Die schönen Jahre - Teresa Ciabatti - E-Book

Die schönen Jahre E-Book

Teresa Ciabatti

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Beschreibung

»Mitreißend, eindringlich und verstörend.« L'Espresso Seit ihrer Jugend in Rom haben sich die beiden Frauen nicht mehr gesehen. Jetzt sind sie Mitte 40, geschieden, haben erwachsene Kinder. Federica, die eine, wurde von der anderen einst um Herkunft, Wohlstand und eine Mutter, die etwas hermachte, beneidet. Beide einte der Wunsch, schön und beliebt zu sein, und Federicas ältere Schwester war ihr gemeinsames Idol. Bis 1988, in einer Oktobernacht, auf tragische Weise alles anders wurde. Als sie sich nun wiederbegegnen, vertrauen sie sich wie früher einander an – aber Jahre, Erinnerungen und vieles Ungesagte haben sich zwischen sie geschoben. Ein eigenwillig impulsiver Roman über die Kraft, die es erfordert, nicht eingestandene Schuld und schambehaftete Unzulänglichkeit zu überwinden.

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Teresa Ciabatti

Die schönen Jahre

Roman

Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

»Von fünf Mädchen waren vier übrig, und alle –  die Lebenden und die Tote – wurden sie zu Schatten.«

Jeffrey Eugenides, Die Selbstmord-Schwestern

 

»[Die Patientin] spricht sehr schnell, impulsiv,

und (so hat es den Anschein) voller Gleichgültigkeit … so dass sie Wichtiges und Unwichtiges, Wahres und Unwahres, Ernstes und Scherzhaftes in einem rasch dahinfließenden, wahllosen und halb-konfabulatorischen Strom wiedergibt … Es kommt vor, dass sie sich innerhalb weniger Sekunden vollkommen widerspricht … und sagt, sie liebe Musik, sie liebe sie nicht, sie habe eine gebrochene Hüfte, sie sei völlig gesund …«

Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

 

 

 

Die Geschehnisse und die Figuren in diesem Buch sind real.

Erfunden sind das Alter meiner Tochter, der Wohnort und anderes.

 

 

 

Die Frau auf dem Foto erlitt Gewalt durch ihren Vater. Sie war es, an der er, aggressiv, cholerisch, seine Wut ausließ, wie die Familie das nannte, in der alle Bescheid wussten und niemand aufbegehrte. Eine Generation später erzählt es der jüngste Sohn seiner Frau, und die erzählt es ihrer Tochter, mir.

Ich erinnere mich nicht an den Namen meines Urgroßvaters, der lang vor meiner Geburt gestorben ist, ich habe auch kein Foto von ihm.

Wenn ich an meine Großmutter als kleines Mädchen denke, sehe ich einen Mann ohne Gesicht, wie er ins Bad kommt (damals gab es keine Bäder), wie er ins Bad kommt und ihr den Mund zudrückt. Oft habe ich mich in meiner Fantasie gefragt, was ich selbst als Siebenjährige gemacht hätte, in dem Alter, in dem meine Großmutter von ihrem Vater vergewaltigt wurde.

Den Verwandten, die protestieren werden – so was hat es in unserer Familie nicht gegeben, das ist üble Nachrede –, werde ich antworten: Ihr habt recht, es war die Großmutter mütterlicherseits, eine Tante, das Kindermädchen (1955 kam von Brittoli, Provinz Pescara, eine Fünfzehnjährige nach Rom, mit offenkundigen körperlichen Problemen in Form von Deformationen des linken Beins und beider Füße, weswegen sie klobige orthopädische Schuhe tragen musste. Das Mädchen arbeitete in dem Haus, in dem meine Großmutter – diesmal mütterlicherseits, ja – einen Hutladen führte, Via dei Prefetti 35, als Dienstmagd bei einem alten Witwer. Alle wussten, dass er das junge Mädchen vergewaltigte. Erst mischte sich niemand ein, aber eines Tages nahm meine Großmutter das Mädchen und holte es zu sich. Sie war die Kinderfrau meiner Mutter und blieb das auch für mich und meinen Bruder. Weder in ihren Gutenachtgeschichten noch später bei den alltäglichen Gesprächen mit uns als fast Erwachsenen erwähnte sie jemals den Mann, der sie missbraucht hatte. Als er starb, bedachte der Alte sie mit einem Geldbetrag, den sie annahm).

Eine kürzlich erschienene Zeitungsmeldung überlagert sich mit diesen Ereignissen wegen ähnlicher Umstände, auch ähnlicher Opfer; eine sechzigjährige Frau, an einer leichten geistigen Behinderung leidend, Provinz Treviso.

Ihr Schwager hat sie zu sich auf den Hof gelockt und dort in seine Gewalt gebracht. Im Hühnerstall eingesperrt, wird sie geschlagen und vergewaltigt. Bei Wasser und Brot gehalten. Auf der Erde in ihren eigenen und den Exkrementen der Hühner liegen gelassen. Der Peiniger nimmt derweil ihre Postbankkarte an sich und hebt ihre Invalidenrente ab, vierhundert Euro. Bevor das Opfer fliehen kann, bevor die Frau eines Nachts all ihren Mut zusammennimmt, getrieben vom Gedanken an den fernen Sohn, dem sie – wie sie den Ermittlungsbeamten berichten wird – unter Androhung von Gewalt die Nachricht »Ich gehe nach Rumänien, such mich nicht« schreiben musste, wenige Tage davor schneidet der Mann ihr die Haare mit einer Geflügelschere ab.

Wie ein Mann, sagt sie und bricht in Tränen aus, als sie sich nach der Flucht in einem Spiegel sieht. Sie beschließt daraufhin, eine wollene Kappe zu tragen.

Ich bin fast gestorben, wird sie den Ermittlungsbeamten sagen und meint den Haarschnitt – der schlimmste Moment.

Nicht die Gewalt, nicht die Schläge. Oder die Exkremente, der Hunger, die Kälte.

So funktioniert der menschliche Verstand.

Er funktioniert bei jedem von uns anders, je nach Wahrnehmung und auch körperlichen Charakteristika. Die gleiche Erfahrung hat so viele Versionen, wie es Menschen gibt, die sie gemacht haben.

