Die Schule der Gamer - Joachim Friedrich - E-Book

Die Schule der Gamer E-Book

Joachim Friedrich

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Beschreibung

Tim ist kein besonders guter Gamer. Das gefällt weder seiner Mutter, einer berühmten Pro-Gamerin, noch seiner Lehrerin im Fach Gaming, das in Tims Schule ein Hauptfach ist. Doch als Tims Mutter in Lebensgefahr gerät, müssen er und seine Freunde Danny und Melody beweisen, was in ihnen steckt. Auch wenn ihm niemand glaubt, Tim weiß, dass er seine Mutter nur retten kann, wenn er die Quest des Phönix besteht ... Ein LitRPG-Roman für junge Leser

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Christopher Friedrich

ist eingefleischter Gamer und begeisterter Leser von LitRPG-Romanen. Er absolvierte ein Informatik-Studium, das sich insbesondere mit der Interaktion von Menschen und Technik beschäftigt.

Joachim Friedrich

schreibt seit mehr als 30 Jahren Bücher für Kinder und Jugendliche. Bisher veröffentlichte er ca. 90 Bücher, die in über 30 Sprachen übersetzt und z. T. fürs Fernsehen verfilmt wurden.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

1. Kapitel

Die Landschaft, durch die wir uns seit einer gefühlten Ewigkeit kämpften, erinnerte mich an die Bilder vom Mars, die die erste bemannte Marsmission zur Erde gefunkt hatte. Nur dass der Sand auf diesem Planeten nicht rot war, sondern silbrig glänzte und das Licht der beiden Sonnen reflektierte. Hätten sich die Visiere der Helme unserer Raumanzüge nicht abdunkeln lassen, wären wir nahezu blind gewesen. Doch auch so konnten wir unsere Umgebung nur undeutlich wahrnehmen, was dazu geführt hatte, dass ich beinahe in eine Felsspalte gestürzt wäre. In einiger Entfernung konnte ich Berge erkennen, die es mit den Rocky Mountains hätten aufnehmen können. Allerdings glänzten die nicht wie die elende Wüste, die wir durchquerten. Sie ragten bedrohlich hoch und pechschwarz gegen den violett-blauen Himmel auf.

Ich nestelte an dem Panel meines Raumanzugs, um das Intercom zu aktivieren. Wegen der klobigen Handschuhe hatte ich einige Mühe damit, aber schließlich gelang es mir.

»Danny?«

»Ja, Tim? Was ist?«, krächzte die Stimme meines Freundes aus den Helmlautsprechern.

»Wissen wir, wo diese Aliens leben und wie genau sie aussehen?«

»Ich glaube, dass sie ihre Eier in den Sand legen und sich selbst gern darin verstecken. Wenn ich mich richtig erinnere, sehen sie auch ziemlich gefährlich aus.«

»Sie sehen nicht nur gefährlich aus«, meldete sich eine zweite Stimme über das Intercom. »Sie sind es auch.«

»Dann mach schon mal deine Energieschilde klar«, gab ich zurück.

»Was meinst du, was ich …«

Weiter kam Mel nicht, die wie immer die Rolle des Tanks übernommen hatte. Vor uns wölbte sich der Sand und entließ eines der Aliens. Danny hatte nicht übertrieben. Dieses Tier, oder was immer es war, konnte einem tatsächlich Gruselschauer über den Rücken jagen. Der spitz zulaufende Kopf mit dem riesigen Maul, in dem lange Reißzähne blitzten, saß auf einem langen, dürren Hals, der in einen plumpen, mit grünen Schuppen bedeckten Körper überging. Aus dessen Hinterteil wiederum wuchs ein steil aufragender und am Ende gebogener Stachel. Seine acht Beine waren von langen, schwarzen Haaren bedeckt.

»Eine Mischung aus Drachen, Spinne und Skorpion«, stellte Mel überflüssigerweise fest.

Ohne Zögern griff das Monster an. Genauer gesagt, spuckte es Feuer aus seinem Rachen in meine Richtung. Mit einem Sprung zur Seite schaffte ich es gerade noch, mich in Sicherheit zu bringen.

