Die schottische Heirat - Barbara Cartland - E-Book

Die schottische Heirat E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Nach dem Tod ihrer Mutter Lottie in Paris ist die mittellose Clova McBlane auf sich allein gestellt. Doch das Schicksal macht sie plötzlich zur Erbin eines großen Diamantenvermögens eines ehemaligen Liebhabers ihrer Mutter – und von heute auf morgen wird sie nach Schottland gerufen, wo sie das Erbe ihres Vaters als Clans-Oberhaupt antreten soll. Überwältigt von den Ereignissen tritt sie die Reise an und trifft in Schottland auf eine bittere Fehde zwischen ihrem Clan und dem der Nachbarn, deren Land an das ihre grenzt. Kann eine schicksalshafte Begegnung mit dem Laird der McGowans helfen die alten Kämpfe zu überkommen – und welche Gefahr geht von ihrem zwielichtigen Cousin Euan aus?

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Die schottische Heirat

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2020

Copyright Cartland Promotions 1885

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

I ~ 1885

Während der Zug sie durch England trug, saß Clova am Fenster und vermochte immer noch nicht zu fassen, daß die Reise kein Traum, sondern Wirklichkeit war.

Unfaßbar, daß sie noch vor wenigen Wochen in tiefster Verzweiflung gelebt hatte, voller Angst, die Mutter könnte verhungern, noch bevor die Schwindsucht sie hinwegraffte, die der Arzt bei ihr diagnostiziert hatte.

Und ihr selbst drohte das Ende in den kalten, trüben Wassern der Seine oder die Flucht ins Laster, das Paris für ein junges Mädchen in ihrer Lage als letzten Ausweg bereithielt.

Der Zug brauste dahin, und Clova stellte verwundert fest, daß sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wie grün England gewesen war, damals, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Würde es ihr mit Schottland genauso ergehen? Würde es ihr fremd und unbekannt vorkommen?

Sie war siebzehn gewesen, als ihre Mutter, die schöne, ewig lachende Charlotte McBlane, ihrem Mann mit Lionel Arkwright, der wieder einmal den Großvater besucht hatte, um mit ihm in den Hochmooren Birkhühner zu schießen, davongelaufen war.

Schon als Kind fand Clova, daß Lionel Arkwright ein charmanter Mann war, witzig, heiter und sehr verschieden von ihrem Vater, der immer einen ernsten und grüblerischen Eindruck auf sie machte.

Wenn Clova jetzt an ihre Kindheit zurückdachte, mußte sie zugeben, daß sie eigentlich immer eine entsetzliche Angst vor ihrem Vater gehabt hatte.

Vielleicht hätte sich dieser Eindruck geändert, wenn sie ihn besser und länger gekannt hätte. Vielleicht war es nur seine angeborene schottische Schweigsamkeit gewesen, die sie erschreckt hatte.

Ihre Mutter - Clova konnte das verstehen - hatte ihn fad gefunden.

Allerdings erst später.

Am Anfang war der jüngere Sohn des Marquis von Strathblane der Tochter des unbedeutenden, pensionierten englischen Colonels als äußerst blendende Partie erschienen.

Und Lord Alister McBlane war fasziniert von der achtzehnjährigen Charlotte Burton — genannt Lottie —, als er ihr zum ersten Mal in die großen himmelblauen Augen blickte.

Ein Mädchen, wie er in Schottland noch keinem begegnet war.

Lord Alister war beim Lord Lieutenant von Yorkshire anläßlich der Doncaster Rennen zu Gast.

Sie trafen sich auf einem der Bälle, die man zu Ehren der Rennbesucher aus dem Süden in den großen Häusern gab. Lottie stellte, was ihr Äußeres anging, alle ihre Geschlechtsgenossinnen weit in den Schatten.

Ihre lachenden Augen, ihr goldblondes Haar und ihre traumhafte Figur zogen die Blicke der Männer magnetisch an, sobald sie den Ballsaal betrat.