Man findet Schmerz und Glück, wo andere sie nicht finden. Sogar die Freude sitzt je nach Person in unterschiedlichen Bereichen, Gefühlsspalten. Freude ist von den menschlichen Gefühlen vielleicht das größte Rätsel.

So erkannte meine Großmutter väterlicherseits, die an Alzheimer erkrankt war, am Ende niemanden mehr. Wer immer sie besuchte, wurde mit dem Vater verwechselt. Babbo, sagte sie. Und beim Abschied: Geh nicht weg. Der Vater war der einzige Mensch, nach dem sie verlangte.

Buch eins

1

Wenn ich gefragt werde, was man fühlt, wenn man berühmt ist, und ich »nichts« antworte, ist das gelogen. Ihr könnt euch die Benommenheit, den Rausch angesichts eines Beifall klatschenden Publikums nicht vorstellen. Auf einer Bühne, hinter einem Lesepult, an einem Tisch, vor einem Mikrofon wie heute Abend.

Ich glaube nicht, dass ich die Beste bin, sage ich. Ein ganz normaler Mensch, eine Frau wie viele andere. Ich lächle, senke den Kopf. Ich habe großes Vertrauen in die Menschheit, das ja, fahre ich fort, alles hängt von uns ab, Gutes säen heißt Gutes ernten – und jetzt deklamiere ich wirklich, während die Lichter hinter der Fernsehkamera mein Gesicht beleuchten und ich zu einer konturlosen Gestalt werde. Und ich schaue geradeaus, direkt auf euch, die ihr mich von zu Hause aus sehen werdet, ihr alle auf der anderen Seite des Bildschirms.

Bleiben wir bei diesem Augenblick im Dezember 2018. Wer bin ich, dort im Gemeindesaal vor einem Publikum und der Kamera des lokalen TV-Senders, dessen Aufnahmen später ins Netz gestellt werden.

Dank des Fernsehens habe ich entdeckt, dass ich schön geworden bin. Das war ich nie, davon erzählt der Roman, dem ich meine Berühmtheit verdanke und in dem ein verwirrter Mensch, der sich großartig und innig geliebt fühlt, auf die Wirklichkeit stößt – ich selbst als Teenager, ich selbst als Kind.

Auf dem Bildschirm sehe ich ein anderes Ich, das alle Unzulänglichkeit überwunden hat. Dünn geworden, das Haar dunkelblond auf Wunsch des Friseurs, für einen strahlenderen Teint. Meine Zähne sind zwar weiß, aber wie wäre es trotzdem mit einer Zahnaufhellung? Noch weißer. Und dann? Was ist zu tun, um in diesem perfekten Zustand zu verbleiben? Botox.

Eben das bin ich in erster Linie: ein Erfolgsmensch.

Ich gehe zum Friseur. Kaufe Kleider, Schuhe. Erkundige mich nach eventuellen Preisnachlässen: Wenn jemand Prominentes (jemand, der zu öffentlichen Veranstaltungen geht und eher nicht einzeln, eher in einer Gruppe fotografiert wird), wenn also diese Person beschließt, sich exklusiv von einem bestimmten Label einkleiden zu lassen, steht ihr dann nicht ein Fünfzig-Prozent-Nachlass oder gar ein Sponsoring zu?

Ich reise. Ich lese in allen Städten Italiens, so wie heute Abend in diesem Gemeindesaal, wo jemand aus dem Publikum ruft: Du bist großartig!

Vor einer Fernsehkamera, hinter einem Lesepult schweifen die Gedanken bisweilen ab, hin zu Leuten, die mich nicht verstanden haben. Dann tauchen die fünfundzwanzig jugendlichen Gesichter auf, blaue Augen, Zahnspangen, perfekte Zähne, Sommersprossen, hohle Wangen, volle Wangen, sonnengebleichte Haare, knielange Röcke, schlanke Beine, Goffredo-Mameli-Gymnasium, Parioli, Rom. Unter dem Basketballkorb im Schulhof zeigt das Klassenfoto uns fünfundzwanzig Gestalten, die sich von Jahr zu Jahr – wieder nehmen wir die Fotos, ordnen sie chronologisch – verändern, Erwachsenenform annehmen.

Dreißig Jahre gehen ins Land, und das Mädchen auf dem Foto oben links wechselt den Platz. Eine zentripetale Kraft treibt sie ins Zentrum, alles Licht auf sie, ihr anderen in den Schatten.

Wie wird man Schriftstellerin?, fragt jemand aus dem Publikum. Verzicht, Einsatzbereitschaft, erwidere ich –  und die Fernsehkamera nimmt alles auf. Ich füge hinzu: Gepaart mit ein bisschen Egoismus, zu dem der Beruf einen oft zwingt, die Familie zum Beispiel, klar hätte ich mehr Zeit mit meiner Tochter verbringen können, und darin, nur darin bin ich ehrlich.

Danach lüge ich wieder. Was für eine überraschende Stadt, ich will wiederkommen, ich werde wiederkommen, verspreche ich ins Blaue hinein.

Alles geheuchelt, nur möglichst bald raus hier.

Jetzt überquere ich, angetan mit dem zu dünnen Mantel, am späten Abend die bei diesen Minusgraden menschenleere Piazza und wickle den Schal um mich, den der Wind immer wieder löst. Jetzt bin ich im Hotelzimmer, Blick durchs Fenster, auf das Tal mit dem Schimmer in der Ferne, vielleicht ein Sportplatz, von dem das Geschrei von Jugendlichen kommt. Wahrscheinlich trainieren sie gerade. Wenn ihr mich nur sehen könntet, liebe Leser, liebe Leserinnen, wenn ihr mich hier in meinem Fleecepyjama sehen könntet, würdet ihr mich dann immer noch lieben?

Mit dem Erfolg musste ich Menschen auf Abstand halten.

Verwandte und Freunde, die mich plötzlich bedrängten.

Leute, die ich noch nie gesehen hatte und die behaupteten, Cousins zweiten Grades, Onkel zu sein. Unbekannte gratulieren mir, welch bewegende Geschichte, mit der sie sich identifizieren, und am Ende sagen sie: Ich möchte dir meine eigene Kindheit erzählen.

Alte Schulkameraden. Ja, die Jungs vom Goffredo-Mameli-Gymnasium sind zurück.

