Die Schuldfrage - Astrid Rodrigues - E-Book

Die Schuldfrage E-Book

Astrid Rodrigues

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Beschreibung

Hannelore hat gerade ihren 90. Geburtrstag gefeiert, als ihre älteste Tochter spurlos verschwindet. Am nächsten Tag hat sie ein Erpresserschreiben im Briefkasten und einen toten Mann auf dem Wohnzimmerteppich. Der Erpresser verlangt Hannelores ganzes Geld, um ihre Tochter freizukaufen und eine alte Schuld zu begleichen. Wer der Tote ist, kann zunächst nicht geklärt werden und Hannelore ist sich keiner alten Schuld bewusst. Und so macht sie sich zusammen mit ihren anderen beiden Kindern auf Spurensuche in ihrer Vergangenheit.

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Seitenzahl: 346

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Astrid Rodrigues

Die Schuldfrage

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Impressum neobooks

Kapitel 1

Gerade dachte ich noch, es ist schön, dieses Leben.

Es hat mir einiges geboten und ich habe es in vollen Zügen genossen. Und dann … Dann kommt alles anders.

Es war, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst. Mir wird schlecht und alles beginnt sich zu drehen. Ich versuche mich zu fangen, irgendwo festzuhalten, aber es nützt nichts, der Strudel zieht mich in die Tiefe und ich lande hart auf dem Küchenfußboden. Sendepause. Alles schwarz.

Als ich wieder zu mir komme, höre ich zuerst die Stimme meiner Tochter Ines, die aufgeregt auf den Sanitäter einredet, der gerade meinen Blutdruck misst.

„Es ist alles in Ordnung, nur ein kleiner Schwächeanfall. Unkraut vergeht nicht!“

Danke, das wollte ich hören. Fast muss ich grinsen. Was war passiert?

Ich schlage die Augen auf und Blicke in das Gesicht eines äußerst attraktiven, jungen Mannes, der gerade die Manschette des Blutdruckmessgerätes von meinem Arm entfernt.

„Hallo Frau Klein.“, grüßt mich der Alleinunterhalter in der roten Hose. „Sind Sie wieder unter uns? Und? War noch nicht an der Zeit, was?“

Sieht wohl ganz so aus.

„Schauen Sie, hier ist ihre Tochter.“

„Hallo Mama, wie geht es dir.“, fragt Ines kleinlaut.

„Super!“, antworte ich annähernd wahrheitsgemäß und versuche mich vom Küchenboden hoch zu rappeln.

„Was ist passiert?“, will ich wissen.

„Ein kleiner Schwächeanfall. In Ihrem Alter nichts Besonderes.“

„Danke, junger Mann, das wollte ich hören.“, entgegne ich spitz. Aber, er hat ja recht. Er hilft mir auf und ich nehme auf einem meiner Küchenstühle Platz.

Ines stellt mir beflissen ein Glas Kranwasser hin.

„Kind, ich hasse diese Plürre. Im Kühlschrank ist Mineralwasser. Bitte?!“

Ines verdreht genervt die Augen, schüttet das Wasser in die Grünlilie auf der Fensterbank und holt das Mineralwasser aus dem Kühlschrank.

„Bitte!“ Sie stellt die Flasche auf den Tisch und ich entdecke dieses vermaledeite Erpresserschreiben, dass ich kurz zuvor aus dem Briefkasten geholt hatte.

Wenn du deine Tochter nochmal lebend wiedersehen willst, musst du eine alte Schuld begleichen. Den Anfang kannst du mit 150.000 Euro in bar machen. Ort und Zeitpunkt der Übergabe wirst du noch früh genug erfahren.

Der Text ist aus bunten Zeitungsausschnitten zusammengesetzt. Der Klassiker.

Es klingelt an der Tür. Ines hat die Polizei gerufen, schließlich wird ihre Mutter erpresst. Die Polizisten kommen in die Küche und stellen sich als Hansen und Wolf vor.

„Guten Tag. Wo ist die Leiche?“

Wieso Leiche? Ein ganzer Trupp an Spurensicherern stürmt meine Wohnung.

„Ich glaube, mir wird schlecht.“ Wimmere ich vorsichtig und schütte das ganze Glas Mineralwasser in mich hinein. „Etwas Stärkeres wäre jetzt sicherlich besser.“

Ines sieht mich strafend an.

„Ich brauch jetzt einen Cognac! Für Sie auch, junger Mann?“, frage ich an den Sanitäter gerichtet. Er verneint dankend, faselt etwas von Dienst und Alkohol sei ungesund. Dann wanke ich ins Wohnzimmer, vorbei an den vielen Menschen in weißen Overalls. Hinter dem Sessel liegt ein lebloser Körper. Seine Beine ragen hervor. Es schüttelt mich. Ich öffne das Barfach meines Wohnzimmerschrankes und denke nicht lange nach. Mit der Cognacflasche und einem Glas suche ich schnell den Weg zurück in die Küche.

„Wer ist der Tote in meinem Wohnzimmer?“ Ich werfe Ines fragende Blicke zu und schenke mir einen großzügigen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein. Dann leere ich das Glas in einem Zug und warte gespannt auf eine Antwort.

„Frau Klein, Sie sollten in Ihrem Zustand nicht trinken. Wir müssen erst wieder zu Kräften kommen. Unser Kreislauf ist noch nicht wieder stabil.“

Wir? Wenn er die Leiche in meinem Wohnzimmer meint, dann muss ich ihn enttäuschen. Das wird nichts mehr mit Kreislauf. Der ist hin.

„Mama, du bist unmöglich!“, empört sich meine jüngste Tochter Ines.

Ich fülle noch einmal mein Glas und schütte den Cognac hinunter.

„Nastrovje.“, rutscht es mir heraus. „Wer ist der Kerl auf meinem Teppich? Nehmt ihr den mit oder muss ich den etwa selbst entsorgen?“ So langsam findet der Cognac den Weg in mein Gehirn.

Ines faselt etwas von peinlich und alte Leute, als Dirk Hansen in die Küche kommt. Er muss so Mitte 40 sein. Sein helles Haar ist kurz geschnitten und er hat bereits ausgeprägte Geheimratsecken.