Lord Alister war nicht der einzige, dem Lottie schlaflose Nächte bereitete, aber ganz offensichtlich war er der gesellschaftlich Bedeutsamste von ihnen.

Nach dem Ende der Rennen bemühte er sich ganz unverhohlen um eine Einladung bei Colonel Burton unter dem Vorwand, sich für die ziemlich mittelmäßigen Pferde zu interessieren, die dieser auf dem winzigen Anwesen hielt, das er sein eigen nannte.

Mrs. Burton geriet in Panik.

»Wie kannst du nur einen solchen Mann zu uns einladen?« fragte sie ihren Mann vorwurfsvoll. »Wir besitzen keinen einzigen Diener. Und Geld für eine vernünftige Köchin haben wir auch nicht.«

»Ich glaube kaum, daß es Seiner Lordschaft ums Essen geht«, meinte der Colonel mit einem trockenen Lächeln.

Von dem, was er auf den drei Bällen sah, die er mit seiner Tochter besuchte, wußte er, daß Lord Alister nichts anderes als seine Tochter Lottie im Sinn hatte.

Wie immer, wenn ein Mann in ihr Leben trat, war Lottie auch von diesem Verehrer hellauf begeistert. Und überraschend kurze Zeit später reiste sie nach Schottland, um in dem häßlichen, unbehaglichen Haus auf dem Besitztum des Marquis zu wohnen, das man als höchst ausreichend für den jüngeren Sohn ansah.

Lord Alister beklagte sich nicht.

Wie Lottie feststellte, war er es gewöhnt, sich mit den Brosamen zufrieden zu geben, die vom Tisch der Reichen fielen — in seinem Fall des Vaters und des älteren Bruders, der einmal der Erbe des Marquisats sein würde.

Widerstandslos schickte er sich in die Dinge, während Lottie gegen die Ungerechtigkeit aufbegehrte, die sich vor allem in dem bescheidenen Unterhaltsgeld zeigte, das der Vater seinem jüngeren Sohn zahlte. Außerdem überließ der Marquis ihm nur minderwertige Pferde, und Alister war gezwungen, sich mit ungeschliffenen und ungeschulten Dienern zu begnügen.

Wenn Clova sich zurückerinnerte — was nicht einfach war, da sie damals noch ein Kind gewesen war —, hatte Lottie dieses Leben trotz allem nicht als unerträglich empfunden. Im Gegenteil, sie hatte es genossen bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Ehrenwerte Lionel Arkwright ihren Weg kreuzte.

Zu Beginn der Moorhuhnjagd fanden sich alljährlich eine Anzahl Gentlemen auf Strathblane ein, und es dauerte nie sehr lange, bis sie allesamt im Haus Lord Alisters auftauchten. Denn ob jung oder alt, Lottie zog sie an wie das Licht die Motten.

Als Clova sieben war, passierte es immer häufiger, daß die Gentlemen, die nach Tweed und teuren Zigarren dufteten, den Arm um sie legten und zu Lottie sagten: »Sie wird einmal genauso schön werden wie ihre Frau Mama, oder doch beinahe so schön, wenn sie erwachsen ist.«

Ihre Mutter lachte dann und erwiderte: »Sie sollten dem Kind nicht den Kopf verdrehen mit Ihren Komplimenten!«

Die unvermeidliche Antwort darauf lautete: »Ich möchte nur wissen, wie es möglich ist, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«

Wenn die Gentlemen mit ihrer Mutter sprachen, klangen ihre Stimmen dunkler als gewöhnlich und nahmen einen auffallend schmeichelnden Klang an. Dies entging Clova ebenso wenig wie die Tatsache, daß ihre Mutter den Sprecher dann aus ihren großen Kulleraugen unter seidigen Wimpern anschaute und dabei auf eine Art lächelte, die ein wenig scheu und verlegen wirkte, gleichzeitig aber etwas unglaublich Lockendes und Verführerisches an sich hatte.

Clova entging auch nicht, daß ihre Mutter in Gegenwart anderer Männer regelrecht aufblühte und noch schöner war als sonst.

