Die schnellsten Frauen der Welt - Matthew Goodman - E-Book

Die schnellsten Frauen der Welt E-Book

Matthew Goodman

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im November 1889 brechen in New York zwei Frauen in zu einem unerhörten Unternehmen auf: die amerikanischen Journalistinnen Nellie Bly und Elizabeth Bisland wollen den Globus in 75 Tagen umrunden. Sie starten in entgegengesetzte Richtung, Bly mit dem Dampfschiff gen Westen, Bisland mit dem Zug gen Osten. Doch beide haben nur ein Ziel vor Augen und wissen, dass selbst die kleinste Verzögerung fatale Konsequenzen haben wird - es ist nur ein schmaler Grat zwischen triumphalem Sieg und bitterer Niederlage. (Die deutsche Hardcover-Ausgabe ist im btb Verlag unter dem Titel »In 72 Tagen um die Welt« erschienen.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 852

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

In 80 Tagen um die Welt – niemand war jemals auch nur annähernd so schnell gewesen, als im November 1889 zwei Frauen zu einem unerhörten Unternehmen aufbrachen: Die Journalistinnen Nellie Bly und ihre Kontrahentin Elizabeth Bisland wollten die Welt in 75 Tagen umrunden.

Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Nellie Bly, eine handfeste frühe Selfmade-Woman, die es von den Kohleminen in Pennsylvania zur Star-Reporterin für den legendären Joseph Pulitzer geschafft hatte. Elizabeth Bisland dagegen, die für The Cosmopolitan Magazine startete, entstammte einer der vornehmen alten Südstaatenfamilien, liebte Poesie und Literatur und galt als schönste Frau der New Yorker Presse. Doch sie hatten beide nur ein Ziel vor Augen und wussten, dass selbst die kleinste Verzögerung fatale Konsequenzen haben würde – nur ein schmaler Grat lag zwischen triumphalem Sieg und bitterer Niederlage.

Zum Autor

Matthew Goodman ist Journalist und Sachbuchautor-Bestsellerautor. Daneben hat er an mehreren Universitäten Creative Writing unterrichtet. Goodman lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Brooklyn, New York.

MATTHEW GOODMAN

DIE SCHNELLSTEN FRAUEN DER WELT

Wie sich zwei rasende Reporterinnen im 19. Jahrhundert ein einmaliges Wettrennen lieferten

Aus dem Amerikanischenvon Almuth Carstens und Leon Mengden

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öff entliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Eighty Days. Nellie Bly and Elizabeth Bisland’s

History Making Race Around the World«

bei Ballantine Books, New York.

Die deutsche-Hardcover-Ausgabe erschien im btb Verlag unter dem Titel »In 72 Tagen um die Welt«

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Genehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2017

Copyright © 2013 by Matthew Goodman

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

This translation published by Arrangement with Bullantine Books,

an imprint of the Random House Publishing Group

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © shutterstock/maximum; MaxyM; Morphart Creation

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-21746-4V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Vivian,

die schon weit gereist ist

in Brooklyn

»Sie haben da einen scherzhaften Einfall gehabt, indem Sie sagten, die Erde sei kleiner geworden! Also weil man jetzt in drei Monaten um dieselbe herum reist …«

»In achtzig Tagen nur«, sagte Phileas Fogg.

Jules Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

KAPITEL 1|Eine freie Amerikanerin

KAPITEL 2|Die Zeitungsgötter von Gotham

KAPITEL 3|Das Geheimfach

KAPITEL 4|»Wie schnell kann eine Frau die Welt umrunden?«

KAPITEL 5|»Ich glaube, ich kann Phileas Fogg schlagen«

KAPITEL 6|Leben nach Eisenbahnzeit

KAPITEL 7|Eine Karte der Welt

KAPITEL 8|»Et ego in Arcadia«

KAPITEL 9|Bakschisch

KAPITEL 10|Eine englische Handelsstadt in China

KAPITEL 11|»Jetzt hat das Ratespiel richtig angefangen«

KAPITEL 12|Die andere Frau wird siegen

KAPITEL 13|Der Tempel der Toten

KAPITEL 14|Der geheimnisvolle Reisebürovertreter

KAPITEL 15|Der Sonderzug

KAPITEL 16|»Von Jersey nach Jersey ist einmal um die Welt«

KAPITEL 17|Sieg im Rennen gegen die Zeit

EPILOG

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAPHIE

ABBILDUNGSNACHWEIS

PROLOG

14. NOVEMBER 1889

Hoboken, New Jersey

SIE WAR EINE JUNGE FRAU IM KARIERTEN MANTEL UND MIT einer Kappe auf dem Kopf, weder groß noch klein, weder dunkelhaarig noch blond und nicht so hübsch, dass man sich nach ihr umdrehte: die Sorte Frau, die, falls notwendig, in einer Menge untertauchen konnte. Bereits zu so früher, noch kühler Stunde quoll der Anleger der Fähre von New York nach Hoboken von Passagieren über. Der Hudson River – oder North River1, wie er damals noch genannt wurde, ein Überbleibsel aus den Zeiten der Holländer – war ebenso belebt wie die Straßen der Stadt, und die Fähre bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch den Verkehr, vorbei an den bunt gestrichenen Kanalbooten und den allgegenwärtigen Schleppern, den flachen Dampflastkähnen voller Kohle aus Pennsylvania und den Dreimastschonern, deren Frachträume Tabak und Indigo und Bananen und Baumwolle enthielten, Felle aus Argentinien und Tee aus Japan: alles, so schien es, was die Welt zu bieten hatte. Die junge Frau mühte sich, ihrer Nervosität Herr zu werden, als die Fähre sich langsam den Lagerhäusern und Magazinen von Hoboken näherte, wo die Augusta Victoria2, ein Schnelldampfer der Hamburg-Amerika-Linie, bereits am Kai wartete. Möwen kreisten über dem Ufer und begutachteten die größeren Schiffe, denen sie übers Meer folgen würden. In der Ferne ragten die steinernen Türme von New York wie Felsklippen aus dem Wasser.

Den Großteil des Herbstes 1889 hatte New York nahezu ständigen Regen erdulden müssen, endlose Tage mit tief hängenden Wolken und kärglichem grauem Licht. Es war die Art Wetter, sagten die Leute, die nur dem Blues und dem Rheumatismus zuträglich sei; eine der Zeitungen hatte kürzlich behauptet, dass die Stadt, falls der Regen andauern sollte, gezwungen sein würde, auf dem Broadway Dampfer in Betrieb zu nehmen. An diesem Morgen dagegen war es zwar kalt, aber der Himmel war klar, ein gutes Omen für all diejenigen, die aufs Meer hinauswollten. Die Aussicht auf eine Ozeanüberquerung war immer aufregend, doch schlechtes Wetter bedeutete schweren Seegang und brachte außerdem das beunruhigende Bewusstsein drohender Gefahren mit sich. Eisberge lösten sich von grönländischen Gletschern und trieben stumm im Nordatlantik umher, Kolosse ohne Warnleuchten oder Nebelhörner, die nicht auswichen, um eine Kollision zu vermeiden; Wirbelstürme tauchten aus dem Nichts auf, und aus unzähligen Gründen konnten Feuer ausbrechen. Manche Schiffe verschwanden einfach, und man hörte nie wieder von ihnen.

Doch die Augusta Victoria wurde in der Presse als »praktisch unversenkbar« gerühmt – die Art von Lob, die auch hätte alarmieren können, obwohl sie beruhigend gemeint war. Als Doppelschraubendampfer modernster Bauweise hatte die Augusta Victoria erst vor sechs Monaten den Rekord für die schnellste Jungfernfahrt gebrochen, indem sie New York von Southampton aus in nur sieben Tagen und zwölfeinhalb Stunden erreichte. Bei ihrer Ankunft wurde sie von mehr als dreißigtausend Menschen begrüßt (»Es waren überwiegend Deutsche«, betonte die New York Times), die an Bord strömten, um sich den schwimmenden Palast genauer anzusehen: seine Kronleuchter und Seidentapeten, den Flügel im Musiksaal, die in Lavendel gehaltenen Damentoiletten, den mit grünem Saffianleder ausgekleideten Rauchsalon für die Herren. Die transatlantische Seefahrt hatte es weit gebracht in dem halben Jahrhundert, seit Charles Dickens nach Amerika gesegelt war und den zentralen Salon seines Schiffes angesichts dessen knapper Dimensionen und trister Ausstattung mit einem riesigen Sarg mit Fenstern3 verglichen hatte.

Auf dem Kai ging es in den Minuten vorm Ablegen eines Hochseedampfers immer ein wenig zu wie auf einem Volksfest. Die meisten Männer trugen dunkle Überzieher und seidene Hüte; die Kleidung der Frauen war mit Tournüren und Rüschen ausstaffiert. Am Rande der Menge boten Händler Waren an, die Passagiere womöglich einzupacken vergessen hatten; schwitzende Schauerleute mit nackten Armen vollführten ihr Ballett des Hochhievens und Verladens der Taue und Fässer, die die Pier übersäten. Das Rumpeln der Karren auf Kopfsteinpflaster mischte sich mit einem allgemeinen Stimmengewirr zu einem Geräusch, das wie Donner von überall und nirgendwo herzukommen schien. Irgendwo in dem Menschengewimmel stand die junge Frau in dem karierten Mantel. Sie wurde als Elizabeth Jane Cochran geboren – als Jugendliche hatte sie ihrem Nachnamen ein e hinzugefügt, um ihm eine elegante Note4 zu verleihen –, wurde aber von ihrer Familie und von alten Freunden weder Elizabeth noch Jane, sondern »Pink« genannt. Viele New Yorker Zeitungsleser – und bald sollten es nicht nur sie sein – kannten sie als Nellie Bly.

