Die Schrecken der anderen - Martina Clavadetscher - E-Book

Die Schrecken der anderen E-Book

Martina Clavadetscher

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Beschreibung

Martina Clavadetscher begibt sich ins Dunkel der Geschichte und Gesellschaft, wo das Unerzählte lauert. Schicht für Schicht trägt sie ab, um zur historischen Wahrheit vorzudringen. Sie zeigt, dass Dulden die scheinheiligste Form des Verbrechens ist, weil es keinen Widerstand kennt. Sie lässt uns begreifen, dass wir Geschichte zwar nicht weiterspinnen, aber ihre vergessenen Fäden ins Sichtbare ziehen können. Was sie erzählt, könnte die Geschichte jedes Menschen sein. In jedem Land, zu jeder Zeit. Solange niemand aus den Schrecken der anderen lernt.

Ein Junge stößt beim Schlittschuhlaufen auf einen Toten im Eis und den Beginn einer sonderbaren Geschichte. Kern, ein schwerreicher Erbe, kann nicht länger ignorieren, dass seine Augen schwächer werden. Doch will er überhaupt klarsehen? Da ist Kerns hundertjährige Mutter, die den größten Teil des Tages im Dachgeschoss der Villa im Bett liegt, und doch mit brutaler Konsequenz die Fäden in der Hand hält. Da ist Schibig, ein einsamer Archivar, der sich mitreißen lässt von Rosa, der Alten aus dem Wohnwagen, die an den eigentlich unspektakulären Vorfällen ein spektakuläres Interesse hat – weil sie versteht, dass nichts je ins Leere läuft, sondern alles miteinander verbunden ist: Der Tote im Eis, die Zylinderherren im Gasthof Adler, Kerns Frau, die sich weigert, Kreide zu essen, ein geplantes Mahnmal, bedrohliche Bergdrachen und andere hartnäckige Legenden.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Martina Clavadetscher

Die Schrecken der anderen

Roman

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Motto

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Die Kapuzensache

14

15

16

17

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19

Sieben Ansichtskarten aus der Vergangenheit

ERSTE ANSICHTSKARTE

ZWEITE ANSICHTSKARTE

DRITTE ANSICHTSKARTE

VIERTE ANSICHTSKARTE

FÜNFTE ANSICHTSKARTE

SECHSTE ANSICHTSKARTE

SIEBTE ANSICHTSKARTE

20

21

22

23

24

Was kurz davor geschah

25

Geschichte aus der Geschichte – Nummer eins:

Geschichte aus der Geschichte – Nummer zwei:

26

27

Geschichte aus der Geschichte – Nummer drei:

28

29

30

31

32

33

34

35

36

Anmerkungen

Danksagung

Zum Buch

Vita

Impressum

Motto

Die Welt ist grösser als das Dorf: über den Wäldern stehen die Sterne.

– Friedrich Dürrenmatt, Labyrinth. Der Winterkrieg in Tibet –

1

Vom Methangas erfährt der Junge auf dem Pausenhof.

Jemand aus der oberen Klasse zeigt ihm das Video mit der Feuerfontäne und erklärt, wie einfach die Sache geht:

– Mit einer Spitzhacke schlägst du bei der dünneren Eisschicht ein Loch hinein, hältst sofort das Feuerzeug hin und – Stichflamme!

Diese simple Anleitung und die darauffolgende Neugier sind ausschlaggebend dafür, dass der dreizehnjährige Junge nur einen Tag später auf seinen Schlittschuhen Richtung Seemitte skatet, was er – wie er im Nachhinein zu Protokoll geben wird – lieber nicht getan hätte.

Aber dieses Verhängnis geschieht und es geschieht in einer Gegend, die kaum als eine offene wahrgenommen wird. Da sind die Felsen des Frakmonts, kantige Ausläufer der Alpen, da sind unebene Täler, eine vereiste Moorlandschaft, Torf. Die weitreichende Ödnis produziert giftige Gase und hartnäckige Legenden, die wie Lehmklumpen in der alten Erde schlummern. Etwas abseits davon, in einer Talmulde, liegt das ehemalige Schlachtfeld mit dem passenden Namen: Ödwilerfeld. Dahinter folgen noch mehr Felder, Landwirtschaft, unterbrochen von Dörfern, Autobahnen und Bahndämmen, dazwischen sich wiederholende Industriebauten mit Lagerhallen für Holz oder Stahl oder Kies. Und auf den Wiesen stehen gelegentlich Tiere und grasen. Der Winter ist störrisch hier. Ein frostiger Februarwind zieht durch die Moorgegend. In den Gärtnereien stehen leere Steinbrunnen und Skulpturen, vereiste Zen-Gärten oder Marmornachbildungen von griechischen Göttern. Die Grundstücke sind abgeschirmt von Lärmschutzwänden und Hecken – und überall hängen Täfelchen mit der Aufschrift: PRIVAT.

Es ist Samstag. Das Rauschen eines Radios dringt in den Tag. Die Frequenz klärt sich, eine Melodie entsteht und wird zu einem Popsong, bis eine fröhliche Stimme die Musik beendet:

Die örtliche Polizei hat in Zusammenarbeit mit Experten von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft den gefrorenen Ödwilersee mit mehreren Stichproben geprüft und nun einen großen Teil für die Öffentlichkeit freigegeben. Die ausgeschilderten Bereiche können ab heute zu Fuß begangen oder mit Schlittschuhen befahren werden. Es ist das erste Mal seit 35 Jahren, dass die Eisschicht des Ödwilersees wieder dick genug ist. Also los! Wir wünschen allen trotz Kälte ein heißes Wochenende.