In Betten, unter erregten Männern, sehe ich sie, sie alle, die mich nicht geliebt und mir fragilem Wesen damit ein Mal aufgebrannt haben. Sind demnach nicht diese Jungen, diese früheren Klassenkameraden, schuld an meiner Untreue, daran, dass ich angefangen habe, meinen Mann zu betrügen? Hängt es etwa nicht von der Adoleszenz ab, wie du als Erwachsene bist?

»Ich habe gehört, es schneit.« Nachricht auf dem Telefon.

Das Geschrei der Jugendlichen in der Ferne ist verstummt, ich, unter der Bettdecke eingerollt, antworte: »Momentan kein Schnee.«

Am liebsten würde ich hinzufügen: Komm und hol mich. Abgesehen vom Absender, meine ich jeden um mich besorgten Menschen, Mann, Frau, Tochter, Liebhaber: Wir sind noch jung, so jung. Diese ganze verschwendete Zärtlichkeit, diese ganze Zärtlichkeit, die hier drunter verpufft. Nimm mich mit (und hier stelle ich mir einen Mann vor).

Ihr könnt ruhig denken, diese Geschichte hätte an dem Tag begonnen, an dem der verheiratete Liebhaber im Bett fragte: Würdest du deinen Mann für mich verlassen? Denkt es ruhig, ihr täuscht euch.

2

Tageslicht erhellt den Schrottplatz – Frühe. Von wegen grenzenloses Tal, Geschrei von Jugendlichen. In dieser Trostlosigkeit ist das einzige Geräusch das Aufeinanderkrachen von Blech.

Und nein, es hat nicht geschneit. Kein Schnee in Cagliari. Ihr werdet euch fragen, warum die berühmte Schriftstellerin, die von Modedesignern ausgestattete Dunkelblonde, nicht in New York, nicht in Paris, sondern in Cagliari ist.

In den letzten Jahren – drei seit Erscheinen des Buches, um genau zu sein – bin ich, entgegen meinem sesshaften Naturell, kreuz und quer durch Italien gereist, um nur ja in aller Munde zu bleiben. Dass ich in aller Munde war, bestätigte die Zahl der Anrufe, die ich nicht entgegennahm, das mit Einladungen vollgestopfte Mailpostfach. Alles Menschen aus meiner Vergangenheit, wiederhole, betone ich. Na gut, von den früheren Mitschülerinnen war nur eine aufgetaucht, das genügte. Diese eine hätte ich mir schon zurechtgebogen, das hätte für alle gegolten.

Im Oktober – jetzt ist wohlgemerkt Dezember – trat Federica (sie ist eine reale Person, weshalb ich ihren Nachnamen nicht nennen werde) mit einer langen Nachricht wieder in mein Leben. Sie schilderte ihre Freude darüber, mich wiedergefunden zu haben, und dass sie all die Jahre an mich gedacht habe. Den Stolz, als sie von meinem Erfolg gelesen und gesehen habe, wie bedeutend ich geworden sei, übrigens habe sie schon immer gewusst, dass ich etwas Besonderes sei.

Kurze Erwähnung der verstorbenen Mutter, des Vaters, der verfolge, was ich in den Zeitungen schriebe – stolz auch er! Er gehe auf die neunzig zu, allerhand Beschwerden, sein Leben sei nicht leicht gewesen.

 

Wenn ich zwanzig wäre. Wenn der Erfolg mit zwanzig gekommen wäre, hätte ich mich betrunken, Drogen genommen, Jungs enttäuscht, sie kurzzeitig dazu benutzt, meine Eitelkeit zu pflegen. Junge Männer wären mir nachgelaufen. Alle hätten mich gewollt.

Aber ich bin siebenundvierzig, und Männer, die mir Avancen machen, sind in den Fünfzigern und mit greisen, wenn nicht toten Eltern beschäftigt. Leute mit entzündeten Ellenbogen, mit blockiertem Rücken, Erwachsene, die unzufrieden sind, getrennt, ein zweites Leben wollen, Kinder noch mit fünfzig. Unter Psychopharmaka, gestresst wie ich, die Blut verliert. Zyklusstörungen, denke ich, als ich den Fleck sehe. Was soll’s, das bisschen Blut, mir würde es nie einfallen, den Verlauf meines Zyklus schriftlich festzuhalten, es soll euch genügen, zu wissen, dass ich den Zyklusbeginn nie notiert habe. Jedes Mal überrascht, hinterlasse ich Flecken auf Laken, auf Stühlen. Im Rückblick höre ich wieder meine Mutter: Wie ein Tier, sagt sie. Wir sprechen allerdings von einer einfachen Frau, trotz Medizinstudiums – apropos Blut, in ihren Adern fließt gewöhnliches Blut: Sie wirft keine Essensreste weg, ihr Bett macht sie selber. In diese Zeit, die Zeit am Gymnasium, fiel auch der Umzug nach Rom, und ich schämte mich in Grund und Boden. Warum musste ausgerechnet meine Mutter so unzulänglich, so völlig anders sein als die anderen Mütter, dass ich sogar sagte: Meine Freundinnen kommen, bleib im Schlafzimmer.

Du hast keinen Pelzmantel (du hast einen, ziehst ihn aber nicht an), du trägst keinen Schmuck, den hast du wirklich nicht, du hast ihn verkauft, wie ich nach deinem Tod feststellen sollte. Und mit dieser Zahnlücke, du lässt die herausgefallenen Zähne partout nicht ersetzen, du hast kein Geld, sagst du, mit dieser Zahnlücke – überflüssig, zu schwören, es sei ein Versehen gewesen, das war Absicht – wirst du eines Tages den beiden Mädchen, die nach mir fragen, die Tür öffnen und mit extra weit aufgerissenem Mund antworten: Sie ist nicht da.

Eine der beiden heißt Federica, und sie wird herumerzählen, du, Mama, seist eine Pennerin.

 

Mit Federica habe ich also mehrere Rechnungen offen, und sie ist es, von der im Oktober die Nachricht kommt.

Das alles ist jetzt zwei Monate her, und ich hatte vor, mir mit der Antwort Zeit zu lassen, vielleicht erst noch weitere Versuche ihrerseits ins Leere laufen zu lassen. Fühlst du dich links liegen gelassen, liebe Freundin?