„Nun, Frau Klein, da haben Sie aber ganze Arbeit geleistet. Dem Mann haben Sie ordentlich den Schädel eingeschlagen. Möchten Sie mir vielleicht erzählen, was passiert ist?“

Ich grüble nach und mein Blick trifft wieder auf das Erpresserschreiben auf meinem Küchentisch.

„Schauen Sie hier.“ Ich schiebe Hansen das Zeitungspuzzle rüber. „Meine Tochter Michaela ist seit vorgestern spurlos verschwunden und heute habe ich diesen Brief in der Post.“

Hansen liest.

„Ich habe gleich Ines angerufen. Ich wusste doch nicht, was ich jetzt machen sollte. Meine Tochter hat versprochen, gleich vorbei zu kommen. Sie wollte auch Klaus, meinen Sohn, anrufen und Georg, Michaelas Mann. Ich war gerade am Kochen und wollte mir ein Kotelett braten, als ich den Brief aus meinem Briefkasten geholt habe. Also habe ich den Herd wieder ausgedreht und auf meine Tochter gewartet, als ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer hörte. Vorsichtig schaute ich um die Ecke. Meine große Bodenvase war umgefallen. Ich hatte Angst und nahm die Bratpfanne zu meinem Schutz mit, als ich ins Wohnzimmer ging. Ich rief laut, ob da jemand sei, bekam aber keine Antwort. Ich sah mich um und entdeckte, dass sich der Vorhang von der Balkontüre bewegte. Als ich näher herankam, sah ich unter dem Vorhang zwei Füße. Es müssen Männerfüße gewesen sein. Ich rief noch einmal, doch nichts passierte. Wieder rief ich: kommen Sie da raus! Dann bewegte sich der Vorhang und die Person dahinter brummelte: Dir zeig ich‘s. Da habe ich zugeschlagen.“

„Das sieht zumindest nach Notwehr aus. Frau Klein, ich gehe nicht davon aus, dass bei Ihnen Fluchtgefahr besteht. Sie halten sich aber zu unserer Verfügung und kommen so schnell wie möglich aufs Kommissariat, um eine Aussage zu machen. Die Leiche kommt erst mal in die Gerichtsmedizin.“

„Wissen Sie denn schon, wer der Mann ist?“, frage ich vorsichtig.

„Leider nicht, er hatte keine Papiere dabei.“

Es klingelt an der Haustüre. Ines öffnet und Klaus stürmt herein.

„Mama, um Gottes Willen, was ist denn passiert?“ Ines klärt ihren Bruder mit einer stenografischen Kurzfassung der Geschichte auf.

„Georg hat mich angerufen. Er war total entsetzt. Er meinte, du hättest eine alte Schuld zu begleichen und deswegen sei seine Michaela nun in größter Lebensgefahr? Sag mal spinnen jetzt alle?“

Ich versuche Klaus die Sache zu erklären und zeige ihm das Erpresserschreiben. Er schüttelt ungläubig den Kopf.

„Mama, was könntest du denn für eine alte Schuld auf dich geladen haben? Fällt dir dazu spontan was ein. Ich meine, das muss ja schon der Hammer sein, wenn man dich damit erpressen kann.“

„Ich habe keine Ahnung.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Nun mischt sich Hansen ein.

„Ihr Sohn hat recht. Was könnte es denn sein, dass jemand einen solchen Hass gegen Sie hegt und Ihre Tochter entführt?“

Ich denke kurz nach.

„Ganz ehrlich? Wenn mich jemand so sehr hassen würde, dann hätte er Ines mitgenommen und nicht Michaela. Wer die im Dunkeln mitnimmt, bringt sie spätestens im Hellen wieder nach Hause.“

„Mama!“

Nun ernte ich von beiden Kindern strafende Blicke.

„Ist doch wahr. Diese Kratzbürste nimmt doch keiner freiwillig mit. Außerdem muss es jemand sein, der weiß, dass ich das Haus verkauft habe. Ich hätte doch sonst gar kein Geld um ein Lösegeld zu bezahlen!“

„Sie meinen also, es muss jemand aus Ihrem Bekanntenkreis sein?“ fragt Hansen interessiert.

„Möglich. Ich weiß es doch auch nicht.“

Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Was kann ich verbrochen haben, dass mir jemand so etwas antut?

„Vielleicht eine späte Rache, wegen den Aktivitäten von Onkel Heini? Oder wegen Frieder Wagner?“

„Mama, was redest du da? Wer sind diese Leute?“, will Ines wissen.

„Ach, die leben bestimmt schon lange nicht mehr. Das sind doch alles alte Geschichten, die heute niemanden mehr interessieren.“

Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese alten Kamellen von Bedeutung sein könnten.

Dirk Hansen steht auf und packt den Erpresserbrief vorsichtig mit Handschuhen in eine Tüte.

„Den nehmen wir mit und untersuchen ihn auf Fingerabdrücke. Und Sie, Frau Klein, überlegen weiter, wer und was dahinterstecken könnte.“

Eine Polizistin nimmt meine Fingerabdrücke und dann leert sich meine Wohnung allmählich. Der Tote wird hinausgetragen, verpackt in einem schwarzen Plastiksack. Meinen Wohnzimmerteppich nehmen sie auch mit. Ich habe einen Mann erschlagen. Wie konnte ich nur? Aber was macht er auch in meiner Wohnung? Ich habe den Mann nicht gesehen, vielleicht hätte ich ihn erkannt. Ach, vielleicht will ich lieber gar nicht wissen, wer er ist.

Während Klaus und Ines klar Schiff machen, lasse ich meine Geburtstagsfeier noch einmal Revue passieren. Schließlich ist Michaela im Laufe des Abends verschwunden.

„Ich hätte einfach wieder eine Kreuzfahrt machen sollen, wie zu meinem 80. Geburtstag. Was für eine schwachsinnige Idee noch einmal ein großes Familienfest zu feiern.“

Michaela war gleich dagegen gewesen. Sie hatte mir davon abgeraten. Wollte nichts wissen von der Verwandtschaft. Sie ließ sich ungern vergleichen, vor allem im Moment, wo es mal wieder nicht gut bei ihr lief.

Ines hingegen war begeistert und sofort bereit, die Organisation zu übernehmen.

„Also, pass auf, das wird der schönste 90. Geburtstag, den du je erlebt hast.“

„Ja, und der Einzige!“ , gab ich zu bedenken.