Der Moderator spielt We didn’t start the fire – und Billy Joel beginnt gerade mit seiner atemlosen Aufzählung Harry Truman, Doris Day, Red China, Johnnie Ray …, als der dreizehnjährige Junge am Seeufer sitzt und seine schwarzen Schlittschuhe schnürt. Er ist Stürmer der A-Junioren-Hockeymannschaft und gemäß Stoppuhr stets der schnellste Sprinter des Teams. Kurz nach 13 Uhr taucht der Junge unter dem rot-weißen Absperrband hindurch. Unter seiner Skijacke hat er Pickel und Feuerzeug dabei. Er will die Methangasblasen finden. Er will das Feuer speien lassen. Er will die Stichflamme filmen. Er will das Video hochladen. Er will berühmt werden.

Die Kufen seiner Eishockeyschuhe gleiten ins Abenteuer. Flaumiger Pulverschnee liegt auf dem noch unbefahrenen Eis. Das regelmäßige Schleifgeräusch begleitet seinen Atem, er ist auf gutem Weg, er glaubt schon die ersten Gasblasen zu sehen, als er stolpert und auf die Knie fällt.

Er flucht. Und ahnt die Ursache. Die rechte Stahlkufe ist an einem Widerstand hängen geblieben. Der Junge kriecht näher. Aus Wut und Neugier will er sehen, was genau seinen makellosen Lauf gestoppt hat. Das Hindernis ist blau und sieht aus wie das Stück einer Jeanshose. Er zerrt am Stofffetzen. Er kriegt es nicht zu fassen. Es ist zu straff gespannt. Unter dem Textil befindet sich etwas Hartes, wie gefrorenes Holz. Mit den Handschuhen wischt er den Schnee weg, putzt sich die Sicht frei – bis er genug sieht.

Sein Atem stoppt. Und die Welt explodiert zu einem Pfeifton.

Wie an einem Gummiseil befestigt, schnellt er zurück, fällt auf den Hintern, rutscht, taumelt, eilt auf allen vieren rückwärts, krabbelt wie ein Insekt, bis er endlich wieder auf den Schlittschuhen steht. Auf dem Weg zurück zum Ufer schlägt er seinen eigenen Sprintrekord.

Um 13:38 Uhr geht bei der Zentrale ein dringender Anruf ein. Die Information wird ordnungsgemäß weitergeleitet.

Von Notruf kann keine Rede sein.

Sein Telefon leuchtet jetzt schon zum zweiten Mal. Stumm liegt es zwischen zwei Papierstapeln und erlischt ungesehen. Hinter den Stapeln sitzt Schibig mit zerwühltem Haar. Sein Blick und die gerunzelte Stirn gelten der silbernen Schere, mit der er einen Zeitungsartikel ausschneidet. Überhaupt ist das ganze Wohnzimmer voller Papier, Archivkisten, Bücher, die schon einen süßlichen Geruch absondern – nur aus der Küche riecht es seltsam salzig, da er mittags seine Wienerwürstchen im Wasserkocher zubereitet hat. Seine Tage vergehen geordnet. Die Wege und Orte sind klar überschaubar. Der ruhige Arbeitsplatz im Archiv, seine Dreizimmerwohnung – wobei sich die beiden langsam zu ähneln beginnen, wie er merkt –, die Fahrten zwischen den beiden Orten in seinem alten, eckigen VW Polo, dann die Joggingstrecke am See entlang, sogar die Einkaufszentren meistert er mittlerweile ohne Probleme. Die Atemübungen helfen. Hinzu kommt die alte Liste des Therapeuten, die er bei den ersten Anzeichen durchgeht: Atmen, Faust ballen, kontrolliertes Gähnen, Stopp sagen und wissen: Es geht vorüber. Er kommt im Alltag bestens zurecht; die Wasserkochersache ist eine Ausnahme. Und seit seine Exfreundin ihre besorgten Besuche eingestellt hat, muss er nicht mehr so tun, als nehme er aktiv an der Gesellschaft teil. Schibig weiß mittlerweile, dass sich seine Papierwelt nicht so einfach mit der Welt da draußen synchronisieren lässt. Alles geht ihm zu schnell. Die Gegenwart galoppiert davon, er hinkt hinterher und bringt es höchstens fertig, ihre bruchstückhaften Überbleibsel einzusammeln, damit sie eines Tages einen Zusammenhang, vielleicht sogar einen Sinn ergeben.

Schibig legt die Schere hin und schiebt den ausgeschnittenen Zeitungsstreifen behutsam in eine Mappe. Zufrieden atmet er in die Stille, klopft mit den Zeigefingern einen kurzen Trommelwirbel auf die Schreibtischkante, als das Telefon erneut aufleuchtet.

Phil – steht da auf dem Bildschirm. Der Polizistenbruder seiner Exfreundin, der nie aufgehört hat, ihn als eine Art Freund zu sehen, ihm ungefragt Videos von erwachsenen Männern auf Wasserrutschen oder wild gewordenen Rasenmähern schickt, und ab und zu sogar im Archivkeller vorbeischaut. Etwas widerwillig hält er das Gerät ans Ohr, worauf eine Stimme sofort sagt:

– Schibig, ich weiß, du gehst kaum raus, aber du musst mir schnell helfen.

– Ungern,

antwortet Schibig ehrlich, obwohl er weiß, dass er es trotzdem tun wird, und obwohl er merkt, dass ihm die Aufregung schon jetzt den Hals zuschnürt.

– Bitte,

sagt die Stimme und ergänzt:

– Jemand hat sich offenbar einen Scherz erlaubt, den ich kurz prüfen muss, aber ich bin gerade in der Stadt, und du wohnst da gleich in der Nähe.

Phil macht eine Pause. Schibig wartet auf mehr.