Seit zwei Jahren war Nellie Bly jetzt Reporterin bei der New York World, die sich unter der Leitung ihres Herausgebers Joseph Pulitzer zur größten und einflussreichsten Zeitung jener Tage entwickelt hatte. Keine Journalistin vor Nellie Bly war auf der Jagd nach einer Story je so waghalsig gewesen, hatte so bereitwillig ihre persönliche Sicherheit aufs Spiel gesetzt wie sie. Für ihre erste Enthüllungsgeschichte für die World täuschte sie (unter dem Namen »Nellie Brown«, ein Pseudonym zur Bemäntelung eines Pseudonyms) Wahnsinn vor, um aus erster Hand über die schlechte Behandlung von Patientinnen der Irrenanstalt auf Blackwell’s Island berichten zu können. Bly arbeitete für einen Hungerlohn in einer Kartonfabrik, bewarb sich um eine Stelle als Dienstmädchen und suchte eine Klinik für Arme auf, wo sie nur knapp der Entfernung ihrer Mandeln entging. Fast jeden Sonntag präsentierte die World ihren Lesern ein neues Abenteuer. Bly trainierte mit Boxchampion John L. Sullivan und trat mit großem Einsatz, aber wenig Erfolg an der Academy of Music als Tänzerin auf. In Boston besuchte sie eine taubstumme und blinde Neunjährige namens Helen Keller. Ihre Artikel waren mal unbeschwert, mal voller Entrüstung – manche sollten aufklären, andere einfach nur unterhalten –, alle aber waren gekennzeichnet von Blys Leidenschaft für eine gute Story und ihrer unglaublichen Fähigkeit, die Leser zu fesseln. Sie waren Zeugnisse ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit und Willenskraft, mit der sie von den Lesern verlangte, sowohl dem Unglück der Benachteiligten als auch ihr selbst ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Jetzt, am Morgen des 14. Novembers 1889, trat sie zum sensationellsten Abenteuer ihrer Laufbahn an: dem Versuch, den Rekord für die schnellste Erdumrundung zu brechen. Sechzehn Jahre zuvor hatte Jules Verne in seinem populären Roman dargestellt, wie eine solche Reise in achtzig Tagen zu bewerkstelligen sei. Nellie Blie plante, sie in fünfundsiebzig Tagen zu schaffen.

Sie hatte den Redakteuren der World ihre Idee schon vor einem Jahr angetragen, aber man hatte dort dem Projekt zunächst ablehnend gegenübergestanden. Erst vor Kurzem hatte man endlich zugestimmt. Die letzten drei Tage war sie damit beschäftigt gewesen, einen Reiseplan auszuarbeiten, Reisebüros aufzusuchen, sich eine Garderobe zusammenzustellen, Abschiedsbriefe an Freunde zu schreiben, zu packen und wieder auszupacken. Bly hatte beschlossen, nur ein Gepäckstück mitzunehmen, eine kleine lederne Tasche, in der sie von Kleidung über Schreibutensilien bis zu Toilettenartikeln alles verstauen wollte, was sie unterwegs brauchte; sie würde die Tasche selbst tragen können und damit mögliche Verzögerungen verhindern, die sich durch die Einmischung oder Inkompetenz von Trägern und Zollbeamten ergeben könnten. Als Reisekostüm hatte sie ein gut geschnittenes zweiteiliges Kleid aus feinem dunkelblauem Wollstoff mit Kamelhaarbesatz gewählt. Darüber würde sie, falls nötig, einen langen schwarz-weiß karierten, zweireihig geknöpften Ulstermantel tragen, der sie vom Hals bis zu den Fesseln bedeckte. Statt des Huts mit Schleier, der bei den meisten seereisenden Damen ihrer Zeit Mode war, würde sie ihre Kleidung durch eine flotte wollene Jagdkappe im britischen Stil vervollständigen – ein ähnliches Modell, wie es später Sherlock Holmes in zahlreichen Filmen populär machen würde –, die sie in den letzten drei Jahren bei vielen Unternehmungen begleitet hatte. Das blaue Kleid, der karierte Mantel, die Jagdkappe: auf den ersten Blick keine besonders auffällige Tracht, die aber schon bald die berühmteste auf der Welt werden sollte.

Am Morgen des 14. Novembers war Nellie Bly sehr früh wach geworden – sie hasste es, früh aufzustehen –, hatte sich ein paarmal im Bett umgedreht, war wieder eingedöst und dann mit einem Ruck und der Sorge, womöglich ihr Schiff zu verpassen, erneut aufgewacht. Rasch machte sie Toilette und zog sich an. (Aufs Schminken musste sie keine Zeit verwenden, denn nur Frauen von abscheulich niedriger Moral oder unanfechtbar hohem sozialen Status wagten es, sich die Gesichter zu bemalen.) Sie versuchte, etwas Frühstück herunterzuwürgen, aber die frühe Stunde und die Nervosität machten ihr das Essen unmöglich. Am schwersten fiel es ihr, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. »Hab keine Angst«5, sagte sie zu ihr, »denke einfach nur, dass ich Urlaub mache und die herrlichste Zeit meines Lebens verbringen werde.« Dann nahm sie ihren Mantel und ihre Reisetasche und eilte blindlings die Treppe hinunter, bevor sie die Reise, die sie noch gar nicht angetreten hatte, zu sehr bereuen konnte.

Ihre Wohnung lag in der West 35th Street nahe dem Broadway;6 an der 9th Avenue zahlte Bly ihre fünf Cent und stieg in eine Straßenbahn Richtung Süden.7 Der Wagen war schmutzig und schlecht belüftet, und das auf den Boden gestreute Stroh roch nach den unlängst gefallenen Regengüssen. Die Straße war verstopft mit Pferdefuhrwerken; auf den Schienen über ihnen quietschte die Hochbahn vorbei. Es sind nur fünfundsiebzig Tage, rief Bly sich immer wieder ins Gedächtnis, dann bin ich wieder zu Hause. An der Ecke Christopher Street und Greenwich Avenue stieg sie aus, am Rande eines Hafenviertels, dessen niedrige, uneinheitliche Gebäude wie Pilze am Ufer aufragten: Lagerhäuser für Takelagen, Segelmacherwerkstätten, Kramläden mit ihren aus aller Welt mitgebrachten Kuriositäten, düstere Herbergen und Kaschemmen für die Matrosen. Am Bahnhof Christopher Street erwischte sie gerade noch die Fähre – sie brauchte nur eine einfache Fahrkarte8 für drei Cent –, die sie über den Hudson River bis zur Pier am Ende der 3rd Street in Hoboken, New Jersey, trug. Dort nahmen sie zwei Vertreter der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft in Empfang; sie wussten sehr wohl, wie wichtig es für die Reederei war, dass Nellie Bly pünktlich abreiste. Die beiden Männer begleiteten ihre neue Passagierin an Bord der Augusta Victoria, stellten sie Kapitän Adolph Albers vor und erklärten ihm den speziellen Zweck ihres Vorhabens. Albers, der bei seinen Untergebenen sehr beliebt war, hatte einen Vollbart und eine freundliche Art, die Vertrauen weckte. Er garantierte Bly, dass er alles in seiner Macht Stehende dafür tun würde, dass der erste Abschnitt ihrer Reise erfolgreich verlief. Er sei sicher, sagte er, dass sie am nächsten Donnerstagabend in Southampton von Bord gehen werde; dann könne sie sich in einem der Hotels der Stadt richtig ausschlafen und rechtzeitig auf den Beinen sein, um einen der Züge zu erwischen, die jeden Morgen von Southampton nach London führen.

»Ich werde mir erst Schlaf gönnen, wenn ich in London angekommen sein werde«, erwiderte Nellie Bly, »und mir einen Platz in dem Zug gesichert habe, der am Freitagabend von Victoria Station nach Brindisi fährt.«

Ihr Tonfall war typisch für die Bewohner der Hügelregion von Westpennsylvania, denn sie hob am Ende jeden Satzes ihre Stimme9, der Überrest eines altenglischen Dialekts, der in ihrer Kindheit noch in ihrer Heimat gesprochen worden war. Sie hatte durchdringende graue Augen, die manchmal allerdings auch als grün oder blaugrün oder haselnussbraun bezeichnet wurden. Ihre Nase war breit und leicht nach oben gerichtet – Stupsnase wurde sie in den Zeitungen genannt – und das Einzige an ihrer Physiognomie, was sie bisweilen ein wenig befangen machte. Sie hatte braune Haare und einen Pony. Die meisten, die sie kannten, fanden sie hübsch, obwohl dies ein Thema war, das in den kommenden Monaten in der Presse noch heiß diskutiert werden würde.

Es dauerte nicht lange, bis einige Freunde und Kollegen eintrafen, um ihr Lebewohl zu sagen und Glück zu wünschen. Der Theateragent Henry C. Jarrett überreichte ihr einen Blumenstrauß und ein Buch; Lesen sei, so empfahl er, die beste Vorbeugung gegen Seekrankheit und Langeweile. Julius Chambers, Chef vom Dienst bei der World, erschien ebenfalls und brachte ihr vom New York Athletic Club einen Zeitmesser mit. Als führender Amateursportverein der Stadt stellte der Club oft Uhren für Radrennen, Schwimmwettkämpfe und Leichtathletikveranstaltungen zur Verfügung; dies war das erste Mal, dass er einen Zeitmesser für eine Wettfahrt um die Erde lieferte.

