Die Schönheitslinie - Alan Hollinghurst - E-Book
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Die Schönheitslinie E-Book

Alan Hollinghurst

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Beschreibung

Sommer 1983. Als der zwanzigjährige Nick Guest eine Dachkammer bei den Feddens im reichen Londoner Stadtteil Notting Hill bezieht, taucht er in eine ihm bis dahin völlig fremde Welt ein. Nicks Entwicklung vom kleinbürgerlichen Provinzler zum dandyhaften Kosmopoliten ist gleichzeitig ein großartiges Sittengemälde der Thatcher-Ära, für das Hollinghurst mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde.

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Inhaltsverzeichnis

WidmungDer Liebesakkord - (1983)
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6
»Zu wem gehörst du so schön?« - (1986)
Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12
Das Ende der Straße - (1987)
Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18
Copyright

Für Francis Wyndham

Was weißt Du von dieser Angelegenheit?« fragte der König Alice.

»Nichts«, sagte Alice.

»Nicht das geringste?« forschte der König weiter.

»Nicht das geringste«, sagte Alice.

»Das ist sehr wichtig«, sagte der König, zu den Schöffen gewandt. Die wollten sich das gerade aufschreiben, als das Weiße Kaninchen einfiel: »Unwichtig meinen Euer Majestät natürlich«, sagte es sehr unterwürfig, doch runzelte es dabei die Stirn und schnitt allerlei Gesichter.

»Unwichtig meinte ich natürlich«, verbesserte sich der König rasch und murmelte dann halblaut vor sich hin: »Wichtig – unwichtig  – wichtig – unwichtig –«, als wollte er ausprobieren, was von beiden besser klang.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland

Der Liebesakkord

(1983)

1

Peter Crowthers Machwerk über die Wahl lag schon in den Buchhandlungen aus. Es hieß Erdrutsch!, und der Verkäufer bei Dillon’s hatte das Schaufenster sinnigerweise mit einem Modell der gleichnamigen Naturkatastrophe dekoriert. Die Bücher mit dem mattgoldenen Konterfei der triumphierenden Premierministerin auf dem Umschlag kamen dem Betrachter als schimmernde Lawine entgegen. Nick blieb draußen auf der Straße stehen und betrat dann den Laden, um sich das Buch anzusehen. Peter Crowther hatte er einmal kennen gelernt; er war ihm als Auftragsschreiber geschildert worden, als Zeilenschinder, aber auch als »scharfer Analytiker«: Das schwache Lächeln, das sich jetzt beim Durchblättern des Buches einstellte, verbarg nur Nicks Unsicherheit darüber, welche Einschätzung der Wahrheit näher kam. Das Tempo, mit dem Crowther das Buch herausgehauen hatte – die Wahl lag gerade mal zwei Monate zurück –, hatte eindeutig etwas von Schinderei an sich, von seinem Schreibstil ganz abgesehen. Die Schärfe des Buches beschränkte sich anscheinend nur auf die Anstrengungen der Opposition. Nick sah sich alle Fotos genau an, aber nur auf einem war Gerald zu sehen: ein Gruppenbild der »101 neuen Parlamentsmitglieder der Torys«, auf dem Gerald sich in die erste Reihe gemogelt hatte, weil er schnell genug gewesen war oder einfach nur clever. Er lachte und sah in die Kamera, als säße er im Geiste schon auf der Regierungsbank. Das Lachen, der weiße Kragen auf dem dunklen Hemd, das schlaffe Brusttuch – man würde noch über ihn sprechen, wenn die alten Knaben in den Reihen hinter ihm zu einem schwachen Grinsen und Stirnrunzeln verblasst wären. Dennoch, im Text wurde er nur zwei Mal erwähnt: als »Bonvivant« und als Angehöriger jener »schwindenden Minderheit« der konservativen Parlamentsmitglieder, die ganz offensichtlich Privatschule und Oxbridge durchlaufen hatten, »wie bei Gerald Fedden, dem neuen Abgeordneten für den Kreis Barwick, nicht zu übersehen war«. Achselzuckend verließ Nick die Buchhandlung, doch draußen auf der Straße spürte er, etwas verzögert, Stolz darauf, dass das Foto eines Bekannten von ihm in einem Buch abgedruckt war.

Heute Abend, acht Uhr, war er zu einem Blinddate verabredet, und der heiße Augusttag war bestimmt vom Flimmern der Nerven, unterbrochen von Schönwetterperioden lüsterner Träumereien. Das Date war nicht gänzlich »blind« – »nur sehr kurzsichtig«, wie Catherine Fedden sich ausgedrückt hatte, als Nick ihr das Foto und den Brief gezeigt hatte. Anscheinend gefiel ihr das Äußere des Mannes, der Leo hieß und auch gut ihr Typ hätte sein können, wie sie gestand; nur seine Handschrift erschreckte sie: Sie wirkte kunstvoll und gleichzeitig ungestüm. Catherine besaß ein Taschenbuch, Grafologie: Der Charakter in der Hand, das alle möglichen Warnungen vor den Neigungen und Hemmungen der Menschen enthielt (»Künstler oder Verrückter?«, »Schoßhündchen oder Reißwolf?«). »Diese wahnsinnigen Oberlängen, Darling«, sagte sie. »Dahinter steckt jede Menge Ego.« Wieder hatten sie sich mit spitzen Lippen über den kleinen Bogen billigen, blauen Briefpapiers gebeugt. »Und das bedeutet nicht zufällig bloß einen starken Sexualtrieb?«, fragte Nick. Sie hatte das verneint. Er war sehr aufgewühlt und sogar ziemlich gerührt über diesen Brief eines völlig fremden Menschen; aber es stimmte, der Text an sich weckte kaum Erwartungen. »Nick – OK! Habe deinen Brief erhalten. Arbeite in der Personalabteilung (London, Bezirk Brent). Wir können uns treffen, uns über Interessen und Wünsche unterhalten. Wann? Wo?« – und dann ein riesiges, wucherndes L für Leo, das die ganze untere Hälfte des Blattes einnahm.

Wenige Wochen zuvor war Nick in das große, weiße Haus der Feddens in Notting Hill eingezogen. Sein Zimmer befand sich unterm Dach und war mit seinem Fluidum von Teenager-Heimlichkeiten und -Trotz eindeutig dem Kinderbereich zuzuordnen. Tobys aufgeräumte Bude lag am Kopf der Treppe, Nicks Zimmer ein Stück weiter den durch eine Dachluke erhellten Flur entlang und Catherines am Ende. Nick hatte keine Geschwister, aber hier konnte er sich in die Rolle eines verlorenen mittleren Kindes hineinversetzen. Es war Toby, der ihn hergebracht hatte, früher schon, in den Ferien, seine »Saison« in London über – eine lang anhaltende, anregende Auszeit von seiner eigenen, alles andere als glanzvollen Familie –; und es war Toby, dessen Gestalt, halb bekleidet, noch immer hier herumspukte. Toby selbst wusste wahrscheinlich bis heute nicht, warum er und Nick Freunde waren, hatte aber diese unumstößliche Tatsache freundlich anerkannt. In diesen Monaten nach dem letzten Semester in Oxford war er kaum je da, und Nick wurde an Tobys kleine Schwester und ihre gastfreundliche Familie weitergereicht. Er war ein Freund der Familie, und er hatte etwas an sich, dem sie vertrauten, eine Ernsthaftigkeit, einen gewissen scheuen Glanz, etwas, das für Nick selbst nie ganz ersichtlich war, was der Familie aber bei der Entscheidung, ihn als Mieter aufzunehmen, entgegenkam. Als Gerald Nicks heimatlichen Wahlbezirk Barwick für sich erobert hatte, wurde diese Regelung als Logik der Poesie bejubelt, beziehungsweise des Schicksals.

Gerald und Rachel weilten noch immer in Frankreich, und beinahe bedauerte Nick ihre Rückkehr Ende des Monats. Jeden Morgen kam die Haushälterin, um die Mahlzeiten für den Tag vorzubereiten, und Geralds Sekretärin, Sonnenbrille in die Haare geschoben, schaute vorbei und widmete sich den beeindruckenden Mengen an Post. Der Gärtner kündigte sich durch den Lärm des Rasenmähers an, der durch ein offenes Fenster ins Haus drang, und Mr. Duke, der Mann für alles, von der Familie mit Euer Gnaden tituliert, kümmerte sich um die anfallenden Reparaturen. Nick hatte sich im Haus niedergelassen und es fast, so kam es ihm vor, für sich in Besitz genommen. Gerne kam er am frühen Abend heim in die Kensington Park Gardens, wenn die Sonnenstrahlen die breite, baumlose Straße beharkten und sich die beiden weißen, verglasten Terrassen wie zwei wohlhabende Nachbarn nachsichtig anstarrten. Ebenso gerne machte er die drei Schlösser der grünen Haustür auf, sperrte sie hinter sich wieder zu und spürte jedes Mal, wenn er in das rot gestrichene Esszimmer blickte oder die Treppe hoch in die beiden Salons ging oder noch weiter nach oben, vorbei an den zwei angelehnten Türen zu den weißen Schlafzimmern, die stille Geborgenheit, die das Haus vermittelte. Die erste Treppe, die sich fächerförmig in die Eingangshalle ergoss, war aus Stein, die oberen Treppen gaben das Vertrauen erweckende Knarren von Eichenholz von sich. Schon sah er sich selbst eines Tages jemanden die Treppe hinaufführen, einem neuen Freund das Haus zeigen – vielleicht Leo –, als wäre es sein eigenes oder würde ihm irgendwann gehören: die Bilder, das Porzellan und die geschwungenen französischen Möbel, die sich von den Möbeln, mit denen er aufgewachsen war, gründlich unterschieden. Die Spiegelungen in dem dunklen polierten Holz gesellten sich wie blasse Schatten zu ihm. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und das ganze Haus erkundet, von den keilförmigen Schränken unterm Dach bis zur Rumpelkammer im Keller, Letztere war ein finsteres Museum, von Gerald als trou de gloire bezeichnet. Über dem Kamin im Salon hing ein Gemälde von Guardi, eine Vedute von Venedig in einem vergoldeten Rokoko-Rahmen, an der Wand gegenüber zwei große, vergoldete Spiegel. Nick hielt es in diesem Punkt mit seinem Helden Henry James, der »Gold in Mengen gut vertragen konnte«.