»Warum ist es denn so sauer?«, kreischte Danny.

»Blöde Frage! Es will seine Eier beschützen«, klugscheißerte Mel.

Ich rappelte mich hoch. »Hört auf zu schwafeln! Ihr wisst, was zu tun ist!«

Zu meiner Überraschung stellte sich Mel ohne Widerrede zwischen den Boss und mich. Der ließ sich nicht lange bitten und spuckte ein zweites Mal Feuer. Das prallte allerdings an dem Energieschild ab, den Mel augenblicklich um uns herum aufgebaut hatte. Das Monster hob seinen Stachel und richtete ihn in unsere Richtung. Für einen kurzen Augenblick sah ich an dessen Ende etwas im Licht der zwei Sonnen aufblitzen. Das musste der Kristall sein! Die Quest bestand darin, einen dieser Kristalle zu erbeuten und auf unser Raumschiff zu bringen, das im Orbit des Planeten auf uns wartete. Da ich es nicht hatte verhindern können, wieder einmal Captain, also der Leader unseres Squads zu sein, fiel mir die Aufgabe zu, den Kristall vom Stachel des Aliens zu klauben.

»Lenk du ihn ab!«, rief ich Mel zu. »Dann schleiche ich mich von hinten heran und versuche, an den Kristall zu kommen!«

»Willst du etwa den Stachel hinaufklettern?«, rief Danny.

»Hast du eine bessere Idee?«, gab ich zurück. »Halte dich lieber bereit, damit du mich heilen kannst!«

Bevor mein Freund darauf etwas erwidern konnte, schwang der Stachel herum und traf mich an der Brust. Ich überschlug mich und landete so hart auf dem Rücken, dass mir die Luft wegblieb. Zum Glück wurde der Anzug nicht beschädigt. Das wäre in der giftigen Atmosphäre des Planeten mein Ende gewesen. Trotzdem musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass meine Lebenspunkte rasant abnahmen. Ich konnte den rückwärts laufenden Zahlen auf dem Display am Rand meines Gesichtsfelds kaum folgen.

»Du musst mich heilen, Danny!«, keuchte ich verzweifelter, als mir lieb war.

»Bin schon dabei«, knisterte es aus meinen Helmlautsprechern. Und tatsächlich stoppten die rückwärts laufenden Zahlen und stiegen dann gemächlich wieder an. Meine Erleichterung darüber hielt nicht lange an, denn nun meldete sich unser Tank:

»Da kommt noch einer!«

»Dann halte ihn auf!«, brüllte ich in das Helmmikrofon.

»Das geht nicht«, erwiderte sie ruhig. »Ich kann nur einen aufhalten.«

»Dann den, der mir am nächsten ist, damit ich den Kristall holen kann.«

»Welcher ist es denn?«

»Was weiß ich? Entscheide du! Das ist schließlich dein Job!« Mel wandte sich in ihrem Raumanzug zu mir um. Wegen des verspiegelten Sichtfensters ihres Helms konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Aber ich hätte darauf gewettet, dass sie grinste.

»Wer sagt das? Du? Meinst du, du kannst mir Befehle geben, nur weil du zufällig als Squadleader bestimmt wurdest?«

»Hör mit dem Scheiß auf!«, brüllte ich. »Du musst …«

Dieses Mal traf der Stachel meinen Helm. Zwar schlug ich nicht so hart auf dem Boden auf wie beim ersten Mal, dafür nahm ich voller Entsetzen ein Zischen wahr. Mein Anzug war undicht und nun entwich der Sauerstoff und machte den giftigen Gasen Platz, aus denen – laut Beschreibung der Quest – die Atmosphäre dieses Planeten bestand. Viel Zeit darüber nachzudenken hatte ich nicht. Fast augenblicklich wurde mir übel und vor meinen Augen verschwand nicht nur der hässliche Alien, sondern der gesamte Planet, einschließlich der beiden Sonnen, die er umkreiste.