Im Lauf ihrer Karriere hatte Nellie Bly gelernt, selbst in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben, und auch jetzt schaffte sie es, sich nichts von der Nervosität anmerken zu lassen, die sie empfand. In der Ausgabe der World vom nächsten Tag würde stehen, sie habe »keinen Anflug von Furcht oder Beklommenheit gezeigt, und kein eben aus der Schule entlassener junger Bursche hätte fröhlicher und unbeschwerter sein können«. Während sie warteten, fragte Bly einen ihrer Kollegen: »Was halten Sie von meinem Kleid?« Ihr Tonfall war munter, aber als er zögerte, fügte sie hinzu: »Einen Penny für Ihre Gedanken.«

Der Reporter beäugte das dunkelblaue Modell mit dem Kamelhaarbesatz und den Puffärmeln und bemerkte dann, sie plane ja wohl, an Ägypten vorbeizufahren, und falls nicht einer von Josefs dortigen Nachkommen das Kleid für seinen bunten Rock verwenden wolle, dann – doch er wurde unterbrochen, bevor er seinen Gedanken weiter ausspinnen konnte. »Oh, Sie gehässiger Kerl«, sagte Bly herablassend und mit einem theatralischen Zurückwerfen des Kopfes. »Für so eine Meinung ist mir mein Penny zu schade.«

Obwohl man bei der World vorgab, nichts davon zu bemerken, war Blys Ungeduld sicherlich ein Zeichen der gemischten Gefühle, die in jenem Augenblick auf sie einstürmten: der dringende Wunsch, es möge endlich losgehen; Bedauern darüber, Freunde und Familie zurücklassen zu müssen; Vorfreude auf all das Unbekannte, dem sie begegnen würde, und zugleich Angst davor – fremde Länder, ungewohntes Essen, fremde Sprachen (denn Nellie Bly wollte die Welt umreisen, ohne etwas anderes als Englisch zu sprechen). Dieser Tag war hell und klar heraufgezogen, aber was war mit den vielen Tagen und Zigtausenden von Meilen, die vor ihr lagen? Wenn alles gut ging, würde sie Weihnachten in Hongkong verbringen und Silvester irgendwo im Pazifik.

Abb. 1. Nellie Bly in ihrem berühmten Reisekostüm.

Die Titelseite der World zeigte an diesem Morgen eine Karte, die sich über fünf Spalten erstreckte: »Die Route, der unsere Blitzreporterin folgen wird«. Diese Route begann in New York, setzte sich über den Atlantik nach England und von dort quer durch Europa bis zum Mittelmeer fort, dann durch den Suezkanal und die Nordostküste Afrikas entlang ins Arabische Meer, führte weiter nach Osten, vorbei an Ceylon und nordwärts nach Hongkong und Japan, über den Pazifik nach San Francisco und zum Abschluss durch den nördlichen Teil der Vereinigten Staaten zurück nach New York. Es sah alles minutiös geplant aus, aber ihr Reiseplan stand nicht annähernd so fest, wie es die dicke schwarze Linie auf der Karte suggerierte. Zum Beispiel war nicht klar, ob der Zug von London nach Italien, über den sie mit Kapitän Albers gesprochen hatte, tatsächlich jeden Freitagabend fuhr. Eine andere Abfahrtzeit würde bedeuten, dass sie ihren Anschluss verpasste, den Dampfer in Brindisi, und von da an würden die Verzögerungen sich häufen und unweigerlich zum Scheitern ihres Unternehmens führen. Sie wusste, dass sie zur schlimmsten Jahreszeit aufbrach, in der die Atlantikstürme am heftigsten wehten und im amerikanischen Westen die Eisenbahngleise oft durch Schnee blockiert waren. Außerdem musste sie nicht nur den Raum im Schnelldurchgang durchmessen, sondern gewissermaßen auch die Zeit: In den nächsten fünfundsiebzig Tagen würde sie das Wetter aller vier Jahreszeiten erleben. Unter Weltreisenden galt es als Binsenweisheit, dass extreme Temperaturschwankungen den idealen Nährboden für Krankheit bildeten. Überall lauerte Fieber, in Europa die Grippe, in Asien Malaria. Stürme, Schiffbruch, Seuchen, technische Probleme, schon das Drosseln des Tempos durch einen unkooperativen Lokomotivführer oder Kapitän, all das konnte ihre Pläne zunichtemachen.

Sie ertrug den Gedanken nicht, eventuell als Versagerin nach Hause zurückzukehren; später sollte sie dem Ersten technischen Offizier auf einem der Schiffe, mit denen sie reiste, in vollem Ernst erklären, sie würde lieber sterben, als zu spät in New York anzukommen. Sie hatte nicht Karriere gemacht, es nicht aus der tiefsten Provinz bis in die Schlagzeilen der größten Zeitung New Yorks geschafft, indem sie verlor. Allerdings wusste Nellie Bly bei Antritt ihrer Reise (und auch noch etliche Wochen danach) nicht, dass sie sehr wohl würde verlieren können, und zwar nicht gegen den Kalender oder gegen Jules Vernes Romanhelden Phileas Fogg, sondern gegen eine ganz reale Konkurrentin, denn es stellte sich heraus, dass an diesem Tag nicht nur eine junge Journalistin von New York aus zu einer Wettfahrt um die Welt aufbrach – es waren zwei.

Am Morgen des 14. Novembers, als Nellie Bly nach Hoboken unterwegs war, befand sich ein Mann namens John Brisben Walker auf einer Fähre in entgegengesetzter Richtung, von Jersey City zur Cortlandt Street im südlichen Manhattan. Walker war der reiche Herausgeber einer mondänen Monatszeitschrift mit dem Titel The Cosmopolitan (die Jahre später in den Besitz von Joseph Pulitzers Rivalen William Randolph Hearst übergehen und anschließend einen ganz anderen Charakter annehmen sollte), und während die Fähre den Fluss überquerte, las er die Titelstory der World über Nellie Blys geplante Weltreise. Er erkannte sofort, wie auflagensteigernd ein solches Projekt war, wobei ihm der Gedanke kam, die Reise müsste eigentlich nach Westen gehen statt nach Osten, und folgende Idee kristallisierte sich bei ihm heraus: The Cosmopolitan würde einen Mitbewerber ins Rennen schicken, der in entgegengesetzter Richtung reiste und natürlich wie Bly eine junge Frau sein musste – die Vorstellung hatte etwas angenehm Symmetrisches, und ein Mann, der gegen eine Frau antrat, würde sowieso keinerlei Sympathien gewinnen –, und diese Konkurrentin musste sofort aufbrechen, um überhaupt eine Chance zu haben, vor Nellie Bly wieder in New York einzutreffen. Nach einem kurzen Gespräch mit seinem Geschäftsführer schickte John Brisben Walker ihn in ein Reisebüro, um einen Fahrplan aufzustellen, und um halb elf ließ er Elizabeth Bisland in ihrer nur wenige Blocks entfernt in Murray Hill gelegenen Wohnung die Nachricht zukommen, sie möge gleich im Büro erscheinen. Es sei dringend, betonte er.

Elizabeth Bisland war achtundzwanzig Jahre alt und hatte nach fast zehn Jahren als freie Autorin vor Kurzem einen Job als Literaturkritikerin beim Cosmopolitan angenommen, für den sie allmonatlich unter der Rubrik »In der Bibliothek« neu erschienene Bücher rezensierte. Sie stammte aus einer Plantagenbesitzerfamilie in Louisiana, die der Bürgerkrieg und dessen Folgen ruiniert hatte, und war mit zwanzig nach New Orleans10 und wenige Jahre später nach New York gezogen, wo sie für verschiedene Zeitschriften schrieb und regelmäßig als schönste Journalistin der Stadt bezeichnet wurde. Bisland war hoch gewachsen, mit einer eleganten, nahezu königlichen Haltung, die ihre Größe noch hervorhob; sie hatte große dunkle Augen, einen klaren, blassen Teint und sprach mit leiser, sanfter Stimme. Sie war eine hervorragende Gastgeberin und intelligente Gesprächspartnerin, was sie in dem literarischen Salon demonstrierte, den sie in dem kleinen Apartment in der 4th Avenue unterhielt, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. Hier trafen sich die Kreativen New Yorks, Schriftsteller, Maler und Schauspieler, um aktuelle künstlerische Themen zu erörtern. Bislands spezielle Mischung aus Schönheit, Charme und Gelehrsamkeit scheint regelrecht betörend gewesen zu sein. Einer ihrer Bewunderer, der Schriftsteller Lafcadio Hearn, mit dem sie sich in New Orleans angefreundet hatte, nannte sie »eine Art Göttin«11 und verglich ihre Konversation mit Haschisch, da er noch Stunden später wie von Sinnen sei. Ein anderer Bewunderer sagte, wenn er mit ihr rede, habe er das Gefühl, mit einer »wunderschönen gefährlichen Leopardin« zu spielen, die er dafür liebe, dass sie ihn nicht biss.