Nach solchen Besuchen redete Lord Alister oft kein Wort während der Mahlzeiten, und die Mutter fragte ihn dann unwillig: »Hörst du mir eigentlich zu, Alister?«

»Ja, meine Liebe, natürlich.«

»Na schön, dann sag mir, was mit Clovas Pony geschehen soll? Sie ist inzwischen wirklich zu alt dafür. In ihrem Alter braucht sie ein Reittier, das nicht nur größer, sondern auch lebhafter ist.«

»Ich werde sehen, was ich machen kann.«

Clova wußte aus Erfahrung, daß er nichts machen konnte. Er hatte nicht das Geld für ein neues Pferd, denn er führte ein ziemlich nutzloses und untätiges Dasein.

Sein Vater — das Haupt des McBlane-Clans — erlaubte ihm nicht, irgendeine Aufgabe auf dem Gut zu übernehmen.

Was der Marquis nicht selbst tun konnte, überließ er Rory, seinem ältesten Sohn, in den er ganz offensichtlich völlig vernarrt war, während Alister ihm genauso offensichtlich gleichgültig war.

Die beiden Brüder hatten wenig gemeinsam. Auch äußerlich nicht. Rory glich seinem Vater, und Alister, wie Clova annahm, seiner Mutter, die bald nach seiner Geburt gestorben war.

Den Erzählungen nach war sie keine sehr schöne Frau gewesen, aber sie hatte eine beträchtliche Mitgift in die Ehe eingebracht und gehörte zu einem Clan, der mit den McBlanes verbündet war.

Es war Lottie gewesen, die Jahre später die Wahrheit über ihre Situation in Schottland erzählt hatte.

»Alle verachteten den armen Alister, weil er eine Landfremde geheiratet hatte — und obendrein noch eine ohne Vermögen«, sagte sie.

»Aber er liebte dich, Mama.«

»Natürlich liebte er mich. Soweit er überhaupt fähig war, einen Menschen zu lieben. Er war kein Mann mit starken Gefühlen, und oft habe ich mich gefragt, was er wohl empfunden hat, als ich ihn verließ.«

Clova konnte ihr diese Frage nicht beantworten, denn als ihre Mutter mit Lionel Arkwright Schottland verließ, hatte sie ihre Tochter mitgenommen.

»Ich werde mein Baby nicht alleinlassen«, erklärte Lottie damals in einer Anwandlung von Sentimentalität, obwohl Clova bereits sieben war. »Das Kind ist so hübsch und gleicht mir so sehr, daß die McBlanes Clova bestimmt für meine Sünden büßen lassen würden, und das könnte ich nicht ertragen.«

Aber Lottie war es, die für ihre Sünden büßen mußte.

Am Anfang war alles wundervoll. Lionel Arkwright war reich. Er nahm sie mit nach Paris, wo er ganz in der Nähe der berühmten Champs Elysees ein vornehmes Haus besaß.

Lionel hatte viele Freunde in Paris, und obwohl deren Frauen Lottie ablehnten, weil sie ihren Gatten verlassen hatte und mit Lionel in Sünde lebte, waren die Männer von Lottie begeistert. Sie wetteiferten um ihre Gunst.

Lionel Arkwright kaufte ihr Kleider, die sie noch hinreißender machten, als sie es schon war.

Wenn sie — funkelnd und glitzernd — im Glanz ihres Geschmeides Clova gute Nacht sagte, dachte das kleine Mädchen immer, daß ihre Mutter aussah wie eine Märchenprinzessin in den Bilderbüchern, aus denen ihre schottische Gouvernante ihr vorgelesen hatte.

Da die Mutter Paris entzückend fand, fühlte auch Clova sich in der Stadt wohl. Die tanzenden Brunnen auf dem Place de la Concorde, die blühenden Kastanienbäume in den Champs Elysees, die Seine, die sich wie ein silberner Mäander unter den zahlreichen Brücken hindurchschlängelte, all das sprach zu ihr mit einer Beredsamkeit, wie es Worte nicht vermochten.