– Das ist in zehn Minuten erledigt, versprochen.

Schibig schließt die Augen und willigt ein.

2

Drei Monate zuvor sitzt ein gut gekleideter Mann in seinem Büro und tut nichts. Die Kugelschreiber stehen unberührt im ledernen Stifthalter. Die Schreibunterlage ist sauber. Die Büroklammern glänzen.

Kerns Agenda hat für heute keine Termine mehr aufgelistet, die Verhandlungen am Vormittag haben ihm gereicht. Auf dem Tisch steht das gerahmte Foto von Hanna bei einem Sommerfest vor fünf Jahren, daneben eine schwere Figur aus dem Film Star Wars zur Dekoration. Die teure Miniaturnachbildung von Han Solo in Karbonit hat ihm Hanna zum Geburtstag geschenkt. Kern betrachtet das leidende Gesicht des eingefrorenen Weltraumhelden. Die geschlossenen Augen sind versiegelt, die Handflächen und Beine ragen ansatzweise aus dem silbernen Karbonitblock. Der kleine Mann ist gefangen im Moment. Han Solos Wangen schimmern, und der halb geöffnete Mund sieht aus, als wollte er noch etwas sagen. Kern fixiert den Helden, als warte er auf ein Lebenszeichen, doch die Umrisse der Metallfigur werden milchig. Kern blinzelt und richtet den Block sauber aus. Er reibt sich die Augen. Seit Tagen spielt ihm die Wahrnehmung übel mit. Die Welt verschwimmt, das Blattwerk der Bäume verklumpt zu einem durchgehenden Grün, und auf den Werbeanzeigen zerfließen die Buchstaben zu faserigen Zacken. Kern kann es nicht mehr ignorieren, die Dinge zerfransen von den Rändern her, schlimmer noch: An den Konturen kleben gelegentlich spinnennestartige Bündel. Da nisten Seidenknäuel in allen Ecken, auch auf dem Weg zur Verhandlung sah er glitzernde Gespinste in der Luft, dünnste Fäden verbanden Kirchportal und Pizza Xpress, Straßenlaterne und Bushaltestelle, als hätten Tausende Baldachinspinnen ihre seidenfädigen Segel aus dem Hinterleib geschossen und flögen damit kilometerweit über Gebirge und Ozeane und landeten schließlich hier, ausgerechnet hier, wo sie für Kern eine Kulisse des Horrors webten.

Am schlimmsten jedoch irrlichtert seine Sehstörung bei den Menschen. Ihre Gesichter zerkochen gelegentlich zu einem fleischigen Brei, starren ihm wie Säureunfälle entgegen, dabei ist es ganz egal, auf wen er trifft. Von einer Sekunde auf die andere werden seine Gegenüber gräulich, als alterten sie in Rekordtempo. Etwas Totes haftet an ihnen. Wie kraftlose Gespenster öden sie ihn an. Kern kann sich nicht erklären, ob diese Effekte das Werk von elektromagnetischen Teilchen, oder eine Störung seiner Hornhaut, oder schlicht ein Aussetzen seines Verstandes sind.

So oder so, das Büro wartet auf Betrieb. Doch das Telefon schweigt. Nur ab und zu blinkt das eckige Lämplein, wenn im Sekretariat ein Anruf eingeht. Kerns Hände liegen auf der Tischplatte. Er weigert sich, die Computermaus zu berühren. So bleibt der Bildschirm schwarz, das schönste Schwarz. Er will seine E-Mails nicht sehen, er will überhaupt nicht hier sein. Hätte er die Wahl, würde er sich eines Nachts einfach davonschleichen, meilenweit fahren, Lichtjahre weit davonfliegen, wie der Schmuggler Han Solo mit dem Millenniumfalken durch Gas- und Staubnebel in unbekannte Galaxien tauchen. Ein kindischer Wunsch, weiß Kern – trotzdem. Hier ist alles schon entdeckt, hier ist alles schon geschehen, ihm bleibt nur die Langweile.

Er betrachtet seine Hände. Da sind trockene Risse. Dabei hat ihm die Schlacht zuvor gar nichts abverlangt. Sein Assistent hatte das Gespräch geführt und die Runde weitgehend dominiert. In der Manier eines Emporkömmlings hatte er die Argumente sauber geordnet ins Feld geführt, griff mit einem klaren Angebot an und besiegte am Ende alle Gegenvorschläge. Kern saß unterdessen einfach daneben und wartete, wie eben ein Feldherr in seinem Zelt auf die Siegesmeldung wartet. Am Schluss brauchte er nur noch zu nicken und mit einem Füllfederhalter zu unterschreiben. Die Parzelle neben dem alten Schlachtfeld gehört jetzt ihm, dazu eine Scheune und zwei historische Torfstecherhütten. Dass nur dreihundert Meter entfernt bald ein Denkmal gesetzt wird, ist der einzige Wermutstropfen. Das Grundstück wird in den nächsten Tagen überschrieben. Noch mehr Boden also, noch mehr Erdenland, denkt Kern und hat dabei die Wüstengebiete des Planeten Tatooine vor Augen, die im Gegensatz zu Han Solos Heimat – dem Industrieplaneten Corellia – zwar mehr Freiraum, aber nicht weniger Gefahren bieten. Aber Kern weiß eines mit Gewissheit: Geld trotzt jeder Gefahr, Geld bleibt die tödlichste Waffe. Das Starren auf seine müden Hände weckt weitere Fantasien: Er sieht seine zitternden Finger, die nach dem Gefecht nicht stillhalten wollen, er sieht Blutspritzer an seinen Knöcheln kleben, allein gelassen kniet er an einem Trog und reinigt das Schwert, oder er sieht sein bärtiges Gesicht im milchig-zersprungenen Spiegel einer Tankstellentoilette, die Pistole auf dem Waschbeckenrand, das dampfende Wasser gleitet gerötet in die Keramikschüssel, draußen herrscht Nacht, und nur ein Neonschild pulsiert irgendwo. Seine Hände sind blutig, doch das Herz bleibt unentwegt weiß.