Manchmal kam Toby nach Hause, dann war laute Musik im Salon zu hören, oder er saß im Arbeitszimmer seines Vaters und telefonierte in der Weltgeschichte herum, in der Hand einen Gin Tonic – nicht als Hohn gegenüber seinen Eltern zu verstehen, vielmehr als berechtigte Nachahmung dessen, was sie sich selbst an Freiheiten in ihrem Haus gönnten. Er schlenderte in den Garten, riss sich das Hemd vom Leib, warf sich auf einen Liegestuhl und las den Sportteil des Telegraph. Nick beobachtete ihn vom Balkon aus, ging zu ihm hinunter, mit fast atemloser Anspannung; er wusste, dass Toby seinen Körper, den trainierten Körper eines Ruderers, gerne vorzeigte – das wohlfeile Almosen der Schönheit. Sie tranken Bier, und Toby sagte: »Geht’s meiner Schwester gut? Hoffentlich ist sie nicht zu ausgeflippt«, und Nick antwortete: »Es geht ihr gut, ganz gut«, schirmte die Augen gegen die sinkende Augustsonne ab und erwiderte das Lachen – zur Beruhigung, von anderen ungeahnten Emotionen abgesehen.

Catherines Hochs und Tiefs gehörten für Nick zum Mythos des Hauses. Toby hatte ihm eines Abends im College, als Zeichen des Vertrauens, auf einer Bank am See davon erzählt. »Sie ist ziemlich ätherisch«, hatte er gesagt, im Stillen beeindruckt von seiner Wortwahl. »Sie hat so ihre Launen.« Für Nick hatte das ganze Haus, bislang nur in der Vorstellung, das Licht und den Schatten von Launen angenommen, das dort gelebte Leben durchtränkt von Gefühlen so wie die Luft in Oxford vom Geruch des Seewassers. »Früher hat sie sich immer mit einer Rasierklinge die Unterarme aufgeritzt.« Toby war zusammengezuckt. »Zum Glück hat sich das jetzt gelegt.« Das schien provozierender als reine Launenhaftigkeit, und als Nick Catherine kennen lernte, ertappte er sich dabei, wie er gebannt auf ihre Arme starrte. Auf einem Unterarm waren sauber gezogene, parallele Linien zu sehen, einige Zentimeter lang, und auf dem anderen ein Muster aus rechtwinkligen Narben, die man unwillkürlich als Buchstaben las; so als hätte sie versucht, das Wort ELLE zu schreiben. Die Narben waren jedoch längst verheilt, Spuren von etwas, das ansonsten vergessen schien; manchmal fuhr Catherine zerstreut mit einem Finger darüber.

»Sich um unser Kätzchen kümmern«, wie Gerald sich vor der Abfahrt ausgedrückt hatte, damit andeutend, dass die Aufgabe so einfach wie verantwortungsvoll war. Es war Catherines Haus, aber es war Nick, der die Obhut hatte. Sie kampierte hier nur, verunsichert, als wäre sie der Mieter und nicht Nick. Dass ihm die prunkvollen Räume gefielen, darüber wunderte sie sich, und über seine fundierte Liebe zu den Dingen, den Gemälden und Möbeln, machte sie sich lustig. »Was bist du doch für ein überheblicher Snob«, sagte sie mit einem herausfordernden Lachen; bei seiner Herkunft, der Familie, der er sich angeblich überlegen fühlte, war das wie ein Schlag ins Gesicht. »Eigentlich nicht«, sagte Nick, als wäre ein geringes Zugeständnis die beste Zurückweisung. »Ich liebe einfach nur schöne Dinge.« Catherine sah sich amüsiert um, als ginge es um einen Haufen Trödel. Während der Abwesenheit der Eltern beschränkten sich ihre Triebe auf bescheidene Verstöße, hauptsächlich Rauchen, und sie nahm Fremde auf ihr Zimmer mit. Eines Abends kam Nick nach Hause und erwischte sie dabei, wie sie mit einem alten schwarzen Minicab-Fahrer in der Küche saß und trank und ihm verriet, wie hoch der Hausstand versichert war.

Mit neunzehn konnte sie bereits eine Liste gescheiterter Liebschaften vorweisen, jede versehen mit einem vernichtenden Attribut  – manchmal war das der einzige Name, unter dem Nick die Männer kannte: »Filzlaus«, »Bügelfrei« oder »Quantitätsprüfer«. Viele schienen bewusst aufgrund ihrer Unverträglichkeit mit dem Stil, der in den Kensington Park Gardens herrschte, ausgesucht worden zu sein: ein pennerhafter Waliser um die vierzig, den sie auf der Schallplattenbörse in Notting Hill kennen gelernt hatte; ein hübscher, kleiner Punk, der sich FUCK auf den Hals hatte tätowieren lassen; ein Rastafari, der ein paar Häuser weiter wohnte und dauernd prophetisch von Babylon und Thatchers Niedergang faselte; Internatsschüler und aalglatte junge Selbstständige, die in der Thatcher-Baisse auf Abenteuer aus waren. Catherine war schmächtig, doch von rücksichtsloser Körperlichkeit; was die Männer an ihr anzog, schreckte sie gleichzeitig ab. Nick, in seiner heimlichen Unschuld, hatte einen gewissen Respekt vor ihren Erfahrungen mit Männern: So viel Scheitern erforderte ein hohes Maß an vorherigem Erfolg. Wie attraktiv sie war, konnte er nie recht beurteilen. Die genetische Mischung zweier gut aussehender Elternteile hatte in ihrem Fall etwas anderes hervorgebracht als Tobys verschlafene Schönheit: Geralds breiter, Vertrauen erweckender Mund, etwas unbeholfen in Rachels schlankes, ovales Gesicht gedrückt.

Catherines Gefühle befielen immer zuerst ihren Mund. Sie hatte eine Vorliebe für alles Satirische, und sie war eine gute Stimmenimitatorin. Wenn sie und Nick etwas getrunken hatten, machte sie gekonnt die Familienmitglieder nach, was einem das seltsame Gefühl gab, als wären sie anwesend: Gerald mit seinem unverdrossenen Gedröhn, seiner Vorliebe für alles Prächtige, seinen Lieblingszitaten aus den Alice-Büchern. »Wirklich, Catherine«, protestierte Catherine, »du kannst die Geduld einer Auster strapazieren.« Oder: »Können Sie noch die vier Grundrechenarten aufsagen, Nick? Zusammenquälen, Abmühen, Rannehmen und Keilen…?« Mit einem Gespür für bloßstellende, schlechte Manieren fiel Nick in das Spiel ein. Es war Rachels Stil, ein ebenso aristokratischer wie distanziert fremdländischer Code, der ihn eher fesselte. Ihr group klang fast deutsch, nach etwas, dem sie niemals angehören würde; ihr philistine, französisch ausgesprochen, schien implizit jeden mit einzubeziehen, der es anders aussprach. Nick probierte das bei Catherine aus, die lachte, aber nicht sonderlich beeindruckt wirkte. Toby nachzumachen, damit durfte man ihr nicht kommen, und es stimmte, dass er schwierig zu »treffen« war. Sie hatte noch eine komische Nummer mit ihrer Patentante im Programm, der Duchess of Flintshire, die als schlichte Sharon Feingold auf der Cranborne Chase School Rachels beste Freundin gewesen war und deren Präsenz ihrem Witz über Mr. Duke, dem »Mädchen für alles«, eine gewisse Durchtriebenheit verlieh. Der Duke, den Sharon geheiratet hatte, hatte einen krummen Rücken und ein verfallenes Schloss, und das mit Essig gemachte Vermögen der Feingolds kam ihm durchaus gelegen. Noch hatte Nick die Herzogin nicht kennen gelernt, aber nach Catherines Darstellung ihrer Person als gedankenloser, gesellschaftlicher Dynamo hatte er den Eindruck, das Vergnügen könnte ohne die übliche Begleitangst über die Bühne gehen.

Seine Schwärmerei für ihren Bruder hatte Nick Catherine nie preisgegeben. Er befürchtete, sie könnte das komisch finden. Über Leo allerdings sprachen sie in der Woche des Wartens häufig, einer Woche, die dahinkroch, wie im Flug verging und dann wieder dahinkroch. Sie hatten nicht viel, an das sie sich halten konnten; für zwei mit lebhafter Fantasie ausgestattete Menschen reichte es jedoch, daraus einen Charakter zu formen: der hellblaue Briefbogen; die kuriosen Oberlängen der Buchstaben; seine Telefonstimme, die nur Nick vernommen hatte, in dem gestelzten, munteren Geplauder, mit dem sie endgültig ihre Verabredung trafen, und die neutral klang, nach London, nicht erkennbar einem Schwarzen zugehörig, aus der er jedoch eine spezielle Ironie und einen Mangel an Erwartung herausgehört hatte; und schließlich das Farbfoto, das bewies, dass Leo, wenn schon nicht ganz so hübsch, wie behauptet, wenigstens eines Blickes würdig war. Er saß auf einer Parkbank, von der Taille an aufwärts zu sehen, zurückgelehnt – schwer zu sagen, wie groß er war. Er trug eine dunkle Bomberjacke und blickte misstrauisch in die Ferne, was scheinbar einen Schatten auf seinen Gesichtszügen erzeugte, vielleicht aber auch ein Schatten war, der aus den Gesichtszügen selbst aufstieg. Hinter ihm war das silbergraue obere Rahmenrohr eines Rennrads zu erkennen, das an der Bank lehnte.