„Am besten feierst du im Gasthaus zum fröhlichen Lamm. Ich kenne den Wirt. Der bringt dann nur den Kaffee, die Torten und Kuchen können Michaela und ich beisteuern. Dann wird es nicht so teuer.“

Ines platzte vor Begeisterung über ihre Idee.

„Für 15 Uhr planen wir den Kaffee. Danach kann Maximilian-Torben ein paar Ständchen für dich bringen. Er hat schon so lange Gitarrenunterricht, da wird er sich freuen, wenn er sein Können auch mal zeigen darf.“

Ines holte kaum Luft und ich konnte mir, bei aller Liebe, nicht vorstellen, dass mein Enkel Unterhaltungsqualitäten haben sollte. Meinem Sohn Klaus hat ein solches Gen ein Leben lang gefehlt und Maximilian-Torbens Mutter Theodora ist gänzlich temperamentfrei. Doch Ines war nicht zu bremsen.

„Wenn Maximilian-Torben fertig ist, ist es schon fast Zeit für das Abendessen. Da handle ich mit dem Wirt einen Festpreis aus. Kommen natürlich noch die Getränke dazu. Aber der macht mir bestimmt einen guten Preis.“

Also war Ines gleich am nächsten Tag losgezogen und hatte alles im Gasthaus zumVergesslichen Lamm, oder so, organisiert. Stolz stand sie vor meiner Haustüre und berichtete von den Ergebnissen. Zur Vorspeise sollte es ein Kräutercremesüppchen geben, gefolgt von einem Schreinerostbraten mit Kroketten und Salat. Den Nachtisch vollendete eine Creme Bruelé.

Ich zog Ines in die Wohnung hinein, denn meine Nachbarn hatte das sicherlich nicht interessiert. Sie war so stolz auf sich.

„Und du bist sicher, dass das mit Michaela funktioniert?“, frage ich skeptisch.

„Aber klar, hab alles mit ihr abgesprochen.“

Ich war am Samstag pünktlich im Gasthaus zum geduldigen Lamm eingetroffen. Von der Verwandtschaft fehlte noch jede Spur. Ines war bemüht ein schönes Kuchenbuffet auf die Beine zu stellen, als Michaelas Mann, Georg, eine tiefgefrorene Schwarzwälder-Kirsch-Torte und eine ebenso steifgefrorene Eierlikörtorte im Gasthaus zum weinenden Lamm abgab. Aus den Jackentaschen zog er noch jeweils einen Marmor- und einen Sandkuchen vom Discounter, die er original verpackt auf dem Buffet platzierte. Ich konnte Ines Gesichtsfarbe gut erkennen, die immer mehr zu leuchten schien. Aufgeregt rief sie ihre Schwester an, während sie versuchte, wenigstens die Verpackungen vom Kuchen zu entfernen. Ihr Handy lag auf Freisprechen geschaltet zwischen den kulinarischen Katastrophen und ich konnte ihr Gespräch mit anhören. Michaela schien ebenfalls auf Freisprechen geklickt zu haben, denn es gab beim Sprechen ein unschönes Echo.

„Bist du wahnsinnig? (du wahnsinnig?). Was soll ich denn mit den tiefgefrorenen Torten? (den tiefgefrorenen Torten?)“

„Tut mir leid, ich kann dich nicht hören. Blondiere gerade die Haare.“

„Das ist typisch. (typisch). Bald hast du keine mehr. (eine mehr).“

Ines war sauer.

„Das habe ich verstanden!“

„Super! (per!)“ Ines legte erbost auf.

Ich konnte Michaela in Gedanken vor mir sehen. Wie sie in alten Leggins und Schlabbershirt die Blondiercreme aufgetragen hatte und dann Alufolie um den Kopf wickelte um die Wirkung des chemischen Brandbeschleunigers auf ihren Haaren zu erhöhen.

„Ist das nicht unglaublich!“, zischte Ines. „Jetzt färbt die noch ihre Haare.“

Mich wunderte schon lange nichts mehr. Vielleicht ist es auch die Gnade des Alters, dass man manche Dinge lockerer nimmt.

Ich hatte meinen Ehrenplatz am Kopf der langen Tafel eingenommen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

So nach und nach trafen die Gäste ein.

Klaus war mit seiner ganzen angeheirateten Verwandtschaft im VW-Bus angereist. Im Gepäck seine zwei Kinder, Mathilda-Lara und Maximilian-Torben samt Gitarre, seine Schwiegereltern und seine Frau Theodora, eingehüllt in eine knallblaue Federboa.

Ines hatte die gesamte Sippe angeschleppt. Dazu gehören ihre Kinder aus erster Ehe, Martina und Daniel und die neu angeheiratete Verwandtschaft samt Schwager, Schwägerin, Neffen und Nichten. Nicht zu vergessen, ihr neuer Ehegatte, Clemént mit Sohn Maxím, der auf die französische Aussprache seines Namens äußersten Wert legt, da er in Frankreich geboren ist.

Dann kamen die Kinder meines verstorbenen Bruders aus Dortmund, Rolf und Lieselotte. Außerdem eine Großcousine aus dem Siegerland mit ihrer Tochter. Die beiden waren froh, ein Zimmer im Gasthaus zum freundlichen Lamm zu haben. So mussten sie nicht mehr mit dem Auto fahren und konnten beherzt zum Alkohol greifen. Beate und Christina, Michaelas Kinder aus erster Ehe, trafen ebenfalls ein. Last but noch least erreichten auch noch meine zwei Cousinen aus dem Sauerland das Gasthaus zum tapferen Lamm. Nun waren die Gäste fast vollzählig. Bis auf Michaela und Georg.

Ich mache keinen großen Hehl daraus, dass ich nichts Anderes erwartet hatte. Die beiden müssen immer ihren großen Auftritt haben und wenn er nur daraus besteht, als Letzter zu kommen.

Michaela rauschte mit wasserstoffblondem Glanz auf mich zu, während Georg ihr hinterhereilte und hektisch an seinem Hinterteil zupfte.

„Diese beschissene Hose kneift wie verrückt.“, zischte Georg.

„Diese beschissene Hose kann gar nicht kneifen. Das war ein Schnäppchen von Boss. Jetzt krieg dich mal wieder ein.“, hauchte Michaela zurück.

„Und ob die das kann!“, widersprach Georg gequält.