Er wurde durch das Gesicht von Mrs Walker ersetzt, unserer Lehrerin im Fach Gaming. Sie betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf, während sich der transparente Deckel der Cabin lautlos öffnete.

»Das war Rekord, Tim«, erklärte sie mit einer Mischung aus Vorwurf und Bedauern, wie nur Lehrer ihn beherrschen.

»Negativrekord, um genau zu sein. Schneller als du und dein Team hat es noch kein Squad geschafft an einer Quest zu scheitern. Das nächste Mal muss ich euch wohl eine Quest für Erstklässler als Aufgabe stellen.«

Mein Blick fiel auf die beiden Cabins neben meiner. Aus denen erhob sich gerade meine Raumschiffcrew, die sich nun wieder in die Schüler Mel und Danny verwandelt hatte.

Offensichtlich hatten die Aliens auch ihnen den Garaus gemacht, waren also aus dem Spiel ausgeloggt worden. Üblicherweise wurde man, falls die Lebenspunkte auf Null gesunken waren, entweder zum Anfang des Spiels oder zu einem der Checkpoints geschickt, an denen man die bis dahin erreichten Spielergebnisse speichern konnte. Bei unserem Schultraining wurde man jedoch gleich komplett ausgeloggt, wenn man bei einer Quest scheiterte.

»Es war Mels Schuld!«, versuchte ich, mich zu verteidigen. »Sie wollte nicht …«

»Gib bitte nicht deinen Mitspielern die Schuld, Tim!«, fuhr unsere Lehrerin mich an. »Du warst der Leader und damit verantwortlich für dein Squad! Das solltest selbst du allmählich begriffen haben.«

»Aber Tim hat recht!«, stand Danny mir bei. »Mel hat die Quest absichtlich scheitern lassen!«

Mrs Walker betrachtete meinen Freund mit schief gelegtem Kopf und seufzte schließlich. »Daniel McCallum, es ehrt dich, deinen Freund zu unterstützen, aber ihr seid nun einmal ein Team, einschließlich Melody!«

»Leider«, brummte Danny kaum hörbar.

Zum Thema Teamarbeit und Melody hätte ich Mrs Walker eine Menge erzählen können, doch welchen Sinn hätte das gehabt? Ganz gleich, um welches Schulfach es sich handelte, Mel konnte tun, was sie wollte, ohne dass die Lehrer Notiz davon nahmen. Sie wurde nie gelobt, bekam aber auch nie Ärger. Also machte es auch keinen Sinn, sich bei Mrs Walker über sie zu beschweren. Das galt jedoch nicht nur für die Lehrer, sondern auch für die Schüler. Sie hatte weder Freunde noch bekam sie Stress mit ihren Mitschülern. Sie wurde schlicht nicht beachtet. Selbst wenn jemand versuchte, ihr näherzukommen, sich mit ihr treffen wollte oder zu einer Party einzuladen, schüttelte Mel nur den Kopf oder ließ einen Spruch ab.

Ich erhob mich stöhnend von der Liege in meiner Cabin. Obwohl Phönix ein vollintegriertes Spiel war, konnte man dabei nichts fühlen, riechen oder schmecken. Also hatten mir die Schläge des Alienstachels nicht wirklich Schmerzen bereitet. Trotzdem fühlte ich mich, als wäre es so gewesen.

Melody, die in der Schule nur Mel genannt wurde, stand neben ihrer Cabin und grinste mich nun ohne Helm an. »Wenn du keine Entscheidungen treffen kannst, ist das nicht mein Problem. Du hättest mir halt sagen müssen, welchen Alien ich dir vom Hals halten soll.«

Danny fuhr zu ihr herum. »Du bist eine …!«

»Lass sie!«, unterbrach ich ihn. »Ist doch egal.«

»Das sehe ich nicht so«, schnaubte Mrs Walker. »Ich frage mich, wie ausgerechnet der Sohn von Living Liv, einer der weltweit besten Spielerinnen, ein so unmotivierter Spieler sein kann.«

