Die Schüchternheit der Pflaume - Fee Katrin Kanzler - E-Book

Die Schüchternheit der Pflaume E-Book

Fee Katrin Kanzler

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Beschreibung

Ein Kapriolenkind ist sie, eine junge, mondsüchtige Musikerin, weltverliebt und weltentrückt, versunken in die Schönheit der Details. Das Mehlige einer Pflaumenhaut, Nebeltau. Das Überfließen des Safts beim Essen einer Tomate, das Geräusch beim Öffnen einer Kaffeepackung. Mit allen Sinnen schöpft sie aus der Fülle des Lebens, lässt ihre Musik daraus quellen, ihr Lebenselixier, ihr mythischer Himmel, der ihr erlaubt, niemals aufzuhören zu spielen. Wie auf einem Drahtseil balanciert die junge Sängerin über den Dingen, getragen durch ihr Publikum, im Gleichgewicht gehalten durch zwei Männer, die sie vergöttern, egal, welches Spiel sie gerade mit ihnen spielt: der meeräugige Blaum, der ihr nie den Gefallen tut, seine Persönlichkeit im Klischee des Businessman zu erschöpfen, und Fender, das poetische Du, der Mann, der sie kennt wie kein anderer. Doch da ist noch etwas anderes: ein leiser Unterton, immer wieder anschwellend, der sie an die Fragilität ihres Glücks erinnert: das unverwandte Gefühl, dass die Welt ständig im Zusammenbrechen begriffen ist. Das Debüt Fee Katrin Kanzlers überzeugt: Die Schüchternheit der Pflaume ist ein feiner, ein poetischer und sprachmächtiger Roman, der sinnliche Eindrücke und Motive mit höchster synästhetischer Kunst zum Klingen bringt: das schillernde Porträt einer Künstlerin auf dem schmalen Grat zwischen Freiheit und Verlorenheit.

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FEE KATRIN KANZLER

DIESCHÜCHTERNHEITDER PFLAUME

ROMAN

Die Schüchternheit der Pflaume

Du kennst die mehlige Schicht, die eine frische Pflaume hat. Was sie matt macht und blassblau statt dunkel, diese dünne Schicht, dieses Anstandspuder überm tiefen Violett, die Schüchternheit der Pflaume. Wenn du die Pflaume anfasst, reibt sich diese Schicht ab, und die Pflaumenhaut beginnt zu glänzen.

Eine Tomate essen, auf offener Straße. Wie dich die Passanten ansehen. Weil du beißt, saugst, mit den Lippen, der Zunge das Überfließen des kernigen Safts verhinderst. Tomatenkuss.

Das saugende Geräusch beim Öffnen einer Kaffeepackung. Die plötzliche Entspannung des Goldpakets, das Weichwerden des Kaffeepulvers, das beim Zusammendrücken das Geräusch von feuchtem Sand macht. Du wirst merken, wie interessant solche Quisquilien sein können.

Mich begeistern Kleinigkeiten. Das Schöne ist überall, und wichtig. Wer es nicht sieht, geht unter. Zugegeben, wer es sieht, auch. Aber zusammen mit der Schönheit unterzugehen, das ist es, worauf es ankommt.

Dass ich plötzlich Lust auf Mozarts Requiem habe, lässt mich ein paar Handgriffe tun, da ist es, Musik aus der Dose. Das Stück spült langsam an, quillt herauf, die Stimmen, der Chor, tauchen aus der Tiefe auf, ein Geisterschiff mit zerrissenen Segeln. Dann, sanfte Brise, eine Möwe schreit, singt. Exaudi, exaudi. Der Wind frischt auf, die Segel blähen sich, Sehnsucht, das Totenschiff kommt in Fahrt, mit zehn, zwölf, dreizehn Knoten. Et lux perpetua. Wellen schlagen gegen den in der Sonne gleißenden Rumpf. Die Musik flimmert vor meinem inneren Auge. Dann Filmriss, als das Telefon klingelt. Tastendruck, der Chor hält die Luft an.

»Hallo?«

Mir atmet Stille entgegen. Hallo. Drei weitere Sekunden nichts. Der schon wieder, denke ich, mein persönlicher Telefonterrorist.

Den kenne ich seit einigen Wochen, sofern man bei einem zurückhaltenden Telefonatmer von Kennenlernen sprechen kann. Es ist immer dasselbe, er hört sich meine zwei Hallos an und wartet. Ich habe mir angewöhnt, nicht aufzulegen, ihn eine Weile im Hörer zu behalten, seinem Schweigen aufmerksam zuzuhören, bis er selbst auflegt. Jeden vierten oder fünften Tag zweieinhalb Minuten, so viel Zeit habe ich für den unbekannten Schweiger. Er passt zu meinen gesammelten Sonderlingen, im Tierheim für einsame Wölfe ist noch Platz.

Aus einer Laune heraus drücke ich erneut die Pausentaste. Der Chor lässt seinem Flehen wieder freien Lauf. Mein Telefonterrorist legt auf, als schließlich Sturm aufkommt. Dies irae. Ich frage mich, ob er mich jetzt für verrückter hält als sich selbst. Ich stelle das Telefon ab und werfe mich aufs Bett. Als Mozart verstummt, rauche ich einen kubanischen Zigarillo, nehme eine meiner Gitarren und spiele fünf Stunden am Stück.

Indessen dreht die Welt sich weiter. Dinge passieren. In einer anderen Großstadt fliegt eine Bank in die Luft. Es ist unklar, wer dahintersteckt, die Nachrichtenticker erzählen unterschiedliche Geschichten, Terror, Überfall, drei Tote, achtzehn Verletzte, zwei Tote, elf Verletzte. Ich blättere um. Ich klicke weiter. Ich höre nicht zu.

Borg hat seine Renovierungsarbeiten im Keller abgeschlossen. Es stehen keine schmutzigen Eimer mehr im Flur, der Geruch nach Silikon und Wandfarbe verliert sich langsam. Matti ist es gelungen, die lederne Lora rumzukriegen, die beiden sitzen nun oft aufeinander statt nebeneinander auf der Couch. Blaum veranstaltet eine Cocktailparty in seiner Eichenparkettwohnung, und es ist die erste Party, auf die ich gehe, obwohl ich nur den Gastgeber kenne.

Ungefähr dreißig Gäste erscheinen. Ich bin die große Unbekannte. Die, um die Blaum seinen Arm legt, wenn er sich für ein paar Minuten ausruhen will. Ein paar Frauen mustern mich, das junge dünne Ding, interessiert, zwei mit giftigem Rivalinnenblick. Ich muss mich beherrschen, nicht hinüberzugehen und den Perlenpaulas zu sagen, dass es von meiner Seite nichts zu befürchten gibt, ich heirate nicht und will auch keine Kinder. Die meiste Zeit aber lustwandle ich allein zwischen den Cocktailgläsern hin und her, lausche Businessgeschichten oder erzähle, auf Wunsch, von meiner Musik. Ich trage das tizianrote Kleid, das ich bei meinem Konzert in Luxemburg anhatte. Viermal sagt man mir, man wolle sich meine Musik unbedingt anhören, werde mein Album kaufen. Aber diese Leute haben keine Zeit für Musik. Sie werden mich vergessen haben, sobald ihr Telefon das nächste Mal klingelt. Auch die zwei Frauen, die mich mustern, als hätte ich ihren Abend ruiniert, werden morgen nicht mehr an mich denken. Sie leben in einer Welt, in der ich keine Spuren hinterlasse.