„Ich freue mich auch, euch zu sehen.“, warf ich belustigt dazwischen. Die beiden konnten einem schon auf den Wecker gehen. „Schön, dass Ihr da seid. Greift zu und bedient euch an den Eistorten.“

Zutiefst beleidigt sah sich Michaela im Raum um und flüsterte mir zu „Gut, dass du nicht auch noch Hartmut eingeladen hast.“ Sie verdrehte die Augen und nahm mit Georg neben ihren Kindern Platz.

Ich muss zugeben, es hatte mich durchaus gereizt, den geschiedenen Gatten meiner Tochter einzuladen. Ich habe mich immer gut mit ihm verstanden und er ist mir bis heute lieber, als dieser Georg. Während andere Leute Münzen sammeln, sammelt Georg rote Zahlen.

Endlich war es soweit. Die Kaffeerunde hatte sich mit Ines Torten und Kuchen vollgestopft und war bis an den Kragen mit Kaffee abgefüllt. Zeit für Maximilian-Torbens großen Auftritt. Ich applaudierte stürmisch, als er mit seiner Gitarre die kleine Bühne betrat. Er eröffnete sein Intermezzo mit der „Fahrt nach Madagaskar“.

„…. und hatten die Pest an Bord. In den Kesseln da faulte das Wasser und täglich ging einer über Bord.“

Ich hatte laut mitgesungen und überlegte, ob es kein böses Omen für den Abend sein konnte.

Der picklige, 14-jährige Maximilian-Torben ließ sich unterdessen nicht von seinem Vorhaben abbringen, mir einen ganz besonderen Geburtstag zu bereiten. Maximilian-Torben gab sich die allergrößte Mühe, alle Lieder der Mundorgel wieder zu geben, die ich vielleicht kennen konnte.

Ich beobachtete meine Gäste und kam zu dem Ergebnis, dass sie durchaus leidensfähig waren.

„Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andern kalt. Die ganze Affenbande brüllt: Wer hat die Kokosnuss …“

Ich griff zum Papiertaschentuch und hielt es mir vor Mund und Nase. Ich konnte nicht mehr vor Lachen, die Tränen liefen mir übers Gesicht.

Maximilian-Torben aber hatte Ausdauer, das musste man dem Jungen lassen. Was er sich einmal vorgenommen hatte, das zog er auch durch bis zum bitteren Ende. Ganz wie sein Vater.

Und endlich kam der zart besaitete Junge mit Bürstenschnitt und dem Äußeren eines Einzelkämpfers zum Grande Finale. Endlich kam das Geburtstagslied. Maximilian-Torben forderte die Gäste auf mitzusingen und zog alle fünf Strophen des Liedes durch.

Als die Marter durch meinen Enkel schließlich ein Ende fand, konnte keiner der Gäste schnell genug zu einem Glas Hochprozentigem kommen.

Michaela scheute sich nicht, ihre Ellenbogen beim Kampf um den ersten Platz an der Theke einzusetzen. Georg blieb bei seinen Stieftöchtern sitzen und bot den Anblick des interessierten Stiefvaters.

Ich arbeitete mich unterdessen durch die gesamte noch lebende Verwandtschaft und hielt Smalltalk. Natürlich gab es viel zu erzählen, wir hatten uns zum Teil seit Jahrzenten nicht mehr gesehen.

Michaela war damit beschäftigt, was sie im Allgemeinen am besten beherrscht. Sie prahlte was das Zeug hält. Verkaufte ihren Georg als leitenden Angestellten in der Dienstleistungsbranche, dabei hatte er lediglich versucht, Versicherungen zu verkaufen. Doch offensichtlich war sie bei Rolf an den Falschen geraten. Ich bekam nur Wortfetzen von der Unterhaltung mit.

„Ich versuche mich gerade beruflich zu verändern. Ich möchte wieder mehr in die kreative Richtung gehen und weniger kaufmännische Dinge machen.“

Die Sache mit der kreativen Richtung hatte ich nicht ganz verstanden und sah meine Tochter fragend an. Sie wich meinem Blick aus und konzentrierte sich wieder ganz auf Cousin Rolf.

„Und was machst du so? Bist du auch im Baugeschäft, wie dein Vater?“

Ich musste ein paarmal schlucken. Michaela wusste ganz genau, dass die Firma pleite war. Mein Bruder war mit Pauken und Trompeten in den Konkurs geschliddert. Ich sah, wie Rolfs Geschichtsfarbe sich änderte. Er rückte ein Stück näher an Michaela heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ich weiß nicht was es war, aber Michaela war danach sichtlich nervös. Sie schickte mir böse Blicke zu und sah mich fragend an. Ich hätte sie gerne am nächsten Tag darauf angesprochen. Ich hätte gerne gewusst, um was es bei der Unterhaltung ging.

Danach habe ich mich wieder meinen Gästen gewidmet und meiner Tochter dabei zugesehen, wie sie sich betrunken hat. Und dann war sie einfach weg. Ohne einen Gruß, ohne sich zu verabschieden. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Sowas macht man doch nicht.

Klaus hat mich später nach Hause gefahren. Es war so ein schöner Abend gewesen.

Ich kann keinen Grund finden, warum man Michaela entführen sollte. Niemand, der auf der Feier war, kommt für mich in Betracht, meine Tochter entführt zu haben.

Klaus kommt herein. Ines ist gerade dabei, die letzten Blutspuren vom Parkett aufzuwischen.

„Na Killer Lady. Wer muss denn morgen dran glauben?“

„Lass die Witze mein Junge, das ist auch für mich der erste Mord. Oh, ich fühle mich so schlecht. Und jetzt wissen wir nicht einmal, wer er ist.“

Klaus wiegelt ab. „Was hat dieser Kerl auch in deiner Wohnung zu suchen? Du bist eine alte Frau. Hättest du dich überfallen lassen sollen? Du hast genau richtig gehandelt. Der Typ wäre hinterm Vorhang hervorgesprungen und hätte dir was über die Rübe gezogen. Und dann? Dann wärst du jetzt mausetot. Ne ne ne, so ist das schon gut, so wie es ist.“

Klaus war noch nie ein Dichter oder Denker. Aber sicherlich hat er recht. Ich habe mich nur verteidigt. Doch in dem Moment war ich mir gar nicht bewusst, dass ich so feste zugeschlagen habe. Sicherlich hätte es einen Menschen bewusstlos werden lassen. Aber tot? Ich habe mit meinen eigenen Händen einem Menschen den Schädel eingeschlagen. Es hat sich angehört, als wenn jemand einen Gong schlägt. Nur das Geräusch der Bratpfanne war zu hören gewesen. Mir fiel mein Kottelet wieder ein. Ich hatte ja noch gar nichts gegessen.