Die Kernaussage der ursprünglichen Anzeige – »Schwarzer, Ende 20, attraktiv, Interessen: Kino, Musik, Politik, sucht intelligenten Gleichgesinnten, 18–40« – wurde durch Nicks anschließende Fantasien und Catherines Vorahnungen, welche Leo immer stärker auf ihr eigenes Terrain aus krudem Sex und bösen Absichten zerrte, halb verwischt. Manchmal sogar musste sich Nick in Erinnerung rufen, dass er und nicht Catherine mit Leo verabredet war. An besagtem Abend lief er nach Hause und ging noch mal die Bedingungen durch, und er wurde das Gefühl nicht los, dass er den Erwartungen seines neuen Lovers nicht ganz entsprach. Er war intelligent, hatte gerade einen Spitzenabschluss in Oxford gemacht, aber unter Musik und Politik verstand jeder Mensch etwas anderes. Wenigstens gab ihm die Bekanntschaft mit den Feddens einen Pluspunkt. Das Altersspektrum fand er annehmbar. Er war gerade erst zwanzig, und wäre er doppelt so alt gewesen, Leo hätte ihn noch immer begehrt. Vielleicht blieb er ja zwanzig Jahre lang mit Leo zusammen, so deutete er jedenfalls das in der Anzeige versteckte Versprechen.

Die Post der zweiten Auslieferung lag noch immer verstreut in der Eingangshalle, und von oben kam kein Geräusch; dennoch spürte er, nach der Luft zu urteilen, die aufgeladen schien, dass er sich nicht allein im Haus befand. Er hob die Briefe auf; Gerald hatte ihm eine Ansichtskarte geschrieben, eine Schwarzweißaufnahme eines romanischen Portals, beidseitig mit Heiligenfiguren und im Tympanon mit einer sehr lebendigen Darstellung des Jüngsten Gerichts versehen. »Eglise de Podier, XII siècle.« Gerald hatte eine große, flatterige Handschrift, bei der die meisten Buchstaben weggelassen wurden, da sie wahrscheinlich mit der sehr dicken Schreibfeder, die er benutzte, unvereinbar waren. Der Autor von Grafologie hätte vermutlich ein ebenso großes Ego wie bei Leo diagnostiziert, der Haupteindruck allerdings war der einer geradezu flüchtigen Eile. Seine Abschiedsfloskel konnte »Alles Liebe« heißen, aber auch »Schönen Gruß« und sogar »Hallo daheim« – so wusste man nie, woran man bei ihm war. Nick entnahm dem, dass es ihm und seiner Frau ganz gut ging. Er freute sich über die Karte, aber sie zeugte wie ein Vorbote davon, dass die Augustidylle bald ihr Ende finden würde.

Er ging in die Küche, in der Catherine natürlich bereits wieder Unordnung angerichtet hatte, nachdem Elena den Raum wie üblich am frühen Morgen geputzt hatte. Die Besteckschubladen standen offen und hingen tief herunter. Man konnte den Eindruck gewinnen, ein Eindringling hätte sich bedient. Nick eilte ins Esszimmer, aber die Boulle-Uhr auf dem Kaminsims tickte wie sonst auch, der Safe für das Silbergeschirr war verschlossen, und die beiden Lenbach-Porträts von Rachels Vorfahren blickten so ernst wie Leo. Im Salon im ersten Stock waren die Fenster zum geschwungenen hinteren Balkon hin geöffnet, aber die blaue Lagune von Guardi schimmerte und funkelte noch immer über dem Kaminsims. In der verglasten Büchervitrine stand ein Bodenschrank offen. Komisch, dass allein das Bewohnen eines solchen Hauses den Eindruck eines Einbruchs vermitteln konnte. Er sah vom Balkon hinunter, aber auch im Garten war niemand. Bereits etwas ruhiger schritt er die nächsten drei Treppenabsätze hoch, und als sich der Gedanke an Leo wieder seines Gemüts bemächtigte, war es wie eine Linderung der Sorgen, die ihm die Bewachung des Hauses bereitete. Er sah Catherine in ihrem Zimmer umhergehen und rief ihr etwas zu. Eine Windbö hatte die Tür zu seinem eigenen Zimmer zugeschlagen, in dem es jetzt stickig war, die Rücken der Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch am Fenster waren von der Sonne heiß geworden und hatten sich verzogen. »Für einen Moment dachte ich, es wäre jemand eingebrochen«, sagte er, aber die Angst davor war bereits wieder verflogen.

Er holte zwei Hemden auf Kleiderbügeln aus dem Schrank und schaute in den Spiegel, als Catherine ins Zimmer trat und sich hinter ihn stellte. Umgehend verspürte er ihr Verlangen, ihn zu berühren, und auch ihr Unvermögen, dem Verlangen nachzugeben. Sie erwiderte seinen Blick im Spiegel nicht, sie sah Nick nur an, sah auf seine Schultern, als wüsste er, was er zu tun hatte. Sie setzte das verwirrte, schräge Lachen eines Menschen auf, der seinen Schmerz kaum im Zaum halten konnte. Nick lachte ebenfalls, etwas breiter, um einige Sekunden Zeit zu gewinnen, als wäre alles nur einer ihrer Streiche. »Blau oder weiß?«, fragte er, hielt sich die beiden Hemden wie Flügel vor den Bauch. Dann ließ er die Arme sinken, und die Hemden glitten zu Boden. Schon sah er den Abend anbrechen und Leo auf seinem Rennrad nach Willesden heimradeln. »Nicht gut genug?«, fragte er.

Sie trat an sein Bett und nahm darauf Platz, beugte sich vor und sah mit ihrem unheilvollen, nur angedeuteten Lächeln zu ihm auf. Tagaus, tagein hatte er sie in diesem luftigen, geblümten Kleid herumlaufen sehen, damit schlenderte sie durch die Gegend, sie hatte es irgendwo in einer Nebenstraße der Portobello Road erstanden, ein Stück, das zu dem Viertel passte oder zu ihrer Vorstellung davon, doch das jetzt, ärmellos, rückenfrei, beinlos, ein richtiges Kleidungsstück kaum mehr war. Nick setzte sich neben sie und drückte sie, rieb ihr den Rücken, als wollte er sie wärmen, obwohl sich ihre Haut bereits warm wie die eines kranken Kindes anfühlte. Sie ließ es mit sich geschehen, rückte dann aber von ihm ab. »Was soll ich dann tun?«, fragte Nick und merkte, dass er am liebsten selbst getröstet werden wollte. In dem tiefen erleuchteten Raum des Spiegels erkannte er zwei junge Menschen, die, unausgesprochen, in einer Krise steckten.

»Kannst du den Kram aus meinem Zimmer wegbringen? Ja. Bring alles nach unten.«

»Gut.«

Nick ging über den Flur in ihr Zimmer, wo wie üblich die Vorhänge zugezogen waren, die Luft erfüllt von abgestandenem Rauch. Der dicke, rote, um den Lampenschirm gewickelte Mull roch brenzlig und filterte das Licht, das auf ein Durcheinander aus Bettlaken, Unterwäsche und Schallplatten fiel. Schubladen und Kommoden waren durchwühlt – hier hatte der eingebildete Einbrecher vermutlich seinen schlimmsten Frust erlitten. Nick sah sich im Zimmer um, und obwohl er allein war, musste er sich eine gutmütige Bereitschaft abringen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sein Verstand arbeitete schnell und verantwortungsbewusst, doch er klammerte sich an die letzten Momente seiner Unkenntnis. Er gab einen tiefen, leisen Laut der Konzentration von sich, überflog mit einem Blick den Tisch, das Bett, den Haufen Müll auf der herrlichen alten Walnusskommode. Das Eckregal hatte ein eingebautes Waschbecken, und auf der gekachelten Einfassung hatte Catherine einige Dinge ausgelegt wie Instrumente vor einer Operation: ein schweres Tranchiermesser, ein Wiegemesser mit zwei Griffen, ein paar fein geschliffene Filetiermesser und die zwei kleinen rundlichen Kneifzangen, mit denen Nick einmal Gerald hatte hantieren sehen, um einen Joint aufzugreifen und weiterzureichen, als hätte er sich sonst selbstständig gemacht. Er sammelte alle Gerätschaften mit einem ungeschickten Klammergriff ein und trug sie niedergeschlagen und mit neuerlichem Respekt nach unten.