Um elf sind Blaums Kollegen und Bekannte wieder aus dem Haus, die einen tingeln weiter in die Bars und Diskotheken der Stadt, die anderen gehen heim zu ihren Kindern. Blaum räumt die Gläser weg und stellt sich in die Küche. Wie immer, wenn ein Mann kocht, werde ich sehr anschmiegsam.

»Du hast dich gut geschlagen«, bemerkt er.

Mitten in der Nacht begleitet mich Blaum nach Hause, will mein Zimmer in der Wohngemeinschaft sehen. Der Anzugträger macht die Runde zwischen bunt behängten Kleiderbügeln, Postkartencollagen und Gitarren, er bewegt sich zwischen meinen Dingen wie ein interessierter Museumsbesucher. Dass er selbst der größte Dinosaurier in dieser Ausstellung ist, weiß er nicht. Im Club der Sonderlinge weiß niemand von der eigenen Mitgliedschaft. Willkommen, denke ich.

Morgens um fünf wache ich auf. Ein blasser Mond häkelt mir Dunstspitzen vors Fenster. Ich kann nicht mehr einschlafen, in meiner Wirbelsäule läuft ein Kribbeln auf und ab. Der Mann neben mir atmet schwer, und immer wenn er ausatmet, verstärkt sich das Kribbeln. Ich achte darauf, wenigstens nicht angeatmet zu werden. Wenn ich mich bewege, vermeide ich peinlichst, seine warmgeschlafene Haut zu berühren. Nicht mit den Knien, nicht mit den Schultern, nicht mit den Zehenspitzen. Mein Herz beginnt wie wild zu klopfen. Ich wecke Blaum. Er wirkt vernebelt und verstimmt. Ich gebe trotzdem keine Ruhe, bis er seine nackten Füße auf den Boden hievt, seinen Anzug anzieht und nach Hause geht. Sobald die Tür hinter ihm zufällt, beruhigt sich mein Puls. Der Mond macht ein paar Luftmaschen. Ich gleite zurück ins Bett.

Ich schlafe nicht sofort ein. Springe sogar noch mal auf, schließe meine Tür ab, stecke das Telefon aus. Die Mondgöttin nickt gefällig. Und während ich in die Kissen abtauche, während meine Gedanken wie von hohen Klippen ins Traummeer stürzen, durchschaue ich den Plan der Götter. Sie lassen zu, dass ich mich verliebe. Sie wissen nämlich, dass ich keinem Mann gehören kann. Sie kennen mich. Es ist kein Problem, ein paar Tage, ein paar Nächte mit mir zu verbringen, kein Problem, mir Weinkarten vorzulesen und Cocktailpartypaar mit mir zu spielen. Aber danach muss ich andere Wege gehen. Danach muss ich allein sein, um nicht verrückt zu werden. Sie müssen mich nicht festhalten. Ich falle von allein zurück in die Hände des Götterpacks. Wahrscheinlich ist das ständige Verliebtsein sogar eins ihrer Geschenke an mich, eine dieser Gaben, dieser giftgrünen Phiolen. Deren Inhalt sie mir einflößen, um mich zu necken, in Bewegung zu halten. Um ihr Püppchen tanzen zu sehen.

Auch dieser Gedanke fällt von den Klippen. Der Mond häkelt jetzt Muschelmuster, nimmt zu, nimmt ab, ich atme tief, verteile meine Gliedmaßen übers Bett. Ich werde schlafen wie ein Seestern, wie eine Wanderdüne.

Schwarze Butter

Sie vergöttern mich. Halblaute Rufe hallen auf die Bühne. Heirate mich, schreit einer. Er muss betrunken sein. Meine Hand liegt neben mir, streicht über den Samt, der meinen Hocker überzieht. Wenn die Scheinwerfer angehen, wird es leise, und ich vergesse den Samt. Die Stille wartet auf ein Wort, auf einen kleinen Triller der Stimme, auf den nächsten Ton, das ist mein Leben.

Ich habe längst begriffen, dass ihre Begeisterung nichts mit meiner Person zu tun hat. Ich könnte irgendwer sein. Es spielt keine Rolle, ob mein Haar schwarz ist, meine Stiefel rot sind oder umgekehrt. Es spielt keine Rolle, dass ich gern Automatenkaffee trinke, in der Goldlaube wohne oder dass ich mondsüchtig bin. Was einzig zählt, ist, dass ich hier bin. Die Musik ist Musik, die Zeit ist Zeit, während ich spiele.

Alles schweigt. Ich nehme das Lampenfieber in den Mund. Es schmeckt nach Litschi und Salz, ein Lutscher von süßer Penetranz. Meine Zunge wird schüchtern und übermütig zugleich. Auf ihr sind plötzlich Worte. Die sage ich. Mikroverstärkt fallen sie in den Raum. Die Stille fliegt auf, ein erschreckter Vogel. Ich lächle. Einer im Publikum antwortet, aber ich bemerke ihn kaum, verstehe ihn nicht. Die Stille bleibt im Deckengebälk sitzen.

Ich beginne zu spielen. Meine Gitarre hat den schwarzen Glanz von Särgen und Klavieren. Nur die Wirbel sind weiß wie Zähne. Manchmal lackiere ich meine Fingernägel genauso schwarz. Oder stahlblau oder blutorangenrot. Feiner Nitrolack, der langsam, beim Spielen, wieder abblättert. Meine Gitarre ist kleiner als gewöhnliche Gitarren, weil ich kleiner als gewöhnliche Spieler bin. Ein Dreiviertelinstrument in den Händen einer Siebenachtelfrau, eine Kindergitarre in Mädchenfingern mit Kindersarglack auf den sauber geschnittenen Nägeln.

Meine Stimme, sagen sie, sei launisch, mal sanft, mal schroff. Und ja, die elektronischen Zuspielungen stelle ich selbst zusammen, versichere ich Journalisten immer wieder. Sie jonglieren mit Etiketten wie Trip, Noise und Pop, bis mir schwindelt und die Ideenflucht anfängt, Vanilleblüten im Kopf, Marshmallows, Mindfuck. Ich kann Musik machen, aber nicht über sie sprechen.

Ich schließe die Augen und sehe buntfleckige Nachbilder. Überall da, wo die Scheinwerfer waren, Tintenkleckse auf der Netzhaut. Borg sagt, ich schlösse zu oft die Augen beim Singen. Meine Stimme tändelt von unten nach oben. Raunt sich wieder ein Stück in die Tiefe. Meine Finger liegen in den Saiten wie in Butter, Stahlsaitenbutter, denke ich, schwarze Butter. Ich mache die Augen auf.