„Habt ihr Hunger?“ Die beiden nicken einstimmig. „Dann mach ich uns schnell ein paar Rühreier.“ Ich krame im Schrank nach meiner Pfanne.

„Mama, suchst du was?“ Klaus springt mir helfend zur Seite. „Ja, ich such meine Bratpfanne.“

„Na, die hat jetzt wohl die Polizei. Nimm eine andere.“

Ines deckt den Tisch und wenige Minuten später sitzen wir zusammen und essen. Es ist noch ungewohnt in der neuen Küche zu kochen. Erst vor wenigen Wochen bin ich hier eingezogen, habe das große Haus verkauft und mich fast vollständig neu eingerichtet.

„Okay. Nun müssen wir aber ernsthaft überlegen, was der Erpresser meint, wenn er von einer alten Schuld spricht.“

Klaus schiebt sich noch eine Gabel Rührei in den Mund und spricht kauend weiter.

„Hast du denn gar keine Idee, was es sein könnte, Mama? Du hast doch eben was erzählt von einem Onkel Heini und einem Frieder. Was hat es mit den beiden auf sich?“

„Och Klaus, das ist eine sehr lange Geschichte. Das willst du dir nicht antun und dir die anhören.“

Lange ist es her, dass ich an diese alten Zeiten gedacht habe. An meine Eltern und all das, was damals passiert ist.

Kapitel 2

Gerade bin ich mit Klaus von der Kripo zurückgekommen und habe meine Aussage gemacht. Es war bei weitem nicht so spannend, wie damals bei Scottland Yard. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nun lässt mir keine Ruhe, was Rolf zu Michaela gesagt hat an meinem Geburtstag. Vielleicht gibt es wirklich einen Zusammenhang mit ihrem Verschwinden. Also ruf ich ihn an. Rolf ist ein wenig genervt, hatte er doch bereits einen Anruf von der Polizei.

„Tante Hannelore, es tut mir wirklich leid. Ich habe mich so von ihr zur Weißglut treiben lassen, dass ich ihr das Gerücht von ihrem falschen Vater erzählt habe.“

„Was? Was denn für ein Gerücht?“

„Opa hat es meinem Vater erzählt. Es ging darum, dass dein Mann eventuell nicht Michaelas Vater ist.“

Rolf war hörbar erleichtert, als es raus war.

„Tante, es tut mir wirklich leid. Ich habe sie einfach nur ärgern wollen.“

Ich hole tief Luft und stelle fest, dass ich doch einiges vergessen habe oder verdrängt.

„Danke Rolf. Sonst hast du über nichts mit ihr gesprochen?“

Rolf versichert mir, dass er nur aus Wut so reagiert hat. Ich kann ihn gut verstehen. Michaela hat manchmal eine Art, die kann nicht jeder gut vertragen.

Klaus hat das Gespräch belauscht und besteht nun darauf, dass ich ihm alles aus meiner Vergangenheit erzähle.

„Oh Mann, Klaus.“, bettele ich. „Wo soll ich denn da anfangen. Bei der Henne oder bei dem Ei?“

Klaus kennt keine Gnade.

„Fang am Anfang an.“

Ich ziere mich und versuche ihn zu überreden, das Ganze gewaltig abzukürzen.

„Du siehst doch selbst, dass du was vergessen hast. Fang lieber bei dem Ei an. Wenn es nicht wichtig ist, dann eben nicht.“ Er meint es ernst.

„Aber Klaus, das dauert Stunden. Willst du etwa die ganze Zeit hier sitzen und zuhören, was ich langweiliges zu erzählen habe?“

„Ja, will ich. Ines bleibt auch hier und wir schreiben alles auf, was vielleicht für die Befreiung von Michaela von Bedeutung ist. Sie ist unsere Schwester und das sind wir ihr schuldig.“

Na gut. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus. Ich war so froh, dass die Kinder sich nie für die Vergangenheit interessiert hatten. So konnte ich sie hinter mir lassen und mein Leben leben.

„Also gut. Ihr lasst mir keine andere Wahl. Ich bin an einem Samstag im Juni in Eiserfeld zur Welt gekommen. Mein Bruder Hermann war damals 6 und wenn ich meiner Mutter glauben darf, so hätte er lieber ein Fahrrad, als eine Schwester gehabt. Ich kann die Stimme meiner Mutter hören, wenn sie jedes Jahr an meinem Geburtstag die immer gleiche Geschichte erzählte.

Es war Markt und es hatte den ganzen Morgen geregnet. Von den Markisen der Markstände tropfte das Wasser. Der Frühling war viel zu kalt und nass gewesen, so dass es nur wenig Obst und Gemüse gab. Die Marktstände sollten in all den Jahren die Gleichen bleiben. Neben dem Obst und Gemüsestand war der Hühnerfrieder. Er verkaufte Eier und lebende Hühner. Gegenüber war der Stand der Rosenbergs. Sie verkauften Stoffe aller Art. Daneben der Stand des Korbmachers. Er kam immer mit einem Planwagen und hatte neben Körben auch Westerwälder Tonwaren dabei. Und dann war da noch der Kesselflicker. Er bot auch Töpfe an.

Meine Mutter war in ihr Elternhaus auf dem Marktplatz zurückgekehrt, um mich dort zur Welt zu bringen. Ihre Eltern hatten eine Bäckerei und der Lehrling sollte losgeschickt werden und die Hebamme, Lotte Bemme, holen, wenn es soweit war. Lotte hatte eine üppige Figur, war aber wieselflink. Was ihr den Namen „flotte Lotte“ einbrachte. Als es losging, war der Lehrling noch dabei Brot auszuliefern. So war die flotte Lotte erst im letzten Moment eingetroffen. Um 16.25 Uhr bin ich geboren.“

Ich hole tief Luft.

„Ach, Kinder, wollt ihr das wirklich alles hören?“

Ich schenke mir ein Glas Wasser ein.

„Mama, Klaus hat recht. Vielleicht kommen wir darauf, wer dich auf dem Kicker hat.“

Ich überlege, wo ich war.