Eine Gewissensprüfung ergibt, dass mein ganzes Leben im Lichte von Rachegelüsten gesehen werden muss. Jede Beziehung innerhalb und außerhalb der Familie gestaltet sich nach zu rächendem Unrecht. Was ist übrigens der Roman, der mir Ruhm eingebracht hat, anderes als eine Rache an meinen verstorbenen Eltern? Und an mir selbst – wenn ihr Kritiker mit euren Verrissen wenigstens Metaphern lesen könntet, gebt euch mal Mühe.

Es ist ja nicht alles Metapher. Der Schrottplatz, auf den mein Zimmer hinausgeht, ist keine Metapher, auch nicht diese Stadt, Cagliari, auch ich nicht, die ich gerade erst aufgewacht bin und meine Siebensachen zusammensammle, die in den Rollkoffer sollen. Geschweige denn die Person, die mir dauernd schreibt.

»Soll ich dich am Flughafen abholen?«

»Ich habe ein Interview«, antworte ich.

 

Als bekannte Schriftstellerin arbeite ich mit verschiedenen Blättern zusammen, besonders mit einer landesweit erscheinenden Tageszeitung, für die ich Prominente wie Schauspieler und Intellektuelle interviewe. Oft sind es die Prominenten selbst, die mich anfragen.

Ich habe es geschafft – so spreche ich zu meinen früheren Mitschülern in einem inneren Monolog, der seit Jahren abläuft, in einem Tagtraum, der sie mir zurückholt, die Reichen, die Hochmütigen.

Diese Gefüge domestizierter Hormone, nichts in ihnen war außer Kontrolle, nicht mal die Essgelüste, ebenso wenig sonstiges Begehren, sodass sie sich sogar untereinander begehrten, zum instinktiven Schutz der eigenen Sippe.

Ich rede mit euch, immerzu mit euch, Fantasie, Traum – manchmal träume ich von euch kleinen Egoisten, wie gefährlich ihr wart in eurer Unfähigkeit, die Folgen eures Handelns abzusehen, euer unbekümmertes Verhalten, unbeschwertes Lachen.

Jemand könnte dagegenhalten, man müsste doch nach so vielen Jahren keinen Groll mehr hegen.

Aber da straffe ich – wieder in der Fantasie – die Schultern, räuspere mich, sage Nein. Das vergisst man nicht, sage ich. Wie soll ich diesen Moment auslöschen, ich als Klassensprecherkandidatin gegen zwei Außenseiterinnen (Ciriello aus Neapel, Curcio Diabetikerin), sicher, die Wahl zu gewinnen, und auf der Tafel erscheint neben meinem Namen kein einziges x?

Wann hätte die Erinnerung verblassen sollen, ich auf der Freitreppe der Villa aus dem sechzehnten Jahrhundert, im langen Kleid, um die Gäste zu empfangen, mit denen ich meinen achtzehnten Geburtstag feiern will, und niemand kommt, wann hätte diese Wunde verheilen sollen? (In Wirklichkeit kamen ein paar, fünfzehn, zwanzig Leute von zweihundert Eingeladenen, die Villa war praktisch leer, und ich im Park, in den Salons, fett.)

3

Es gibt ein Foto, auf dem bin ich mit Federica, Livia, Simona. Hinter uns Massimo und ein kleiner Blonder, dessen Namen ich nicht mehr weiß.

Wir sind sechzehn Jahre alt, Livia siebzehn. Das muss einen Monat vor ihrem Verschwinden gewesen sein, das letzte Foto von Livia vor ihrem Verschwinden.

Aber bleiben wir bei mir, der Person links von Federica.

Wer bin ich damals? Eine Jugendliche aus der Provinz, die nach der Trennung der Eltern in die Stadt gezogen ist. Vater Dorfprominenz (Anwalt, Arzt, ist nicht wichtig), Mutter Nichtstuerin.

Wer bin ich in der Schule des Wohnviertels, in die lauter Akademikerkinder gehen? Wer sonst als ein dickes, trauriges, verängstigtes, gehemmtes, verspottetes Mädchen, das schreien könnte vor Wut: Ich lauf in die Schule und knall alle ab, Mama! Wenn es damals Internet gegeben hätte, wenn Mobbing unter Schülern eine Straftat gewesen wäre, wäre ich im Jugendgefängnis gelandet oder in einer Erziehungsanstalt, anstatt dieser unglückliche Mensch zu sein, der den Hörer aufnimmt, eine Nummer wählt, sagt: »Du kennst mich nicht, ich liebe dich.« Oder auch: »Ihr Sohn nimmt Drogen.« Anonyme Anrufe. Beleidigungen, Liebeserklärungen durch den Telefonhörer.

Und eine Zeit lang ist der Mensch an meiner Seite Federica.

 

Ich schämte mich für unsere Wohnung (wir lebten mit meiner Großmutter wie arme Leute aus dem Süden), daher ging ich zu ihr.

Federica lag in ihrem Zimmer auf dem blauen Teppich und seufzte: Manchmal würde ich am liebsten ans andere Ende der Welt abhauen, nach Alaska zum Beispiel.

Tage, Monate. Wir immer im Zimmer.

War das die Jugend? In den Filmen war von etwas anderem die Rede: Was ist mit dem Sex im Auto? Mit den leichtfertigen Selbstmordversuchen der Verliebten? Den schachtelweise geschluckten Xanax und den geritzten Armen? Was ist mit den Lebensgefahren, den Vergewaltigungen in Unterführungen, den Belästigungen in der Familie, der Pille danach (die es damals noch nicht gab)? Was ist mit den ganzen Drogen, die ihr uns versprochen habt? Wann tauchen in unserer Geschichte Männer auf?

So räsonierten zwei übergewichtige junge Mädchen, die unter dem Alleinsein litten. Zwei übergewichtige, aber zupackende junge Mädchen, in die auf ebendiesem Teppich, auf dem sie herumliegen und jammern, aber neues Leben kommt: Wenn unser Leben schlecht läuft, dann soll es auch bei den anderen schlecht laufen.

Also rein in Livias Zimmer, die eine von vielen Briefkarten geschnappt, auf der steht, wo die Party stattfindet.

Im Telefonbuch die Nummer des Clubs suchen.

