Die Schutzlosen - Kati Hiekkapelto - E-Book

Die Schutzlosen E-Book

Kati Hiekkapelto

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Beschreibung

So kalt das Herz

Ein alter Mann stirbt bei einem mysteriösen Autounfall. Niemand scheint zu wissen, wer er ist. Ein junger Drogenabhängiger wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Wurde er Opfer einer Gewalttat? Zwei Mädchen stoßen im Wald auf den Schauplatz eines Gemetzels. Aber es gibt keine Leiche. Ist die Bande krimineller Immigranten Black Cobra in den Fall verwickelt? Und welche Rolle spielt Sammy, der pakistanische Flüchtling, dessen Asylantrag abgelehnt wurde und der sich jetzt vor der Polizei verstecken muss? Ein neuer Fall für Kommissarin Anna Fekete – eine Geschichte um Habgier und Verrat, die einen noch lange begleiten wird.

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Ein alter Mann stirbt bei einem mysteriösen Autounfall. Niemand scheint zu wissen, wer er ist. Ein junger Drogenabhängiger wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Wurde er Opfer einer Gewalttat? Zwei Mädchen stoßen im Wald auf den Schauplatz eines Gemetzels. Aber es gibt keine Leiche. Ist die Bande krimineller Immigranten Black Cobra in den Fall verwickelt? Und welche Rolle spielt Sammy, der pakistanische Flüchtling, dessen Asylantrag abgelehnt wurde und der sich jetzt vor der Polizei verstecken muss? Ein neuer Fall für Kommissarin Anna Feteke – eine Geschichte um Habgier und Verrat, die Sie noch lange begleiten wird.

Kati

Hiekkapelto

DIE

SCHUTZLOSEN

Thriller

Aus dem Finnischen

von Gabriele Schrey-Vasara

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Suojattomat bei Otava, Helsinki

Die Übersetzung wurde

gefördert von FILI, Helsinki.

Copyright © 2014 by Kati Hiekkapelto

ja Kustannusosakeyhtiö Otava

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Leena Flegler

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-16580-2

www.heyne.de

Für Robert, Ilona und Aino

Ein heißer Wind wehte über den Pass im Grenzgebiet zu Afghanistan und trieb eine unbestimmte Bedrohung vor sich her. Die Luft vibrierte in der Sonnenglut, kein Laut war zu hören. Am Horizont tauchte ein Punkt auf, der rasch größer wurde. Ein Wagen. Ein offener Jeep voller Männer. Gewehrläufe – tödliche Mosin-Nagants und Kalaschnikows mit aufgepflanzten Bajonetten – ragten wie Fortsätze der Männer auf der Ladefläche zum Himmel auf, den der von den Reifen aufgewirbelte Staub und Sand trübte. Der Wagen näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, und allmählich wurde zwischen den Männern eine kleinere Gestalt erkennbar: schwarz, ein wenig zusammengesunken. Der Wagen bremste. Zwei der bewaffneten Männer sprangen hinunter, der eine streckte die Hand aus und half der in eine Burka gehüllten Frau von der Ladefläche. Vorsichtig rückte sie ihre Kopfbedeckung zurecht, das Stoffgitter, das die Augen verbarg. Ohne sich umzusehen, folgte sie den Männern zu einem weiß gekalkten Gebäude.

Außenministerium Pakistan: Reisewarnung

Gewaltakte und Terroranschläge im ganzen Land möglich, vor allem an der Grenze zu Afghanistan. Nicht dringend erforderliche Reisen in das Land sind zu vermeiden.

Die Situation in Pakistan ist weiter instabil; es kann aus nicht vorhersehbaren politisch, wirtschaftlich, sozial oder religiös motivierten Gründen zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen.

In Karatschi, Peschawar, Lahore, Islamabad, Quetta und anderen größeren Städten drohen weiterhin Terroranschläge, Unruhen, gewalttätige Auseinandersetzungen sowie Demonstrationen. Besonders groß ist das Risiko im Grenzgebiet zu Afghanistan; von jedem Aufenthalt dort ist abzuraten. Auch in Karatschi drohen vermehrt Gewaltakte. Im ganzen Land sind Wachsamkeit und Vorsicht geboten.