„Ok. Da war ich dann also geboren. Mein Vater ist gleich am nächsten Tag losgelaufen und hat mit dem Pastor einen Termin für meine Taufe ausgemacht. Nach der Erzählung meiner Mutter ist ihr dieser Sonntag sehr gut in Erinnerung geblieben, weil Vater sich betrunken hatte. Er war nach dem Gottesdienst ins Wirtshaus am Markt eingekehrt und hatte ein Herrengedeck bestellt. Ein Eichener Pils und einen Steinhäger. Als der Wirt hörte, dass August zum zweiten Mal Vater geworden war, spendierte er ihm ein weiteres Herrengedeck, auf einem Bein kann man schließlich nicht stehen. Und da aller guten Dinge drei sind, wurde noch einmal von den Herren des Stammtisches nachgelegt. Man kannte sich eben. Meine Mutter war stinksauer und hat eine Woche nicht mit Vater gesprochen.“

„Wie war dein Vater sonst so?“, will Ines wissen.

„Och, August war klein, hatte einen dicken Bauch und so lange ich denken kann eine Glatze. Er war eine Knutschkugel und hat immer Maßanzüge getragen, obwohl C & A schon Anzüge von der Stange anbot, doch die konnte er nicht tragen mit seiner dicken Wampe.

Er war Laborant und hat bei der Stadt Siegen Wasserproben untersucht.

Als ich etwa 2 Jahre alt war wurde er arbeitslos und fand kurz darauf eine Stelle bei einem Stahlwerk in Hagen. Deswegen sind wir dann später dorthin gezogen. Meiner Mutter war das gar nicht recht, sie wollte nicht wegziehen. Sie war zu Hause das einzige Mädchen. Ihre vier Brüder himmelten sie an. Sie waren allesamt Bäcker geworden, wie mein Großvater. Er war ein herzensguter Mensch. Ihn konnte nichts aus der Ruhe bringen. Meine Großmutter hingegen war ein Drache. Sie führte die Bäckerei und einen kleinen Tante-Emma-Laden.“

Ich nehme einen großen Schluck Wasser.

„Obwohl wir nach Hagen gezogen sind, hat sich doch ein Großteil unseres Lebens nach wie vor in Eiserfeld abgespielt. Ich kann noch heute in Gedanken über den Marktplatz gehen und sehe alles vor mir. Der Marktplatz wurde dominiert von der Kirche und der Schule, die sich auf dem Platz genau gegenüberstanden. Vom Kirchplatz aus nach links blickend, sah man die Löwen-Apotheke. Benjamin Löwe, der Apotheker trug eine dicke Nickelbrille, ohne die er blind zu sein schien. Man sah ihn stets im weißen Kittel, darunter schwarze Hosen mit einer ordentlichen Bügelfalte. Die Krawatte saß immer tadellos. Seine Tochter Hannah sollte als Apothekerin sein Geschäft übernehmen. Die Familie wohnte im ersten Stock über der Apotheke. Marianne, die Frau des Apothekers war für ihre Siegerländer Koch- und Backkünste bekannt. Gleich daneben war die Bäckerei von meinen Großeltern.

Ein Haus weiter wohnte Dr. Winter mit seiner Haushaltshilfe. Einen anderen Arzt gab es nicht. Das alte Fachwerkhaus war mit schwarzen Schieferplatten verkleidet, so wie es im ganzen Siegerland üblich war.

Neben Dr. Winters Haus ging ein schmaler Weg zu den Feldern am Waldrand hinaus. Auf der anderen Seite des Weges streckte die Schule ihren Turm in den Himmel. Frau Lemke, die Lehrerin, war in Onkel Heini verliebt und kam gerne am Samstag, nach dem Unterricht, bei ihm in der Backstube vorbei. Sie trug ihr Haar immer zu einem strengen Dutt gebunden. Ihre Bluse war geknöpft bis unters Kinn und der schwarze Rock reichte bis zu den Knöcheln.

Rechts, neben der Schule führte ein Weg hinauf in den angrenzenden Wald. Auf der anderen Straßenseite befand sich das „Wirtshaus am Markt“. Die Familie Edelmann führte die Gaststätte schon in dritter Generation. Der Festsaal wurde für Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen ebenso, wie für politische Veranstaltungen genutzt. Im Keller gab es eine Kegelbahn.

Gleich neben dem Wirtshaus war die evangelische Kirche. Der Pastor war ein kleiner, dicklicher Mann, der stets eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine graue Strickweste trug. Sein schütteres Haar wurde schon grau. Ich glaube, er hatte drei Töchter. Das waren Zeiten damals. Als Kind habe ich gedacht, genau hier ist die heile Welt. Die kann nichts und niemand kaputt machen. Das wird für immer so bleiben. Was waren wir damals so naiv!“

Klaus unterbricht mich.

„Naiv würde ich das nicht nennen. Du warst ja selbst noch ein Kind. Und die Erwachsenen hatten damals bestimmt auch schon andere Sorgen.“

Mir geht ein Licht auf.

„Da sagst du was! Ich erinnere mich, dass sich damals schon einige Männer aus dem Ort zu geheimnisvollen Treffen zusammenfanden. Wir sollten das ja nicht mitbekommen, aber wir haben natürlich zugehört, wenn die Erwachsenen sich unterhalten haben.“

Allmählich kehrt die Erinnerung zurück.

„Mama hatte immer erzählt, wie wir mit einem Pappkoffer und einer Reisetasche am Bahnhof in Hagen-Haspe angekommen sind. Vater hatte den Umzug schon vorher von einem Fuhrunternehmen machen lassen und uns dann am Sonntag in Eiserfeld abgeholt. Onkel Heini und Onkel Ernst hatten uns an den Bahnhof gebracht. Mama erzählte, dass wir zum ersten Mal in eine Wohnung mit einem Badezimmer eingezogen waren. Wir mussten das zwar mit einer anderen Familie teilen, aber die Zeiten der Waschwanne in der Küche hatten ein Ende und es gab auch eine Toilette im Haus. Der pure Luxus.