Bisland selbst wusste, dass weibliche Schönheit zwar sehr nützlich, aber flüchtig war (»Nachdem die Phase ihrer erotischen Anziehung vorbei ist«,12 schrieb sie einmal, »hat eine Frau in Amerika keinerlei Macht.«), und sie war stolz darauf, dass sie mit fünfzig Dollar in der Tasche nach New York gekommen war und die Tausende, die sich jetzt auf ihrem Bankkonto befanden, mit der eigenen Feder verdient hatte. Sie war imstande, achtzehn Stunden hintereinander zu arbeiten, und verfasste Buchbesprechungen, Essays, Artikel fürs Feuilleton und Gedichte im klassischen Stil.13 Mehr als an alles andere glaubte sie an die Freuden der Literatur, die sie schon als Mädchen mit alten, in der Bibliothek ihrer Familie entdeckten Shakespeare- und Cervantes-Bänden erlebt hatte. (Beim Buttern brachte sie sich selbst Französisch bei, um Rousseaus Bekenntnisse14 im Original lesen zu können – ein Werk, das sie, wie sich herausstellte, hasste.) Sie machte sich nichts aus Ruhm und fand schon die Aussicht darauf geschmacklos. Als Elizabeth Bisland also kurz nach elf in der Redaktion des Cosmopolitan eintraf und John Brisben Walker ihr eine Wettfahrt um die Welt mit Nellie Bly vorschlug, lehnte sie zunächst ab. Sie erwarte am nächsten Tag Gäste zum Tee, erklärte sie, und habe außerdem nichts anzuziehen für eine so lange Reise, aber der wahre Grund war, wie sie später gestand, dass sie sofort erkannte, welche Bekanntheit ein solches Unternehmen mit sich bringen würde, »und gegen diese Bekanntheit hatte ich entschiedene Einwände«15. Walker (der zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als nur ein Vermögen gemacht und wieder verloren hatte) war allerdings kein Mann, der leicht von einem Plan abzubringen war, und so gab sie schließlich nach.

Um sechs Uhr abends saß Elizabeth Bisland in einem Zug der New York Central Railroad Richtung Chicago. Sie war achteinhalb Stunden später dran als Nellie Bly.

Oberflächlich betrachtet, waren Nellie Bly und Elizabeth Bisland so verschieden, wie man nur sein konnte: die eine Nordstaatlerin, die andere aus dem Süden; die eine eine kampflustige und ehrgeizige Aufsteigerin, die andere stolz auf ihre vornehme Herkunft und die damit verbundenen Traditionen; die eine war erpicht auf die sensationellsten Nachrichten, die andere verachtete vieles von dem, was in der Zeitung stand, als »wildes, schreiendes Durcheinander«16, als »Karikatur des Lebens« und hatte eine Vorliebe für Romane und Lyrik. Elizabeth Bisland gab Teegesellschaften; Nellie Bly war bekannt dafür, dass sie O’Rourkes Saloon in der Bowery frequentierte17. Beide aber waren sich der fehlenden Gleichstellung amerikanischer Frauen sehr bewusst, waren ohne viel Geld aufgewachsen und nach New York gekommen, um sich im Journalismus einen Namen zu machen. Und beide hatten sich durch harte Arbeit Erfolg in einer zweifellos männlich dominierten Welt erkämpft. Am meisten jedoch würde sie eine einzigartige gemeinsame Erfahrung verbinden. Sie waren gewissermaßen Partnerinnen in einem gewaltigen Projekt, das die Vereinigten Staaten und einen Großteil der übrigen Welt monatelang faszinieren sollte.

Für ihre Wettfahrt um den Erdball nutzten Bly und Bisland die leistungsstärksten und modernsten Transportmittel, die ihnen in ihrer Zeit zur Verfügung standen, das hochseetüchtige Dampfschiff und die Dampfeisenbahn, und sie übermittelten den in der Heimat wartenden Redaktionen ihre Nachrichten in Form von Depeschen per Fernschreiber, der – wie es damals hieß – Raum und Zeit eliminierte. Sie durchmaßen das gesamte britische Empire, von England im Westen bis Hongkong im Osten, und ihre Schiffe beförderten den Tee und die Baumwolle und das Opium und andere wertvolle Güter, die die Basis der imperialen Ökonomie bildeten. Sie reisten durch eine Welt, die in jedem Land, das sie besuchten, und sogar auf den Schiffen und in den Zügen, mit denen sie fuhren, von Tradition definiert und durch Klassengesetze deformiert war.

Nellie Bly und Elizabeth Bisland reisten nicht nur um die Welt: Sie reisten auch mitten durchs Herz des Viktorianischen Zeitalters.

Die Augusta Victoria sollte um halb zehn Uhr morgens ablegen; kurz davor mahnte ein langes Signal des Nebelhorns alle, die nicht mitfahren wollten, dass es Zeit war, von Bord zu gehen. »Halt die Ohren steif«, sagte ein Freund zu Bly und drückte ihr zum Abschied die Hand. Sie rang sich ein Lächeln ab, um einen letzten Eindruck von Munterkeit zu vermitteln. Ihr wurde plötzlich ganz schwindelig, und ihr Herz, sollte sie später gestehen, fühlte sich an, als würde es gleich platzen. Langsam entfernten sich ihre Bekannten und schlossen sich der Reihe anderer gut gekleideter Menschen an, die auf die Gangway zusteuerten. Von der Reling des Schiffes konnte Bly meilenweit sehen; zum Horizont hin wechselte das Wasser kaum wahrnehmbar von blau zu grau. Die Erde schien ihre Rundheit verloren zu haben und eine endlose Fläche geworden zu sein. Der Augenblick der Abreise war gekommen. Feierlich synchronisierten Nellie Bly und der Mann vom New York Athletic Club ihre Uhren.

KAPITEL 1

NELLIE BLY WURDE AM 5. MAI 1864 IN WESTPENNSYLVANIA geboren, obwohl ihr Leben lang Verwirrung hinsichtlich ihres genauen Alters herrschte – zum großen Teil von ihr selbst gestiftet, denn sie war nie ganz so jung, wie sie behauptete. Als Bly im November 1889 ihre Wettfahrt um die Welt antrat, war sie fünfundzwanzig, aber in den Zeitungen des Landes wurde sie auf zwanzig bis vierundzwanzig geschätzt; der New York World zufolgewar sie »um die dreiundzwanzig«.

Apollo, der Ort in Pennsylvania, in dem sie aufwuchs, unterschied sich in nichts von den zahllosen anderen aus Tannen- und Fichtenholz errichteten kleinen Industriestädten der Region und war so klein und unbedeutend, dass sich sogar der Autor der Geschichte von Apollo bemüßigt fühlte, im Vorwort des Buches zu erklären: »Es ist nicht nötig, eine Metropole zu sein, um einen Platz in den Herzen der Menschen oder der Geschichte des Staates einzunehmen. Außerdem ist dies unser Ort.«18 An der Hauptstraße standen eine Gemischtwarenhandlung (wo man von Bonbons bis zu Pflugscharen alles kaufen konnte), ein Drugstore, eine Schlachterei, eine Schmiede und mehrere Wirtshäuser; eine Bank erhielt der Ort erst 1871. Im Winter rodelten die Kinder und fuhren Schlittschuh, und wenn es warm wurde, rollten sie gern Fassreifen den Hügel bis zur Kanalbrücke hinunter und angelten im Fluss Kiskiminetas, der noch nicht von den Abwässern aus den in der Nähe entstehenden Kohlengruben und Eisenhütten verunreinigt war.

Elizabeth war die Tochter von Michael und Mary Jane Cochran, das dritte von fünf Kindern und die ältere von zwei Schwestern. Jeder im Ort kannte sie als »Pink«; den Spitznamen bekam sie schon früh aufgrund der Vorliebe ihrer Mutter, sie in Rosa zu kleiden – ein krasser Gegensatz zu dem tristen Braun und Grau, das die anderen Kinder trugen. Pink scheint ein lebhaftes, ziemlich eigensinniges Mädchen gewesen zu sein. Vieles von dem, was über ihre frühen Jahre bekannt ist, beruht auf ihren eigenen Angaben in Zeitungsartikeln aus der Zeit, als sie schon eine Berühmtheit war, und diente wohl eher dazu, ihr Image als unerschrockene junge Journalistin noch weiter aufzupolieren. In einer von der World veröffentlichten Story etwa (deren Überschrift verkündete, ihre »authentische Biografie« zu liefern) stand, dass sie als Mädchen eine unersättliche Leserin gewesen sei und selbst reihenweise Geschichten verfasst habe, die sie auf die Deckblätter von Büchern und alle möglichen Papierfetzen kritzelte. Nachts habe sie wach im Bett gelegen, und in ihrem Kopf hätten Fantasien über Helden und Heldinnen, Märchen und Romanzen gelodert. »So aktiv war das Gehirn der Kleinen und so sehr raubten ihre geistigen Kräfte ihr den Schlaf, dass ihr Zustand alarmierend wurde und sie der Obhut von Ärzten anvertraut werden musste.«19 Derartige Beispiele für ihre kindliche Liebe zum Lesen und Schreiben sind in anderen Schilderungen allerdings nicht zu finden. In der Chronik der Familie Cochran: Eine Reihe historischer Ereignisse und Erzählungen, in denen die Mitglieder dieser Familie eine wichtige Rolle spielen erwähnt einer ihrer Verwandten etwas gehässig, dass Pink Cochran bei den Lehrern in Apollos einziger Schule »eher durch aufrührerisches Betragen als durch eifriges Lernen auffiel«20.

Pinks Vater Michael Cochran war als Schrotmühlenbesitzer und Immobilienspekulant reich geworden und prominent genug, um zum beisitzenden Richter des lokalen Gerichts gewählt zu werden, was ihm den Ehrentitel Judge eintrug. (Der nahe gelegene Weiler Cochran’s Mills, wo Pink ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte, wurde nach ihm benannt.) Als Pink sechs war, erkrankte Judge Cochran jedoch21 plötzlich und verstarb, ohne ein Testament zu hinterlassen; nach den Gesetzen des Staates Pennsylvania stand einer Ehefrau das Erbe ihres Mannes nur zu, wenn sie in seinem letzten Willen ausdrücklich genannt wurde. Nachdem sein Vermögen zwischen seinen Erben (darunter neun erwachsene Kinder aus einer früheren Ehe) aufgeteilt war, blieb Pinks Mutter Mary Jane kaum mehr als die Möbel, eine Kutsche samt Pferd und eine kleine Rente. Um nicht allein fünf Kinder großziehen zu müssen, ließ sie sich auf eine Ehe mit einem Mann ein, der sich als trunksüchtig und gewalttätig erwies. Nach fünf unglücklichen Jahren reichte Mary Jane, damals äußerst ungewöhnlich, eine Scheidungsklage ein; Pink sagte höchstpersönlich für ihre Mutter aus und zählte dem Gericht die schrecklichen Misshandlungen auf, die ihr Stiefvater ihrer Mutter zugefügt hatte. Sie war erst vierzehn und wusste doch schon alles darüber, was einer Frau widerfahren konnte, die finanziell nicht unabhängig war.