Als der Mann hinter mir Bass ins Spiel bringt, als seine Töne sich als gnadenlose Thermik unter meine Töne legen, vergesse ich mich. Ich könnte irgendwer sein, will ich denken, aber ich denke nichts mehr, spiele nur. Das Konzert hat begonnen. Manchmal schwebt die Stille herunter und setzt sich auf meinen Kopf. Es ist ein Gerücht, dass zu meinen Konzerten die Uhren abgenommen und die Schuhe ausgezogen werden müssen. Manche tun es trotzdem.

Wenn der Abend zu Ende geht, bleiben immer ein paar Gäste, halten ihre Bierflaschen fest, ihre Weingläser, Kirschsäfte, stehen verträumt in den Türen oder sitzen beinebaumelnd auf Geländern. Sie reden und rauchen. Wenn ich auf Bühnen spiele, die keine Hinterausgänge haben, stehle ich mich an ihnen vorbei. Sie schauen mir nach und fragen sich, wohin ich gehe, wen ich treffe, ob ich heute Nacht mit jemandem schlafen werde. Und vielleicht tue ich es, oder nicht. Ich fliehe aufs Trottoir. Wenn die Kälte des Abends mir einen jadeäugigen Mann in die Arme spielt, werde ich Sex haben, der sich wie teure Bettwäsche anfühlt. So ist das.

Das letzte Lied verklingt. Die Stille zögert, sich niederzulassen, da rauscht schon der Applaus auf mich herunter. Ein wiederholter Zuruf aus den hinteren Reihen mischt sich in den Beifall und verstummt wieder. Heute ist ein guter Abend, vielleicht der beste bisher. Für ein paar Sekunden bleibt meine Stirn gesenkt. Ich könnte irgendwer sein, denke ich. Dass am Ende der Applaus an mir hängenbleibt, dass am Ende meine Person, meine Stiefel, meine Mondsucht Neugier wecken, ist nicht wichtig. Ich hebe meine Augen ins Scheinwerferlicht.

Das übliche Spiel vom Anschwellen und Verebben dauert zwei Minuten. Ich lächle. Der Bassmann lächelt auch. Schließlich verschwinde ich hinter einem schwarzen Vorhang auf der Bühne. Es wird still. Ich setze mich dicht hinter den Vorhang. Ich stütze meinen Kopf in die Hände und warte. Alle gehen. Ich kann sie hören. Sie nehmen meine Stimmung mit. Ich bin leer wie eine Auster nach dem Bankett.

Warum ich ausgerechnet heute Abend in Ohnmacht falle, weiß ich nicht. Als ich ungefähr fünf Schritte mache, taumle ich gegen eine Wand.

Eine Ohnmacht ist, vom Standpunkt des Genießers aus betrachtet, etwas sehr Exquisites. Nichts sonst lässt auf dieselbe Weise die Sinne verblassen wie eine Ohnmacht. Man muss ihren Eintritt voll auskosten. Erst kommt das Schwindelgefühl. Anschließend wird mir schwarz vor Augen, als flute aus allen Richtungen dunkles Wasser ins Sichtfeld. Die Haut ist für zwei halbe Sekunden von überscharfer Empfindsamkeit. Wird aber rasch gefühllos. Alles, was ich höre, erzeugt plötzlich einen Hall. Meine Beine verweigern jeden weiteren Schritt, und ich muss mich festhalten. Die Wand bietet aber keinen Halt. Ich gleite auf den Boden. Mein Denken versagt ganz langsam. Stattdessen erfüllt mich ein tiefes Pulsen, ein gewaltiges Rauschen, ein Pochen, das stärker und stärker wird. Kein anderes Geräusch ist vergleichbar, und noch während ich diesen Puls höre, wehrlos und völlig ahnungslos, dass es mein eigener Puls ist, weiß ich, dass ich dieses Geräusch nicht vergessen werde. Mit einem Willensakt, der mich die letzten Gedanken kostet, befehle ich meinem Bewusstsein, wach zu bleiben. Ich knipse es an wie ein kleines Lämpchen, während der Rest der Welt in Schwärze versinkt, und fühle noch den leisen Triumph, dass es mir gelungen ist.

Für Sekunden, die keine Zeit mehr sind, stehe ich in der Dunkelheit meiner Ohnmacht und lausche.

Dann kommt die Welt zurück. Meine Beine kribbeln, durch meine Hände spukt ein ziehender Schmerz. Mein Denken stürzt sich sofort auf die Erinnerung an den Moment der Ohnmacht, den mein Bewusstsein wie ein Diktiergerät aufgezeichnet hat. Aber mehr als Stille gibt es dort nicht zu erinnern.

Ich erschrecke, weil ich ein paar Augenblicke lang nicht sprechen kann. Als meine Stimme zurückkehrt, weine ich.

Ich bin nur ein Hauch. Eine Frau, die ich nicht kenne und die mich vor dem Konzert mit Puder betupft hat, nimmt mich in den Arm. In meinen Ohren rauscht es. Es tut gut, das eigene Blut zu hören. Selbst wenn es nicht mir gehört. Auch meine Stimme gehört mir nicht. Ich bin nur ein Notizblock für die Götter, sie benutzen mich, kritzeln mich voll mit ihren Ideen. Irgendwann werfen sie mich weg.

Tinte

Meine Fingerkuppe taucht tiefer in den blauen Saft. Ich fühle mich betrunken. Der vergangene Abend hat eine blecherne Stimmung hinterlassen. Als ich meinen Finger aus dem Tintenfass ziehe, fallen ein paar Tropfen auf ein Blatt Papier. Blut tropft genauso, aber heiß und rot und heftig. Tinte wird beim Trocknen heller, Blut dunkler. Ich sollte mir nächstens Tinte ins Badewasser kippen, wie Milch oder Champagner, denke ich weiter. Gewitterblaue Wolken im heißen Wasser, denke ich.

Moritz hing sehr an mir. Mit einem Glassplitter ritzte er den Anfangsbuchstaben meines Namens in seinen Handrücken und schüttete Tinte darüber. Wir waren vor wenigen Wochen sieben geworden, mein Zwillingsbruder und ich. Mit verzerrtem Gesicht rieb er das Blau in seine Haut. Schließlich behauptete er, das werde jetzt für immer sichtbar sein, wie eine Tätowierung. Apfelblüten regneten auf uns herab. Er streckte mir stolz seine Hand hin, damit ich den Buchstaben ansehen könnte. Ein dunkler Tropfen fiel von seiner Hand auf meine. Als ich an der Reihe war, seinen Buchstaben in meine Hand zu ritzen, lief ich weg.

Mein Bruder blieb mit blutender Hand und fleckiger Hose unter dem Apfelbaum sitzen und spuckte auf die Erde. Über ihm setzte sich eine Elster in den Baum und verdrehte den Kopf. Ich lief nach Hause. Die Elster flog mir hinterher.