Catherine blieb unerbittlich, er solle keine Hilfe holen – Schlimmeres würde sonst folgen, deutete sie an. In seiner Unsicherheit ging Nick auf und ab. Seine Unwissenheit in diesen Dingen war ein Zeichen für seine noch viel größere Unwissenheit über die Welt, die er erst kürzlich betreten hatte. Er stellte sich den schlimmen Schock vor, den ihre Eltern erleiden würden, wenn sie es herausfänden, und er sah schon den Makel auf dem Zeugnis für sein neues Leben bei den Feddens. Er war eben doch unzuverlässig, wie er selbst vermutete und wie auch sie vermutet hatten. Er fürchtete sich davor, sich ins Unrecht zu setzen, hatte aber auch Angst davor zu handeln. Sollte er lieber Toby ausfindig machen? Toby allerdings war für Catherine eine Unperson, der sie höchstens mit unaufmerksamer Höflichkeit begegnete. Nick legte sich im Geiste eine Geschichte zurecht. Er redete sich ein, die Katastrophe wäre erwogen, von allen Blickwinkeln betrachtet und abgewendet worden. Es hätte eine ritualisierte Konfrontation gegeben, die eine Stunde währte, eine Minute, den ganzen Nachmittag – aber vielleicht war es auch mehr als nur ein Ritual gewesen. Jetzt verhielt sich Catherine still, passiv, sie gähnte viel, und Nick fragte sich, ob sich das Geschehen bereits von ihr entfernte, überprüft und durch irgendeinen wirksamen Mechanismus isoliert. Vielleicht hatte sie sein Verhalten schon in ihren Plan mit einbezogen. Auf jeden Fall konnte er unmöglich ablehnen, als sie jetzt sagte: »Lass mich bloß nicht allein.« – »Natürlich nicht«, antwortete er und spürte, wie die Situation, aus großer Ferne betrachtet, ihn beinahe erdrückte. Toby hatte es, unter anderem, einst in ihrem Gespräch am See erwähnt: Es gibt Zeiten, da kann sie nicht allein sein, und sie braucht jemanden an ihrer Seite. Damals hatte Nick sich danach verzehrt, Toby bei dieser Pflicht beizustehen, in das schwierige Liebesverhältnis der Familie einzutauchen. Und jetzt, da sich für ihn am Tresen im Chepstow Castle ein Liebesverhältnis ergeben sollte, stand er da; jetzt war er die Person, die Catherine an ihrer Seite brauchte. Sie konnte es nicht erklären, aber jemand anderes hätte ihr nicht genügt.

Nick geleitete sie nach unten in den Salon, und sie wählte irgendeine Musik aus, ging dafür ans Schallplattenregal, zog blind eine Platte heraus und legte sie auf. Anscheinend wollte sie demonstrieren, dass sie handlungsfähig war, doch dass komplizierte Überlegungen noch zu viel verlangt waren. Abrupt setzte die Musik ein. Der Tonarm kam an der falschen Stelle auf, als erwartete er eine Single. »Ah, ja …!«, sagte Nick. Es war mitten im Scherzo von Schumanns vierter Symphonie. Er behielt Catherine im Auge, und er glaubte, nachvollziehen zu können, wie sie sich von der Musik ergreifen ließ; er sah, wie sie mit der Musik mitging, nicht immer genau wusste, wo sie gerade war, aber sie zeigte sich dankbar und sogar etwas interessiert. Seine eigene Unschlüssigkeit regte ihn auf, doch dann gab er sich einige Takte lang selbst der Musik hin. Das Trio kehrte wieder, doch nur um frische Luft zu schnappen, vor dem magischen Übergang zum Finale, das thematisch ganz offenbar auf dem von Beethovens Fünfter basierte. Er hätte ihr das erklären können, hätte ihr sagen können, dass es eigentlich die zweite Symphonie war und dass alles Material aus dem Eröffnungsmotiv erwuchs, außer dem unerwarteten zweiten Thema des Finales. Er trat zurück und beschloss, im kahlen, aber zweckmäßigen Licht der Verantwortung, nach unten ins Erdgeschoss zu gehen und auf der Stelle Catherines Eltern zu verständigen. Doch dann, kaum hatte er das Zimmer verlassen, fiel ihm Leo ein, und es wurde ihm deutlich bewusst, dass er die einzige Chance, ihn kennen zu lernen, verpassen würde; stattdessen also rief er Leo an und verschob den Anruf nach Frankreich auf später. Er hatte keine Ahnung, wie er es Leo erklären sollte: Nur die Fakten zu nennen, das erschien ihm zu intim für einen Fremden, und eine abgemilderte Version würde sich wie eine billige Entschuldigung anhören. Erneut hatte er das Gefühl, sich ins Unrecht zu setzen. Immer wieder räusperte er sich, während er die Nummer wählte.

Leo war kurz angebunden, aber nur, weil er gerade zu Abend aß und sich noch umziehen musste – Umstände, die Nick aufschlussreich fand. Seine Stimme, mit dem sonst üblichen Reservoir an Spöttischem, hatte jetzt, da Nick sich an sie erinnerte, an Attraktivität verloren. Nick setzte gerade zu seiner Entschuldigung an, aber Leo hatte bereits verstanden, und in liebenswürdigem Ton sagte er, er sei ganz erleichtert, er habe selber viel zu tun. »Oh, das trifft sich ja gut«, sagte Nick, fand dann jedoch sogleich, dass Leo ruhig hätte verärgerter sein können. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht …«, fügte er noch hinzu.

»Das ist schon in Ordnung, mein Freund«, sagte Leo leise, sodass Nick den Eindruck hatte, als wäre jemand bei ihm.

»Trotzdem möchte ich dich immer noch gerne kennen lernen.«

Es folgte eine kurze Pause, bevor Leo sagte: »Unbedingt.«

»Wie wäre es am Wochenende?«

»Nein. Am Wochenende kann ich nicht.«

»Warum nicht?«, hätte Nick am liebsten gefragt, aber die Antwort konnte nur lauten, dass Leo sich noch mit anderen hoffnungsvollen Kandidaten treffen würde, es musste wie bei einer Vorsprechprobe zugehen. »Nächste Woche?«, fragte er mit einem Achselzucken. Er wollte ihn sehen, bevor Gerald und Rachel zurück waren, wollte das Haus für sich haben.

»Ja. Sollen wir zusammen zum Carnival gehen?«, fragte Leo.

»Vielleicht am Samstag – über den Bank-Holiday am Montag sind wir weg. Wir sollten uns für davor verabreden.« Nick sehnte sich nach dem Carnival, aber dachte gleich unterwürfig, das sei eher Leos Element. Schon sah er, wie er Leo bei ihrem ersten Treffen, wenn die ganze Straße sich wie ein einziger starrer Strom bewegte und man nicht umkehren konnte, aus den Augen verlor.

»Das Beste ist, du rufst hier nächste Woche an«, sagte Leo.

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte Nick, redete sich ein, alles sei wunderbar, doch plötzlich fühlte er sich hundeelend, und seine Gesichtszüge versteiften sich. »Hör zu, es tut mir wirklich Leid wegen heute Abend. Ich werde mich revanchieren.« Wieder folgte eine Pause, in der sein Satz wohl bedacht  – und in der womöglich über Nicks gesamte Zukunft entschieden wurde. Doch dann sagte Leo mit einem kehligen Flüstern: »Dafür sorge ich schon!«, und als Nick anfing zu kichern, wurde aufgelegt.

Die kleine Pause war irgendwie verschwörerisch gewesen, eine Verschwörung zwischen Fremden, also alles gar nicht so schlimm, eigentlich sogar wunderbar. Nick legte ebenfalls auf und musterte sich in dem schlanken, vergoldeten Garderobenspiegel. Plötzlich ausgelassen, wie nach einer erleichternden Nachricht, fand er, dass er eigentlich ganz gut aussah, klein, aber kompakt, mit glatter Haut und krausen Haaren. Er konnte sich vorstellen, dass er Leo gefallen würde. Dann wich die Farbe aus seinem Gesicht, und er erklomm die Treppe.

Als es kühler geworden war, gingen Nick und Catherine hinunter in den Garten und noch weiter durch das Tor in den Gemeinschaftsgarten für die Anwohner. Diese Gärten gehörten ebenso zu Nicks Liebesverhältnis zu London wie das Haus an sich: groß wie die Stadtparks in manchen alten europäischen Städten, aber privat, an drei Seiten, hinter viktorianischen Gittern, von dichten Stechpalmenhecken und Gebüsch umgeben. In den umliegenden Straßen gab es ein, zwei Stellen, von denen aus jemand, der keinen Schlüssel zu dem Privatpark besaß, eine Lichtung zwischen den Platanen und hohen Kastanien erkennen konnte – über die vielleicht gerade ein Paar schlenderte oder auf der eine alte Dame auf ihren noch langsameren Hund wartete. Manchmal erhaschte Nick an diesen Sommerabenden, begleitet vom Lied einer Drossel oder Amsel im Baum, den Blick eines jungen Mannes, der am Park vorbeiging, und war unerwartet neidisch auf ihn, obwohl schwer einzuschätzen war, wie ein Lächeln aufgenommen worden wäre, wenn es von der Parkseite gekommen wäre. Es gab versteckte Orte, sogar diesseits des Zauns: einen gewundenen Pfad, wie für ein diskretes Bedürfnis geschaffen, der zur Hütte des Gärtners hinter einem Lärchenzaun führte; die Einfriedung mit dem Sandkasten und der Rutschbahn, wo sich noch immer echte, uniformierte Kindermädchen trafen und hingebungsvoll miteinander klatschten, als täten sie etwas Verbotenes; im hinteren Teil schließlich den Tennisplatz, dessen sich überschneidende Rhythmen aus Aufschlägen, Ballwechseln und Ausrufen den Spaziergänger friedlich an die Strapazen gemahnten, die andere in der Abenddämmerung dieses Augusttages auf sich nahmen.