Clova genoß ihre Unterrichtsstunden, die ihr neue Horizonte eröffneten, von deren Existenz sie nie etwas gewußt hatte. Denn in Schottland hatte sie nur das Alphabet gelernt, das kleine und große Einmaleins und einige Morgen-, Abend- und Tischgebete.

Sie war zehn, als das Schicksal zuschlug.

Lionel Arkwrights Vater starb, und sein Titel ging auf Lionel über. Also kehrte Lionel nach England zurück, um ein riesiges Erbe anzutreten. Obwohl er versprach, bald zurückzukommen, wußte Lottie, daß es das Ende ihrer Beziehung war.

Doch Gentleman, der er war, bedachte Lionel sie mit einem ansehnlichen Geldbetrag, der Lottie ein sorgloses Leben sicherte.

Unglücklicherweise hatte Lionel Lottie in jedem Frühling mit nach Monte Carlo genommen. Der Aufenthalt dort gehörte zum guten Ton, und der eigentliche Anziehungspunkt der Stadt war das weltberühmte Spielkasino.

Lottie fand das Roulette und die Baccarat-Spieltische unwiderstehlich, und im ersten Jahr, nachdem Lionel sie verlassen hatte, verlief der Aufenthalt in der Metropole des kleinen Fürstentums ohne Schwierigkeiten.

Unter den Männern, die sie von Paris her kannte, gab es immer genügend Bewunderer, die nur darauf warteten, Lotties Spielverluste zu zahlen, ihr das Geld für die hohen Einsätze vorzustrecken und ihr die gewonnenen Beträge zu überlassen.

Als sie nach Beendigung der Saison nach Paris zurückkehrte, mußte Lottie erkennen, daß Lionel Arkwright das Haus, in dem sie mit ihm zusammenlebte, verkauft hatte.

Einen Teil des Geldes, das ihm der Verkauf einbrachte, hatte er auf ihr Bankkonto überwiesen, aber — wie Clova traurig dachte — Geld war nicht das gleiche wie das Haus, das sie die ganze Zeit über als ihr Heim angesehen hatte.

Nun machte sie sehr bald die Erfahrung, daß es auch in Paris Orte gab, an denen gespielt wurde, und Lottie fuhr fort, sich weiterhin so aufwendig zu kleiden wie in der Zeit, in der sie mit Lionel Arkwright zusammen gewesen war.

Langsam und unvermeidbar wurden die Dinge schwieriger.

»Ich fürchte, wir werden umziehen müssen«, sagte Lottie zu ihrer Tochter.

Eine Mitteilung, die Clova auch zuvor schon gehört hatte.

»Oh, nicht schon wieder, Mama!«

»Es ist lächerlich, welch hohe Miete wir für diese Wohnung zahlen! Sie ist ihren Preis nicht wert. Viel zu dunkel und unbequem. Und außerdem liegen die Schlafzimmer zu nahe beieinander.«

Clova wußte, daß dies ungünstig war, denn sie wurde jedes Mal wach, wenn ihre Mutter spät in der Nacht nach Hause kam und der jeweilige Begleiter mit dunkler Stimme auf sie einredete.

Dann plötzlich hatte die Mutter wieder Geld im Überfluß, und in Clovas Leben gab es wieder einen neuen Gentleman, den sie »Onkel« nennen mußte.

Im Laufe der Zeit wechselten die Onkel immer rascher, und sie wurden ebenfalls immer älter.

Letzteres galt auch für Lottie, obwohl sie immer noch eine schöne Frau war. Nur zeigten sich unter ihren Augen dunkle Linien, die früher nicht dagewesen waren. Und oft war sie müde und lustlos, nicht nur am Morgen, sondern während des ganzen Tages.

»Ich glaube, du brauchst ein Stärkungsmittel, Mama«, sagte Clova dann.

Und die Mutter gab unwillig zurück: »Was ich brauche, ist Geld. Sonst nichts!«

Doch da Clova sich wirkliche Sorgen machte, hatte sie es vor ungefähr einem Jahr durchgesetzt, daß Lottie einen Arzt aufsuchte, einen Spezialisten, wie man ihn nannte.