Reiß dich zusammen, denkt Kern, genug von dieser Weinerlichkeit, alles Schwache wird begraben sein, denkt er weiter und denkt es in einer verärgerten Stimmlage. Die Zurechtweisung sitzt tadelnd in ihm. Sie sitzt tadelnd in ihm, egal wohin er selbst in Gedanken geht, ihre verbalen Anfälle geschehen direkt in seinen Hirnwindungen. Ihre eisigen Worte schieben sich wie eine Gletscherzunge durch sein Gehirn, und am Ende bleibt das Geröll in seinem Gedächtnis liegen, verdreckt und schwer. Jede Mutter hinterlässt ihre Ablagerungen. Er weiß beim besten Willen nicht, was ihn hier hält. Kerns Blick bleibt wieder am eingefrorenen Han Solo hängen. Das Karbonitgefängnis ist ein temporärer Sarg, erkennt er, und Schlaf ist ein temporärer Tod. In diesem Moment geschieht es: Die Augenbrauen der Figur zucken, die wulstigen Lippen zittern, als wollten sie endlich reden, als wollten sie endlich sagen, was es kurz vor Schluss noch zu sagen gab.

Das reicht, denkt Kern, reibt nochmals die Augen und greift nach dem Telefon:

– Anna?

Am anderen Ende antwortet eine junge Stimme umgehend und erwartet die Anweisungen.

– Anna, ich brauche einen Termin beim Optiker.

Die junge Stimme versichert, dass das kein Problem sei, und weist bei der Gelegenheit auf einen lang aufgeschobenen Aktenstapel hin, der endlich zu erledigen sei.

– Der von meiner Mutter?

Die junge Stimme bejaht und meint besänftigend, dass es sich ja bloß um ein paar Unterschriften handle, dann sei die Sache erledigt. Kern zögert.

– Mach ich morgen,

sagt er, legt auf und das Büro versinkt wieder in Stille.

3

Wieder drei Monate später steht die Alte mit einer frisch gedrehten Zigarette am Fenster und summt. Durch die fleckige Scheibe beobachtet sie das Schauspiel auf dem See. Wie orientierungslose Würmchen schieben sich die Menschen dort über das Eis, fallen gelegentlich hin, stehen wieder auf, schieben sich weiter, plumpsen erneut hin, reichen einander die Hand und gleiten verbunden weiter.

Die Alte lässt die dünne Zigarette über ihre Fingerkuppen rollen, mit der anderen Hand stopft sie eine wilde Haarsträhne hinters Ohr. Alles hier riecht nach Abwesenheit. Erst seit ein paar Tagen ist sie zurück im Wohnwagen, zurück in dieser Klimazone. Trotz der hochgedrehten Heizung trägt sie ihre wärmste Strickjacke, ein dickes, rot-schwarzes Ungetüm, darunter ein grellbuntes T-Shirt mit der Aufschrift Craft must have clothes but truth loves to go naked SEX. Die Welt draußen ist grau. Die Sonne drückt über der Nebeldecke. Die Schneelandschaft am Ödwilersee blendet unfreundlich, während die Berge noch unfreundlichere Schatten auf die Moorlandschaft werfen. Fröhliche Menschen in einer tristen Kulisse, analysiert die Alte und zögert – oder umgekehrt. Ganz die angestaubte Welt, die sie in Erinnerung hatte, denkt sie und kratzt einen eingetrockneten Kaffeespritzer von der Scheibe. Sie will sich gerade nach dem Feuerzeug umsehen, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit fesselt. Eines der Würmchen fällt aus der Rolle. Mit Wackelbeinen und in neonfarbener Skijacke schlurft ein Mann über das Eis. Schleifschritt um Schleifschritt geht er wie in Zeitlupe vorwärts, geht geradewegs durch die vielen Eisläufer hindurch, wie ein Fremdkörper kämpft er sich geradlinig weiter, löst sich aus der Menge und taucht nach rund hundert Metern unter dem Absperrband hindurch. Dann ist er der einzig grelle Punkt in einem weiten Weiß. Die Alte lässt ihn nicht aus den Augen.

Schibig versucht seine Atmung zu kontrollieren. Noch ist da kein Ohrenrauschen, keine Übelkeit, kein Herzrasen, noch ist alles gut. Die Luft ist eisig. Das hilft. Sein Körper ist klar wie ein Kristall. Vorsichtig schiebt er seine Schuhsohlen über die harte Eisfläche in der stillen Hoffnung, die Sache dauere wirklich nur zehn Minuten, und der Junge hatte tatsächlich bloß einen sehr schlechten Humor oder einfach einen klumpigen Schatten aus Schwemmholz und Herbstlaub gesehen. Oder es war etwas Plastikabfall, der sich dort ausgerechnet in einer Gasblase angesammelt hatte, mutmaßt Schibig weiter, um sich so von einer unliebsamen Alternative abzulenken.

– Höchst unwahrscheinlich,

murmelt er zur Beruhigung vor sich hin, denn:

– Höchst unwahrscheinlich und bei diesen Temperaturen eigentlich sogar unmöglich,

hatte ihm auch Phil am Telefon versichert, und trotzdem ärgert sich Schibig, dass er überhaupt ans Telefon gegangen war. Das Archiv war samstags geschlossen, er hätte das ganze Wochenende ungestört zu Hause lesen können. Aber er hatte dem verzweifelten Phil versprochen, dass er ausnahmsweise die Angelegenheit schnell und diskret für ihn prüfte, um dann Entwarnung zu geben. In gewisser Weise war er sogar geschmeichelt gewesen, dass Phil ausgerechnet ihm diese inoffizielle Aufgabe zugetraut hatte.