»Meine Mutter heißt nicht Living Liv, sondern Liv Ragnarsdottir, nach ihrem Vater, und ich heiße Tim Sigurdsson nach meinem Vater«, entgegnete ich. »So ist das bei uns in Island.«

»Das ist mir bekannt«, zischte die Gaming-Lehrerin. »Aber unabhängig davon, mit welchem Namen ich sie anrede, werde ich mit ihr über dich sprechen müssen. Vielleicht schafft sie es ja, dich zumindest so weit zu motivieren, dass du die Schule morgen nicht vollends blamierst.«

Ich hob die Schultern. »Meinetwegen.«

»Du bist echt cool, weißt du das?«, raunte Danny mir zu, während wir unsere Schule verließen, die hier »School of Gaming« hieß. Zum Glück war Gaming das letzte Unterrichtsfach an diesem Schultag gewesen.

Ich sah ihn an. »Wieso das?«

»Na, du hast doch so getan, als würde dich überhaupt nicht interessieren, dass die Walker sich bei deiner Mutter über dich beschweren will.«

»Du wirst es nicht glauben, aber es interessiert mich tatsächlich nicht.«

»Echt? Warum nicht?«

»Weil meine Mutter längst kapiert hat, dass ich ein miserabler Online-Spieler bin. Also kann die Walker ihr nur erzählen, was sie sowieso schon weiß.«

Danny, der in dem knappen Jahr, in dem wir auf dem Evans-Campus lebten, zu meinem besten Freund geworden war, schüttelte den Kopf. »Manchmal verstehe ich dich nicht, Tim. Gaming ist hier ein Schulfach wie jedes andere auch. Und wie in jedem Schulfach gibt es da Regeln und die …«

»… müssen eingehalten werden«, unterbrach ich ihn lachend. Danny blieb stehen und sah mich mit wütend blitzenden Augen an. »Nun mach du dich nicht auch noch über mich lustig. Es reicht schon, dass alle anderen mich Pingel nennen, nur weil es mir wichtig ist, dass Regeln eingehalten werden. Die haben schließlich immer einen Sinn!«

»Immer?«, entgegnete ich.

Nach kurzem Zögern sagte er leise: »Meistens jedenfalls.«

»Ich mache mich nicht über dich lustig, Danny. Und Pingel werde ich dich ganz bestimmt niemals nennen. Allerdings habe ich mich schon immer gefragt, warum du dir ausgerechnet diesen Spitznamen für deinen Avatar ausgesucht hast.«

Danny hob die Schultern. »Mir ist kein besserer eingefallen. Außerdem nennst du dich ja auch ›Living Tim‹ nach deiner Mutter, obwohl du nicht gern spielst.«

»Ich wollte ihr einen Gefallen tun«, gab ich zu. »Hat aber nicht viel genutzt. Sie ist trotzdem sauer, dass ich lieber lese als spiele.«