Reisen in die Stammesgebiete im Nordwesten des Landes (FATAeinschließlich Khaiberpass sowie Peschawar und Swat-Tal) und in die Provinz Belutschistan sind unbedingt zu vermeiden.

In Pakistan gilt ein überaus strenges Blasphemiegesetz, dessen Übertretung mit dem Tod geahndet werden kann.

1

Sammy war auf die gleiche Weise und auf derselben Route nach Finnland gekommen wie das für die gierigen Adern Westeuropas bestimmte und auch ihm selbst nur allzu bekannte Heroin: versteckt in einem qualmenden Laster, quer durch die endlosen Weiten Russlands, illegal.

Das Heroin setzte seine Reise weiter fort. Sammy blieb.

Er beantragte Asyl, ließ sich in einem Auffanglager nieder, versuchte, das Heroin hinter sich zu lassen, schaffte es sogar irgendwie. Wartete zwei Jahre, vier Monate und eine Woche. Bekam den Abschiebebescheid und tauchte unter. Lebte auf der Straße. Machte Bekanntschaft mit Subutex.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und bohrende Kopfschmerzen kündigten sich an. Er verschaffte sich einen Überblick über seine Habe: ein kleiner Geldschein von der Nothilfe der Kirche und eine Zwei-Euro-Münze. Dafür musste doch irgendwas zu kriegen sein. Dann würde es ihm leichterfallen zu überlegen, wie er an mehr Geld kommen konnte. Wenn man es nur lang genug versuchte, kam man immer irgendwie an Geld. Er sammelte Pfandflaschen. Arbeitete schwarz in einer Pizzeria, putzte und erledigte manchmal Einkäufe für die beiden Besitzer. Sich selbst hatte er zum Glück nicht häufig verkaufen müssen, und nennenswerte Verbrechen hatte er auch nicht begangen. Er war kein Krimineller. Sammy verabscheute all diejenigen, die alte Menschen ausraubten. Oder in Wohnungen einbrachen. Das hasste er am allermeisten. Das Zuhause anderer Leute war heilig. Ein Zuhause war ein Zuhause. Dort musste man sich in Sicherheit fühlen können. Hätte er in seinem Zuhause in Sicherheit sein dürfen, dann wäre all das nicht passiert. Dann würde er heute zur Schule gehen und sein künftiges Berufsleben planen. Sonntags würde er in die Kirche gehen und heimlich zu dem Mädchen hinüberspähen, das ihm mittlerweile versprochen wäre. Ein hübsches Mädchen. Dichte, geschwungene Wimpern würden Schatten auf ihre hohen Wangenknochen malen, wenn sie seinen Blick auffinge und scheu die Augen niederschlüge. Ein kleines Lächeln würde sich auf ihr Gesicht legen. Es wäre Frühling. Draußen wäre lediglich das Zwitschern der Vögel zu hören, es wäre warm, und im Tal würden Tausende von Obstbäumen blühen.

Ein eisiger Wind fuhr unter Sammys Kleidung. Der vereiste Boden war glatt und holprig. Es war nicht leicht voranzukommen. Tagsüber war die Sonne zwar schon ein wenig wärmer gewesen. Sammy hatte sich am Stadtrand herumgedrückt, er hatteimmer wieder die Augen geschlossen und das Gesicht zum Himmel gerichtet und einen Hauch von Wärme auf den Wangen gespürt. Doch abends schlug der Winter immer noch gnadenlos zu, und die Kälte wurde schier unerträglich. Die Steppjacke vom Flohmarkt der Heilsarmee war nicht besonders dick. Vom Zwiebellook hatte Sammy noch nie gehört. Er lebte seit zwei Monaten auf der Straße und hatte die ganze Zeit über gefroren. Hörten der Winter und die Kälte denn nie auf? Wo würde er in dieser Nacht schlafen?