– Wenn mich jemand bittet und mir Aufgaben gibt, dann geht es,

flüstert Schibig,

– Aufgaben eliminieren meine Ausreden, Aufgaben sind gut,

murmelt Schibig weiter, während er behutsam auf Knackgeräusche oder dunklere Stellen achtet. Auf seinen Schuhen haben sich kleine Eisklümpchen gebildet, trotzdem ist ihm nicht kalt. Die alte Skijacke tut noch ihren Dienst, auch wenn sie streng nach Mottenkugeln riecht.

– Stimmt schon, bei diesen Temperaturen kommt wirklich gar nichts an die Oberfläche, physikalisch unmöglich, es ist bestimmt nichts, gar nichts,

schiebt er sein Gemurmel wie ein Mantra vor sich her, und je weiter er über die Eisschicht schlappt und den einsamen Kufenspuren folgt, umso mehr staunt er über seinen Mut. Sein Herz schlägt stark. Sein Atem ist frei. Bald muss er bei der Stelle sein.

Derweil kocht im Wohnwagen das Kaffeewasser. Der süßliche Duft würde dem engen Raum eine gewisse Gemütlichkeit verleihen, tigerte die Alte nicht vor dem Fenster hin und her. Ein weiterer Kontrollblick genügt ihr: Der Mann mit der Skijacke kommt kaum vorwärts. Wieder ordnet sie die Dinge auf dem Tisch, legt eine Mappe mit Kontoauszügen weg, schiebt ihre Notizen neben das Radiogerät, stapelt das weiße Ladekabel auf die Tageszeitung und den Tabakbeutel auf das Ladekabel. Der kleine Turm hilft ihrer Illusion einer Ordnung. Aber ihre Ungeduld wächst. Unterdessen könnte ich mich irgendwo einbringen, denkt sie, es gibt immer etwas zu tun, ich bin schließlich nicht zurückgekommen, um bloß tatenlos rumzusitzen.

Erneut schielt sie zum Fenster. Kaum hat sie den neonfarbenen Punkt gesehen, blickt sie zur Ablenkung wieder aufs Telefon, wo keine Neuigkeiten auf sie warten. Seit ihrer Ankunft sind die Pläne ins Stocken geraten, also legt sie das Telefon weg, um es sogleich wieder in die Hand zu nehmen, prüft dann nochmals die Uhrzeit, nochmals die E-Mails und legt das Gerät endgültig weg. Einen Augenblick steht sie bewegungslos da und empfindet diese Trägheit als Schmerz. Wie tatenlos sie von oben aussehen muss, denkt die Alte. Aus einer Raumkapsel gesehen, bin ich ohne Einfluss, ärgert sie sich, nur ein zuckender, zögernder Floh in einer Metallschatulle bin ich – sogar dieser Skijackenmann hat mehr Bewegung als ich, denkt sie weiter, und ein letzter Blick aus dem Fenster bringt die Entscheidung. Sie steckt die vorgedrehte Zigarette in eine Tasche, greift nach der Wollmütze und zieht schließlich die Kaffeekanne vom Herd. Als sie nur wenige Minuten später den Wohnwagen verlässt, schlägt ihr ein eisiger Wind entgegen.

4

Kern lauert in der Dunkelheit und gibt sich große Mühe. Vor seinen Augen schwebt ein schweres Gehäuse. Der Phoropter entstellt sein Gesicht zu einer brutalen metallischen Maske, die Kern an die Helme von intergalaktischen Kriegern erinnert. Etwas geschieht am optischen Apparat. Ein passgenauer Fächer zieht vorbei, und eine gläserne Schicht schiebt sich zwischen Kern und die Welt. Der Raum vor ihm wölbt sich, rastet ein, wirkt plötzlich näher. Ein Klicken erklingt, das Licht wechselt, worauf an der Wand gegenüber eine schwarz-weiße Projektion wegkippt, um sogleich verändert wieder zu erscheinen.

– Und jetzt, Herr Kern?

– K, R, F, D, etwas klarer, ja.

– Und wenn ich diese Linse vorschiebe? Besser oder schlechter?

– Besser.

– Wunderbar.

Der Optiker notiert, Kern wartet – und Kern schwitzt. Seine wollene Anzughose klebt am Kunstleder des Sessels und klebt noch mehr an seinen Oberschenkeln. Es surrt. Die Hand vor ihm dreht jetzt an der Linsenfassung.

– Und wie geht es der Frau Mutter?

Der Optiker formuliert seine Frage vorsichtig, als wüsste er Bescheid, denkt Kern und weiß gar nicht, was der Optiker denn genau wissen könnte – und vor allem woher.

– Es geht ganz ordentlich,

lügt Kern.

– Das freut mich,

sagt der Optiker mit einer kundenfreundlichen Stimme, die viel zu süß wirkt für diesen Männermund, wie Kern findet. Er fokussiert die spröden Lippen inmitten von Bartstoppeln, die wie schwarze Spinnenklauen ungefragt aus der Haut sprießen oder wie diese Drahtenden von Basteleien, biegsame Skelette, mit denen seine Frau Hanna ihren handgroßen Püppchen die gewünschte Haltung aufzwingt.

– Ihre Frau Mutter ist ja jetzt auch schon –,

sagt der Optikermund nun und wartet, weil der Satzanfang eigentlich eine Frage ist.