Ich kann mich noch gut an das Mietshaus erinnern. Es gab ein großes Treppenhaus, die Wände waren gefliest und unten im Parterre standen immer einige Kinderwagen. Vater war so stolz auf die Wohnung. Es war eine Werkswohnung, die nur Mitarbeiter der Firma bekommen konnten. Meine Mutter wollte da nicht wohnen bleiben. Wenn sie morgens die Fenster aufmachte, lag dicker, schwarzer Ruß auf der Fensterbank, aus den Schornsteinen der Fabrik.“

Ines rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

„Das sind ja wirklich schöne Erinnerungen, aber ich glaube du hast Recht. Das wird uns kaum weiterbringen.“

Klaus unterbricht sie. „Jetzt hören wir gerade mal eine halbe Stunde zu und du hast schon die Schnauze voll. Wenn du willst, dann geh doch!“

„Jetzt sei doch nicht gleich schon wieder beleidigt. Mann oh Mann, wie in alten Zeiten.“, wehrt sich Ines.

„Ines hat recht. Ich glaube auch nicht, dass es viel Sinn macht, uns die Zeit mit diesen alten Geschichten herum zu schlagen.“, versuche ich schlichtend einzuwerfen.

Das bringt Klaus auf den Plan. „Mama, so allmählich bekomme ich das Gefühl, dass du uns wirklich etwas verschweigst. Was ist denn so schlimm daran, deinen Kindern, deine Lebensgeschichte zu erzählen?“

„Das ist halt alles so kompliziert. Und ich bin ganz gut damit gefahren, vieles zu vergessen.“

Doch Klaus gibt nicht nach. „Weißt du Mama, deswegen sitzen wir hier und ziehen das jetzt durch. Du willst doch nicht wirklich einem Verbrecher, einem Erpresser 150.000 Euro von deinem Geld hinterherwerfen. Papa und du habt euch krumm gelegt für das Haus. Versteh mich nicht falsch. Es ist dein Geld. Gib es aus für Reisen und deine Gesundheit, für alles was dir guttut. Hau meinetwegen alles auf den Kopp, aber werf es nicht solchen Leuten kampflos hinterher.“

„Klaus hat recht!“, steht Ines ihrem Bruder bei. „Wir dürfen das nicht zulassen. Lass uns weitermachen. Mal sehen, wie weit wir heute noch kommen.“

„Also gut, wo war ich? Ach ja, unsere erste Wohnung mit Bad und WC. Da war die Küche. Ich sehe den alten Küchenschrank vor mir und den alten Kohleherd. Das Schlafzimmer war gleich gegenüber der Küche. Wir schliefen alle vier dort Am Ende des Flurs war das Wohnzimmer. Hier standen das schwere Sofa, ein Tisch mit einer Marmorplatte und der Wohnzimmerschrank. Hinter der Türe war ein Gusseiserner Ofen, der alleine die ganze Wohnung hätte heizen können.

Das Bad und die Toilette lagen außerhalb der Wohnung. Einen halben Stock tiefer war das Bad, das wir uns mit den Mietern aus dem unteren Stock teilen mussten. Im Siegerland hatten wir kein Bad gehabt. Wir Kinder wurden am Samstag in den Waschzuber in der Küche gesteckt. Das Badewasser erhitzte man in einem großen Topf auf dem Kohleherd. Auch die Erwachsenen mussten damit Vorlieb nehmen. Das müsst ihr euch mal vorstellen. Jetzt hatten wir fließendes Wasser und einen Boiler, der das lästige Eimer schleppen der Vergangenheit angehören ließ. Die Wand war mit blauen Fliesen verkleidet und auf dem Boden waren grau gemusterte Fliesen verlegt worden. Die riesige, weiße Emaillewanne glänzte neu und einladend. Sie stand auf Messingfüßen an der Wand, wie für die Ewigkeit gemacht. Aus einem großen verchromten Wasserhahn konnte die Wanne direkt aus dem Boiler gefüllt werden.

Gegenüber der Badewanne waren einige Reihen Wäscheleine gespannt und dort hingen ein paar Damenstrümpfe und eine Strickjacke zum Trocknen. Vermutlich hatten die anderen Mieter das Bad genutzt, solange sie es für sich alleine hatten. Die Toilette war einen Stock tiefer. Sie war in einem niedrigen Raum unter der Treppe untergebracht. Das Klo war sauber und hatte eine Wasserspülung, die mit einer Kette hinter der Toilette ausgelöst wurde und das Wasser aus einem Wasserkasten an der Zimmerdecke in das Toilettenbecken entließ. Beleuchtet wurde der Raum nur von einer schummrigen Glühbirne und neben dem Toilettenbecken lagen Abschnitte von alten Zeitungen. Ich kann die feuchte Kälte förmlich spüren und habe den Geruch des kleinen Raumes sofort wieder in der Nase.“

„Mama, alles klar?“ Ines holte mich aus meinen Gedanken heraus.

„Oh, ja. Ich war gerade ganz in Gedanken. Am nächsten Tag irrte Mutter mit uns durch die Stadt und suchte Hermanns neue Schule. Mich schob sie mit dem schnieken Kinderwagen vor sich her. Hermann zog sie an der Hand hinter sich her. Durch ein schmiedeeisernes Tor erreichten wir die Schule. Wir waren spät dran und Mutter ließ mich samt Kinderwagen auf dem Schulhof stehen und rannte mit Hermann hinein. An der Türe wurde sie von einem großen Mann mit einem langen, weißen Bart begrüßt. Das musste wohl der Rektor gewesen sein. Ein paar Jahre später ging ich auch dort zur Schule. Wir gewöhnten uns schnell an den Rhythmus der Stadt, den Lärm, die Straßenbahnen und die vielen Geschäfte. Mutter engagierte sich beim blauen Kreuz und sonntags gingen wir in die lutherisch evangelische Kirche. Meine Mutter ging regelmäßig zum Friseur und ließ sich ihre Haare färben. Ich bekam meine ersten Ohrringe. Wir waren wirklich sehr modern. Ach ja“ Ich muss grinsen. „Da fällt mir der Kaufmann Meyberg ein. Jakob Meyberg hatte ein Bekleidungshaus. Aber nicht nur das! Beim Meyberg konnte meine Mutter auf Pump kaufen.“

Ich sehe die Fragezeichen über den Köpfen meiner Kinder.