Wir überquerten den Hauptplatz des Campus, an dem sich der »Charlotte-Boulevard« und der »Alexander-Boulevard« kreuzten. Die breiten und mit Bäumen gesäumten Hauptstraßen des Campus waren schnurgerade und diagonal angelegt. So teilten sie den kreisrunden Campus in vier gleich große Bereiche, die sinnigerweise »Quarter« genannt wurden. Rund um den Hauptplatz gab es kleine Cafés, Eisstände und Restaurants. An den davor aufgestellten Designertischen saßen meist junge Leute bei Latte macchiato oder Mineralwasser und unterhielten sich angeregt. Heute, am Tag vor der »Phönix Championship«, war der Campus von wesentlich mehr Leuten bevölkert als an einem normalen Arbeitstag. Die besten Online-Spieler, die diese Welt zu bieten hatte, waren in den letzten Tagen eingetroffen und bevölkerten das Luxushotel des Campus. Wir liefen an den Tischen entlang, ohne jedoch einen der Superstars zu entdecken. Wahrscheinlich hätten Danny und ich den ganzen Tag über das Gelände des Campus laufen können, ohne einem der berühmten Spieler zu begegnen. Der riesige Campus war von der Evans Corporation als Hauptsitz in einem weitläufigen Tal in der Nähe der Stadt Phoenix in Arizona errichtet worden. Es war der Evans Corporation und diesem Campus zu verdanken, dass das Tal mittlerweile »Gaming Valley« genannt wurde. Diese Firma, die von dem Ehepaar Alexander und Charlotte Evans gegründet wurde und für die meine Mutter seit nun fast einem Jahr arbeitete, war zum wichtigsten und größten Entwickler und Herausgeber von Online-Spielen geworden. Und das, obwohl es erst 2030 gegründet worden, also gerade einmal zehn Jahre alt war. Diesen Erfolg hatte die Evans Corporation ausschließlich einem MMORPG zu verdanken, also einem Online-Rollenspiel, das gleichzeitig von Millionen Menschen gespielt werden konnte und auch Tag für Tag gespielt wurde. Es war nach dem Standort des Campus benannt: »Phönix«. Für ihr Spiel veranstaltete die Evans Corporation einmal im Jahr die Phönix Championship, die bei den Spielern als Weltmeisterschaft galt. Darum versammelten sich dafür die besten Clans der Online-Spieler auf dem Campus, um gegeneinander anzutreten. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass die hohe Siegprämie nicht der einzige Grund war, dass Spieler sich in Scharen dazu anmeldeten. Fast noch wichtiger war der »Ring der Champions«, der jedem Spieler des siegreichen Clans von Alexander und Charlotte Evans persönlich übergeben wurde.

Gleich hinter dem Hauptplatz verabschiedete sich Danny: »Ich muss noch zum Supermarkt. Wenn ich meinen Vater die Lebensmittel einkaufen ließe, wären wir schon verhungert«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Das konnte ich mir bei Finlay McCallum gut vorstellen. Dannys Vater war der Leiter der Campusbibliothek und schien immer etwas abwesend zu sein; als lebte er in einer anderen Welt. Ja, es gab auch Bücher auf dem Campus, und das war gut so.

»Eigentlich wollte ich noch mit zu euch kommen und mir ein Buch ausleihen«, entgegnete ich.

Dannys Grinsen wurde breiter. »Das kannst du doch auch allein. Oder brauchst du ein Kindermädchen?«

Ich verpasste ihm eine freundschaftliche Kopfnuss. »Blödmann!« Danny setzte eine übertrieben beleidigte Miene auf. »He! Wenn du mich so behandelst, werde ich dich bei den Quests in der Championship nicht heilen!«

Ich seufzte. »Wie ich uns kenne, würden uns auch fünf Heiler nicht retten.«

»Stimmt!«, rief Danny lachend und machte sich auf den Weg in Richtung Supermarkt, der sich im Quarter Galaxy befand. Ich musste in die entgegengesetzte Richtung. Die Campusbibliothek, über der auch Danny und sein Vater wohnten, lag im Quarter Yggdrasil. Drei der vier Quarters sind nach den Hauptspielwelten von Phönix benannt: »Yggdrasil« oder »Weltenbaum«, »Galaxy« und »Traumfänger«. Im Weltenbaum spielt man in vergangenen Zeiten, während Galaxy ihre Spieler in die Zukunft bringt. Die Traumfänger-Welt schließlich erfüllt Wünsche, wie zu einem gefeierten Sportstar oder Superhelden zu werden oder auch zu einem reichen Tycoon zu leveln. Das vierte Quarter, das »Home-Quarter« heißt, beherbergt die Gebäude für Technik, Forschung und Verwaltung. Außerdem werden hier neue Spielideen oder Spielwelten getestet, bevor sie für das Hauptspiel freigegeben werden. Aber auch die Evans wohnten dort in einer protzigen Villa. Von innen hatte ich sie noch nie gesehen. Warum sollte ich auch? Schließlich hatte ich nichts mit Charlotte und Alexander Evans zu tun, dachte ich und ahnte nicht, wie sehr ich mich damit irrte.