Er untersuchte Lottie gründlich, und während sie sich wieder ankleidete, kam er zu Clova ins Wartezimmer.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Mademoiselle«, sagte er. »Sie müssen sehr tapfer sein.«

Clovas Augen weiteten sich vor Angst.

»Wegen Mama?«

»Ja, wegen Ihrer Frau Mutter.«

»Was ist mit ihr?«

Nur mühsam kam die Frage über ihre Lippen.

»Ich fürchte, Ihre Mutter leidet an einer Krankheit, die von Laien Schwindsucht genannt wird. Der medizinische Name dafür ist Tuberkulose.«

Clova hatte den Atem angehalten.

»Was — können wir — tun?«

»Ich fürchte, nur wenig. Es gibt noch kein Mittel dagegen. Sie können Sie in ein Sanatorium in der Schweiz bringen, aber helfen wird es kaum noch. Und ich bin sicher, es würde ihr auch nicht recht sein.«

»Ja, sie wäre dagegen.«

»Dann schlage ich vor, Sie versuchen, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Sorgen Sie für gutes Essen und vor allem dafür, daß sie viel Schlaf bekommt.«

Er machte eine Pause, dann bemerkte er die Blässe auf Clovas Gesicht und meinte: »Es tut mir leid, daß ich Sie damit belasten muß. Aber soviel ich weiß, steht Ihre Mutter ohne Ehepartner da und hat niemanden außer Ihnen, der sich um sie kümmert.«

Clova straffte die Schultern.

»Ich schaffe das schon«, erwiderte sie.

»Falls es schlimmer wird und sie starke Schmerzen hat, rufen Sie mich«, sagte der Arzt. »Aber zunächst wird ihr Zustand noch eine Zeitlang so bleiben wie im Augenblick. Sie wird sich müde und schwach fühlen und sehr viel Liebe und Verständnis brauchen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Clova. »Haben Sie Mama die Wahrheit gesagt?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Bei einer Krankheit wie dieser halte ich es für angezeigt, den Patienten nicht über den Ernst der Situation aufzuklären.«

Clova gab ihm recht. Zumindest, was ihre Mutter betraf. Die Ärmste hätte die Wahrheit über ihren Zustand nicht verkraftet.

Nachdem sich der Arzt verabschiedet hatte, sagte Lottie: »Also, wenn du mich fragst, ist das reine Geldverschwendung! Nicht mal was Stärkendes hat er mir verschrieben. Na gut, dann werde ich mich eben selbst behandeln. Es wird einfacher sein — ohne Doktor.«

Clova vermochte sie nicht daran zu hindern.

Ihre Mutter war immer noch schön, doch wie alle Menschen, die an der Schwindsucht litten, sehr abgemagert.

Das jedoch schien die Biegsamkeit, ja Zerbrechlichkeit, die sie immer so anziehend gemacht hatte, noch zu betonen. Jedenfalls fehlte es auch in dieser Phase ihres Siechtums nicht an Verehrern.

Es gab immer noch Männer, die sie zum Dinner ausführten, ihr Champagner spendierten und auch in barer Münze für die Vergnügungen zahlten, die Lottie ihnen gewährte.

Aber es war keiner darunter wie Lionel Arkwright, und so wurde die finanzielle Lage immer katastrophaler. Eines Tages machte Clova die entsetzliche Entdeckung, daß das Bankkonto, das Lionel Arkwright für sie eingerichtet hatte, leer war. Geplündert und ausgeraubt von ihrer Mutter, die das ganze Geld zum Kasino getragen und verspielt hatte.

Danach hatte sie ihr Konto bis zur Grenze des Möglichen überzogen. Eine Zeitlang war das gutgegangen, aber nun schien auch diese Quelle endgültig versiegt zu sein.

Verzweifelt überlegte Clova, was sie tun sollte, denn in wenigen Tagen war die Miete für die armselige Unterkunft, die sie im Augenblick bewohnten, fällig. Und sie besaßen außerdem keinen einzigen Sou mehr für die nötigsten Lebensmittel.