Meine Mutter packte einen Beutel Brombeeren aus dem Tiefkühlfach und bat mich, ihr zu helfen, die Beerenbrocken zu zerbrechen und auf einen Tortenboden zu verteilen. Ich war froh, dass sie nicht sofort nach Moritz fragte. Als die tauenden Beeren meine Finger blau, violett und rot färbten, musste ich wieder an Blut und Tinte denken. Das war unheimlich und schön. Ich machte weiter und weiter, bis keine Beeren mehr da waren.

Mein Bruder und ich spielten damals jeden Tag miteinander. Meistens erzählten wir uns Geschichten, und wie selbstverständlich spielten wir selbst eine Rolle darin. Die Geschichten begannen immer im Konjunktiv.

Ich wäre ein Ballonfahrer. Ich würde eines Tages bemerken, dass auf den Wolken jemand wohnt. Ich wäre eine Fee. Aber ich wäre sehr launisch. Ich wäre ein Fischer. Ich hätte eine Flaschenpost gefunden. Ich wäre die Tochter des Königs. Und du ein Pferdedieb.

So, täglich und endlos, spannen wir unsere Geschichten. Aus jedem Anfang entwickelte sich ein Spiel. Wir waren leidenschaftliche Spieler. Kaum eines unserer Spiele mündete nicht in eine heimliche Liebe zwischen den beiden Protagonisten. Kaum eines unserer Spiele endete nicht mit unser beider Tod. Das Spiel nahm uns gefangen, und bis unsere beiden Helden nicht zugrunde gerichtet waren, hatten wir keine Ruhe. Es gab nichts Schöneres als den gespielten Tod in einer taufeuchten Wiese neben dem Bach. Nur daliegen, dem Flüstern des Wassers zuhören, den müden Bienen bei ihrem Abendflug, auf den Atem des anderen lauschen und wünschen, dass seine Hand ewig da liegen bliebe, wo sie war.

Die Begeisterung dieser Spiele hat mich nie verlassen. Jetzt, Jahre später, fühle ich dieselbe hochfliegende Unruhe, wenn ich verliebt bin, wenn ich Musik höre, wenn ich auf der Bühne stehe. Ich blühe in dieser Stimmung, es ist meine Stimmung. Ich habe nie zu spielen aufgehört.

Ich male die zwei Buchstaben mit dem blaugetunkten Finger, starre vor mich hin. Ein Sonnenstrahl fällt auf das Papier und lässt die Tinte seltsam metallisch aussehen. Auf meinem Arm sind noch Narben von dem Tag, als Moritz’ Hand tatsächlich liegen blieb. Im schwarzen Staub, zwischen verkohlten Trümmern, sein lang erträumter Tod. Als ich zum ersten Mal nicht mitsterben durfte. Als die Götter zum ersten Mal lachten. Mir wird schwindlig. Ich verwische die Tintenbuchstaben, verreibe das Blau zwischen den Fingern. Durchs Fenster kann ich beobachten, wie es Abend wird. Der Horizont ist aus purpurnem Fruchtfleisch. Eine saftige Juninacht tropft in die Straßen. Das Licht ist mild und langsam wie Honig.

Im unteren Stockwerk dröhnt die Stereoanlage los. Sie wird rasch ein paar Stufen zurückgedreht. Die Musik bleibt trotzdem laut, ein untergründiges Basswummern dringt zu mir herauf, und immer wieder perlige Tonfolgen, unterbrochen von einem fetten, elektrischen Brummen. Ein Stück, das ich noch nicht kenne. Die Tinte in ein altes Hemd wischend, gehe ich die Treppen hinunter. Die Musik wird klarer, eine ausgehöhlte Frauenstimme zitiert kryptische Satzfetzen. Erst nach drei, vier Satzfragmenten bemerke ich, dass es meine Stimme ist. Ich erkenne den Text. Borg ließ mich die Zeilen vor Wochen ins Mikro lesen. Er muss das Stück letzte Nacht fertig abgemischt haben. Ich gehe ein paar Stufen tiefer und lausche weiter. Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen und kauere mich ans Geländer.

In der Küche steht ein großer Junge am Herd, sein breiter Rücken wippt ein wenig, wenn er etwas in die Pfanne schnipselt. Der Duft von Reis steigt in meine Nase. Wenn ich könnte, würde ich hingehen und dem Kerl über die Schulter sehen. Aber Borg ist anderthalb Köpfe größer als ich, nicht einmal auf Zehenspitzen würde ich mein Kinn auf seine Schulter bekommen. Deshalb bleibe ich sitzen und warte, bis er mich bemerkt.

Borg arbeitet im Musikgeschäft, betreibt ein Tonstudio, und versorgt mich regelmäßig mit allem, was eine Musiksüchtige sich wünschen kann. Er ist älter als ich, Mitte dreißig, aber er wirkt, vor allem wenn er lächelt, wie ein Schuljunge. Außerdem kann er gut kochen. Ich, aus eigenem Entschluss und Faulheit eine Niete in der Küche, bediene mich nur allzu gern von seinem Essen.

»Magst du es?«, fragt Borg mit einer Geste zur Stereoanlage.

»Lieber das da«, sage ich mit einem Blick in die Pfanne.

»Parasit«, murmelt er lachend.

Wir gehen hoch auf die Dachterrasse. Die Luft ist kühl. Borg schiebt ein Kissen unter meinen Hintern. Der Dampf von Reis, Gemüse und verschiedenen Pilzen kringelt sich in den Himmel. Ich esse sehr langsam. Eigentlich esse ich gar nicht, ich nasche. Alles, was ich esse, nasche ich.

Borg schläft nicht mehr mit Frauen. Aber weil ich keine Frau, sagt Borg, sondern ein Mädchen sei, könne er bei mir eine Ausnahme machen. Wenn ich wolle. Du könntest alles sein, sagt Borg immer. Also könnte ich auch für Borg mein Haar wegstecken, Löcher in meine Jeans schneiden und missmutig den Mund verziehen. Den jungen Rotzlöffel spielen. Und es würde ihm gefallen. Ich bilde mir nichts darauf ein. In diesem Haus wird niemand erwachsen. Als ich fertig bin, lecke ich die Stäbchen sorgfältig ab und stecke sie ins Haar.

Hinter mir schimmert ein dunkelgrüner Abend, die Dächer der Stadt, ein paar Türme wie im Scherenschnitt. Kleine Wolkenfetzen, von unten orangefarben beschienen, fleddern unwirklich über den Himmel. Es ist ein chinesisches Märchen, und ich kenne meine Rolle darin nicht. Vielleicht stehle ich die Qin des Kaisers. Werde verfolgt und gefangen. Aber weil ich zaubern kann, verwandle ich alles und am Schluss mich selbst. Dann ist Ende.

»Schmeckt’s, Prinzessin?«

Noch als ich überlege, ob ich Borgs Kochkunst lieber mag als die Tatsache, dass er mich Prinzessin nennt, oder vielleicht seinen vertrauten Duschgelgeruch, deutet Borg zum Himmel. Eine weiße Maschine fliegt zum Flughafen hin absinkend in eine Wolke hinein, verschwindet und taucht unten wieder ins Freie. Ich mag es, in einer Stadt zu wohnen, die so groß ist, dass der Himmel ständig voller Flugzeuge hängt. Borg peilt die Richtung an, aus der die Maschine kommt, sieht auf die Uhr.