Doch zuerst musste er irgendwie an Subu kommen. Bubre. Tex. Ein geliebtes Kind hatte viele Namen. In der Finnischstunde hatten sie finnische Redewendungen durchgenommen und nach Entsprechungen in ihren eigenen Sprachen gesucht. Sammy hatte sich nicht mehr erinnern können, ob es zu Hause eine ähnliche Wendung gab, doch die Lehrerin hatte ihn freundlich, aber bestimmt gedrängt, weiter darüber nachzudenken. Das schien inzwischen eine Ewigkeit her zu sein.

Sammy war auf dem Weg nach Leppioja. Dort wohnte ein Dealer, den er kannte. Ein Finne, Make: selbst abhängig und in Sammys Alter. Sammy mochte ihn nicht besonders. Make hatte etwas Angespanntes, Explosives an sich – einen drogengepeitschten Wahnsinn, der einem Angst machen konnte. Aber er hatte fast immer Stoff zur Hand. Vielleicht bekam Sammy bei ihm einen kleinen Rabatt. Vielleicht dürfte er sogar über Nacht bleiben.

Die Kopfschmerzen wurden immer heftiger. Sammy beschleunigte seine Schritte. Leppioja war eines der abgelegeneren Wohngebiete – ein paar Mehrfamilienhäuser und scheinbar willkürlich hochgezogene Reihenhäuschen inmitten eines Waldstücks. Nicht gerade die typische Junkiegegend. Es gab dort nicht einmal einen Laden, den ein Fixer hätte ausrauben können. Doch die Abgeschiedenheit war Sammy nur recht. Aus irgendeinem Grund fürchtete er sich im Stadtzentrum weitaus mehr davor, geschnappt zu werden, obwohl er wusste, dass er gerade in Stadtteilen, wo kaum Migranten lebten, viel eher auffiel. Am besten waren die großen Vorstadtsiedlungen: Rajapuro, Koivuharju und Vaarala. Dort gab es Stoff. Und ein paar Bekannte. Landsleute sogar. In diesen Vororten konnte er sich unsichtbar machen, und sie waren auf ihre eigene Weise ruhig. Leppioja indes war nicht annähernd so groß. Womöglich gehörte die Wohnung Makes Eltern, vielleicht hatten die sie ihrem Sohn überlassen. Anders konnte Sammy es sich nicht erklären, dass Make ausgerechnet dort wohnte. Und dass er dort immer noch nicht rausgeflogen war.

Die Haustür war natürlich verschlossen. Er hatte Make nicht anrufen und vorwarnen können, weil er kein Handy besaß. Das erschwerte seine Jagd nach dem Stoff zwar erheblich, doch er nahm es in Kauf, denn der Drogenfahndung ins Netz zu gehen wäre weitaus schlimmer, als vorübergehend kein Subu in die Finger zu bekommen. Ein falscher Anruf, eine falsche SMS, und er konnte im Kontrollapparat der Polizei eine Spur hinterlassen, die so deutlich war wie der Abdruck einer Hasenpfote im weichen Schnee. Er hatte gelernt, Hasenspuren zu erkennen. Nachts liefen unzählige Hasen durch die Siedlung, die in Sammys Augen lediglich eine winzige Lichtung im Wald war, der wiederum bis an die sibirische Taiga zu reichen schien. Die Stadt, aus der er stammte, hatte über eine Million Einwohner. Aber auch ständig das Handy oder die SIM-Karte zu wechseln wäre teuer und brächte ein weiteres Risiko mit sich: Er müsste Geschäfte betreten, und Sammy wollte sein Gesicht nirgends zeigen, wo Überwachungskameras hingen.