Die Mutter schien momentan keine Verehrer zu haben, die bereit waren, sie zum Essen einzuladen.

»Ich brauche unbedingt einen neuen Hut!« erklärte Lottie trotzig, während Clova ihr beim Ankleiden half.

»Das ist etwas, das wir uns jetzt gewiß nicht leisten können, Mama.«

Sie sah die Enttäuschung in Lotties immer noch reizvollem Gesicht und in den schönen blauen Augen und sagte: »Ich weiß, was wir tun. Die Sonne scheint. Wir machen einen Spaziergang zur Rue de Rivoli, bummeln an den Schaufenstern vorbei und bilden uns ein, wir könnten uns alles kaufen, was uns gefällt.«

Lottie lachte.

»Ja, genau das tun wir«, stimmte sie zu. »Und wenn ich unterwegs einen Bekannten treffe, werde ich ihn bitten, mir einen neuen Hut zu schenken. Ich kann den hier nicht mehr sehen!«

»Aber du siehst ganz wundervoll darin aus, Mama!« sagte Clova eifrig.

Sie sah die verdächtigen rosafarbenen Flecken auf den Wangen der Mutter und dachte, daß sie wenigstens für Minuten nicht die Unwahrheit gesagt hatte.

In der vergangenen Nacht hatte sie die Mutter husten gehört, und obwohl sie keine Fragen stellte, vermutete sie, daß Lottie Blut gespuckt hatte, es ihr jedoch verschwieg.

Es war ein warmer Frühlingstag, die Kastanienbäume standen kurz vor der Blüte. Nach einer Weile erreichten sie die Rue de Rivoli, und schon bald blieb Lottie hingerissen vor einem Pelzgeschäft stehen.

Im Fenster lag eine Zobelstola und der dazu passende Muff.

»Genau das ist es, was ich haben möchte!« rief Lottie. »Schon ewig wünsche ich mir so etwas.«

»Dann stell dir einfach vor, du würdest es tragen, Mama«, riet Clova ihr. »Stell dir vor, die Stola liegt um deine Schultern, während du die Hände in dem warmen Muff vergraben hast. Dann bist du die Besitzerin, genauso, als ob du es dir leisten könntest, zwei so wundervolle Dinge zu erstehen.«

Lottie lachte laut, und mehrere Leute wandten sich zu ihr um.

Sie gingen weiter, doch plötzlich schwankte Lottie. Clova legte den Arm um sie.

Sie brauchten sehr lange für den Heimweg, denn Lottie war kaum imstande, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Zu Hause angekommen, mußte Clova die Mutter fast die Treppe hinauftragen.

Sie entkleidete sie und brachte sie zu Bett. Als Lottie eingeschlafen war, verließ Clova noch einmal das Haus.

Die Bank, in der Lionel Arkwright das Konto für sie eingerichtet hatte, lag in der Rue Royal.

Clova betrat die Schalterhalle und bat einen Bankangestellten, sie zum Direktor zu führen.

Monsieur Beauvais war ein älterer Mann, der die Bank schon seit einigen Jahren leitete. Clova kannte ihn.

»Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen, Monsieur«, sagte sie in perfektem Französisch, nachdem er sie begrüßt hatte, »aber meine Mutter ist sehr krank. Ich weiß, daß wir unser Konto bei Ihnen schon leicht überzogen haben, aber ich möchte Sie bitten, uns einen weiteren Kredit zu gewähren.«

»Ich fürchte, das ist unmöglich, Mademoiselle«, erwiderte er. »Obwohl ich Ihnen gern helfen möchte, ist es der Grundsatz unserer Zentrale, keine Kredite ohne genügende Sicherheiten zu vergeben. Und an diese Anweisung bin ich gebunden.«

»Das verstehe ich natürlich«, gab Clova ihm recht. »Aber ich brauchte nur ein paar Louisdore für ein oder zwei Wochen. Danach wird meine Mutter wieder gesund sein, und ich kann Ihnen das Geld gewiß zurückzahlen.«

»Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?«

Während er Clova über seinen Schreibtisch hinweg betrachtete, bemerkte er, wie schön sie war.