Von einem Ende zum anderen, gleich hinter der Häuserreihe, verlief der breite Kiesweg, mit einer deutlichen Krümmung und einem in Metall gefassten Rinnstein, auf dem gelegentlich der Ball eines Kindes ausrollte und auf den die ersten vereinzelten Platanenblätter, staubig, aber noch grün, fielen. Der Sommer war sehr heiß gewesen, und die ganze Zeit hatte es keinen Tropfen geregnet. Arm in Arm, wie ein altes Ehepaar, spazierten Nick und Catherine den Weg entlang; Nick fühlte sich mit Catherine verbunden, auf neue, beinahe förmliche Art. In regelmäßigen Abständen standen am Wegesrand viktorianische, schmiedeeiserne Bänke, ohne jeden Gedanken an Bequemlichkeit produziert, und zwischen ihnen, auf dem Rasen, saßen Leute und picknickten in dem frühen, warmen Dämmerlicht.

Nach einer Minute sagte Nick: »Geht es dir jetzt ein bisschen besser?«, und Catherine nickte und drückte sich beim Gehen an ihn. Das Verantwortungsgefühl meldete sich zurück, ein graues Gewicht in seiner Brust, und er sah Catherine und sich mit den Augen der Picknickenden oder eines Joggers, die ihnen entgegenkamen: kein niedliches, altes Pärchen, ganz und gar nicht, sondern zwei Kinder, ein dünnes Mädchen mit einem großen, nervös zuckenden Mund und ein ernster, kleiner blonder Junge, der so tat, als hätte er festen Boden unter den Füßen. Er musste unbedingt in Frankreich anrufen, und hoffentlich würde Rachel an den Apparat gehen, denn Gerald war in solchen Dingen nicht der Geschickteste. Er wünschte, er wüsste mehr über das, was geschehen und warum es geschehen war, aber er zierte sich zu fragen. »Es wird schon wieder werden«, sagte er. Sie darauf anzusprechen, würde den Horror nur noch ein weiteres Mal auslösen, und er fügte hinzu: »Ich frage mich, worum es bei dem Ganzen eigentlich geht«, als würde er sich auf ein uraltes Geheimnis beziehen. Sie sah ihn mit einer schmerzlichen Ungewissheit an, aber antwortete nicht. »Kannst du es nicht erklären?«, fragte Nick und hörte, was manchmal vorkam, den Tonfall des flüchtigen Mitgefühls heraus, den sein eigener Vater pflegte. Auf diese Weise hatte die Familie diverse Krisen umschifft; nichts wurde beim Namen genannt, und nie wusste man, ob der Ton unterschwellig verständnisvoll war oder bloß eine Form von Feigheit.

»Nein, eigentlich nicht.«

»Mir kannst du es immer sagen«, gestand er ihr.

Am Ende des Weges stand das Cottage des Gärtners, heimelig und etwas geduckt unter der cremefarbenen Wand der Häuserzeile. Dahinter führte ein Tor auf die Straße, und sie schauten durch seine schmiedeeisernen Schnecken hinaus auf die vereinzelten Autos. Nick wartete und dachte verzweifelt an Leo, der frei und ungebunden den gleichen Sommerabend genoss. »Dann wird immer alles schwarz und glitzert«, sagte Catherine.

»Hm.«

»Nicht so, wie wenn man niedergeschlagen ist – dann ist alles braun.«

»Genau…«

»Ach, das würdest du sowieso nicht verstehen.«

»Nein, bitte, red ruhig weiter.«

»Es ist wie das Auto da drüben«, sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf einen schwarzen Mercedes, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite angehalten hatte und aus dem ein distinguiert aussehender, alter Herr stieg. Das gelbe Licht der früh eingeschalteten Straßenlaternen spiegelte sich im Autodach, und als der Wagen anfuhr, schlierten die schimmernden Lichtreflexe über die dunklen, geschwungenen Seiten und Fenster.

»Das hört sich fast schön an.«

»Es ist auch schön – irgendwie. Aber darum geht es nicht.«

Nick hatte den Eindruck, dass er zu dumm oder zu fantasielos war, um die Erklärung, die man ihm gegeben hatte, zu verstehen. »Es muss auch schrecklich sein«, sagte er, »offensichtlich …«

»Es ist wie ein Gift. Es glitzert, und es kann tödlich sein. Es will nicht, dass man überlebt. Das wird einem deutlich gemacht.« Sie trat einen Schritt zur Seite, damit sie die Hände frei hatte. »Es umfasst die ganze Welt, so wie sie ist«, sagte sie und streckte die Hände aus, um die Weltkugel anzudeuten oder um sie von sich abzuwehren, »ist alles genau dasselbe. Und alles ist total negativ. Man kann darin nicht überleben. Als wäre man auf dem Mars oder so.« Ihr Blick war starr und verschleiert. »So ungefähr. Besser kann ich es nicht ausdrücken«, sagte sie und drehte sich um.

Er ging ihr nach. »Aber dann schlägt es doch auch wieder um …«, sagte er.

»Ja, Nick. Ja«, sagte sie in dem gekränkten Ton, der manchmal auf eine Selbstentblößung folgt.

»Ich will es doch nur verstehen.« Er dachte, ihre Tränen wären ein Zeichen, dass sie sich wieder erholt hatte, und er legte einen Arm um ihre Schultern – doch nach wenigen Sekunden machte sie eine Geste, die besagte, dass sie sich befreien wollte. Nick spürte einen Hauch von Ablehnung, eine Ablehnung sexueller Art, als dächte sie, er würde ihre Situation ausnutzen.

Später, im Salon, sagte sie: »Ach, du Schreck, heute Abend war ja deine Verabredung mit Leo.«

Nick konnte kaum glauben, dass ihr das erst jetzt einfiel, aber er sagte: »Ist schon in Ordnung. Ich habe sie auf nächste Woche verschoben.«

Catherine lächelte reumütig. »Er war sowieso nicht dein Typ«, sagte sie.

Schumann war jetzt von The Clash abgelöst worden, was wiederum in ein träges und zugleich beredtes Schweigen zwischen ihnen mündete. Nick wünschte sich sehnlichst, dass sie keine neue Musik auflegte – gegen die meisten Sachen, die sie spielte, sträubte sich bei ihm alles. Er sah auf die Uhr. In Frankreich war man eine Stunde weiter, jetzt war es zu spät, um dort anzurufen, und mit einem verschwommenen Gefühl der Erleichterung begrüßte er diese vernünftige und durchdachte Zeitverschiebung. Er trat an den arg vernachlässigten Flügel, dessen schwarzer Deckel eine Ablage bildete für diverse alte Kunstbände und eine kleine Bronzebüste von Liszt, der mit einem ziemlich gequälten Blick das Mozart-Stück auf dem Notenständer vom Blatt zu singen schien. Für Nick waren die stockenden Töne wie Regentropfen auf einem Sandweg, und er war ganz erfüllt von der Vorstellung, was aus seinem Abend hätte werden können. Das schlichte Andante wurde im Geiste zu einem lebhaften Dialog zwischen Optimismus und wiederkehrendem Schmerz, ja, es steigerte beides ins Unmäßige. Schließlich stand Catherine auf und sagte: »Du liebe Güte, Darling, wir sind hier nicht auf einer Beerdigung.«

»Entschuldige, Darling«, sagte Nick und improvisierte ein paar Takte Waldorf-Musik, wie sie das nannten, dann erhob auch er sich und schlenderte hinaus auf den Balkon. Sie hatten gerade erst angefangen, sich gegenseitig mit Darling anzureden, ein hübscher Nebenaspekt der größeren Verschwörung des Lebens in den Kensington Park Gardens; doch draußen, in der Kühle der Nacht, dachte Nick, dass er nur schauspielerte und Catherine ihm erschreckend fremd war. Für einen Moment leuchtete ihr Trugbild vom herrlichen, giftigen Universum wieder vor ihm auf, doch er vermochte es nicht zu halten, und rasch entzog es sich ihm.

In einem der Privatgärten in der Nähe fand eine Abendgesellschaft statt, und die Gespräche und leises Geschirrgeklapper wurden durch die Luft herübergetragen. Ein Mann namens Geoffrey brachte alle zum Lachen, und zwischen den nur halb zu verstehenden Passagen der erzählten Anekdote riefen die Frauen aufgeregt protestierend seinen Namen. In dem Gemeinschaftspark führte ein Mädchen einen kleinen, weißen Hund aus, der regelrecht zu leuchten schien, während er in der abendlichen Dämmerung herumtollte und hüpfte. Über den Bäumen und Dächern blich der trübe Schein des Londoner Himmels in angedeutete veilchenblaue Tönungen aus. Im Sommer, wenn alle Fenster offen standen, schien die Nacht genauso aus Schatten wie aus Geräuschen zu bestehen, dem Flüstern von Blättern, dem nie ruhenden Verkehr, fernen Huptönen und dem Quietschen von Bremsen, Stimmen, schwachen Rufen, durch Herumspielen an der Senderwahl eines Radios aufglimmende Musikfetzen. Nick sehnte sich nach Leo, fünf Kilometer die schnurgeraden Straßen weiter Richtung Norden, doch er konnte überall sein, bewegte sich auf seinem silbernen Fahrrad mit rasender Geschwindigkeit. Er überlegte noch mal, in welchem Park das Foto wohl aufgenommen worden war, und, natürlich, wer es aufgenommen hatte, welche Person solchen intimen Umgang mit Leo hatte. Er fühlte sich leer vor Enttäuschung über den Aufschub. Das Mädchen mit dem weißen Hund kam zurück über den Kiesweg, und Nick dachte daran, wie er wohl auf sie wirkte, sollte sie zu ihm hinsehen – eine beneidenswerte Gestalt, wie schwebend vor dem kultiviert scheinenden Hintergrund des erleuchteten Zimmers. Wohingegen Nick, nach draußen blickend, über das Eisengeländer gebeugt, eher das Gefühl hatte, bis an den Rand getrieben worden zu sein, zu einem Versprechen, einer erahnten Perspektive, einer Aussicht auf die Nacht – und dann dort aufgehalten.