Im Augenblick ging er ein hohes Risiko ein. Er blieb vor der Haustür stehen. Vielleicht kam ja bald jemand, in dessen Schatten er mit hineinschlüpfen konnte. Er versuchte, ruhig zu bleiben, sah sich aber immer wieder verstohlen um. Beobachtete ihn jemand? Das Nachbarhaus stand ein Stück entfernt hinter ein paar Fichten und von Reif überzogenen Laubbäumen, einem Kinderspielplatz und vereister Erde. Zwei Lampen genügten nicht, um das Grundstück auszuleuchten. Die Hausbewohner von gegenüber waren zwar noch wach, würden das andere Gebäude aber nicht unbedingt deutlich sehen können. Andererseits hielt Sammy sich nicht im Schatten auf; die helle, würfelförmige Lampe über der Haustür wirkte wie ein Scheinwerfer. Ihr Licht färbte seine dunkle Haut bläulich. Er fühlte sich wie auf einer Bühne, wurde zusehends nervös. Der letzte Schuss lag schon zu lange zurück. Er hatte versucht, seinen Konsum herunterzuschrauben und immer nur so viel zu nehmen, dass er die Angst und die kalten Nächte ertrug. Sobald alles wieder in Ordnung käme, würde er ganz damit aufhören. Das würde ihm nicht schwerfallen; die Sucht hatte ihn noch nicht vollends im Würgegriff. Aber gerade jetzt spürte er, wie das Zittern wieder einsetzte. Es war so unglaublich kalt. Am liebsten hätte er die Glasscheibe in der Tür eingeschlagen. Oder gebrüllt. Er musste in dieses Haus, Make würde ihm helfen.

Da ging im Treppenhaus das Licht an. Sammy richtete sich gerade auf, trat ein paar Schritte zurück und versuchte, eine unverbindlich freundliche Miene aufzusetzen, obwohl er genau wusste, dass er in dieser Umgebung niemals zu einer vorbeihuschenden Gestalt, zu einem Teil jener gleichförmig hellhäutigen Menge werden konnte. Seine schwarzen Augen und die dunkle Haut fielen unter Finnen unweigerlich auf. Und gerade deshalb war es wichtig, freundlich dreinzublicken. Bei der kleinsten bedrohlich anmutenden Geste von einem wie ihm griffen die Leute zum Handy und alarmierten die Polizei.

Ein Mann kam die Treppe herunter. Nicht besonders alt, aber auch nicht mehr ganz jung. Sammy hatte Schwierigkeiten, das Alter von Finnen richtig zu schätzen. Der Mann war fast schon elegant gekleidet: langer, dicker Wollmantel und Hut. Dennoch wirkte er nicht besonders wohlhabend. Seine Kleidung sah abgetragen aus. Sammy hatte schon so lange – eigentlich sein ganzes Leben lang – Menschen beobachtet und gelernt, Geld zu wittern. Freundlichkeit. Gefahr. Und in diesem Augenblick witterte er Gefahr. Daher zwang er sich, just als der Mann die Klinke herunterdrückte, zu einem Lächeln, trat auf die Tür zu, als wäre er gerade erst angekommen, und tat so, als suchte er in der Tasche nach seinem Hausschlüssel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ach, das trifft sich ja gut, schönen Abend noch. Gottes Segen für Sie und Ihre Familie. Irgendetwas hätte er sagen müssen – wenn er es nur gekonnt hätte. Er begnügte sich mit einem Lächeln und hoffte, dass sein Zittern nicht zu sehen wäre. Der Mann warf ihm einen finsteren Blick zu und blaffte ihn mit rauer Stimme an. Sammy verstand kein Wort. Er zeigte nach oben und lächelte dabei weiter wie ein Idiot. Der Mann blieb in der Tür stehen und nahm ihn misstrauisch in Augenschein. Sammy spürte, wie unschlüssig sein Gegenüber war – und das Gefühl der Gefahr nahm ab. Er wies nach oben und sagte: »Friend.« Der Mann warf einen Blick zurück ins Treppenhaus, in dem soeben das Licht ausging. Wie von der Dunkelheit angetrieben, stieß er die Tür weit auf, marschierte hinaus und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Und Sammy schlüpfte hinein.