Hörer in die Hand, Nummer wählen: »Es gibt einen Bombenanschlag, evakuiert das Lokal.«

Auf dem blauen Teppich Augen zu, fantasieren: Menschentrauben drängen sich am Ausgang, alles schreit durcheinander. Wer stolpert, stürzt. Hilfe, flehen dünne Kinderstimmchen, und wir lassen uns auf dem blauen Teppich treiben und freuen uns, dass wir euch entlarvt haben, ihr kleinen Angsthasen.

Das sind die Katastrophenszenen, die in unseren ebenso sadistischen wie harmlosen Überlegungen umso mehr Gestalt annehmen, als nichts, die ganze Teenagerzeit über rein gar nichts passiert, während immer weiter Partys stattfinden, zu denen wir nicht eingeladen sind.

Unsere Versuche der Rebellion lösen sich in Luft auf (wäre Columbine schon passiert, hätte es schon eine Urform gegeben, dann wäre sie Anstoß genug gewesen für uns Frustrierte, die wir kurz davor waren, zu explodieren, gebt uns eine Pistole, einen Sprengsatz).

Arme verschränken auf dem blauen Teppich, uns gleich fühlen, wenigstens wir beide. Auf die gleiche Weise ausgegrenzt.

Doch wir sind verschieden, Federica – möchte ich immer sagen, wenn ich an die Zukunft denke –, du wirst kein Ausgeschlossensein kennenlernen, denn du bist Tochter von Freunden, von Freunden von Freunden, wenn nicht gar von Verwandten; du kommst in die Clubs rein, vor allem in den Jagdclub, zu dem mir der Zutritt verwehrt ist, und du setzt dich dort auf Sofas, und auch wenn du schweigst – du erlaubst dir zu schweigen! –, bleibst du eine von ihnen. In meiner Fantasie springe ich auf: Tu nicht so, als ob du ich wärst – Zeigefinger ausgestreckt –, du mit deiner Mutter, die alle Zähne hat, nicht wie meine, die etruskische Schmuckstücke verkaufen muss, weil mein Vater ihr kein Geld gibt und uns in die Armut treibt, plötzlich in die Armut, was weißt du schon von Elend, Entbehrung, unsicherer Zukunft, Federica.

Auf dem Teppich in deinem Zimmer will ich du sein, gib mir die Hand.

 

Wir waren bestimmt im selben Stückchen Menschsein, als die Tür aufsprang und Livia hereinstürzte.

In Gegenwart des blonden Wesens verstummen wir –  und das ist die lebendigste Erinnerung an die Zeit der Freundschaft mit Federica, an die Tage, die ich bei ihr verbracht habe. Der plötzliche Auftritt ihrer Schwester.

Die Tür springt nach der Party auf, die wir vergeblich sabotiert haben (nachdem wir den Sprengsatz verworfen hatten, optierten wir für ein dezentes »Guten Abend, die Mama des Geburtstagskindes ist gestorben, können Sie das dem Mädchen ausrichten?«).

Um genau zu sein, springt die Tür erst am nächsten Morgen auf, und Livia erscheint und befiehlt uns, sie nicht zu stören, sie sei erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen, doch da klingelt das Telefon, und sie, sehr blond, sehr müde, sagt: Ich bin für niemanden da.

Für gar niemanden?, fragt Federica.

Aber Livia ist schon in ihr Zimmer verschwunden, Sonnentage, Sternennächte, Liebesgeschichten, was soll ihr schon Schlimmes widerfahren.

Hallo, sagt Federica.

Hier ist Massimo, ist Livia da?

 

Lange Beine, schmale Taille, es hatte keinen Tanzkurs und keine Sportstunden gebraucht, um diesen perfekten Körper zu formen. Alles Natur, inklusive Busen.

Da ist sie noch in diesem anmutigen Körper. Livia.

Perfekter Busen, sagten wir. Keine Watte, keine Socken – wir stopften unsere BHs mit Socken aus. Die fleischige Vorwölbung, die bei jeder Bewegung hüpfte, war für sie, für die Welt, so echt, wie sie schmerzhaft war für uns, die wir gerade erst erblühten, mit unseren kleinen Brüsten, asymmetrisch bei mir, so asymmetrisch, dass sie Verkleidung erforderten, dicke Strickjacken. Im Entstehen begriffene Geschöpfe, schiefe, auf Richtigstellung hoffende Wesen (wenn sich das mit dem Wachstum nicht ausgleiche – hatte der Endokrinologe gesagt –, müsse man operieren. Und ich, nackt, versuche, mich mit den Armen zu bedecken, starre auf den Boden, damit ich dieses missgebildete Ding nicht im Spiegel sehe).

Wir, die mit dem Brandmal.

Das waren wir, verglichen mit Livia, und ihr Müll erinnerte uns immer nur an den Unterschied. Blonde Haare im Waschbecken, herumliegende Tampons, wo wir Mädchen Binden gewohnt waren, des Gerüchtes wegen: Tampons entjungfern.

Wir mussten nur das gemeinsame Bad oder ihr Zimmer betreten. Zwischen ihren Sachen herumgehen, nach etwas greifen, das sie berührt hatte, um uns daran zu erinnern, dass wir zweitrangige Gestalten waren; wenn jemand einen Film gedreht hätte, wären wir in Livias tollem Leben die Statistinnen gewesen. Stellen wir uns vor, die Hauptdarstellerin rennt einen Strand entlang, sitzt auf einer Schaukel, Haare im Wind, oder dreht auf einem Eislaufplatz Pirouetten.

Damals hätte niemand vermutet, was wirklich passieren würde, dass es eine letzte Szene geben könnte. Und falls sich damals doch jemand das Ende von Livias Jugend ausgemalt hätte, wäre es eine Hochzeit gewesen. Tauben, Rosenblätter.

Doch nein: In dieser Geschichte, in dieser wahren Geschichte, fällt kein Blütenblatt, keine Taube fliegt davon als Start in ein neues Leben.

 

In meiner ganz persönlichen postumen Rekonstruktion, wie ich das immer nannte, wenn mich jemand nach jener Nacht fragte, erscheint Livia im letzten Bild in strahlend hellem Licht. Wer weiß, was es für die anderen war. Welches Bild Schwester, Eltern, Freunde von ihr bewahrten. Es wird für niemanden das Gleiche gewesen sein.