Pink war fest entschlossen, eines Tages selbst für ihre Mutter und sich zu sorgen, und wurde im nächsten Jahr auf ein Internat geschickt, das sich auf die Ausbildung junger Frauen zu Lehrerinnen spezialisiert hatte. Für die Fünfzehnjährige muss dies eine willkommene Gelegenheit geboten haben, sich eine neue Identität zu schaffen – hier hängte Pink Cochran ihrem Nachnamen auch das e an. Doch nach nur einem Semester war ihre Mutter gezwungen, sie wieder von der Schule zu nehmen, die Familie hatte einfach nicht genügend Geld für Pinks Ausbildung. Diese Tatsache scheint Nellie Bly peinlich gewesen zu sein, denn sie unterschlug sie stets in ihren eigenen Lebensberichten. In jener »authentischen« Biografie in der World, die vermutlich auf von ihr persönlich gelieferten Informationen basierte, hieß es stattdessen, sie habe »aufgrund einer drohenden Herzerkrankung« das Internat verlassen: Schon ein einziges weiteres Jahr des Lernens, hatte ihr Arzt sie angeblich gewarnt, könne sie das Leben kosten. »Sie hätte furchtbar gern länger studiert«, erklärte die World feierlich, »doch sie wollte nicht sterben.«

1880, als Pink sechzehn war, zog Mary Jane Cochran mit ihren Kindern in das rund fünfunddreißig Meilen entfernte Pittsburgh. Sie hoffte, Tod und Scheidung und alles Negative, was sie mit Apollo verband, hinter sich lassen zu können, aber gelegentlich muss ihr Pittsburgh als schlechter Tausch erschienen sein. Anthony Trollope bezeichnete die Stadt einmal als »den ausnahmslos schwärzesten Ort, den ich je gesehen habe«22. Auf wenigen Dutzend Quadratmeilen erzeugten fast fünfhundert Fabriken23 den Stahl, das Eisen, das Messing und Kupfer, die Baumwolle, das Öl und das Glas, nach dem die aufstrebende Industrienation gierte. In allen Himmelsrichtungen qualmte am Horizont Rauch aus unsichtbaren Schornsteinen. Der Wind trug Graphitstaub mit sich, die Luft stank nach Schwefel, und nach einem langen Spaziergang hatte man einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Manchmal kam es zu unerwarteten Rußschauern. In einem von Kirchtürmen und Zwiebelkuppeln geprägten Viertel, wo die Eisenbahngleise das Ende der kleinen Parzellen markierten, erwarb Mary Jane ein kleines Reihenhaus; irgendwann besserte sie wie viele Hausbesitzer der Stadt ihr Einkommen durch Zimmervermietung auf. In den nächsten vier Jahren half Pink, die Familie zu unterstützen, indem sie jede Stelle annahm, die sich ihr bot, etwa als Küchenhilfe24; vielleicht arbeitete sie auch als Kindermädchen25, Haushälterin und Privatlehrerin. (Ihre älteren Brüder, die noch weniger Bildung genossen hatten als sie, fanden Jobs als Büroangestellter26 und als Verwalter einer Gummifabrik.)

Obwohl Pittsburgh damals nur 150000 Einwohner hatte, gab es hier zehn Tageszeitungen27, mehr als in jeder anderen amerikanischen Stadt dieser Größe. Pink Cochrane las regelmäßig eine von ihnen, den Pittsburgh Dispatch, dessen populärster Kolumnist Erasmus Wilson war, der unter dem Namen »Stiller Beobachter« oder einfach »S.B.« schrieb. Wilson war ein gesetzter älterer Herr und trat in seinen »stillen Beobachtungen« gern für das ein, was er für die traditionellen viktorianischen Werte hielt. In einer Kolumne nahm er moderne Frauen ins Gebet, »die glauben, außerhalb ihrer Sphäre28 herumlaufen und jeden, der ihnen nicht hilft, ihren Platz zu finden, auf die Palme bringen zu dürfen. Die Sphäre einer Frau«, schloss er unbarmherzig, »lässt sich mit einem einzigen Wort definieren und lokalisieren – daheim.«

Diese überhebliche Missachtung der Lebenswirklichkeit der Frauen empörte Pink Cochrane, und sie setzte sich hin und verfasste einen langen Brief an den Herausgeber des Dispatch. Wie es damals bei Leserbriefen üblich war, unterschrieb sie ihn mit einem Pseudonym: »Einsames Waisenmädchen«. (Das war vielleicht eine etwas seltsame Wahl – immerhin lebte ihre Mutter noch –, aber zugleich auch ein Zeichen dafür, wie schwer der Tod ihres Vaters wog, ein Schlag, von dem die Familie sich nie wieder ganz erholen sollte.) Der Brief erregte die Aufmerksamkeit von George A. Madden, dem neuen Chefredakteur der Zeitung, und er setzte eine Anzeige in die nächste Ausgabe mit der Bitte, das »Waisenmädchen« möge ihm Namen und Adresse nennen.

Schon am folgenden Nachmittag tauchte unerwartet die Verfasserin höchstpersönlich in der Redaktion des Dispatch auf. Sie war zwanzig Jahre alt, wirkte jedoch jünger; Erasmus Wilson sollte sie später als »scheues kleines Mädchen« erinnern. Sie war schlank, von mittlerer Größe und hatte große, ein wenig kummervoll dreinschauende graue Augen und einen breiten Mund über einem eckigen Kinn. Sie trug einen langen schwarzen Mantel und einen schlichten Pelzhut; ihr Haar, das damals29 noch nicht hochgesteckt war, fiel ihr in braunen Locken über die Schultern. Sie fühlte sich offenkundig unbehaglich bei diesem ersten Besuch einer Zeitung, eingeschüchtert durch ihre Umgebung. Mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern, fragte sie einen Bürojungen, wo der Chefredakteur zu finden sei.

»Das ist der Herr da«, sagte der Junge und zeigte auf Madden, der nur ein Stück weiter an seinem Schreibtisch saß.

Als das Mädchen den jungen Mann mit seinem flotten Schnurrbart sah, lächelte sie und zeigte dabei ihre bemerkenswerten blendend weißen Zähne. »Oh, wirklich!«, rief sie aus. »Ich hatte einen griesgrämigen alten Mann erwartet.«

George Madden erklärte, er würde ihren Brief nicht abdrucken, vielmehr wolle er ihr vorschlagen, einen eigenen Artikel über die Frage der »weiblichen Sphäre« zu schreiben. Weder Bly noch Madden haben ihre unmittelbare Reaktion auf diesen Vorschlag festgehalten, aber die Aussicht, tatsächlich für eine Zeitung zu schreiben, nachdem sie vier Jahre lang die rußgeschwärzten Straßen Pittsburghs auf der Suche nach niederer Arbeit durchstreift hatte, mit wenig Hoffnung, je etwas Besseres zu finden, muss ihr als Wink des Schicksals erschienen sein. Noch in derselben Woche lieferte sie Madden den Artikel. Ihre Grammatik war holprig, ihre Zeichensetzung fehlerhaft (jahrelang hörte man George Madden über die Menge Blaustift klagen, die er für die Korrektur ihrer Kolumnen brauche), doch sie schrieb eindringlich, und ihre Stimme war stark und klar. Sie hatte sich entschieden, die Frage aus der Perspektive jener Frauen zu betrachten, die nicht die Privilegien besaßen, die »S.B.« ihnen pauschal zuschrieb: armer Frauen, die arbeiten mussten, um ihre Familien zu versorgen. Es war eine leidenschaftliche Bitte um Verständnis und Mitgefühl, in die mit Sicherheit etwas von der Verzweiflung über ihre eigene Situation und die ihrer Mutter eingeflossen ist:

Wissen diejenigen, die reichlich mit den Gütern dieser Welt gesegnet sind, was es heißt, eine arme, berufstätige Frau zu sein, die ein, zwei kahle Zimmer bewohnt, ohne genügend Feuer, um es warm zu haben, deren fadenscheinige Kleider sie nicht vor Wind und Kälte schützen, die sich das notwendige Essen versagt, damit ihre Kleinen nicht darben müssen? Eine Frau, die den finsteren Blick des Vermieters fürchtet und seine Drohung, sie hinauszuwerfen und das Wenige zu verkaufen, was sie hat, die um irgendeine Anstellung bettelt, damit sie genug verdient, um die kahlen Räume, die sie ihr Zuhause nennt, bezahlen zu können? Eine Frau, die niemanden hat, der freundlich mit ihr spricht oder sie ermutigt, nichts, was das Leben lebenswert macht?30

So kam es, dass Elizabeth Cochrane für fünf Dollar pro Woche beim Dispatch als Reporterin eingestellt wurde. Bevor ihr nächster Artikel erschien (über geschiedene Frauen, ein weiteres Thema, das ihr am Herzen lag), rief George Madden sie in sein Büro und teilte ihr mit, sie brauche ein Pseudonym. Damals galt es als unschicklich für eine Frau, den eigenen Namen unter ihren Text zu setzen. Elizabeth Wilkinson Blade, Blys Kollegin beim Dispatch, schrieb als »Bessie Bramble«, in New Orleans war Eliza Nicolson »Pearl Rivers«, in New York war Sara Payson Willis »Fanny Fern«, und in Boston kannte man Sally Joy (was selbst schon wie ein Pseudonym klang) als »Penelope Penfeather«. Er suche nach einem Namen, sagte George Madden, der »hübsch und eingängig«31 sei. Gemeinsam erwogen die beiden mehrere Möglichkeiten, aber keine erschien ihnen passend. Es war später Nachmittag;32 das Licht der Gaslaternen warf flackernde Schatten auf die Tapete. Ein Bürojunge ging vorbei und pfiff eine damals populäre Melodie:

Nelly Bly! Nelly Bly! Bring de broom along,

We’ll sweep de kitchen clean, my dear,

And hab a little song.