2. Kapitel

Die Bibliothek war in einem Gebäude von Yggdrasil untergebracht, das einem Tipi der amerikanischen Ureinwohner nachempfunden war und an eine Western-Stadt mit Saloon und Sheriff-Office grenzte. In der Nachbarschaft der Westernstadt befand sich wiederum eine Pyramide der alten Ägypter, hinter der sich schließlich ein mittelalterlicher Markt anschloss. Auch die Gebäude der anderen Spiel-Quarters entsprachen der jeweiligen Spielwelt. Selbst nach nun fast einem Jahr fühlte ich mich auf dem Campus immer noch wie in einem Freizeitpark, in dem alles mit modernster Technik vollgestopft war.

Das galt selbst für die Bibliothek. Im Inneren des Tipis erhob sich eine Halle über drei offene Etagen. Die Bücherregale standen auf dicken Panzerglasböden, sodass man den Eindruck hatte, die Besucher, die sich davor aufhielten, würden in der Luft schweben. Wie meistens, wenn ich hierherkam, war Dannys Vater in ein Buch vertieft, das sich auf seinem hochmodernen, aus Metall gefertigten Schreibtisch seltsam fremdartig ausmachte.

»Hallo, Mr McCallum«, begrüßte ich ihn, als ich schon vor ihm stand.

Dannys Vater zuckte zusammen, strich sich mit einer Hand seine langen Haare aus dem Gesicht und betrachtete mich durch seine randlose Brille. Es dauerte einige Augenblicke, bis er mich erkannte. »Tim! Entschuldige bitte, dass ich dich nicht bemerkt habe. Das Buch, das ich gerade lese, ist wirklich ausgesprochen …«

»Spannend? Interessant?«, half ich ihm, da er offensichtlich nach dem richtigen Wort suchte.

»Faszinierend!«, rief er dann mit leuchtenden Augen. »Die Mythen der westafrikanischen Stämme! – Was kann ich denn für dich tun?«

Ich musste ein Lachen unterdrücken. Das war typisch für Mr McCallum. Was sollte ich wohl in einer Bibliothek wollen?

»Ich möchte ein Buch ausleihen«, antwortete ich dann aber möglichst neutral. »Irgendwas Spannendes. Fantasy vielleicht.«

»Hast du ›Herr der Ringe‹ gelesen?« Ich seufzte. »Schon dreimal.«

Dannys Vater nickte und kratzte sich am Kinn. »Das scheint dir also zu gefallen.« Damit stand er auf und stieg Unverständliches vor sich hin murmelnd eine der Glastreppen hinauf. Nach ein paar Minuten kam er zurück und hielt mir ein unglaublich dickes Buch hin. »Dann wirst du damit ebenfalls Spaß haben.«

Ich nahm ihm den Wälzer aus der Hand. »Oh Mann! Daran habe ich eine Weile zu lesen. Vielen Dank!«

Mr McCallum nickte lächelnd und fragte dann: »Warum nutzt du nicht die virtuelle Bibliothek und liest online? Ich habe dir doch sogar mein Passwort gegeben – obwohl ich es eigentlich nicht darf«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Ich schüttelte den Kopf. »Richtige Bücher sind mir lieber.«

Ein breites Lächeln teilte seinen struppigen Bart. »Das verstehe ich gut, Tim. Sehr gut sogar!«

Die Wohnung, in der meine Mutter und ich lebten, lag im Traumfänger-Quarter. Ich hatte keine Lust, das dicke Buch quer über den Campus zu tragen und mir dabei womöglich blöde Kommentare von Mitschülern anhören zu müssen, die mir zufällig über den Weg liefen. Schließlich gab es für einen Vierzehnjährigen des Jahres 2040 angeblich nichts Uncooleres, als Bücher zu lesen. Also bestieg ich einen der kleinen, selbstfahrenden Elektrobusse, die an jeder Ecke auf dem Campus zu finden waren. Ich nannte dem nicht vorhandenen Fahrer meine Adresse und der Bus schnurrte los. Mein Weg führte mich an den typischen Gebäuden des Traumfänger-Quarters vorbei: Hotels, Kino, Kinderspielplätze