– Fast hundert,

vervollständigt Kern und findet keinen Weg, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

– Fast hundert, mein gütiger Gott, das ist ein sehr stolzes Alter, und wenn man bedenkt, wie sie mit ihrem Herrn Vater selig alles aufgebaut hat, das Geschäft, und alles; sehr beeindruckend.

– Von nichts kommt nichts,

sagt Kern wie ein Automat, worauf der Optiker ebenso automatisch antwortet:

– Wie wahr, wie wahr.

Der Optiker notiert weiter und scheint mit seiner Untersuchung fertig zu sein. Ja, es geht ganz ordentlich, denkt Kern nochmals, es geht vorwärts, auch wenn er gar nichts dafür tut – aber auch nichts dagegen.

Minuten später zieht der Optiker unter der Kasse ein eingeschweißtes Brillentuch hervor und legt es als Geschenk auf den Tresen.

– Wir verbessern Ihre Sehstärke auf jeder Seite um eins Komma sieben fünf. Normalerweise stagniert in Ihrem Alter der Prozess, das heißt, normalerweise kommt es so spät eigentlich nicht plötzlich zu einer so sprunghaften Sehschwäche, aber jede Person ist da ganz anders.

Kern nickt und kneift die Augen zusammen. Von den Gespinsten und den zerfransten Gesichtern hat er ihm nichts erzählt. Das Unerklärliche beschämt ihn.

– Wir melden uns, wenn die Gläser da sind,

sagt der Optiker. In diesem Moment klingelt die Türglocke. Ein paar schwere Schuhe betreten den blauen Teppich des Optikergeschäfts. Ein staubiger Geruch erfüllt die Luft. Da ist Moder, Holzkohle und Kälte. Jemand hustet und wechselt danach in ein lautes Sprechen.

– Tag wohl, Ihnen allen,

sagt der Kunde nicht unfreundlich, worauf das ganze Geschäft in seine Richtung blickt. Der Mann trägt einen auffälligen Bart, auf dem Kopf sitzt eine Wollmütze, und ein abgewetzter Militärmantel hängt fast bis zum Boden. Seine Anwesenheit verschluckt das letzte Licht an diesem grauen Novembertag. Einzig seine hellblauen Augen strahlen. Sie leuchten aus der Finsternis, als hätte sich dort ein warmes Stück Julihimmel verirrt. Diese Frische passt nicht zu seinem restlichen Äußeren, findet Kern, oder umgekehrt, das restliche Äußere passt nicht zu diesen weltoffenen, fast schon fröhlichen Augen.

– Guten Tag, Herr Boll,

sagt die Mitarbeiterin mit hoher Stimme und macht zwei, drei Schritte auf ihn zu. Die freut sich, wundert sich Kern, der mit einer überspielten Ablehnung gerechnet, nein, darauf gehofft hatte.

– Guten Tag, Frau Weber, ich komme wegen meiner Lesebrille,

sagt der Bärtige, blickt zur Kasse und unterbricht, als er Kern dort sieht, sein ursprüngliches Anliegen mit einer schelmischen Anwandlung. Wie ein Magier schnippt er mit den Fingern, und fast flüsternd beginnt er mit einer Beschwörung:

– Der Teufel auch, das ist nicht wahr, da steht ja jener, von einer Frau ganz nackt geboren, aber auf Erden zieht er sich so an, als ob alles seinen Preis hätte, Übermut und Mut und selbst die Feigheit kann er ausstaffieren, der saubere Herr Kern, da steht er, und es ist mir eine Freude, mit dem Augenzwinkern der Metaphorik nachzufragen: Ist er hier, um endlich seine Sicht zu korrigieren?

Die Herren an der Kasse schweigen, worauf der Bärtige weiterfragt:

– Schlachtet er immer noch Schweine?

– Wie bitte?,

antwortet Kern jetzt mit Entrüstung. Seine Irritation ist echt, also versucht er seine Unsicherheit sofort mit einem angedeuteten Aufbruch und einem gespielten Lachen zu vertuschen.

– Ich habe nie Schweine geschlachtet, Sie sind ja lustig.

– Aber der Großvater hat doch Schweine geschlachtet, nicht wahr? Und dann ist es von den toten Tieren schnell aufwärts gegangen, hoch die Treppen, hoch, ein Amt, zwei Ämter, ein Vorsitz – die Politik, aber ob unten oder oben, es stinkt hierzulande überall nach Schweinedreck.

Der Bärtige unterdrückt ein Lachen und ergänzt mit gedämpfter Stimme:

– Oder sehen Sie das anders, Herr Kern?

Alle schweigen. Denn die Unsicherheit kennt nur ein Geräusch: ungewollte Stille. Kern weiß nicht, wie er antworten soll. Er wünscht sich mehr Kaltschnäuzigkeit, wünscht sich, er könnte mit einem treffsicheren Spruch einfach davonlaufen, scheitert aber allein schon im Wunsch daran, also sagt er bloß:

– Entschuldigung, kennen wir uns?

Der Bärtige lächelt. Seine blauen Augen wirken entwaffnend. Mit einer Hand greift er in die Tasche seines Mantels, nicht um dort etwas hervorzuholen, wie Kern anfangs vermutet, sondern weil ihm das bequemer scheint.

– Kennen wohl kaum,

sagt der Bärtige.