Der Name war kurz, er war eingängig, und, besser noch, er war schon bekannt und auch beliebt. Madden wies den Setzer an, als Verfasserin des Artikels »Nelly Bly« zu nennen – doch der buchstabierte den Vornamen falsch, und so wurde aus Elizabeth Cochrane für immer Nellie Bly.

Von den 12308 Amerikanern33, die in der Volkszählung von 1880 als Journalisten erfasst wurden, waren nur 288 – kaum mehr als zwei Prozent – Frauen. Die Anzahl derer, die wie Nellie Bly für den Nachrichtenteil einer Zeitung schrieben, war noch weitaus geringer. Da in den 1880ern viele Herausgeber erkannten, dass Frauen ein noch brachliegendes Marktsegment waren, führten sie separate Frauenseiten ein mit Artikeln, die den Themen gewidmet waren, für die sich weibliche Leser ihrer Meinung nach am meisten interessierten: Mode, Einkaufen, Kochrezepte, Haushalt, Erziehung und das gesellschaftliche Leben der High Society. Der medizinische Nutzen von Pfeilwurz, die richtige Reihenfolge von brauner und weißer Sauce bei einem formellen Abendessen, die Kleider auf einem Ball, warum Frauen Angst vor Mäusen hatten – all das wurde in angemessen betulichem Ton auf den Frauenseiten erörtert, gern gespickt mit Versen über die Liebe oder das Wetter und gelegentlich vielleicht der Rezension eines neuen Liebesromans oder Gedichtbandes. Die Artikel richteten sich nicht nur an Frauen, sie wurden auch überwiegend von ihnen geschrieben; männliche Redakteure rechtfertigten dies mit der Erklärung, das entspreche eben ihren angeborenen Fähigkeiten – wie zum Beispiel der des New York Telegram, der darauf hinwies, dass bei der Berichterstattung über gesellschaftliche Ereignisse ein Mann weibliche Garderobe34 ganz genau studieren müsse, um sie zu beschreiben, während eine Frau sie mit einem Blick erfasse.

Manche Journalistinnen fühlten sich in dieser Nische sehr wohl, für andere wiederum bedeutete die Verbannung Langeweile, Frustration und Verzweiflung über die Verschwendung ihres Talents. In einem Artikel in Harper’s Weekly mit dem Titel »Erfahrungen einer Frau in der Zeitungsbranche« schilderte eine Reporterin, die ihren Namen nur mit »J.L.H.« angab, ihre langen und vergeblichen Versuche, ihrer eingefahrenen Situation zu entkommen. »Ich glaube, es gibt keine Berufstätigkeit auf der Welt, die mir weniger gefallen hätte als das professionelle Eindringen in das hehre Treiben der Elite«, schrieb sie, »aber mir blieb keine Wahl. Ich musste die Stelle als Gesellschaftskolumnistin annehmen, weil die Geschäftsleitung hartnäckig behauptete, in einer Zeitungsredaktion gäbe es für eine Frau sonst nichts zu tun.«35 Im Jahr zuvor beklagte die Autorin Flora McDonald gleichermaßen das traurige Los der intelligenten, ehrgeizigen Reporterin, die gezwungen sei, eine öde Veranstaltung nach der anderen zu besuchen. »Das Leben«, schrieb sie, »wird für sie zu einem einzigen in die Länge gezogenen Fünf-Uhr-Tee bei fremden Leuten. Sie schwimmt mit im Wasser, ohne dorthin zu gehören, und je länger sie das Zappeln der großen Fische registriert, desto mehr verfällt sie in einen Zustand der geistigen und moralischen Versteinerung, der einfach schrecklich ist. Eine Frau sagte zu mir: ›Gesellschaftsreportage ist eine Prostitution des Gehirns.‹ Oh, wenn es nur das wäre und nicht noch viel schlimmer! Denn sie ist auch eine Prostitution der Seele.«36

Die Autorinnen der Frauenseiten tauchten selten persönlich in der Redaktion auf; meist verfassten sie ihre Texte zu Hause und schickten sie dann per Post. Wie das Wirtshaus oder die Wahlkabine galt die Redaktion als unpassender Ort für eine Frau, denn dort wurde natürlich geraucht und Tabak gekaut, ab und zu ein Schluck aus der Flasche genommen und ausgiebig geflucht, was damals »angelsächsische Wörter benutzen« hieß. 1892 soll ein Zeitungsherausgeber auf die Frage, ob er in seiner Redaktion je eine Frau einstellen würde, schockiert ausgerufen haben: »Eine Frau – niemals! Man kann zu einer Frau doch nicht verd… sagen!«37 Die Redaktion war ein Ort, wo Männer sich ohne Angst vor der Missbilligung einer Frau frei bewegen konnten, auch ohne Angst davor, den weiblichen Charakter zu verderben, denn der Glaube, die Konfrontation mit den harten Realitäten des Großstadt-Journalismus würde die Eigenschaften untergraben, die Männer an Frauen am meisten schätzten, war allgemein verbreitet. »Ich habe noch nie ein Mädchen bei einer Zeitung gesehen, bei dem nicht der stetige Verfall des ihr angeborenen Gefühls für Kultiviertheit, Anstand und Fraulichkeit zu bemerken war«38, behauptete ein Redakteur. »Junge Weiblichkeit«, schwärmte ein anderer, »ist etwas zu Süßes und Heiliges, um es mit nachlässigen Manieren, hitzigem Gerede und unkonventionellem Handeln zu vereinbaren, die in einer Zeitungsredaktion wohl unvermeidlich sind.«39

Bei all diesem Gesäusel hatte das Fernhalten von der Redaktion jedoch ganz reale und schädliche Auswirkunken auf die Karrierechancen einer Frau. Da noch keine Journalistenschulen existierten, lernten junge Reporter ihr Gewerbe herkömmlicherweise in der »Schule der Erfahrung« (zu der junge Frauen praktisch keinen Zugang hatten). Gewöhnlich begannen die Reporter als Bürojungen (schon die Bezeichnung deutete darauf hin, welches Geschlecht von dem Bewerber erwartet wurde), die ausfegten, Satzvorlagen anlieferten, Besorgungen machten; lernten, was ein Redakteur von seinen Reportern und Assistenten verlangte; zusahen, wie Artikel geschrieben und umgeschrieben wurden, und so mit der Zeit immer mehr Verantwortung übernahmen, was schließlich, wenn alles gut lief, dazu führte, dass sie sich als Reporter versuchen durften. Wenn der Redakteur ihre Arbeit für mangelhaft befand, reagierte er meistens nicht mit einer milden Ermahnung, sondern mit langen Schimpftiraden, durchsetzt mit Flüchen und Androhungen von Gewalt, die Art grober Belehrung also, die seit Langem als wirksamste Methode zur Vermittlung von journalistischen Weisheiten galt, die aber die meisten Redakteure empfindsameren weiblichen Gemütern nicht zugemutet hätten. Und so blieb den jungen Zeitungsfrauen nichts anderes übrig, als sich über Teepartys und Brautausstattungen auszulassen.

»Vieles von der praktischen Ausbildung in einer Redaktion geht über die Sphäre hinaus, in der eine Frau sich bewegen kann«, betonte The Epoch 1889, »was den Umfang ihrer Arbeit sowie das Ausmaß an Informationen, die sie erlangt, notgedrungen einschränkt.«40 Es ging einfach nicht an, von einer Frau zu fordern, dass sie dieselben Aufgaben erfüllte, die männliche Reporter hatten – nachts und bei schlechtem Wetter allein unterwegs zu sein, Storys zu verfolgen, die wer weiß wohin führen mochten, in Mietskasernen und Tanzlokale und Schankstuben und Spielhöllen. Sich mit Verbrechern wie mit Polizisten gemeinzumachen, bei Straßenkämpfen und Streiks und Bränden und sonstigen Störungen der städtischen Ruhe anwesend zu sein, die Lügen und Missetaten von Männern in Machtpositionen aufzudecken. Wenn eine Frau sich an derartigem Treiben beteiligte, war das nicht nur riskant, sondern auch unschicklich, würdelos und unfein, sprich: nicht damenhaft.