Gleichzeitig dachte er, daß sie viel zu schmal war. Ihr Kinn stand spitz über dem schlanken Hals, und die ausdrucksvollen Augen wirkten viel zu groß in dem kleinen Gesicht.

»Ich bin sicher, daß es mir ein leichtes wäre, irgendwo als Englisch- oder Französischlehrerin eine Anstellung zu finden. Doch im Augenblick wage ich es nicht, meine Mutter alleinzulassen.«

Sie hatte sich diese Antwort schon vorher zurechtgelegt, für den Fall, daß der Bankdirektor sie fragen würde. Doch noch während sie sprach, hatte sie das Gefühl, nicht sehr überzeugend zu wirken.

Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Sie vermutete, der Mann hinter dem Schreibtisch überlegte nur noch, wie er ihr seine Absage möglichst schonend beibringen konnte.

Dann, als spielte er um Zeit, sagte er: »Alles, was ich tun kann, Mademoiselle, ist folgendes: Ich werde an die Zentrale schreiben und den Herren des Vorstands Ihren Fall darlegen. Ich werde darauf hinweisen, daß Ihre Mutter eine sehr alte Kundin bei uns ist.«

»Meine Mutter arbeitet mit Ihrer Bank zusammen seit meinem siebten Lebensjahr«, erwiderte Clova und erinnerte sich daran, daß dies ihr Alter gewesen war, als sie nach Frankreich kam.

Monsieur Beauvais nickte.

»Und nun«, fuhr Clova fort, »bin ich fast neunzehn. Wir sind sogar sehr alte Kunden bei Ihnen.«

Er lächelte und erhob sich.

»Ich verspreche Ihnen, mein Bestes zu tun, Mademoiselle. Und ich werde Sie die Antwort so schnell wie möglich wissen lassen.«

Clova konnte nichts anderes tun, als sich bei ihm zu bedanken. Während sie langsam nach Hause zurückging, dachte sie verzweifelt, daß jetzt nur noch ein Wunder ihr helfen könnte.

»Bitte, lieber Gott«, flehte sie, »schicke uns jemanden, der Mama hilft. Sie hat nicht mehr lange zu leben, und an Hunger zu sterben muß, grausam sein.«

So erreichte sie die Haustür. Die Hausmeisterin, eine freundliche junge Frau, trat eben nach draußen, eins ihrer Kinder auf dem Arm.

»Waren Sie einkaufen, M’mselle?« fragte sie.

Clova sagte ihr die Wahrheit.

»Ich habe keinen Sou mehr zum Einkaufen, Madame. Leider nicht. Mama leidet Hunger, und ich nicht weniger.«

Sie fürchtete schon, die junge Frau könnte sie fragen, wie sie denn unter diesen Umständen die Miete zahlen wolle, doch statt dessen sagte sie: »Vom Frühstück sind noch etwas Milch und einige Croissants übriggeblieben. Wenn Sie Verwendung dafür haben, können Sie sich gern bedienen.«

Sekundenlang war Clova versucht, der jungen Frau aus Dankbarkeit um den Hals zu fallen. Doch dann sagte sie nur: »Danke, Madame! Vielen, vielen Dank. Auch im Namen von Mama. Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.«

Sie ging ins Haus und betrat die Hausmeisterwohnung, wo sie Milch und Croissants fand, und eilte damit die Treppe hinauf.

Lottie schlief noch, und Clova dachte, wenn die Mutter aufwachte, würde sie eins der Croissants in Milch einweichen und die Mutter löffelweise damit füttern.

Sie setzte sich ans Fenster und blickte hinaus in den Sonnenschein. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun könnte.

»Mama wird morgen im Bett bleiben«, entschied sie, »während ich auf Arbeitssuche gehe.«

Aus dem gegenüberliegenden Haus sah sie eine Frau kommen. Sie war sehr auffallend gekleidet und wiegte sich beim Gehen aufreizend in den Hüften.