– Aber wissen Sie, wo die alte Mühle war? Die Kneipe daneben hieß Zum Bären, dann kamen die zwei alten Handwerkshäuser, der Hof vom alten Obstbauern stand am längsten, und wenn Sie da hoch gehen, dreißig Minuten bergaufwärts, da kommt der letzte Lebensmittelladen, da bin ich aufgewachsen, schönste Südseite, schönste Aussicht, früher zumindest, jetzt stehen da unten überall Ihre eckigen Überbauungen, die sich über alle Felder und bis zum Hochmoor fressen – wussten Sie, dass Moore ihre ganze ökologische Geschichte festhalten und speichern wie ein Einmachglas mit sauren Gurken? Aber ich springe von Thema zu Thema, entschuldigen Sie, Herr Kern, nur dies noch, eine kuriose Sache,

sagt der Bärtige und macht eine Atempause. Kern schleicht unterdessen ungeduldig zur Tür. Doch der Bärtige redet jetzt unbekümmert weiter:

– Es gibt Bewohner in Ihren Überbauungen, die schwören, dass sie in gewissen Nächten die Schweine schreien hören.

– Wie bitte?,

sagt Kern und hofft, sich verhört zu haben.

– Es wimmert und kreischt aus dem Boden heraus, aus der tiefen, grottentiefen Finsternis, von irgendwoher hören sie die sterbenden Tiere schreien, ganz gottserbärmlich ist ihr Wehklagen, diese Schreie, fast wie von sterbenden Menschen. Und dann verknüpfe ich in meinem Kopf das ohnehin Untrennbare miteinander: die Versehrten und die Unversehrten, Schweine klingen wie Sterbende, Feuerwerke knallen wie Gewehrsalven, der saure, sumpfige Boden konserviert die Geschichte des Lebens, und Baumetall schmeckt wie Blut. Trotzdem ist jeder Vergleich ein Hohn, nicht wahr, Herr Kern? Aber entschuldigen Sie, das alles muss für Sie wie ein schreckliches Durcheinander klingen.

Erst jetzt schweigt der Bärtige. Beinahe erstaunt, wie sehr er von seinem Wortfluss mitgerissen wurde. Und doch scheint er sich darüber zu freuen. Ein Räuspern ist zu hören, denn jetzt mischt sich die Mitarbeiterin ein.

– Herr Boll, Ihre Lesebrille kommt wohl erst morgen, aber sicher übermorgen, es tut mir leid, dass Sie nochmals warten müssen, wollen Sie vielleicht vorübergehend eines dieser günstigen Exemplare …

Der Bärtige winkt freundlich ab.

– Kein Problem, die schottischen Könige Duncan und Malcom und Macbeth haben Hunderte von Jahren gehalten, also können die auch noch einen Tag länger warten, finde ich. Gute Beispielhaftigkeit ist zeitlos, nicht wahr?

Er nickt der Mitarbeiterin zu und wendet sich dann an Kern, indem er ihm die Hand entgegenstreckt. Kern sieht die große, haarige Pranke vor sich und ergreift sie wie in Trance.

– Auf Wiedersehen, Herr Kern,

sagt der Bärtige mit einem Augenzwinkern,

– Auf dass Donnerblitze, Wind und Eis Ihnen nichts anhaben können.

– Danke,

stottert Kern, und der Bärtige zieht leicht an Kerns Hand.

– Aber er hüte sich vor dem Drängen der Worte, nur wahre Helden sind verflucht zu handeln,

ergänzt er mit tiefer Stimme, lacht daraufhin wie ein Unwetter und verschwindet mit großen Schritten aus dem Geschäft.

Eine Weile steht Kern bewegungslos da. Sein Arm bleibt ausgestreckt in der Luft hängen, als schüttle er noch die Hand eines Phantoms.

– War das ein Psalm?,

fragt er, doch niemand antwortet.

– Was sollte das heißen? War das ein christlicher Psalm? Ein Zitat?

Jetzt versucht die Mitarbeiterin die Situation zu retten.

– Oje, so war der Herr Boll noch nie, der ist sonst sehr verständnisvoll und lieb, meiner Freundin hat er letztens geholfen, ihren lästigen Ausschlag mit einer Salbe aus Wiesenkräutern und dieser Blütenmischung –

– Ist gut, Frau Weber,

unterbricht sie der Optiker, als versuche er mit dieser Zurückweisung seine Kundschaft zu schützen.

– Das bedeutet sicher gar nichts,

sagt der Optiker tröstend, aber die schlaffen Züge seines Gesichts verraten, dass er seinen Beschwichtigungen selbst nicht glaubt.

5

– Es ist definitiv ein Mensch,

sagt Schibig ins Telefon und staunt, wie klar seine Stimme klingt.

Aus der Leitung hingegen kommt zuerst gar nichts, irgendwann ist schließlich doch ein schweres Einatmen zu hören und ein zischendes:

– Shit!

Dann folgt ein Knistern. Die Überforderung wohnt im Schweigen, denkt Schibig, und als Phil sich wieder meldet, klingt dessen Tonlage metallisch gequetscht:

– Verstanden. Sorry, Schibig, du musst nicht vor Ort bleiben.

– Sicher?,

fragt Schibig ruhig und blickt enttäuscht auf die glatte Eisfläche vor seinen Füßen.

– Ich kann das unmöglich von dir verlangen, ich kontaktiere gleich jemanden am Ufer wegen den Leuten und schicke sofort Verstärkung.

Schibig schweigt. Er wartet auf ein Umdenken, und er will Phil dessen Unprofessionalität spüren lassen, denn kein Vorwurf ist mühsamer als ein gänzlich unausgesprochener. Erst nach einigen Augenblicken beendet Schibig die strafende Stille mit:

– Ich bleibe, es dauert ja nur zehn Minuten, oder?