Natürlich gab es berühmte Ausnahmen von der Regel, Frauen, die sich als hervorragende Journalistinnen bewährten, etwa die politische Berichterstatterin Jane Grey Swisshelm. Als Feministin und Gegnerin der Sklaverei schrieb sie unter anderem für Horace Greeleys New York Tribune. 1850 suchte sie während eines kurzen Aufenthalts in Washington Vizepräsident Millard Fillmore auf und bat ihn, ihr auf der Galerie des Senats einen Presseplatz zuzuweisen. »Er war sehr überrascht und versuchte, mich davon abzubringen«41, erinnerte sich Swisshelm später; der Vizepräsident meinte, sie würde unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen und »die Situation würde sehr unangenehm werden für eine Dame«. Doch Swisshelm blieb hartnäckig, und irgendwann gab Fillmore nach. Am nächsten Tag beobachtete sie von einem Sitz auf der Galerie aus die Vorgänge im Senat – als erste Frau. In einer ihrer Kolumnen machte Jane Grey Swisshelm sich über die Verachtung und Entrüstung lustig, die Frauen erlebten, wenn sie beschlossen hatten, sich dem Journalismus oder einem anderen intellektuell anspruchsvollen Beruf zuzuwenden:

Sie pflügen, eggen, mähen, graben, machen Heu, rechen, binden Getreide, dreschen, hacken Holz, melken, buttern, verrichten jede schwere Arbeit, körperliche Arbeit, und hat irgendjemand etwas dagegen? Aber nehmen wir an, eine von ihnen setzt ihre geistigen Kräfte ein – in der Hoffnung, Redakteurin zu werden, Ärztin, Rechtsanwältin –, will einen Beruf ergreifen, der als ehrenwert gilt und Talent erfordert, dann oh!, bringe man Kölnischwasser, hole ein Taschentuch und einen Fächer, lockere sein Korsett und nehme ihm das Halstuch ab! Mr. Schicklichkeit ist in Ohnmacht gefallen! Man stelle sich vor, »eines der lieben Geschöpfe« – der Engel nämlich – verlässt den Himmel, die Sphäre der Frauen, und mischt sich in die bösen Kämpfe dieser bösen Welt ein!42

In den Vereinigten Staaten war die Presse immer eines der Zentren gesellschaftlicher Macht gewesen, der so genannte vierte Stand, und während des gesamten 19. Jahrhunderts wurde die in ihm herrschende fast totale Geschlechtertrennung damit gerechtfertigt, sie bestehe zum Schutz der Frauen (vor dem groben Betragen der Männer) oder sei ihre eigene Schuld. Obwohl weiblichen Autoren allgemein Witz, Fantasie, Lebhaftigkeit und Mitgefühl im Überfluss zuerkannt wurde, fehlten ihnen angeblich andere Qualitäten – Urteilsfähigkeit, logisches Denken, eine klare Prosa –, die für richtigen Journalismus wesentlich seien. »Frauen stehen in dem Ruf, nachlässig zu schreiben«43, bemerkte der britische Schriftsteller Arnold Bennett 1898 in seinem Buch Journalism for Women: A Practical Guide. »Sie verdienen ihn.« Zu den Schwächen, die Bennett bei schreibenden Frauen diagnostizierte, gehörten Langatmigkeit, zu häufiger Gebrauch von Metaphern und Vergleichen und ganz allgemein »Überschwang und eine Neigung zur Hysterie«44. Dies war eine Meinung, die nicht selten auch von Frauen geteilt wurde, die auf anderen Gebieten des Schreibens erfolgreich waren, zum Beispiel der bekannten Dichterin Julia Ward Howe, die in The Epoch Zeitungsredakteuren empfahl, keine Frauen »mit flüssigem Stil und chaotischem Verstand (einzustellen), die sich in einem bunten Gemisch aus Empfindsamkeit und Satire zu einer Vielzahl von Themen äußern, ohne sich auch nur zu einem von ihnen ein Urteil bilden zu können«45. In der Monatszeitschrift The Galaxy tadelte ihre Zeitgenossin, die Lyrikerin und Essayistin Nellie McKay Hutchinson, Autorinnen für ihre Schlampigkeit, Gehässigkeit und eine »gallertartige Schwammigkeit in Denken und Ausdruck«46. Bevor einer Frau eine verantwortungsvolle Position bei einer Zeitung anvertraut werden könne, so Hutchinson, »muss sich sowohl das Wesen als auch die soziale Stellung der Frau verändern. … Sie muss aktiv angewandte politische Erfahrung haben. Und sie darf sich nie zu heftig von ihren Sympathien, Vorurteilen und Abneigungen mitreißen lassen. Und da die Frau eine Frau ist, fürchte ich, dass sie letztere Anforderung nicht erfüllen wird.«

Ohne Schutz durch Gewerkschaft oder eigenen Interessenverband – der Women’s Press Club47 wurde erst 1889 gegründet – mussten Reporterinnen ihrer Tätigkeit in einem Umfeld nachgehen, in dem allzu oft unerwünschte sexuelle Avancen an der Tagesordnung waren. (Eine anonyme Journalistin von damals bestätigte: »In keinem einzigen anderen Beruf erleben Frauen so häufig Übergriffe von Personen des anderen Geschlechts wie bei einer Zeitung.«48) Außerdem erhielten sie wesentlich niedrigere Gehälter als die männlichen Kollegen. In Harper’s schrieb J.L.H., oft würde sie überhaupt nicht für ihre Arbeit bezahlt; eine andere Autorin meinte, sie würde mit »Komplimenten« abgespeist49 statt mit Geld. Eine dritte schätzte, dass sie über zwei Jahre lang50 geschrieben hatte, ehe sie ihre ersten fünf Dollar erhielt.

Die Journalistinnen, die diese Ungerechtigkeiten ertrugen, die sich gesellschaftlichen Konventionen widersetzten, die trotz der vielen Hindernisse durchhielten, waren Pionierinnen, die in einem unwirtlichen Territorium Neuland absteckten, mit wenigen Beschützern und Gefährtinnen, die die Last mit ihnen teilten. Noch 1889, als Nellie Bly und Elizabeth Bisland zu ihrer Reise um die Welt aufbrachen (inzwischen waren schon so viele Frauen bei Zeitungen tätig, dass The Journalist eine »spezielle Frauenausgabe« herausbrachte, in der die Leistungen von Journalistinnen, darunter auch Bly und Bisland, gewürdigt wurden), wies Flora McDonald darauf hin, dass sich »auch eine ausgeglichene Frau, die inmitten von Männern bei einer Zeitung arbeitet, aus tausenderlei Gründen wie eine Monstrosität fühlt – die ›einzige echte ihrer Art auf Erden‹«51. Die erfolgreiche Journalistin müsste, so McDonald, »zu einem Drittel aus Unverfrorenheit und zu zwei Dritteln aus Kautschuk bestehen«.

In ihren ersten Monaten beim Dispatch veröffentlichte Nellie Bly eine achtteilige Serie über die Arbeitsbedingungen von Frauen in Pittsburgh. Diese Art der Reportage lag ihr am meisten: Geschichten über Menschen wie sie selbst, Berufstätige, vor allem Frauen, die versuchten, auch unter schwierigen Umständen ihre Würde zu bewahren, vielleicht sogar ein wenig Spaß zu haben. Sie schrieb über Verkäuferinnen und Revuetänzerinnen, Dienstmädchen und religiöse Sektiererinnen. Sie empfahl die Einrichtung einer weiblichen Version des Christlichen Vereins Junger Männer, der »armen Mädchen« Hilfe und Unterstützung52 anbieten sollte. So gut sie konnte, wehrte Bly sich dagegen, auf die Frauenseite verbannt zu werden; sie war, wie sie später schreiben sollte, »zu ungeduldig, um die üblichen Aufgaben zu erledigen, die Frauen bei Zeitungen zugewiesen wurden«53. Aber George Madden bestand darauf, und so musste sie dann doch Artikel über Themen wie Haarpflege für Damen, gummierte Regenmäntel und einen ortsansässigen Geistlichen mit einer Sammlung von fünfzigtausend Schmetterlingen verfassen.

Eines Abends, etwa neun Monate, nachdem sie beim Dispatch angefangen hatte, hörte Bly, wie sich zwei Untermieter ihrer Mutter54, junge Eisenbahner, darüber unterhielten, irgendwann nach Mexiko zu reisen; es sei möglich, die ganze Strecke mit dem Zug zurückzulegen. Nachts war sie zu aufgeregt, um wieder einzuschlafen, und früh am nächsten Morgen eilte sie in die Redaktion und flehte George Madden an, sie als Korrespondentin der Zeitung nach Mexiko zu schicken. Madden entgegnete, das komme nicht in Frage. Es sei viel zu gefährlich; schon viele Amerikaner hätten die Grenze überquert und seien einfach verschwunden. Doch Bly blieb hartnäckig und schaffte es schließlich – vielleicht köderte sie den Redakteur mit einer möglichen Auflagensteigerung –, Madden zu überreden.

Bly freute sich auf das neue journalistische Abenteuer, das vor ihr lag, aber kurz vor ihrer Abfahrt verließ sie – untypischerweise – der Mut bei der Aussicht, allein zu reisen, und so bat sie ihre Mutter, sie zu begleiten. Nellies vier Geschwister waren mittlerweile alle berufstätig oder verheiratet, und ihre Mutter willigte ein. Bly kaufte die Fahrkarten, und gemeinsam brachen sie nach Mexiko auf.

Die Reise war traumhaft, voller herrlicher, stets wechselnder Ausblicke. An einem Abend zeigten sich, als sie schlafen gingen, die Hügel vor den Fenstern schneebedeckt, und am nächsten Morgen, als sie aus ihren Kojen stiegen, war die Welt warm und stand in prächtiger Blüte. Vom Aussichtswagen des Zuges schauten die beiden Frauen von Ehrfurcht ergriffen in die gewaltige Weite, die sich vor ihnen auftat. Sie fuhren durch Baumwollfelder, die im Wind wogend aussahen wie schäumende, auf die Küste einstürzende Brecher; sie atmeten den Duft riesiger bunter Blumen ein. Nach drei Tagen erreichten sie El Paso, wo sie mit einigem Bedauern über das bevorstehende Ende der Reise einen Nachtzug nach Mexiko-Stadt bestiegen.