»Wahrscheinlich Amsterdam«, sagt er.

Ich frage ihn, ob er schon in Amsterdam war. Er verneint. London aber.

Ich strecke mich aus und lehne mich ans Geländer der Terrasse. In einiger Entfernung glitzern ein paar Hochhäuser mit bestechender Unschuld. Sie tun so, als hätten sie nichts verbrochen. Ich tue dasselbe. Dass ich mir immer wieder vorstelle, wie sie einstürzen, ist eine alte Fantasie. Bis ich zwölf war, hatte ich die Berge nicht gesehen, und so waren Wolkenkratzer das Höchste und Freistehendste, was ich mir vorstellen konnte. Ihren Einsturz, zu allen Seiten berstende Spiegelscheiben, stellte ich mir atemberaubend vor. Als würde ein Teil der Welt einfach zerspringen. Als hätte ich mir das immer gewünscht. Später, als ich Videos von einstürzenden Wolkenkratzern sah, waren mir die Bilder auf eine unheimliche Weise vertraut. Ich konnte sie mir sehnsüchtig immer und immer wieder ansehen. Natürlich habe ich das nie jemandem gesagt. Außer Moritz, dem hätte ich es erzählt. Wenn er noch da gewesen wäre.

Borg summt eine einfache Melodie. Ich nestle an den Stäbchen in meinem Haar und höre ihm zu. Als ich eine zweite Stimme dazusummen möchte, hört er plötzlich auf. Ich frage ihn, ob er schon einmal eine Qin gespielt habe. Wieder verneint er.

Die Dämmerung nimmt ein tiefes Violett an. Meine Geschichte, denke ich, spielt in einem Land, wo Dämmerungen genauso lang wie Tag und Nacht dauern. Der Himmel dieser Geschichte ist rosa und ihr Horizont schwarz. Nach Zwielicht riecht sie, nach dem Moos auf Stadtdächern, nach Mandelseife und ein wenig nach Benzin. Nach den Stahlsaiten meiner Gitarren und nach Männerhemd. Was sie zusammenhält, ist letztlich nur ein Fädchen, das durch die Hände einer numinosen Spinnerin läuft. Wahrscheinlich hat sie blaue Finger wie ich, Sudelpfoten, und schmiert meinen Faden schon beim Spinnen voll. Die Götter sitzen in der Tinte.

Wachs

Einer jener Tage, an denen der Boden unter den Füßen nichts Festes ist. Einer der Tage, an denen jede Stunde ein ungeheuer langsames Erdbeben ist, so dass die Welt in Scherben geht, ohne den geringsten Lärm zu machen. Einer der Tage, an denen ich fürchte, meine Körperteile einfach irgendwo zu verlieren. Tage, die wie trockene Sandburgen im Wind stehen. An solchen Tagen hat nichts Bestand, nichts Geschmack, nichts Bedeutung.

Alles verwirrt mich, diese Auflösung, diese endlose Egalheit. Dreimal ziehe ich mich um, aber kein Kleidungsstück gehört zu mir. Schließlich entscheide ich mich für das Unauffälligste. Ich treffe die Leute im Haus, bin aber schweigsam. Ich gehe an verschiedene Orte, erledige Unaufschiebbares, einen neuen Personalausweis beantragen, eine Singleauskoppelung mit dem Label besprechen, aber nichts erscheint wichtig. Ich muss mich konzentrieren, passende Antworten zur richtigen Zeit zu geben.

Am besten wird es sein, wenn ich mich mit einer Sonnenbrille in den Park setze und zuschaue, wie die Welt zusammenbricht. Verhindern kann ich es ja doch nicht. Wie das Licht und die Menschen überall herumwandern und verschwinden. Es ist, als würde ich krank, bekäme hohes Fieber. Die Stadt ist nur noch ein Meer aus Zeug, das sich bewegt. Sie schiebt Wellen vor sich her, Wanderdünen aus Bordsteinen, Mänteln, Frisuren, Hausecken und im Wind fliegendem Müll. Ich wäre nicht verwundert, wenn plötzlich Kugelhagel losbräche, ganz lautlos, Stummfilmkugelhagel, der alles zerschlägt. Ich würde keinen Schmerz und keinen Schreck empfinden, nur mit großen Augen zusehen, wie alles in pervers langsamer Zeitlupe zu Boden ginge.

Ob die sanfte Zerstörung solcher Tage ein Trick meines Kopfes ist, ob die Saumseligkeit meiner Gedanken eine Stilllegung ist, die mich am Ende vorm Zusammenbruch bewahrt, weiß ich nicht. Ich ziehe es jedenfalls vor, an solchen Tagen mit niemandem zu sprechen und mich gegen fremde Blicke so weit wie möglich abzuschotten. Die dunkle Sonnenbrille, ein Tuch übers Haar, eine langärmelige Bluse.

Der Gedanke, etwas über Tage wie diesen aufzuschreiben, damit ihre Formlosigkeit greifbar würde, ließ mich Worte suchen. Das Aufschreiben gelang mir nicht, wie immer, also habe ich mir eine Flasche Wein ins Zimmer geholt. Man sollte sich nichts aus den Fingern saugen. Ich lege mich ins Bett, schließe die Augen.

Hätte ich nur eine eigene Geschichte, denke ich, wie ich meine eigene Musik habe. Selten schreibe ich eine Seite auf. Früher hatte ich Tagebücher. Die habe ich nie mehr durchgelesen seitdem. Weil diese Geschichten tote Häute sind, in denen ich nicht mehr leben kann. Schon damals nicht leben konnte. Jetzt abgestreift. Ich erzähle mir meine Geschichte nur noch im Kopf. So dass sie verfliegen kann wie Musik.

Unten klirrt ein Teller auf den Boden. Hier oben kriecht ein kleiner Rausch in mein Blut. Ich drücke meine Schultern tief ins Kissen. Neben mir brennt eine rote Funzel, und der Wein glitzert unwirklich in seinem Glas. So wiege ich mich in die Nacht.

Meine Geschichte ist ein Faden, denke ich, der mir tanzend durch die Hände läuft. Ich kann sie nicht festhalten, das Garn haspelt und haspelt von allein, singt mit meiner Stimme, singt schneller, als ich schreiben könnte. Ich habe Angst vor meiner Geschichte, Angst, dass es meine Sandburgen, Zeitlupen und den Kugelhagel gar nicht gibt. Dass ich alles nur erfunden habe. Oder schlimmer, dass es sie gibt und ich in ihnen zerfetzt werde.

Unten saugt einer Staub. Jemand schlägt die Haustür zu. Kommt oder geht.

Mein Finger sucht eine Fernbedienung, einen Knopf, ein Jazzstück flutet ins Zimmer. Plötzlich sind Sandburg und Kugelhagel und Zeitlupe das Wirklichste der Welt. Von Zerfetztwerden kann keine Rede mehr sein, die Musik hält mich zusammen.