Ich schließe die Augen, seit damals ist Livia immer, wenn ich die Augen schließe, im Licht und im nächsten Moment nicht mehr. Eine Mahnung, dass die schönen Dinge von kurzer Dauer sind, denken wir nur an die Schmetterlinge, nehmen wir die Schmetterlinge.

An ihrem letzten Tag als Schmetterling verlässt Livia das Licht. Sie verlässt das Licht und hüllt sich in ihr Handtuch.

Federica sagt, die Probleme mit Massimo müsse sie selber klären, sie sei nicht ihre Sekretärin.

Livia seufzt. Und verschwindet.

4

Livia ignorierte den Dermatologen, der ihr die künstliche Bräune verboten hatte, und ließ sich eine Sonnenbank schenken. Ihre Haut sei zart, die schädlichen UV-Strahlen würden womöglich den Alterungsprozess beschleunigen. Wolle sie etwa wie eine Dreißigjährige aussehen? Wenn sie lange jung bleiben wolle, dürfe sie sich nur wenig der Sonne aussetzen und, wenn überhaupt, mit komplettem Schutz.

Nun klang das Wort Alterungsprozess damals wie Mondlandung oder Atomkrieg. Mithin schlug Livia die Warnung in den Wind. Und außerdem: Weißt du, was es bedeutet, die Einzige an der ganzen Schule zu sein, die dieses Ding besitzt? Manche hatten das Modell fürs Gesicht, aber keinesfalls die Bank, die gab es nur in Kosmetikstudios. Die Freundinnen bettelten darum, sie benutzen zu dürfen, sie erlaubte es. Selten, sie wollte die Einzige sein, die zu jeder Jahreszeit gebräunt war.

Doch wenn ihre Schönheit überhaupt jemals in Gefahr war, dann in Wahrheit nur durch die Sonnenbank, die auf eine Stunde, dreißig Minuten, zwanzig, noch einmal zehn, nur noch zehn Minuten eingestellt war.

Oft verbrannte sie sich die Haut, die sich dann schälte und das rohe Fleisch bloßlegte, worüber die Mutter sich aufregte: Du verunstaltest dich.

Im Rückblick war das eine Vorwegnahme der Zukunft.

Livia, die mit ihrem Glück spielte, die sich ruinierte und schöner wiederauflebte, auf ewig schön, Livia, die durchs Feuer ging, dabei waren wir doch vom gleichen Feuer gezeichnet (nach einem weiteren Jahr hatte sich die Brust immer noch nicht angeglichen, im Gegenteil: Die rechte war gewachsen. Was soll ich machen?, schrie ich meine Mutter an. Ich bin eine Missgeburt, was für den Jahrmarkt!).

 

Wenn ich an Livia denke, die Male, die ich in diesen Jahren an sie gedacht habe, sehe ich sie aus der Sonnenbank auftauchen, in dieser Szene, die für mich die letzte ist.

Die Gedanken laufen zurück, noch weiter zurück, jeder Gegenstand leuchtet.

Federica reißt die Tür des Zimmers auf. Massimo ist da, vermeldet sie.

Sag ihm, ich bin nicht da.

Ich hab ihm schon gesagt, dass du da bist.

Die Sonnenbank verströmt Licht wie eine Raumkapsel.

Jetzt komm schon!

Die Klappe hebt sich, und in dem lumineszierenden Schimmer zeichnet sich Livia ab. In der Erinnerung – ich bin da, hinter Federica – ist sie nackt, oben und unten, wo ein blonder Busch sitzt (ein weiterer Beleg für die Regel, dass die Kinder von Reichen blond sind; hier sind die gelungensten Kinder von Reichen auch zwischen den Beinen blond).

An ihrem letzten Tag als Schmetterling erhebt Livia sich also von der Sonnenbank, nimmt das Handtuch, umhüllt sich mit gelangweilter Geste. Sie seufzt. In meiner Erinnerung verliert sich ihre Spur direkt nach diesem Augenblick. Welches Ende hat sie genommen, werden sich viele fragen. Was ist dem blonden Mädchen zugestoßen. Wir weinen, wir beten.

5

Wir verlassen die Vergangenheit und kehren in die Gegenwart zurück, zu der bekannten Schriftstellerin, die, aus Cagliari gelandet, ein Taxi zum Ort des Interviews nimmt, Fünf-Sterne-Hotel, Altstadt. Verweilen wir bei der ernsten Person, die auf die Interviewpartnerin wartet, welche sich, als sie kommt, für die Verspätung entschuldigt, vierzig Minuten Verspätung, und sie erwidert, kein Problem, die augenblickliche Antipathie überspielend, man kann es auch Unduldsamkeit nennen, erweitert auf die Kategorie – nicht der Schauspieler, sondern der jungen Leute, dieser arroganten jungen Leute mit ihrem plötzlichen Erfolg, die glauben, ihnen gehörte die Welt.

 

Gemeinsamkeiten mit der Figur, die Sie spielen?, frage ich die junge, blutjunge Schauspielerin, die von Nahem noch jünger ist und so klein. In ihr rosa Pelzjäckchen gehüllt, knöpft sie den Kragen des Pelzes zu und sagt: Mir ist kalt, ich friere leicht.

Dann tu dir mal was um die Beine, denke ich. Im Winter mit nackten Beinen und Minirock durch die Gegend laufen, würde ich gern lospoltern, aber ich sage nichts, sie ist nicht meine Tochter.

Ich setze mein Interview fort, mache mit banalen Fragen weiter – das Gefühl, sich auf dem großen Bildschirm zu sehen? –, auf die banale Antworten folgen, die ich auch alleine hätte niederschreiben können, ich wäre imstande gewesen, Wort für Wort alles zu berichten, was die Schauspielerin sagt, das Treffen hätte ich mir sparen können, die Vorhersehbarkeit der Gedanken, der mit Mittelmaß gepaarte Größenwahn dieser jungen Frau mit ihrem flüchtigen Erfolg, denn das ist alles von kurzer Dauer, und sie wird in Vergessenheit geraten. Junge Leute mit der Lust am Schein, Schauspieler, Sängerinnen. Zum Glück ist Anita anders, Anita hatte immer schon höhere Ambitionen. Die Komplimente, die sie als kleines Mädchen bekam: die geborene Schauspielerin. Und was für eine Stimme. Ja, meine Tochter hat eine tiefe Stimme, eine Altstimme, vielleicht, wenn sie gewollt hätte. Und dann mit meinen Kontakten und denen des Vaters. Doch sie hat den mühsamen Weg gewählt. Was willst du mal werden? Kinderärztin, antwortete sie. Im Lauf der Jahre: Kinderärztin, Lehrerin, Staatsanwältin, Tierärztin – ihre Tierliebe.