Nellie Bly verbrachte fünf Monate in Mexiko. Anscheinend nicht im mindesten behindert durch ihre, wie sie einräumte, »sehr dürftigen Spanischkenntnisse«, nahm sie die Leser des Dispatch mit zu Stierkämpfen, Theateraufführungen, historischen Grabstätten; sie entdeckte eine Straße, anderen Amerikanern offenbar unbekannt, wo es ausschließlich Sargmacher gab. Immer wieder begegnete ihr bei ihren Streifzügen etwas, das sie überraschte oder entzückte: die Kränze aus Geißblatt und Rosen fürs Blumenfest, geflochten von einheimischen Frauen; Eiscreme aus gesüßter Milch, die über Schnee gegossen wurde, den man von einem nahe gelegenen Vulkan heruntergeholt hatte; halbwüchsige Jungen, die zu den Balkons ihrer Liebsten hinaufriefen wie in einer Szene aus Romeo und Julia. Sie bemerkte, dass es in Mexiko als höflich, sogar schmeichelhaft galt, wenn ein Mann auf der Straße eine Frau anstarrte – »Ich sollte wohl hinzufügen«, schrieb sie, »dass die Männer in dieser Hinsicht hier sehr höflich sind.« Sie besuchte entlegene Dörfer mit eigenen Armeen, deren Soldaten Zigaretten aus einem Kraut namens Marihuana rauchten, wobei jeder einen Zug nahm und den Rauch in den Mund des neben ihm sitzenden Mannes blies; der Rausch dauerte angeblich fünf Tage an, »und die ganze Zeit über befinden sie sich im Paradies«.

Je länger sie sich in Mexiko aufhielt, desto klarer erkannte sie, dass fast alles, was Amerikaner über das Land zu wissen glaubten, falsch war. Die Mexikaner, die sie kennen gelernt habe, berichtete Bly ihren Lesern, seien in der Mehrzahl keineswegs heimtückisch, streitsüchtig, zügellos oder unehrlich; im Gegenteil, die schlimmsten Verbreiter von Unwahrheiten über Mexiko – die hier lebenden Amerikaner – seien genau diejenigen, die die Einheimischen am schäbigsten behandelten, die Freundlichkeit als Beleidigung empfanden und treue Bedienstete als Bestien und Dummköpfe bezeichneten. Auch habe sie in Mexiko nie die Gefahren erlebt, vor denen sie so übertrieben gewarnt worden war, den amerikanischen Klischees folgend, dass hinter jeder Ecke Diebe und Mörder lauerten. Sie schrieb: »Die Frauen – es tut mir leid, das zu sagen – sind hier sicherer als auf unseren Straßen, wo angeblich jeder den Vorteil von Bildung und Zivilisation genießt.«

Bly schickte ihre Reportagen regelmäßig nach Pittsburgh, wo der Dispatch sie veröffentlichte; irgendwann wurden mexikanische Beamte auf einen ihrer Artikel über die Festnahme eines lokalen Zeitungsherausgebers aufmerksam, der es gewagt hatte, die Regierung zu kritisieren. Man drohte, sie wegen Verstoßes gegen Artikel 33 der Verfassung des Landes zu verhaften, der es Ausländern verbot, sich »auf irgendeine Weise« in die Politik Mexikos einzumischen. Angesichts eines drohenden längeren Aufenthalts in einem mexikanischen Gefängnis kehrte Bly mit ihrer Mutter einen Monat früher als ursprünglich geplant nach Pittsburgh zurück. Von dort aus geißelte sie die Korruptheit des politischen Systems Mexikos, das sie als »eine Republik nur dem Namen nach, in Wirklichkeit aber die übelste Monarchie« verhöhnte. In einem ihrer Artikel schrieb sie, der kürzlich zurückgetretene Präsident Manuel González habe sich in seiner vierjährigen Amtszeit um rund 25 Millionen Dollar bereichert, ein anderer kritisierte, Mexikos Zeitungen seien wenig mehr als »Werkzeuge des organisierten Verbrechens«. Das mexikanische Volk selbst wisse, dass es mitschuldig an seiner Ausbeutung sei. Es wäre möglich, den ganzen Tag im Lande unterwegs zu sein, ohne auch nur einen einzigen Menschen beim Zeitungslesen anzutreffen. »Die Menschen hegen eine solche Verachtung für Zeitungen«, bemerkte Bly, »dass sie sie nicht einmal in der Straßenbahn als Deckung benutzen, wenn eine Frau mit einem Dutzend Bündeln, drei Kindern und zwei Körben nach einem Sitzplatz Ausschau hält.«

Mit einundzwanzig hatte Nellie Bly sich als widerstandsfähig genug erwiesen, um monatelang eine eintönige, ungewohnte Ernährung durchzustehen, auf wanzenverseuchten Matratzen zu schlafen, hatte alle Hindernisse überwunden, die eine fremde Sprache mit sich brachte, und war gewitzt und beherzt genug gewesen sich zu behaupten, wenn unehrliche Hotelbesitzer und Straßenverkäufer versucht hatten, sie zu betrügen. Sie war stolz darauf demonstriert zu haben, dass sich »eine freie Amerikanerin ohne die Hilfe eines Mannes in andere Umstände einfügen kann«55. George Madden erhöhte ihr Gehalt beim Dispatch auf fünfzehn Dollar pro Woche56, aber Bly konnte den Gedanken, zur Frauenseite zurückzukehren, einfach nicht ertragen; nach ihrer Heimkehr stritt sie drei Monate lang mit dem Lokalredakteur über die ihr zugedachten Artikel.

Nellie Bly hatte Erasmus Wilson einmal erklärt, sie habe vier Ziele im Leben: für eine New Yorker Zeitung zu arbeiten, die Welt zu verbessern, sich zu verlieben und einen Millionär zu heiraten.57 Zumindest das erste schien nicht mehr fern zu sein. Eines Tages im April tauchte sie einfach nicht zur Arbeit auf; niemand in der Redaktion wusste, wo sie war, bis jemand die Nachricht fand, die sie Wilson hinterlassen hatte.

Lieber S.B., hatte sie geschrieben, bin unterwegs nach New York58. Behalten Sie mich im Auge. BLY.

KAPITEL 2

AUF DER INSEL MANHATTAN LEBTEN DAMALS UNGEFÄHR anderthalb Millionen Menschen und im Großraum New York rund viereinhalb Millionen – etwa ein Fünfzehntel59 der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten, jeder Dreihundertste auf der ganzen Welt.

Die Hälfte aller Handelsgüter60 für die USA und drei Viertel der Einwanderer kamen über New York ins Land; durch die Hände der städtischen Postbeamten gingen jedes Jahr über eine Milliarde Briefe61 und vierzigtausend Tonnen Zeitungen. Die einzelnen Niederlassungen der Telegrafengesellschaft Western Union waren in ganz Manhattan durch pneumatische Röhren mit der Zentrale am Broadway verbunden. Jeden Mittag wurde davor an einem Fahnenmast eine Kugel heruntergelassen; ein paar Minuten früher sammelten sich dort Passanten, die ihre Uhren stellen wollten. Auf den Straßen wirkten alle, als hetzten sie zu einem Termin. Die erste Seite eines Touristenführers für New York verhieß »ein Gedränge von Kutschen, Rollwagen, Karren und anderen Fahrzeugen, private und öffentliche, die über das steinerne Pflaster dröhnen und rumpeln, Mengen dahineilender Männer, die aussehen, als hätten sie keine Sekunde zu verlieren, mit geistesabwesender, ungeduldiger Miene«62. Bei einem Besuch der Stadt warnte der britische Philosoph Herbert Spencer ihre Bewohner: »Dieses Leben unter Hochdruck richtet gewaltigen Schaden an«63, und empfahl ihnen »das Evangelium der Entspannung«. Die neueste Mode bei Gehstöcken war eine in den Griff eingelassene Uhr. In den Bürovierteln hatte kaum ein Restaurant Erfolg, wenn es seinen Gästen mittags nicht ein so genanntes Schnellgericht anbot, und die letzten Jahre hatten eine noch erschreckendere Entwicklung mit sich gebracht, Mahlzeiten, die auf Tabletts direkt an den Schreibtisch geliefert wurden, sodass ein Bankier oder Börsenmakler sein Sandwich essen konnte, ohne auch nur eine Minute lang seine Arbeit zu vernachlässigen. »Eine lebensverkürzende Gewohnheit ist es zweifellos«, kommentierte die Tribune,»aber sie illustriert die Hochspannung, unter der in diesem rastlosesten Handelszentrum der Welt Geschäfte abgewickelt werden.«

Über den Köpfen der Menschen verlief ein kompliziertes Netz aus Kabeln für Beleuchtung, Telefone und Fernschreiber der Stadt; die elektrischen Leitungen zogen sich in schweren Strängen von Mast zu Mast und erzeugten den Eindruck, New York wäre ständig schwarz beflaggt. Abends verströmten Straßenlaternen, Hotellobbys und die Schaufenster von Kaufhäusern ein weiß glühendes Licht, das als blass leuchtender Dunst vom Union Square bis zum Theaterbezirk über dem Broadway hing. In weniger belebten Gegenden fiel von hohen, in der Mitte von Plätzen aufgestellten Lampen Licht, das den Bäumen einen unheimlichen Schimmer verlieh und die Welt in ein Schwarz-Weiß-Foto verwandelte.

Von den Straßen kam das unablässige Trommeln von Eisen auf Stein, Hufe, die aufs Pflaster hämmerten. Tausende Pferde zogen die Karren, Kutschen, Hansoms, Omnibusse und Bahnen der Stadt. Wenn es regnete, bedeckte ihr Dung die Straßen als stinkender, glitschiger brauner Schleim; in trockeneren Monaten bildete er in pulverisierter Form Staubwolken, die sich mit dem schwärzeren Rauch von der Hochbahn vermischten.