2

Für jeden etwas!«, sagte Gerald Fedden, der mit einer Tragetasche aus braunem Packpapier in die Küche geschlendert kam. »Keiner kommt zu kurz!« Er war gebräunt, rastlos, mit ihm kehrte eine verlorene Energie ins Haus zurück, das Aufblitzen seiner Eitelkeit und seines Selbstvertrauens – fast so, als hätte er die Worte des Wahlleiters noch im Ohr und würde mit diesem Versprechen der guten Laune auf den Applaus reagieren. An der Seite der Tasche prangte das Emblem eines berühmten Delikatessengeschäfts in Périgueux, eine blaue Gans, deren Hals in einem, jedenfalls sah es so aus, Rettungsring steckte, den Schnabel verzerrt zu einem disneyhaften, selbstgefälligen Grinsen.

»Doch nicht etwa Gänseleberpastete«, sagte Catherine.

»Dieses Quittengelee war eigentlich für unser Miezekätzchen gedacht«, sagte Gerald, zog ein Glas hervor, über das ein verknoteter Gingham-Flicken gestülpt war, und schob es Catherine über den Küchentisch zu.

»Danke«, sagte sie, aber ließ das Glas stehen und wandte sich ab, dem Fenster zu.

»Und was hatten wir noch mal für Tobias?«

»Ein … äh …« Rachel machte eine Geste. »Ein carnet.«

»Natürlich.« Gerald kramte unauffällig in der Tüte und überreichte seinem Sohn ein kleines, in grünes, wohl riechendes Veloursleder gebundenes Notizbuch.

»Danke, Pa«, sagte Toby, der sich in Shorts auf der langen Polsterbank räkelte und einen heimlichen Seitenblick auf die Zeitung warf, während er den Neuigkeiten seiner Mutter zuhörte. Die Wand hinter ihm gestaltete sich wie eine lustige Seite aus der Familienchronik, zahlreiche gerahmte Fotos – Urlaub, Händeschütteln mit Berühmtheiten – sowie zwei gemeine Karikaturen von Gerald, die dieser dem Zeichner unbedingt hatte abkaufen wollen. Wenn Gerald sich in der Küche aufhielt, verglichen die Gäste die grinsende Cartoonfigur mit der Adlernase immer mit ihm persönlich; natürlich fiel der Vergleich zu seinen Gunsten aus, obwohl sich der Verdacht, hinter der hübschen Alltagsmaske lauere in Wahrheit ein raubtierhafter Schläger, nicht vermeiden ließ.

Heute, in Leinenshorts und Espadrilles, geschäftig zwischen Auto und Küche hin und her eilend, steckte er voller Anekdoten über das Leben in dem französischen Landhaus, in dem sie ihren Urlaub verbracht hatten, und erwähnte insbesondere einige Gestalten aus dem Ort, um bei den Kindern Belustigung und Bedauern zu wecken. »Wirklich schade, dass wir nicht alle zusammen da sein konnten. Und irgendwann, Nick, müssen Sie unbedingt auch mal mitkommen.«

»Sehr gerne«, sagte Nick, der sich mit aufmunternder und zugleich bescheidener Miene abseits gehalten hatte. Natürlich wäre das grandios, einen Sommer mit den Feddens in ihrem Landhaus zu verbringen, aber herrlicher wäre es, dachte er unweigerlich, den Sommer über in London zu bleiben, ohne sie. Wie anders wirkte jetzt der Raum, da sie sich alle lärmend, und ohne ihre Umgebung wahrzunehmen, wieder in ihm eingefunden hatten. Ihre Rückkehr markierte das Ende seiner Hauswartschaft, und seine echte Freude über das Wiedersehen wurde getrübt durch eine Art Trauer, die er mit dem Heranwachsen verband, Trauer über die vergehende Zeit und verpasste Gelegenheiten. Viel lag ihm an einem Wort des Dankes, um den rätselhaften Schmerz zu lindern. Seine größte Leistung, in der Krise mit Catherine, blieb natürlich unerwähnt. Noch konnte die Unterlassung durch eine rasche, entschlossene, anerkennende Geste des guten Gewissens wettgemacht werden, doch Nick sah, in der Gegenwart ihrer ahnungslosen Eltern, dass er sich irgendwie auf die Seite von Catherine geschlagen hatte und dass dies niemals ausgesprochen werden würde.

»Allerdings«, sagte Gerald, »war es für uns auch eine große Erleichterung, dass Sie hier bleiben und sich um Cat kümmern konnten. Unser streunendes Miezekätzchen hat hoffentlich keine Probleme gemacht.«

»Na ja …« Nick grinste und sah zu Boden.

Als Außenseiter hatte er keinen Spitznamen und war von der plumpen Komik des Familienjargons ausgeschlossen. Sein Mitbringsel war eine kleine bauchige Flasche Parfüm, Je Promets. Er schnupperte einmal anerkennend daran und interpretierte einigen Scharfblick auf Seiten der Schenkenden hinein; seine eigenen Eltern jedenfalls hätten ihm etwas so Wohlduftendes und Zweideutiges niemals zum Geschenk gemacht. »Ich hoffe, wir haben das Richtige ausgewählt«, sagte Gerald, als wollte er damit andeuten, dass er sich großzügigerweise auf ein Terrain begeben hatte, das eigentlich außerhalb seiner Kompetenz lag.

»Es riecht sehr gut – vielen herzlichen Dank«, sagte Nick. Als Außenseiter hatte er wieder das Gefühl, in einem angenehmen Kokon aus gesellschaftlicher Galanterie und guter Laune dahinzuschweben. Mochten Toby und Catherine finster blicken und schmollen und ihr Vorrecht ausüben, sich nicht über ihre Eltern freuen zu dürfen oder sich gar von ihnen beeindrucken zu lassen; Nick dagegen unterhielt sich in einem Idiom schönster Eintracht mit seinen Gastgebern. »Hatten Sie herrliches Wetter?« – »Ich muss sagen, wir hatten wirklich herrliches Wetter.« – »Hoffentlich war der Verkehr nicht allzu schrecklich …« – »Schrecklich!« – »Die kleine Kirche in Podier würde ich mir liebend gerne mal ansehen.« – »Die kleine Kirche in Podier ist allerliebst.« So knüpften sie ihr Gesprächsnetz zusammen. Selbst Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel über Geralds Vorliebe für Strauss, besaßen den Wohlklang gesellschaftlicher Harmonie, wertgeschätzter Konzession und zählten geradezu als in eine schrillere Tonart transponierte Meinungsübereinstimmungen.

Im Kofferraum des Range Rover standen etliche Kisten Wein, und Nick bot Gerald an, beim Hereintragen behilflich zu sein. Unweigerlich fiel ihm dabei die irgendwie unangenehme Kompaktheit des Hinterns seines Hausherrn auf, die durch tägliches Tennis- und Schwimmtraining in Frankreich bestimmt noch verstärkt worden war. Als weiterer Hinweis auf sexuelle Energie, die Nick in einem Mann von fünfundvierzig Jahren nicht für möglich gehalten hätte, galten ihm die sonnengebräunten Beine – wahrscheinlich, dachte er, hatte ihn die Aussicht auf Leo so erregt, dass er auf andere Männer unterschiedslos mit Aufmerksamkeit reagierte. Nachdem sie die letzte Kiste ins Haus getragen hatten, sagte Gerald: »Die haben uns für das Zeug eine ganze Menge Zoll abgeknöpft.«

Toby sagte: »Wenn die Handelsschranken in der EU aufgehoben würden, bräuchtest du dir deswegen keine Gedanken mehr zu machen.«

Gerald lachte spöttisch, als Zeichen, dass er darauf nicht anspringen würde. Einige Flaschen waren für Elena bestimmt, die ganz darin aufging, Rachel die Macht über den Haushalt zurückzugeben. Sie verstaute die Flaschen in ihrer schwarzen Einkaufstasche, um sie später mit nach Hause zu nehmen. Elena, eine Witwe in den Sechzigern, trat der Familie mit Zuneigung und einem sorgfältig gepflegten Anschein von Gleichwertigkeit entgegen, insofern war ihre Aufregung erhellend, mit der sie Rechenschaft über das ablegte, was sie während der Abwesenheit der Hausbewohner alles getan hatte. Nick konnte sich ihr gegenüber nie eines Gefühls der Verlegenheit erwehren, dem Gespenst eines ausgefeilten, aber fehlgeleiteten Akts der Höflichkeit. Bei seinem ersten Besuch in den Kensington Park Gardens hatte Toby ihn begrüßt und dann gleich für kurze Zeit allein gelassen, mit der Vorwarnung, seine Mutter würde bald nach Hause kommen. Als er hörte, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde, ging Nick nach unten und stellte sich der hübschen Frau mit dem pechschwarzen Haar vor, die gerade die Post auf dem Garderobenständer sortierte. Aufgeregt sprach er über das Gemälde, das er sich im Salon angesehen hatte, und nur langsam, angesichts der lächelnd dargebotenen Ehrerbietung und dem mit einem dicken Akzent durchsetzten Gemurmel der Frau, wurde ihm klar, dass er nicht mit der Honourable Rachel, sondern der italienischen Haushälterin sprach. Natürlich war gegen charmantes Benehmen gegenüber der Haushälterin nichts einzuwenden, und Elenas Ansichten über Guardi waren mindestens so interessant wie die von Rachel und interessanter noch als die von Gerald, und dennoch war der Moment, an den Elena sich wegen seines Charmes erinnerte, ihm als kleiner Fauxpas im Gedächtnis haften geblieben.