Meine Tochter hätte das Mädchen im rosa Pelzjäckchen werden können, und sie ist es nicht.

Diese junge Frau, die meine Fragen beantwortet – wie fühlt man sich, wenn man mit dreiundzwanzig berühmt ist?[1] – und dabei nach einem Kissen greift und es sich auf den Schoß legt, und ich sehe sie – in Hotelzimmern –, ich sehe sie nach Männern greifen. In Betten Männerköpfe packen und an sich ziehen, herrisch. Aufstehen, nackt herumlaufen, sich eine Zigarette anstecken, obwohl sie nicht raucht – stelle ich während des Interviews fest –, aber in meiner Vorstellung geht sie auf die Terrasse, steckt sich eine Zigarette an. Und es ist nicht meine Tochter, zum Glück ist dieses rosa Wesen nicht meine Tochter – verschmelzen wir es mit dem Pelz, es wird eins mit dem Pelz –, das zwischen zwei Fragen kundtut, nicht gefrühstückt zu haben. Manchmal vergesse ich zu essen, sagt sie, dann muss sie mich dran erinnern, und deutet auf die Pressefrau. Das ist nicht meine Tochter, dieses Geschöpf, das ich frage, ob es vielleicht ein Tramezzino möchte, irgendetwas, und es schüttelt den Kopf.

Im Taxi entwerfe ich einen Anruf bei der Zeitung, bei dem ich klipp und klar sage: Nie wieder. Gebt mir Philosophen, Intellektuelle, Leute meines Niveaus – kurzer Hinweis auf die eigene Anerkennung durch Preise und Übersetzungen im Ausland.

Anstelle der Zeitung rufe ich Anita an und weiß schon, dass sie nicht drangehen wird.

Zu beschäftigt mit ihren Angelegenheiten, das Londoner Leben, dessen Details der Vater kennt, ihm vertraut sie sich an. Und nicht erst jetzt, schon als Kind. Auf Streit aus bei mir, zugänglich bei ihm. Sie fand, dass ich es ihm gegenüber an Respekt fehlen lasse (sprich: Ich habe ihn betrogen. Ich merkte es an den Blicken, an irgendeinem dahingeworfenen Satz – wo warst du, Mama? Den ganzen Tag verschwunden – vorwurfsvolles Lächeln). Sie nahm den Vater sehr entschieden in Schutz, in ihren Augen war ich es, die ihn verlassen hat. Wir gehen mal über das Detail hinweg, dass die Geschichte anders gelaufen ist.

Und so muss ich heute ihn anrufen, um Neuigkeiten von unserer Tochter zu erfahren, die es schafft, wochenlang nicht ans Telefon zu gehen und WhatsApp-Bitten –  melde dich – zu ignorieren. Blaues Häkchen, keine Antwort. Und ich flehe: Sag mir nur, dass es dir gut geht.

Der Vater rechtfertigt sie: Sie studiert, sie hat keine Minute. Klar fragt sie nach dir! Warum sollte sie sauer sein, du bist ja paranoid, hat er mir schon vorgeworfen. Auch jetzt, als er beim dritten Mal Klingeln drangeht, ist er so wie immer: freundlich, aufmerksam. Alles in Ordnung, sagt er, sie ist gestern am späten Abend angekommen.

Angekommen?

Er begreift, dass Anita mir den Besuch verheimlicht hat, und beeilt sich, sie zu verteidigen: Sie wollte dich nicht stören, sie wusste, dass du weg warst.

Ich beschwere mich über ihre Achtlosigkeit mir gegenüber, die vollkommene Gleichgültigkeit.

Was habe ich falsch gemacht, frage ich.

Der Vater spielt die Sache weiter herunter: Sie ist auf der Durchreise.

Draußen vor dem Fenster drängeln sich die Autos, der römische Verkehr.

Meine Tochter ist in der Stadt, und der Vater hat sich nicht um Treffen bemüht. Sie hatte keine Lust? Es wäre seine Aufgabe gewesen, sie dazu zu zwingen. Schluss mit dem sanften Druck, Schluss mit den Rechtfertigungen, sie ist zwanzig Jahre alt. Weißt du, was ich mit zwanzig gemacht habe?, sage ich, auf Wunder was für Verpflichtungen und Opfer anspielend, ich mit zwanzig – während ich dem Taxifahrer das neue Ziel mitteile. Ich fahre bei meinem Ex vor und zahle und steige aus und gehe, den Koffer mit den kaputten Rollen hinter mir herschleifend, an die Haustür.

Es ist die Szene der Ehefrau, die ihren Mann in flagranti erwischt. Ist das nicht auch Untreue? Kann es nicht sein, dass, wenn man die Protagonisten vertauscht, dies genauso als Übergriff wahrgenommen wird?

Väter, die Ehefrauen betrügen, betrügen Töchter.

Töchter, die sich wie zurückgewiesene Ehefrauen fühlen.

Väter und Töchter, wie Liebespaare zum Schaden von Müttern Verbündete.

Wer sind die Mütter? Und die Töchter?

Wären die Rollen nicht mehrdeutig fließend, hätten wir glückliche Familien.

Doch wir sind hier, ich bin hier. Und drohe via Sprechanlage: Lasst mich rein, oder ich rufe die Polizei. Und er antwortet: Sie ist wirklich nicht da.

Dann sag mir, wo sie ist.

Sie ist zu einer Freundin und wollte dann direkt zum Flughafen.

Mach auf.

