen auffällig geworden war, während seiner Jugendhaft mehrmals interviewt und untersucht. Dabei hatte sie eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, derentwegen er scheinbar spontan und ohne ersichtlichen Anlass auf hilflose Passanten einschlug. Ihrer Arbeit verdankte der Junge seine anschließende Therapie und eine deutlich geringere Strafe, als ihm ursprünglich gedroht hatte. Seitdem galt sie unter Juristen als Spezialistin für psychisch erkrankte Straftäter.

»Marlene kann sich nicht erinnern, weil sie geschlafen hat, als sie … als es passierte.«

Elias vermied Worte wie getötet, ermordet, erstochen. So einfühlsam kannte Renée ihren Freund gar nicht. Er war normalerweise sehr direkt, sagte das, was er dachte. Auch wenn das Ausgesprochene andere verletzte.

»Marlene ist …«

Renée unterbrach Elias mit einer Handbewegung. »Vielleicht möchte sie es mir selbst erzählen.« Als Marlene nicht reagierte, beugte sich Renée vor und sprach bewusst leise. »Es tut gut, darüber zu reden, auch wenn der Anfang schwer ist.«

Die Angesprochene presste zunächst ihre Lippen zusammen, dann nickte sie ein paarmal fast unmerklich und blickte zu Elias, der ihr aufmunternd zulächelte.

»Ich bin Schlafwandlerin«, sagte sie schließlich. »Ich bin vermutlich mitten in der Nacht aufgestanden und habe meinen Mann, den ich geliebt habe, mit einem Küchenmesser erstochen.«

Dieses Geständnis schockierte Renée, weckte aber gleichzeitig ihre Neugierde. »Es gibt zwar eine Theorie, nach der Menschen in somnambulen Phasen, also in der Zeit, in der sie schlafwandeln, gewalttätig werden oder sogar jemanden töten können, aber diese These ist umstritten.«

»Es kann zu sehr komplexen Verhaltensweisen kommen«, mischte sich Elias ein.

»Sicherlich«, gab Renée ihm recht. »Ich kenne sogar Fälle, in denen Schlafwandler Auto gefahren sind. Trotzdem ist das äußerst selten. Meist richten sich die Schlafenden nur im Bett auf und nesteln an der Bettdecke oder schütteln ihr Kissen auf. Oft ist die Episode danach bereits beendet. Manchmal, und das ist schon selten, verlassen die Betroffenen das Bett, gehen umher, öffnen Schränke oder Türen, verlassen das Zimmer oder auch das Haus. Etwa ein- bis zweimal im Jahr werden solche Leute bei uns nachts von Polizisten eingeliefert, weil diese denken, die Betroffenen stünden unter Drogen.«