Als ich wieder aufwache, ist es sehr leise. Der Jazz ist verstummt. Alle haben das Haus verlassen. Alle sind unterwegs. Alle außer Borg. Ich höre versonnenes Summen und Schritte, das Auswaschen eines Eimers, Borgs Verschwinden im Keller. Vielleicht ist auch Lutz zu Hause, aber aus Lutz’ Zimmer hört man ohnehin nie was.

Ich kann das Silikon riechen, das Borg unten in die Fugen schmiert. Er renoviert die Kellerwohnung. Er sagt, der erste Stock befriedige ihn nicht mehr. Er müsse wieder in die Grundfesten seines Hauses ziehen, sagt er. Ich verstehe das nicht, weil ich selbst am liebsten auf windigen Terrassen, in Türmen und in Dächern wohne, aber ich höre Borg gern über sein Haus reden.

Ich lebe seit knapp drei Jahren hier. Ich wollte mitten in der Stadt sein, wie das viele wollen, und mit zwei Koffern, vier Kartons und wenig Geld zog ich ein. Als ich Borg bereits nach der zweiten Monatsmiete gestehen musste, pleite zu sein, verfinsterte sich seine Miene, aber er sagte nichts. Ich schlief die ganze Nacht nicht, zerbrach mir den Kopf, wie ich bezahlen oder wohin ich gehen könnte. Die Eltern kamen nicht in Frage, und zurück zur Großmutter wollte ich nicht. Am nächsten Tag drückte Borg mir ein grünes Stofftier in die Hand. Damit solle ich heute Nacht in die Lotusbar gehen und es dem blonden Türsteher geben, der dort von null bis sechs Uhr arbeite. Vom Türsteher erhielt ich einen kunstvoll gefalteten Vogel aus Seidenpapier. Er war ungewöhnlich schwer für eine Seidenpapierfigur, aber ich lieferte ihn kommentarlos bei Borg ab. Wenige Tage später wiederholte sich das Spiel, ich brachte ein grünes Plüschbündel in eine andere Bar. Diesmal wurde mir im Tausch eine Packung Damenstrümpfe ausgehändigt. Ich widerstand der Versuchung, sie auf der Toilette zu öffnen, ihren Inhalt genauer in Augenschein zu nehmen. Gelbe und blaue Stofftiere folgten. Das Thema Miete kam nie wieder auf.

Borg wohnte unten. Ich ganz oben. Der Rest des Hauses stand leer. Es war ein stilles Haus, still wie heute Nacht. Erst nach drei Monaten füllten sich langsam die Zimmer. Borg strich jeden Raum neu, jeden in einer anderen Farbe, und immer wenn ein Zimmer fertig war, zog jemand ein. Jetzt sind wir fünf.

Irgendwann höre ich Borgs Schritte auf den Treppen zu meinem Stockwerk. Als es klopft, erschrecke ich trotzdem. Ein neues Stofftier, vielleicht. Durch die angelehnte Tür hindurch will er wissen, ob ich schon schlafe. Ob ich runterkommen wolle. Weil die Prinzessin in mir gelangweilt mit den Fingerknöcheln knackt, sage ich ja. Moment. Borgs Schritte sind schon wieder auf dem Weg nach unten. Bis gleich. Ich stehe langsam auf.

Ich verkorke die Weinflasche und nehme sie mit. Im Wohnzimmer brennen lange Kerzen. Ich angle eine gebrauchte Tasse vom Tisch. Ich rauche eigentlich nicht, trotzdem hält mir Borg eine seiner Selbstgedrehten hin. Er kennt mich gut genug. Borg macht die Tür zum Garten auf. Wir sitzen auf einer Wolldecke.

»Töte einen Seemann«, sagt Borg und hält mir eine Kerze hin.

Ich mag das leise Knistern beim Anziehen des Rauchs und die Formen, die er beim Ausatmen annimmt, je nach Umgebung. Den Geschmack mag ich nicht, die Wirkung aber ist angenehm. Wir schweigen.

Mein Blick hängt zwischen der Veranda, die noch etwas Licht von den Kerzen auffängt, und dem Hinterhofgarten, der völlig dunkel ist. An Borgs Händen klebt noch Silikon. Borg bearbeitet die häuslichen Baustellen mit einer Ausdauer, die an Besessenheit grenzt. Er widmet sich diesem Haus, als ginge es um die Rettung seiner Seele. Er hat dem Haus sogar einen Namen gegeben: Goldlaube. Es gibt tatsächlich Leute in der Stadt, die wissen, was die Goldlaube ist. Borg atmet einen großen Rauchschleier aus und lächelt mich an. Die Musik und sein Haus halten den großen Jungen am Leben. Er sieht müde aus.

Wir rauchen. Wir trinken.

Plötzlich fängt Borg an, sein bekleckertes Arbeitshemd auszuziehen. Ich sehe ihn fragend an. Er sagt nichts. Er legt das Hemd in meinen Schoß.

Als Kind klaute ich immer die Hemden meines Vaters. Wenn er nach Hause kam, warf er seine Bürokleidung über einen Stuhl in der Waschküche. Dort fischte ich sein Hemd weg und verbrachte den Rest des Abends darin. Ich erinnere mich gut an den kräftigen, beruhigenden Geruch seiner Hemden. Als kleines Gespenst schleifte ich die Säume über den Boden.

Ich schlüpfe in Borgs Hemd. Es riecht anders. Aber auch gut.

»Schau mal«, er nimmt eine Kerze und führt die Flamme nur wenige Millimeter über seine Haut. Er beträufelt sich mit dem roten Kerzenwachs. Seine Arme bekommen eine Gänsehaut. Aus den Tropfen formen sich Muster, die sich verdichten, bis sie wie Wunden aussehen. Er verteilt das Wachs bis nah an sein Schlüsselbein. Als die Arme von einer festen Kruste überzogen sind, fallen Tropfen auf seine Brust. Als die Kerze ganz kurz geworden ist, nimmt er eine neue. Ich sehe still zu, bin nur Auge, nur Spiegel. Bin der Blick, den Borg gesucht hat. Ich habe ihn noch nie so konzentriert gesehen und finde ihn seltsam und schön in seiner Besessenheit. Er schließt die Augen und macht immer weiter.

Ich lege meine Hand unter die Kerze. Auf dem Handrücken kann ich die Hitze ertragen. Borg legt sich auf den Rücken und führt die Kerze wie bei einem Ritual über den Bauch. Seine Bewegungen sind ruhig, er presst die Lippen zusammen, um kein Geräusch zu machen.

Ich darf ihm das Wachs abziehen, später, als die dritte Kerze verbraucht ist. An vielen Stellen ist es noch warm, ich mag das weiche Gefühl. Er verzieht die Mundwinkel, weil ich ihm Körperhaar mit abreiße. Dazwischen lacht er. Das Kerzenlicht spielt auf seiner breiten Stirn. Sogar dort klebt Wachs. Als ich es löse, hält Borg meinen Kopf fest.

»Danke«, sagt er.

Er sieht glücklich aus. Seine Augen glitzern, seine Haut schimmert rosa.