„Wir konnten bei ihm Ratenzahlung machen. Mutter kaufte zweimal im Jahr bei ihm ein. Einmal im Frühjahr und dann wieder im Herbst. Sie hat immer geschimpft, dass wir viel zu schnell wachsen würden. Und dann kam Jakob Meyberg einmal in der Woche und hat die fällige Rate abgeholt. Mutter machte ihm dann immer einen Muckefuck und hielt in unserer Küche ein Schwätzchen mit ihm. Jakob war Kaufmann und versuchte ihr natürlich auch immer seine neuesten Angebote nahe zu bringen. Mein Vater hielt gar nichts davon. Trotzdem kam Jakob gerne zu uns. Mutter wäre ihm nie eine Rate schuldig geblieben. Ich sehe ihn noch vor mir. Eine gepflegte Erscheinung. Er trug stets Mantel und Hut.

Ingelein, schau mal, was ich dir heute mitbringe. Ich habe eine Ladung Schuhe erstanden, wie sie in New York nur in den feinsten Warenhäusern angeboten werden. Das ist eine einmalige Gelegenheit. Ich hab dir ein Paar mitgebracht, bevor ich sie in der Zeitung inseriere.

Jakob reichte meiner Mutter einen weißen Schuh aus feinstem Rindsleder über den Tisch. Sie wollte ihn gerade auf dem Tisch abstellen, um ihn genauer zu betrachten, als Jakob sie davon abhielt.

Nicht doch, Ingelein! Neue Schuhe auf einen Tisch zu stellen, bringt großes Unglück. Das darfst du niemals machen.

Ich äffe Jakob nach, kann seine Stimme in meinem Kopf hören.

„Meine Mutter hielt inne und betrachtete den Schuh in ihrer Hand. Ich konnte sehen, dass sie sie gerne gekauft hätte, aber erst wollte sie ihre Schulden bei Jakob vollständig bezahlen, vorher gab es nichts Neues. Das Leben war nicht billig in Hagen und meinen Eltern war klar, dass sie dringend eine zweite Einnahmequelle brauchten, um sich über Wasser zu halten.

Dabei ging es uns eigentlich ganz gut. Im Gegensatz zu Oma Hausen hatten wir immer genug zu essen auf dem Tisch. Oma Hausen war Witwe. Ihre Rente reichte im Winter nicht, um Kohlen zu kaufen und ihre feuchte Kellerwohnung ein wenig wohnlicher zu machen. Oma Hausen ging gebeugt am Stock, sie hatte einen leichten Buckel und trug immer ein kariertes Kopftuch. Wenn die Kinder sie auf der Straße sahen, riefen sie im Chor: "Oma Hausen, lässt einen sausen, von hier bis nach Hückelhausen."

Die alte Dame konnte sich nicht wehren. Sie wusste aber, dass meine Mutter ein gutes Herz hatte und wenn sie bei uns klingelte, durfte sie hereinkommen, sich aufwärmen und bekam ein Butterbrot und Muckefuck.

Hermann hatte schnell neue Freunde gefunden und Mutter hatte große Mühe, ihn nach der Schule wenigstens so lange zu Hause zu halten, bis er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Danach musste er alte Hosen und ein altes Hemd anziehen, um die guten Sachen für die Schule nicht schmutzig zu machen. Dann hielt ihn nichts mehr. Er traf sich mit seinen Freunden an den Bahngleisen und gemeinsam liefen sie hinunter an den Fluss, wo sie in einem halb verfallenen Haus an der Ennepe spielten. Das alte Ziegelhaus hatte keine Fenster und Türen mehr, das Dach war zur Hälfte eingestürzt. Die Holztreppe im Inneren war kaum noch begehbar. Große Löcher waren in den Treppenstufen zu sehen, ganze Bretter waren weggebrochen.

Die Jungen durchstöberten das Haus auf der Suche nach Kostbarkeiten und Schätzen. Manchmal fanden sie leere Suppendosen, die Landstreicher nach einer Übernachtung dort gelassen hatten. Auch leere Schnapsflaschen lagen manchmal herum. An einem Nachmittag im Juni musste Hermann auf mich aufpassen. Mutter musste zum Zahnarzt und hatte Hermann verboten, mit mir das Haus zu verlassen. Er sollte für eine Rechenarbeit lernen. Kaum war Mutter aus dem Haus, saß ich im Kinderwagen und Hermann jagte mit mir durch Hagen zum alten Güterbahnhof, wo seine Freunde schon auf ihn warteten. Die waren natürlich gar nicht begeistert, als sie mich sahen. Aber Hermann zerstreute ihre Bedenken und so schleppten sie mich einfach mit durch Dornenbüsche hinunter zum Fluss. Die Jungen ärgerten Hermann, weil er mich mitnehmen musste und vor Wut stieg er auf das Dach des Hauses und begann Ziegel vom Dach in die Ennepe zu werfen. Die anderen machten sofort mit. Sie liefen auf den losen Dachziegeln herum und versuchten, möglichst weit zu werfen. Plötzlich brach ein Junge im Dach ein. Er konnte sich gerade noch an einem Balken festhalten und die andren sprangen ihm zu Hilfe. Dabei lösten sich mehrere Ziegel und rutschten vom Dach herunter. Einer davon traf mich am Kopf. Ich selbst kann mich gar nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter erzählte die Geschichte immer mal wieder. Und hier …“ Ich zeige ihnen die Narbe an meinem Haaransatz. „Hier ist die Narbe. Hermann hat mir meine Schütze um den Kopf gebunden und ist mit mir nach Hause gelaufen. Als wir dort ankamen war ich blutüberströmt. Meine Mutter hatte einen Weisheitszahn gezogen bekommen und war noch völlig benommen, von der Betäubung. Die Watte steckte noch in ihrer Wange. Ich kann sie heute noch schimpfen hören:

Bursche, du kannsch schpäter wasch erleben. Du hascht Hauscharrescht bisch ansch Ende deiner Tage.

Sie konnte kaum sprechen. Ihre Lippen wollten ihr einfach nicht gehorchen. Alles unterlag noch immer der Betäubung und damit der Schwerkraft. Sie sah sich kurz die Wunde an und rannte dann mit mir zu unserem Hausarzt, der die Wunde nähte und mir Antibiotika spritzte.

Mein Bruder schrieb in den nächsten Wochen die Besten Noten seiner Schullaufbahn. Mutter hatte den Hausarrest durchgesetzt. Doch von nun an musste mein Bruder nicht mehr auf mich aufpassen. Er nannte mich immer „Rotzgöre“ und war froh, mich los zu sein.