– Genau,

kommt es kleinlaut aus dem Telefon. Das abschließende Danke hört Schibig schon gar nicht mehr, weil er schnell auflegt, weil da plötzlich eine seltsame Entschlossenheit aufkeimt und zu einer neuen Größe anwächst, also streckt er seine Wirbelsäule entsprechend in die Länge und will das Telefon spielerisch in die Jackentasche schieben, was dann doch eine Weile dauert. Die Kälte macht alles klobiger, zäher. Dann steht er einfach da, mitten im weißen Nichts, zwei Meter vor ihm der Tod, und er fühlt sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Jetzt bin ich doch direkt in der Gegenwart gelandet, merkt Schibig, und es fühlt sich gar nicht schlecht an. Im Gegenteil. Das ganze Jahr hindurch, vielmehr die ganzen Jahre über, hatte er nichts anderes getan, als Daten zu registrieren, Akten zu sortieren, alte Kriminalfälle und Gerichtsprotokolle zu erfassen und nach Schlagwörtern zugänglich zu machen, damit in diesem Meer aus vergangenen Geschehnissen gefischt werden kann; was sowieso nur selten vorkam. Fast niemand interessierte sich für diese abgeschlossene Welt. Von außerhalb hatte sich in den letzten sieben Jahren außer einer nervösen Studentin bloß noch ein Historiker mit Hornbrille bei ihm gemeldet und um Akteneinsicht gebeten. Und niemand interessiert sich für den wunderlichen Archivar, der täglich unbemerkt in den Tiefen verschwindet. Die meiste Zeit verbringt er ganz allein unter dem Boden der Zentrale. Dort im zweiten Untergeschoss und hinter der quietschenden Lifttür liegt sein stilles Reich, das höchstens durch das Rieseln der Abflussrohre oder das Summen der Kaffeemaschine etwas lebendig wird. Die Welt hat ihn eben ein wenig vergessen oder zumindest verdrängt, genau wie all die abgelegten Fälle im zweiten Untergeschoss des Polizeigebäudes.

Aber jetzt steht er hier draußen vor einer realen Sache, die eigentlich gar nicht sein kann. Und diese reale Sache wirkt wie ein Rausch. Ein guter Rausch diesmal. Ein klarer Rausch.

– Wirklich höchst unwahrscheinlich, bei diesen Temperaturen,

murmelt er wieder, dabei legt er den Kopf in den Nacken und blickt zur Bergflanke des Frakmonts. Der gebrochene Berg, dessen scharfe Zähne hinter dem Nebel liegen, wirkt wie ein Monster, von dem nur die klobigen Füße sichtbar sind. Und die Schattenschluchten sind seine unzähligen Schlünde, Mäuler, gefräßig, als versuchten sie die Welt zu verschlucken. Je nach Wetter verleihen sie dem Gestein hingegen eine seltsame Lebendigkeit, als kletterten dort echsenartige Umrisse durch die Spalten, fette Stollenwürmer, flink und in der Steinwüste heimisch. Schibig sucht die Schluchten ab, sucht nach Hinweisen auf alte Legenden, zuckt aber zusammen. In einer Fichte am Ufer schreien zwei Krähen. Ihr Hohn hallt von den Felswänden und über den gefrorenen See. Schibig schaut sich um. Die Szenerie scheint monochrom, hier gibt es nur Schwarz und Weiß, Berg und Eis. Allein der menschliche Schatten vor ihm passt nicht ins Bild.

– Die bleiben sonst wirklich unten bei dieser Jahreszeit,

sagt er nochmals und hört vom Ufer nun veränderte Stimmen. Der Besitzer vom Glühweinstand packt fluchend seine Sachen zusammen. Ein überforderter Mann zieht unterdessen ein Absperrband von Baum zu Baum und bittet alle Personen, die Uferzone zu verlassen. Anscheinend ist die Neuigkeit dort angekommen. Beim Parkplatz weiter westlich informiert ein Freiwilliger alle Neuankömmlinge, die enttäuscht, aber von einer Neugier angesteckt davonschleichen.

Neben dem Seezugang östlich liegen die Wohnwagen und Bungalows des Campingplatzes. Blasses Schilf verdeckt die Siedlung. Und zwischen dem Schilf und den Ufersteinen ragt ein kurzer Landungssteg in den See hinein. Die Krähen machen weiter Lärm. Unweit der Straße werfen sie kleine Gegenstände aufs Eis und stürzen sich hinterher. Schibig schaut ihnen zu. Ihre Flügelschläge gleichen dem Marschrhythmus alter Kriegstrommeln, der damals die Heerformationen übers Hochmoor trieb. Hinein ins Verderben aus Torf und Lehm, hinein in den sauren Sumpf, wo jedes Kriegsgeschrei und das Ächzen aller Metallrüstungen in ewiger Stille versanken, und nur die Krähen erinnern jetzt noch an die Zeiten der Schlachten und Märtyrer.

Schlaue Biester, denkt Schibig und macht Zischgeräusche in Richtung der Vögel.

– Kein Wunder, knallen euch die Bauern mit ihren Schrotflinten ab, die haben eine Scheißangst vor euch,

flüstert er und blickt ungerührt auf die Stelle vor ihm. Das Stück Stoff ist eindeutig zu erkennen. Die blauen Jeansfasern wirken nass, und wo der Schlittschuh auf das Gewebe traf, sind leichte Risse zu sehen. Weiter links ist auch ein Teil des Gurtes sichtbar. Die Eisoberfläche rund um den Stofffetzen wirkt unregelmäßig und wild. Es sind die Wischspuren des Jungen. Die Bewegungen in der Nähe des Beins wurden noch mit naiver Sorgfalt ausgeführt. Erst etwas weiter weg werden die Spuren hektischer, da sind die Rillen der Kufen, die Fluchtbewegungen, Angstabdrücke, alles sieht nach Kampf aus. Schibig schüttelt den Kopf.

– Schräg, wirklich schräg …

– Die bleiben doch unten bei diesen Temperaturen,

sagt nun eine zweite Stimme, und Schibig zuckt zusammen.