»Mit den anderen hätte ich das nicht machen können«, sagt er.

Ich lächle zurück und reiße absichtlich hart an einer Wachsplatte auf seiner Brust.

Schmetterlinge

Es regnet. Ich stehe im Ausgang zur Dachterrasse und starre die kleinen Explosionen an, mit denen die Tropfen zerplatzen. Übers Nachbarhaus huscht eine nasse Katze. Sie bemerkt mich nicht. Um meine Schultern baumelt ein bunter Vorhang aus glitzernden Plastikperlen. Als es fast zu spät ist, schlüpfe ich ins Bad und tupfe holunderfarbene Schatten auf meine Lider. Unten hupt ein Wagen. Ich komme schon. Die Perlen klimpern gegen das Glas der Terrassentür.

Ich bin etwas benommen, während die Mikrofone eingestellt, die Instrumente gestimmt, meine Wassergläser platziert werden. Beim Spielen nimmt die Benommenheit zu. Der Mann mit dem Bass macht trotzdem kleine Feuerwerke aus allem, was ich tue. Heirate mich, schreit jemand. Wieder ein Betrunkener. Oder ich habe mich verhört. Nach dem Konzert bin ich müde und seltsam aufgebracht. Eine virtuelle Grille zirpt in meinem Ohr.

Nachdem der Bassmann und ich uns in einem Hinterzimmer auf einer Insel aus zerschlissenen Orientteppichen niedergelassen, eine Flasche Madeira bis zur Mitte ihres Etiketts geleert haben, lachen wir, und die Grille gibt endlich Ruhe. Anschließend fahren wir zu Borgs Tonstudio, das sich in einem Backsteingebäude am Stadtrand befindet. Der Bassmann lässt mich aussteigen. Ich sage danke. Ob er nicht mitkommen wolle. Er sagt nein, Schlaf sei jetzt wichtiger. Ich beobachte, wie die Rücklichter seiner Kleinbuskarosse im Regen verschwinden.

Im Erdgeschoss der Backsteinhalle brennt Licht. Ich schlüpfe hinein. Borg sitzt mit einem Kollegen vor einem Bildschirm, sie beugen sich über Mischpulte, handschriftliche Zettel. Hinter der großen Glasscheibe, im Aufnahmeraum, packt eine dreiköpfige Band ihre Instrumente zusammen. Borg nimmt die Kopfhörer ab, als er mich kommen sieht. Sein Kollege nickt mir einen Gruß zu.

»Ich will tanzen«, sage ich.

Wir haben zwei Tempel, wie Borg sie nennt, das Mokusei und den Fairy Club. Das Mokusei ist weiß und sehr modern, hat Jasmintee, Litschilimonade und das beste Sushi der Stadt. Außerdem kann man aus zwanzig Sorten japanischer Alkopops aussuchen, bunte Chuhai in noch bunteren Dosen, die aufgereiht in einem Kühlregal stehen, auf dem ein goldener Buddha sitzt. Getanzt wird dort allerdings nur mittwochs und donnerstags.

Der Fairy Club wirkt muffig und barock dagegen. Von außen sähe man der alten Villa, wäre da nicht das Neonschild, ihr turbulentes Innenleben nicht an. Meine durchtanzten Nächte verbringe ich meistens dort. Die Musik im Fairy Club ist mal aufpeitschender Treibstoff, mal kühle Melancholie, die Stile wechseln, Elektronisches überwiegt. Manchmal spielen sie komplexe Kopfmusik, das gefällt mir.

Als wir ankommen, hat der Regen fast aufgehört. Der Neonschriftzug glimmt durch die verwaschene Luft. Wir fliehen unter das geschwungene Vordach und treten ein. Die Villa hat zwei Flügel, dazwischen liegt der langgestreckte Barraum. Von links erahne ich den Puls der Big Beats, rechts kann ich langsam anschwellende und wieder abflauende Lichter sehen. Borg geht geradeaus an die Bar. Ich schwenke ab nach unten.

Bei den Toiletten steht, vor einer Spiegelwand, eine lebensgroße Alabasterfigur von Peter Pan. Er sieht mir ähnlich, denke ich im Vorbeigehen und wünschte, er hätte weiches Haar, ein biegsames Rückgrat und nicht den starren Alabasterhals. Auf dem Weg zurück berühre ich seine Wange. Bilde mir ein, dass sie wärmer ist als gewöhnlicher Stein. Dass unterm Weiß ganz sachte Sommersprossen durchschimmern. Ich nehme in großen Schritten die Treppe nach oben. Während im Keller ein übersüßer Duft zu haften scheint, riecht es im Barraum nach Zitronen und Kerzen.

Die Hälfte der Wände im Fairy Club ist in dunklem Violett gestrichen. Tuntenschwarz, nennen das manche, oder Mädchenschwarz. Die andere Hälfte ist blass wie Muschelinneres. Überall hängen flache Glaskästen mit aufgespießten Schmetterlingen an der Wand, viele und große Arten. Einige Kunden finden das geschmacklos. Mir gefallen sie. Wenn ich zu müde zum Tanzen bin, liege ich in einem der Sessel und versuche, mich an die Namen der Schmetterlinge zu erinnern. Spanner, Spinner, Schwärmer. Mir fällt nichts ein.

Borg lächelt von weitem zu mir herüber. Wäre er ein Schmetterling, müsste er schneeweiß sein, denke ich, mit dünnen grauen Äderchen, vielleicht eine Art Seidenspinner. Er lungert mit Nestor, dem Residenten des linken Clubflügels, an der Bar herum. Borg kennt die meisten Gesichter hinter den Mischpulten, er kennt ihre Adressen und Geschichten. Er öffnet ein Cocktailschirmchen und kaut auf dem Stiel herum. Sein Bananensaftmixgetränk ist schon halb leer. Zu den beiden stößt ein schmächtiger Mann in Dunkelblau. Ich erinnere mich an ihn, ein schwuler Schriftsteller aus dem Hinterland. Nach kurzem Palaver verschwindet Nestor mit wippenden Schritten nach links. Der dunkelblaue Anzug bleibt bei Borg und lächelt ihm tiefer in die Augen. Ich sehe eine Weile zu. Während des Flirtens faltet der schwule Provinzdichter Segelschiffe aus Servietten. Meine Laune flattert irgendwo an der Decke herum, zwischen den Flügeln zweier schwarzer Ventilatoren, ich bekomme sie nicht zu fassen. Könnte nicht sagen, ob es mir gutgeht oder nicht.

Lora, die gern Leder trägt und Zigarren raucht, ist auch da. Sie schiebt ihren spanischen Hintern in einen Clubsessel und kaut auf ihrer Unterlippe. Wenn Lora ein Schmetterling wäre, sie wäre bitterschokoladenbraun. Ihr streng zurückgebundenes Haar wirkt im wechselnden Licht wie ein dunkles Erz. Sie unterhält sich mit einer anderen Frau und beugt sich vor, um über die Musik hinweg in deren Ohr zu sprechen.