Trotzdem spürte er, auf den Platz neben Toby gleitend, dessen Seifen- und Kaffeegeruch einatmend, sein nacktes Knie berührend, als er die Hand nach dem Zucker ausstreckte, was für einen Erfolg er gelandet hatte. Die Begegnung mit Elena im Hausflur war vor einem Jahr gewesen, jetzt dagegen war alles reich an Assoziationen. Er nahm das Notizbuch zur Hand, das kaum beachtet worden war, strich über das weiche Fell, als würde er ein warmes und behaartes Körperteil von Toby selbst befingern, um Tobys Mangel an Würdigung wettzumachen, jedenfalls andeutungsweise. Toby sprach davon, Journalist zu werden, daher war das Geschenk fast eine Beleidigung, der schwache Versuch, Angemessenheit zu beweisen, das reine Pflichtgefühl beim Schenkenden, getarnt durch die irre Kostspieligkeit des Gegenstands. Das Notizbuch lag nicht flach auf, wenn man es aufschlug, und wenige Adressen oder »Ideen« hätten ausgereicht, um es zu füllen. Auf jeden Fall war schwer vorstellbar, dass Toby es benutzen würde, sollte er jemals einen Streikposten besuchen oder sich eine Antwort von einem kameraumlagerten Minister erkämpfen wollen.

»Von der Sache mit Maltby hast du bestimmt schon gehört«, sagte Toby.

Umgehend spürte Nick die knisternde Spannung in der Luft, als kündigte sich eine allergische Reaktion an. Hector Maltby, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, war in seinem vor Jack Straw’s Castle abgestellten Jaguar mit einem Strichjungen erwischt worden, hatte sofort sein Amt und offenbar auch seine Ehe aufgekündigt. Die Geschichte war in der Woche zuvor in allen Zeitungen breitgetreten worden, und es war töricht von Nick, dass er sich plötzlich so befangen fühlte, rot wurde, als hätte man ihn in dem Jaguar ertappt. Es passierte ihm oft, eigentlich immer, wenn das Thema Homosexualität aufkam; und selbst in der toleranten Atmosphäre in der Küche der Feddens versteifte er sich vor Besorgnis, was aus Gedankenlosigkeit geäußert werden könnte – irgendeine Unverschämtheit, die es zu schlucken galt, ein Witz, über den man müde zu lachen hatte. Sogar der Fall dieses komischen, übergewichtigen Maltby, einer lebenden Karikatur des raffgierigen »neuen« Tory, war für Nick wie eine Anspielung auf seinen eigenen Fall von Verdruckstheit und, in einem Anfall von Paranoia, wie eine Warnung, nur ja nicht zu dicht an Tobys wunderschönes braunes Bein zu rücken.

»Hector ist aber auch zu dumm«, sagte Gerald.

»Ich glaube, wirklich überrascht hat es uns nicht«, sagte Rachel mit einem ironischen Tremor, der so charakteristisch für sie war.

»Du hast ihn also gekannt?«, fragte Toby in seinem behäbigen »neuen« Interviewstil.

»Ein bisschen«, sagte Rachel.

»Eigentlich nicht«, sagte Gerald.

Catherine starrte noch immer aus dem Fenster, hing ihrem Traum nach, als stünde sie in keinerlei Beziehung zu ihrer Familie. »Ich verstehe bloß nicht, warum er ins Gefängnis muss«, sagte sie.

»Er muss nicht ins Gefängnis, du dummes Miezekätzchen«, sagte Gerald. »Es sei denn, du weißt mehr als ich. Er wurde nur mit heruntergelassener Hose erwischt.« Aufgrund irgendeines vagen Gefühls der Gemeinsamkeit mit ihm sah er dabei wie zur Bestätigung Nick an.

»Soweit ich weiß, ja«, sagte Nick und versuchte, die vier kleinen Wörter beiläufig hingeworfen und gleichzeitig wohl überlegt klingen zu lassen. Eine widerliche Vorstellung: Hector Maltby mit heruntergelassener Hose; in der Hinsicht verdiente der entehrte Abgeordnete offenbar nicht viel Solidarität. Nick stand der Sinn ohnehin eher nach ästhetischen und strahlenden Bildern von schwulen Freizeitaktivitäten, die ihm in einer goldenen Zukunft zur Auswahl stünden wie Schwimmer an einem sonnenbeschienenen Ufer.

»Ich verstehe trotzdem nicht, warum er deswegen zurücktreten musste«, sagte Catherine. »Kann den Leuten doch egal sein, ob er sich hin und wieder einen blasen lässt.«

Gerald beschwichtigte, aber er war schockiert. »Nein, nein, er musste gehen. Es gab keine Alternative.« Sein Ton war aufbrausend, aber vernünftig, und seine Stimme, die sich mit dem Gesagten dem allgemeinen Gerede und den Phrasen der Politik unterwarf, klang leicht verstört. Doch Catherine musste lachen.

»Vielleicht hat es ja auch sein Gutes«, sagte sie. »So kann er wenigstens für sich herausfinden, was er wirklich will.«

Gerald runzelte die Stirn und zog eine Weinflasche aus dem Karton. »Du hast eine komische Vorstellung davon, was den Leuten gut tut und was nicht«, sagte er nachdenklich und auch ungehalten. »Jetzt, habe ich mir gedacht, trinken wir einen Podier St. Eustache zum Abendessen.«

»Hm, lecker«, murmelte Rachel. »Es gibt dabei nur ein Problem, Darling: Was er gemacht hat, ist abstoßend und gefährlich«, sagte sie unvermutet schroff zu Catherine gewandt.

»Essen Sie heute Abend mit uns, Nick?«, fragte Gerald.

Nick lachte und schaute weg, weil das großzügige Angebot die Frage nach seinem Status an zukünftigen Abenden aufwarf. Wie viel würde er mit ihnen teilen, und wie oft wäre er dabei? Sie hatten mal erwähnt, dass man ihn gelegentlich bitten würde, sich zu ihnen zu gesellen. »Es tut mir Leid, aber ich kann heute Abend nicht«, sagte er.

»Oh… wie schade, und das an unserem ersten Abend zu Hause …«

Er wusste nicht, wie er das verstehen sollte. Fasziniert beobachtete Catherine sein Zögern, sie lachte. »Nick kann nicht, weil er heute Abend eine Verabredung hat«, sagte sie. Es war ärgerlich, dass sich ihre Offenheit auf seine intimen Pläne erstreckte, eine hinterhältige Entlohnung für sein Schweigen, was ihre eigenen Affären betraf. Er lief rot an und spürte wieder das knisternde gesellschaftliche Rauschen den Raum durchwehen. Jeder schien irgendwie zu summen, unschlüssig, aufmunternd, verlegen, er konnte es nicht unterscheiden.

Nick hatte sich noch nie mit einem Mann verabredet und war längst nicht so erfahren, wie Catherine vermutete. Im Verlauf ihrer langen Gespräche über Männer hatte er es zugelassen, dass einige seiner Fantasien sich bei ihr zu Tatsachen ausweiteten, hatte ein bisschen hinzugedichtet und Catherines Vermutungen unwidersprochen gelassen. Seine ihr gegenüber gebeichteten, doch ganz und gar erfundenen Verführungen von Männern nahmen  – zum Teil bedingt durch die besondere Mühe, die es brauchte, um sie sich auszudenken und sie dauernd zu wiederholen  – die Eigenschaften wirklicher Erinnerungen an. Manchmal schloss er schon aus einer nur angedeuteten Reserviertheit seiner Gesprächspartner ihm gegenüber, dass sie ihm zwar nicht glaubten, doch erkannten, dass er selbst anfing zu glauben, was er sagte. Er hatte sich erst in seinem letzten Semester in Oxford geoutet und seine neue Freiheit hauptsächlich dazu gebraucht, mit heterosexuellen Jungen zu flirten. Sein Herz gehörte Toby, mit dem zu flirten unangebracht gewesen wäre, beinahe ein Sakrileg. Noch war er nicht bereit zu akzeptieren – sollte er jemals einen Lover haben –, dass nicht Toby diesen Platz einnehmen würde, auch keiner der anderen heterosexuellen Jungen, die mal die Seiten wechseln wollten, nein, es wäre ein schwuler Lover, jene kompromittierende Gattung, zu der er sich dann selbst rechnen musste. Richtige Tunten, die er beklatschte, die er fürchtete, die er zögerlich imitierte, fanden oft, dass ihm etwas Falsches anhaftete, so hübsch und klug er auch sonst war. Ins Bett jedenfalls wollten sie nicht mit ihm, und er war bereit, erleichtert und entmutigt – all das untrennbar miteinander verknüpft  –, sich wieder in sein Schneckenhaus der sexuellen Scheinwelt zu verkriechen. Auf dieser Bühne fiel der Vorhang nie, die Schauspieler erlahmten nie, und eine gewisse Schalheit durch Wiederholung war die einzige Gefahr. Das Treffen mit Leo, auf das trotz aller Hindernisse des Systems, welches allein es möglich machte, hingearbeitet wurde, war daher bedeutsam für Nick. Ein letzter, hoffnungsvoller Blick in den vergoldeten Garderobenspiegel, der alles Kommen und Gehen im Haus registrierte, verwehrte ihm sein Einverständnis; als Nick die Tür hinter sich zuzog und die Straße entlangging, fühlte er sich Schwindel erregend allein und musste sich klar machen, dass er das alles zu seinem eigenen Vergnügen machte. Es hatte den Geschmack eines sinnlosen Wagnisses angenommen.