Die Tür schnappt auf. Fahrstuhl, dritter Stock. Mir doch egal, dass es nicht meine Wohnung ist, dass seine Freundin vielleicht da ist, was sie dann auch ist, mir doch egal, wenn ich eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs kriege. Zeigt mich an. Zeigt mich an, schreit es in mir, als ich in die Zimmer gehe, ich schaue sogar in die Schränke und kontrolliere unter den Betten (dies ist eine Geschichte von verschwundenen jungen Menschen. Nach denen in Schränken, unter Betten gesucht wird. Irgendwann wird nach einem von ihnen in einem Vogelkäfig gesucht. Sinnlos öffnet jemand, der nach ihm sucht, den kleinen Käfig. Und dieser Moment wird der Tiefpunkt sein, in diesem Augenblick werden alle Mädchen und alle Jungen geschrumpft, zu einer abstrakten Vorstellung geworden sein. Oder alle Eltern so alt, dass sie nicht auf die Proportionen achten, alle Eltern suchen irgendwann in dieser Geschichte etwas winzig Kleines).

Ich suche derweil Anita. Von Zimmer zu Zimmer, bis ich Blicke auf mir spüre.

Ich würde meinem Ex und seiner Freundin gern Vorwürfe machen, das ist eure Schuld, die Schuld auf sie ausdehnen, sie muss auf jeden Fall Mitwisserin sein, eine massive Front gegen mich als unzumutbare, abwesende, cholerische, zu Depressionen neigende, aggressive Mutter (wetten, er hat ihr erzählt, dass ich die Kleine mal an den Armen gepackt habe, damit sie aufhört zu weinen, meine Fingernägel habe ich reingegraben). Generell gefühlskalt, sadistisch, zu wem auch immer, Test: Wärst du bereit, vor Gericht zu schwören, dass du dich nicht schon mal an anderer Leute Unglück erfreut hast? Dass du kein wohliges Gefühl hattest bei der Nachricht, X habe ihren Job verloren, Y sei bei der Zeitung rausgeworfen worden? Ein Gefühl, mit heiler Haut davongekommen zu sein: nicht ich.

Hatte ich in den Jahren von Frustration, Suche nach Erfolg, sogar des Erfolgs – zum Beweis, dass nicht die Bedingungen uns ändern, bleiben wir im Glück wie im Unglück unverändert missgünstig –, hatte ich in diesen Jahren mir nicht gewünscht, zu Gott gebetet, obwohl ich an seiner Existenz zweifle (wenn er existiert, warum belohnt er mich dann nicht?), gebetet, dass die Schriftstellerin, die mir so ähnlich war, sterben möge? Und wenn das mit dem Tod gar nicht ging, ein Verriss, ein klammheimliches In-Vergessenheit-Geraten, Herr.

Ganz normale Gedanken, viel normaler, als die Leute zuzugeben bereit sind, schade, dass ich diejenige bin, die verurteilt wird, immer ich. Wie billig – würde ich meinem Ex und seiner Freundin am liebsten sagen, stellvertretend für die vielen Menschen, die über mich gerichtet haben, und die Verantwortung für meine schlechte Beziehung zu Anita auf sie abwälzen, sie beschimpfen, wo wart ihr, was habt ihr dazu beigetragen.

Ich senke den Blick. Sie hasst mich, flüstere ich.

Er entgegnet: Nein, das tut sie nicht, dann das übliche Gerede, das Alter, eine kritische Zeit. Die Freundin –  ruhig, klug im Gegensatz zu mir – legt mir jetzt die Hand auf die Schulter. Anita liebt dich abgöttisch, sagt sie.

Und ich schaue sie an – was hat diese Frau, was ich nicht habe? –, ich schaue sie an, während ihre Hand als Trost liegen bleibt, ich schaue sie an und möchte sagen: Nutte. Nutte, zu ihr, die meinen Mann, den ich seit Jahren betrog, mit dreiundfünfzig Jahren in sich verliebt gemacht hat, zu ihr, die berufstätig und wirtschaftlich abgesichert ist, sodass man ihr nicht nachsagen kann, sie wäre aus Eigennutz mit ihm zusammen, im Unterschied zu mir, mir hat seine Verwandtschaft das vorgeworfen –  Emporkömmling, sagten sie über mich. Verfluchte Nutte, zu ihr, die in einer (in meinen Augen heute) fast perfekten Ehe meinen Platz eingenommen hat.

Früher Nachmittag, bürgerliche Einrichtung: Ratet mal, wer hier Vater, Mutter, Kind ist.

Plötzlich die Erkenntnis, dass ich mich lächerlich gemacht habe. Was werden sie von mir denken. Was wird sie sagen, sobald ich aus der Tür bin. Die Ärmste, wird sie sagen.

Eine Anwandlung von Stolz, ich bin Schriftstellerin. Ich könnte die unzähligen Briefe vorzeigen, die ich erhalte, die ich erhalten habe, aufzählen, wie viele Leute zu mir gekommen sind, um mir die Hand zu schütteln. Großartig, sagten sie. Es hat ein Jahr gegeben, in dem jeder wusste, wer ich war. Ich werde riesengroß – ich, ich, ein Wunschbild-Ich bläht sich auf –, straffe die Schultern. Ich sei hier in der Nähe verabredet, sage ich.

Mein Ex bietet mir an, mich hinzubringen. Ich lehne ab, nur ein paar Schritte von hier.

Dann mache ich mich davon, hinter mir der Koffer mit den kaputten Rollen, ein Klotz am Bein, wie wenn man ein Kind hinter sich herzieht, das nicht mitwill.

6

Ich bin nicht verabredet, und Federica wohnt auch nicht ein paar Straßen weiter. Sie habe ich angerufen, als ich das Haus meines Ex verließ, sie habe ich gefragt: Kann ich kommen?

Keine Erklärung meinerseits, keine Frage ihrerseits. Willkommen in der Vertrautheit. Im Verständnis, das keine Worte braucht. Die Schwesterlichkeit, die ausschließlich während der Teenagerzeit entsteht und die trotz aller Distanz, trotz dreißig Jahren Abstand in den Zellen, im Körper fortdauert, so wie die Jugend im Kopf, siehe Alzheimer. Man braucht sich nur die Leute anzuschauen, die an Alzheimer leiden – ich kannte das Verhalten von meiner Großmutter väterlicherseits: Sie verlieren ihr Kurzzeitgedächtnis, bestehen bleibt das Langzeitgedächtnis, nicht selten wird die Vergangenheit zur Gegenwart – Babbo, flehte meine Großmutter. Die Vergangenheit wird zur Gegenwart, wie in diesen Straßen, die jetzt die Straßen mit sechzehn sind. Die Glyzinien.