Lora wohnt mit uns in Borgs Haus, seit ich sie eines Morgens halb erfroren am Straßenrand auflas. Anfangs glaubte ich, ihr finsterer Blick habe etwas mit der Erfrorenheit zu tun. Aber sie taute nie ganz auf, jedenfalls nicht mit mir. Sie hat sich nie bei mir bedankt. Was okay ist. Ein Danke aus ihrem Mund wäre wie ein Kaugummi aus einem Kondomautomaten. Unwahrscheinlich und nutzlos. Sie hatte mir gefallen, mit den blassgefrorenen Händen und den bitteren Mundwinkeln, auf eine Art gefallen, die fast unangenehm war. Jedenfalls fragte ich sie, ob sie Tee oder Kaffee will. Sie kam mit und lächelte sogar, als ich ihre Tasse auffüllte.

Der Wechsel vom sanft beschallten Barraum in den Saal mit den harten lauten Tönen ist ein Weltenwechsel. So brachial ist die Musik, dass sie meinem Hirn einen Stoß versetzt, mich augenblicklich in eine andere Sphäre kickt. Ich mag sie. Was sie auslöst, ist schlicht und spannend. Am Rand der Tanzfläche stehen, wie um einen Swimmingpool, ein paar Gestalten mit Gläsern in der Hand. Die Tanzfläche selbst ist noch leer, ein doppelter Reiz.

Das Klopfen meines Herzens ignorierend, lasse ich mich in die Mitte des Raumes fallen und tanze. Die Wellen breiten sich augenblicklich aus. Ich bewege mich durch die Blicke der Beobachtenden wie durch kühle Schleier. Ohne die Musik, denke ich, wäre ich ein einsamer, besessener Körper, ein sich windendes Etwas zwischen Schönheit und Groteske. Wäre ungeschützt vor den Blicken der kleinen Menge und nackt. Aber die Musik ist so dicht, ein Mantel, ein Kleid, eine Entschuldigung, sich so zu bewegen. Zwei oder drei Gäste beginnen ihre Gläser abzustellen und mir zu folgen. Der Bann ist gebrochen.

Irgendwo unter den Gästen bist auch du. Ich kann dich auf zwanzig Meter riechen, auch wenn ich dich nicht sehe. Ich habe ein Gespür für dich. Ich weiß nicht warum. Du bist ein trauriger Prinz, der ungeheuer langsam an seinen Red Russians nippt. Meist stehst du mit dem Rücken zur Wand und lehnst dort bewegungslos. Ich sah dich nie tanzen.

Zum letzten Mal geküsst habe ich dich im letzten Winter. Mit Gedanken an dich vertrieb ich einen anderen Mann aus meinem Kopf. Ich benutzte dich als Skalpell, um mich der längst verstummten Liebe zu entledigen. Atemlos über die Präzision des Schnitts verlor ich mich in deinen Augen. Du warst ein Beobachter, rau und schweigsam, der nichts forderte und trotzdem alles nahm, was ich gab. Wir trafen uns ein paar Wochen, wir beide. Der Schnee flog in Spiralen um unsere Köpfe. Aus mundgeblasenen Gläsern tranken wir Tee. Dann schliefen unsere Verabredungen ein.

Im Grunde hatte ich dich seit Jahren gekannt. Du warst an derselben Schule, warst in schwarzen Hemden zur Schule gekommen und trugst manchmal einen Schlips. Dieser Schlips war grau, selten rot, und prinzipiell zu locker gebunden, so dass dein Hals immer frei lag. So saßt du dann, mit Rabenhaar und Rabenblick, unter deinesgleichen oder allein. Ich hatte gehört, dass du dir Programmieren beibringen würdest und dieselbe Musik mochtest wie ich. Aber ich hätte mich niemals an dich herangetraut. Ich hatte mir dich vage als einen vorgestellt, der eines Tages einen Stockholmer oder Londoner oder Bostoner Bürostuhl besetzen würde, stilbewusst, erfolgreich und vor allem weit weg.

Stattdessen traf ich dich ein paar Jahre später in der nächsten Großstadt wieder. Wir waren keine Schulkinder mehr, und das Gespräch, der Kaffee und die Geneigtheit ergaben sich plötzlich von allein. Das war vor knapp zwei Jahren. Ich fragte mich, was wohl passiert wäre, hätte ich zu Schulzeiten, als halbgarer Backfisch, als grüne Siebtklassennymphe, dich, den vier Jahre älteren Schlipsträger, den Rabenprinzen, einfach angesprochen. Vielleicht wäre nichts passiert. Vielleicht eine ganze Menge.

Plötzlich ist Lora neben mir. Ich sehe Bruchstücke ihres Körpers, das Licht fällt auf den ledernen Hintern, nackte Schultern. Ich wirble ein Stück weit weg von ihr. Ihre Arme sind zwei pralle Tiere, sie hebt die Stirn ins Licht. Sie hat selten dieses breite Lachen wie heute. Ihre Zähne schimmern, sie glänzt. Ich fühle mich kleiner werden neben ihr. Ich fühle mich wie ein flachbrüstiges Kind neben einer echten Frau. Ich werfe mich rücksichtsloser in die Musik, lege die Hände auf meine Hüften und sehe Lora nicht an.

Während die Nacht vergeht, steigt das Tempo der Musik, flimmert der Raum um mich wie eine Kinoleinwand mit vierundzwanzig Bildern pro Sekunde. Dann sinkt die Taktrate, zwölf Bilder, vier Bilder. Die Szenerie vor mir zuckt träge, ein metallischer Puls, das Daumenkino großer Maschinen. Ich trinke zwei Gläser Wasser und tanze weiter. Körper bewegen sich um mich, aber ich nehme sie nicht mehr wahr. Die Luft irisiert.

Als ich genug habe, durchquere ich die Bar, gehe in den dritten Raum. Heute werden hier Filme an die Wand projiziert. Allerdings mit verschwommenen Bildern, so dass nur ein Viereck aus fließendem Licht zu sehen ist. Ich kann nichts erkennen. Die Musik ist ein surrealer, metallischer Walgesang. Etwa ein Dutzend Leute wiegen sich im langsamen Rhythmus.

Meine Augen bleiben an der Wand mit den Projektionen hängen. Mal wimmelt es rosa, mal violett und rot. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Pornos abgespielt werden, verschwommen und tonlos. Ich sehe mich um.

Du sitzt an einem Tisch nicht weit von mir. Deine Augen liegen tief und schattig und haben mich längst entdeckt. Dein schwarzes Haar wirft schimmernde Reflexionen, an anderen Stellen verschluckt der Glanz sich selbst, ein seltsames Geben und Nehmen von Licht. Die Projektionen im Raum schwingen gerade um, von Elfenbein auf Pfirsichrot. Dich kann ich fragen. Ich gehe hinüber. Ich sage nicht hallo.

»Sind das Pornos an der Wand?«

Du blinzelst, trinkst einen Schluck aus deinem Getränk und sagst dann zögerlich nein. Dass ich zu oft Fight Club gesehen habe, sagst du. Ich habe Fight Club gelesen, sage ich.