Es war später Nachmittag, und Clova wußte, wohin die Frau ging.

Sekundenlang dachte sie, daß sich ihr hier eine Möglichkeit böte, die wenigstens die finanziellen Probleme lösen würde. Doch dann schloß sie entsetzt die Augen.

Die in Milch aufgeweichten Croissants stießen bei Lottie auf keine große Begeisterung. Doch das, was sie nicht essen konnte, würde Clova davor bewahren, schlaflos und mit knurrendem Magen die Nacht zu verbringen.

Clova hatte schon in der vergangenen Woche alle Kleider besichtigt, auf der Suche nach etwas, das sich noch zu Geld machen ließ. Aber alles, was auch nur ein paar Centimes eingebracht hätte, war bereits verkauft worden.

Sie verließ ihr Schlafzimmer und ging über den Flur zum Zimmer der Mutter, als sie im Treppenhaus die Stimme des Concierge hörte.

»Hallo, M’mselle, sind Sie es? Hier gibt es einen Brief für Sie, der Ihnen nur persönlich ausgehändigt werden darf.«

Clova widerstand dem Impuls, loszurennen, um den Brief so rasch wie möglich in ihren Besitz zu bringen. Aber es lohnte sich nicht. Er konnte nur von der Bank sein. Der Direktor würde ihr in ebenso höflichen wie entschiedenen Worten die Ablehnung des Kreditantrages mitteilen.

Sie erreichte die Hausmeisterkabine, in der der Hausmeister in einem altersschwachen Sessel saß und ein Kuvert in der Hand hielt.

»Voila, M’mselle«, sagte er. »Sieht ziemlich wichtig aus.«

»Danke, Monsieur, das tut er wirklich!« stimmte Clova zu.

Sie hatte nicht die Absicht, seine Neugier zu befriedigen, und wandte sich zum Gehen, ohne den Umschlag geöffnet zu haben. Das tat sie erst, als sie den nächsten Treppenabsatz erstiegen hatte.

Sie trat ans Fenster, das dringend einer Reinigung bedurft hätte, und öffnete den Brief, auf dessen Umschlag der Name der Bank stand.

Langsam holte sie den Briefbogen hervor und entfaltete ihn. Als sie die ersten Worte las, stutzte sie und warf noch einmal einen ungläubigen Blick auf den Umschlag, um ganz sicher zu gehen, daß der Brief auch an sie gerichtet war, und in ihren Augen schien sich die Morgensonne zu spiegeln.

»Mama» Mama!«

»Was ist denn?« fragte Lottie.

Nur mit Mühe brachte Clova die Worte zustande: »Erinnerst du dich noch an Jan Maskill?«

Eine Pause entstand, während Lottie nachdachte.

»Sollte ich?«

»Aber ja! Denk nach, Mama. Er kam aus Afrika. Ein gutaussehender Mann. Er wohnte etwa einen Monat lang bei uns in Paris, dann fuhren wir nach Monte Carlo. Es muß ungefähr vor fünf oder sechs Jahren gewesen sein.«

»Ja... Jan Maskill! Natürlich, jetzt erinnere ich mich an ihn!« Lottie lächelte. »Er liebte mich, Clova. Obwohl er verheiratet war und zwei langweilige Kinder hatte. Er erzählte unentwegt von ihnen.«

Clova schaute auf den Brief.

»Ja, er muß dich wirklich geliebt haben. Er ist gestorben und hat dir ein Vermögen hinterlassen.«

Lottie starrte sie an.

»Was meinst du mit einem — Vermögen?«

»Seine Bank hat sich soeben mit unserer in Verbindung gesetzt. Der Bankdirektor teilt mir mit, daß der Bank eine Reihe von Aktien — Aktien einer Diamantmine —, die auf deinen Namen lauten, zugeschickt wurden.«

»Aktien?« fragte Lottie. »Die Diamanten wären mir lieber.«