Während er den Hang hinuntereilte, konzentrierte er sich wieder auf seine »Interessen« und »Wünsche«, was, wenig originell, Thema des Treffens sein sollte. Die gemeinsame Leidenschaft für einen Gegenstand, klein oder groß, konnte zwei Fremde rasch in einen Zustand gedämpfter Begeisterung oder Rivalität versetzen, der entfernt an Liebe erinnerte; aber diesen Gegenstand galt es erst einmal zu finden. Was die Wünsche betraf  – die zu äußern, grenzte an Selbsttäuschung oder Schwäche, oder man stand als einer ohne Ehrgeiz da. Gerald hätte gesagt: »Ich will Außenminister werden«, und die Leute hätten gelacht und ihm eine Chance eingeräumt. Nick dagegen hatte nur den Wunsch, von einem Schwarzen, Ende zwanzig, der ein Rennrad besaß und einen Job in der Stadtverwaltung hatte, geliebt zu werden. Es war das Einzige, das er Leo niemals gestehen könnte.

Zum hundertsten Mal stellte er sich die hintere Bar im Chepstow Castle vor, die er ausgewählt hatte, weil sie düster war und weil man dort fast ungestört war – ein Ort, in den die Gäste, die an der vorderen Bar versorgt wurden, einen gleichgültigen Blick warfen, der aber an Sommerabenden, wenn alle draußen auf dem Bürgersteig standen, kaum benutzt wurde. Zwischen den mit Whiskeywerbung bedruckten Spiegeln und den Fotos von alten Pferdegespannen herrschte dort ein bernsteinfarbenes Licht. Er sah sich in dem verstaubten Plüsch Schulter an Schulter neben Leo sitzen und heimlich Händchen halten.

Als er sich dem Pub näherte, fiel ihm am Rand der Gästeschar ein Schwarzer auf, gleich wusste er, dass es Leo war, und er tat so, als hätte er ihn nicht erkannt. Leo war also tatsächlich ziemlich klein, und er hatte sich einen Bart wachsen lassen. Warum wartete er draußen auf der Straße? Nick hatte schon zu ihm aufgeschlossen, sah noch mal hin, nervös, sah das fragende Lächeln des Mannes.

»Willst du mich nicht mehr kennen lernen …?«, sagte Leo.

Nick schwankte, lachte und hielt ihm die Hand zum Gruß hin. »Ich dachte, du würdest drinnen warten.«

Leo nickte und schaute die Straße hinunter. »So konnte ich dich kommen sehen.«

»Ach so …« Wieder lachte Nick.

»Außerdem war ich mir wegen des Fahrrades unsicher – in diesem Viertel.« Und da stand es, das Fahrrad, eine raffinierte Maschine, federleicht, sündhaft teuer, das Fahrrad der Zukunft, am nächsten Laternenpfahl angekettet.

»Ach, das kommt schon nicht weg.« Nick blickte missbilligend. Es wunderte ihn, dass Leo dieses Viertel als eine schlechte Gegend ansah. Er selbst fand sie auch ziemlich gefährlich, und zwei, drei Straßen weiter gab es Kneipen, die würde er nie betreten, schon die Namen waren bedrohlich. Aber hier … ein Rastafari schlurfte vorbei, und sein Kopfwenden war eine Begrüßung, die Leo galt. Leo nickte und blickte dann zur Seite, was Nick als verhaltenes Eingeständnis von Zugehörigkeit interpretierte.

»Sollen wir noch ein bisschen hier draußen bleiben?«

Nick ging hinein und holte etwas zu trinken. Er stand am Tresen und sah hinüber zum hinteren Barraum, wo tatsächlich einige Leute saßen und sich unterhielten – vielleicht eine von den Gruppen, die sich regelmäßig in Kneipen trafen; der Raum war auch heller, als er ihn in Erinnerung hatte und ihm lieb gewesen wäre. Alles schien irgendwie anders als zuvor. Leo wollte nur eine Cola, doch Nick musste sich Mut für den Abend antrinken, und in sein eigenes Glas, das genauso aussah, war ein doppelter Rum hineingeschüttet worden. Er hatte vorher noch nie Rum getrunken, und dass man Cola mochte, hatte ihn schon immer erstaunt. Vor seinem inneren Auge schwebte das Bild des Mannes, den er unbedingt hatte kennen lernen wollen, den er eben kurz berührt hatte und der draußen in seiner ganzen beunruhigenden Wahrhaftigkeit stand. Er war viel zu sexy, entsprach mit seinen ausgestellten Jeans und dem taillierten, blauen Hemd viel zu sehr seiner Wunschvorstellung. Diese ostentative Absicht zu verführen, oder jedenfalls seine Fähigkeit zur Verführung dermaßen zur Schau zu stellen, machte Nick Angst. Mit leicht zitternden Händen trug er die Gläser nach draußen.

Es gab keinen Platz zum Sitzen, deswegen blieben sie draußen stehen und lehnten sich an eine braun gekachelte Fensterbank; in das Milchglas der unteren Fensterhälfte war in kunstvoller viktorianischer Type das Wort SPIRITUOSEN geätzt, dessen Serifen in verschlungenen, spiralförmigen Ranken ausliefen. Leo sah Nick offen ins Gesicht, deswegen war er schließlich gekommen, und Nick grinste und lief rot an, was Leo ebenfalls zum Lachen reizte, aber nur kurz.

»Wie ich sehe, lässt du dir einen Bart wachsen«, sagte Nick.

»Ja. Ich habe eine empfindliche Haut. Rasieren gibt jedes Mal ein Blutbad«, sagte Leo mit einem raschen Seitenblick, der Nick zu verstehen gab, dass er ein Mann mit Prinzipien war. »Wenn ich mich nicht rasiere, wachsen die Haare einwärts. Das tut höllisch weh, und ich muss sie mit der Pinzette ausziehen.« Er strich sich mit seiner kleinen, feingliedrigen Hand über die Bartstoppeln am Kinn, und Nick sah die pickelähnlichen Erhebungen vom Rasieren, die ihm schon öfter bei Schwarzen aufgefallen waren. »Meistens lasse ich ihn vier Tage wachsen, manchmal fünf, dann folgt eine gründliche Rasur: So versuche ich, beide Probleme zu vermeiden.«

»Ah, ja…«, sagte Nick und lachte, auch, weil er mal wieder etwas Interessantes dazugelernt hatte.

»Die meisten von ihnen erkennen mich aber auch so wieder«, sagte Leo augenzwinkernd.

»Nein, so habe ich das nicht gemeint«, sagte Nick, der zu schüchtern war, um seine eigene Schüchternheit zu erklären. Sein Blick glitt zwischen Leos Schritt und seinem ordentlich gestutzten, flachen Haarpolster auf und ab, vermied dabei regelmäßig das hübsche Gesicht. Er nahm Leo beim Wort, dass es hübsch sei, aber es deckte nicht den anhaltenden Schock darüber ab, was wunderschön, fremd oder gar hässlich an ihm war. Die Bedeutung von »die meisten von ihnen« ging ihm erst allmählich auf. »Na ja«, sagte er und trank hastig einen Schluck, der ein beruhigendes Brennen im Hals auslöste. »Wahrscheinlich hast du viele Antworten bekommen.« Wenn er nervös war, stellte er manchmal Fragen, deren Antworten er lieber nicht wissen wollte.

Leo stieß einen gespielten Seufzer der Erschöpfung aus. »Ja, ja. Manche beantworte ich erst gar nicht. Die sind ein einziger Witz. Es ist kein Foto beigelegt, und wenn doch, dann sind die Typen hässlich, oder sie sind steinalt. Sogar eine Frau hat geantwortet, eine Lesbe, zugegeben. Sie meinte, ich sollte Vater ihres Kindes werden.« Leo blickte entrüstet, aber seine Miene hatte auch etwas Verschmitztes und Geschmeicheltes. »Und was die für ein Zeug zusammenschreiben! Widerlich! Ich suche doch nicht nur einfach jemanden zum Pimpern. Das hier ist schon was anderes.«

»Allerdings«, sagte Nick – obwohl pimpern ein beängstigend salopper Ausdruck war für etwas, das ihn unentwegt beschäftigte, jedenfalls gedanklich.

»Schließlich bin ich lange genug um die Häuser gezogen«, sagte Leo und blickte die Straße hinunter, als sähe er seine eigene Person gerade nach Hause kommen. »Jedenfalls fand ich dich ganz nett auf dem Foto. Du hast eine schöne Handschrift.«

»Danke. Du auch.«

Leo nahm das Kompliment mit einem Nicken entgegen. »Und du beherrschst die Rechtschreibung«, sagte er.

Nick lachte. »Ja. Das kann ich ganz gut.« Er hatte befürchtet, sein eigener kurzer Antwortbrief könnte pedantisch klingen, jungfräulich unerfahren, aber anscheinend hatte er den richtigen Ton getroffen. Dass er seine Orthografie besonders herausgefordert hätte, daran konnte er sich nicht erinnern. »Nur mit dem Wort Mokassin habe ich immer so meine Probleme«, sagte er.

»Ah, ja, siehst du …«, sagte Leo, der sich argwöhnisch räusperte, bevor er das Thema wechselte. »Ist ja ganz schön da, wo du wohnst«, sagte er.

»Oh … ja …«, sagte Nick, als hätte er vergessen, wo das war.

»Ich bin gestern mal mit dem Rad vorbeigefahren. Beinahe hätte ich bei dir geklingelt.«

»Hm – hättest du ruhig machen können. Ich hatte das Haus praktisch für mich allein.« Der Gedanke, dass ihm diese Gelegenheit entgangen war, ärgerte ihn.

»Ja? Ich habe gesehen, wie so ein Mädchen reingegangen ist …«

»Das war wahrscheinlich nur Catherine.«