Vilho Karppinen war müde. Er hatte sich schon den ganzen Abend elend gefühlt und war mehrmals vor dem Fernseher eingenickt. Er hatte sich zwingen müssen aufzustehen und ins Bett zu gehen, und dann hatte er doch nicht schlafen können. Von irgendwoher kam ein höllisches Stampfen. Eine Melodie erkannte er nicht, aber das Dröhnen der Bassgitarre war so laut, dass es durch die Wände und über die Bettpfosten direkt in seine Ohren zu dringen schien. Es war, als würde das ganze Bett wackeln. Hin und wieder verstummte der Lärm, und immer wieder wäre Vilho beinahe eingeschlafen – doch dann ging es wieder los. Es war beileibe nicht das erste Mal. Vilho hatte eigentlich erwartet, dass diese Radaubrüder eine Verwarnung bekämen, doch offenbar war nichts dergleichen geschehen. Sie machten weiter Krach, zwar nicht jeden Abend, aber oft genug. Störte das denn sonst niemanden? Diese verdammten Kerle durften nächtelang lärmen und toben, ohne dass irgendjemand einschritt. Aber jetzt reichte es. Er würde hingehen und sie zwingen, das Getöse, das man nicht einmal mehr als Musik bezeichnen konnte, abzustellen. Wenn sie seiner Aufforderung nicht Folge leisteten, würde er die Polizei rufen. Und gleich am Morgen würde er sich beim Hausverwalter beschweren. Hoffentlich bekamen diese lärmenden Affen eine Räumungsklage. Dann würde er endlich wieder ruhig schlafen können. Er brauchte das bisschen Schlaf. In seinem Alter hatte er ein Anrecht darauf.

Vorsichtig setzte Vilho sich auf und spürte, wie ihm schwindlig wurde. Das gibt sich schon wieder, dachte er, stand auf, ging in den Flur und schlüpfte ächzend in seine Pantoffeln. Wie hatte er nur so schwächlich werden können – und wann? Vor zwei Jahren war er noch Ski gelaufen. Oder war das schon länger her? Im Schlafanzug betrat er das Treppenhaus, ließ die Tür angelehnt, machte kein Licht, lauschte, woher das Dröhnen kam. Von unten. Sicher aus der Wohnung an der Giebelseite, wo dieser junge Schnösel hauste. Vilho kannte ihn nicht, hatte ihn nur ein paarmal im Treppenhaus gesehen. Der Bursche grüßte nicht und sah ihm auch nie in die Augen. Ein widerlicher Kerl. Aber wenigstens im selben Treppenaufgang, dachte Vilho. Da brauche ich nicht noch einmal zurückzugehen, um den Mantel zu holen.

Vilho stieg die Treppe hinab ins Erdgeschoss und klingelte. Als hätte jemand darauf gelauert, flog die Tür auf, und Vilho wurde in die Wohnung gezerrt. Eine Faust hatte sich in seine Schlafanzugjacke gekrallt und zog so fest an dem Stoff, dass er am Rücken zum Zerreißen gespannt war.

»Was schleichst du hier rum, Opa?«

Der junge Mann zog Vilho ganz nah an sich heran, und Vilho roch den Alkoholdunst, sah zum ersten Mal die Augen seines Nachbarn, die winzigen schwarzen Pupillen. Ihm war sofort klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hätte gleich die Polizei rufen sollen, statt den Helden zu spielen. Aber manchmal vergaß man eben, wie alt man war, obwohl einem schwindlig wurde und die Kräfte schwanden und einem im Spiegel eine seltsame graue Schrumpelrosine entgegenblickte.

»Würden Sie die Musik bitte leiser drehen?«, fragte er. »Ich kann nicht einschlafen.«

»Scheiße, ey, wir wollen sie aber hören«, sagte der Junge und bugsierte Vilho ins Wohnzimmer. Vilho versuchte, sich loszureißen. Ihm war schwindlig. Er wollte die Faust des Jungen abwehren, war aber machtlos gegen die durch chemische Substanzen aufgeputschte jugendliche Kraft. Er holte zu einem Schlag aus, doch seine Hände waren schlapp wie auf der Heizung getrocknete Lederhandschuhe. Nutzlose Patschen. Lächerlich. Mitten in dem chaotischen Wohnzimmer ließ der Junge ihn los. Vilho schnappte nach Luft. Auf dem Sofa saß ein zweiter Junge. Dunkelhäutig. Freundliche, matte Augen. Alles andere als bedrohlich. Vielleicht würde er doch mit heiler Haut davonkommen.

»Es ist wirklich nicht böse gemeint«, sagte Vilho. »Ich wollte bloß sagen, dass die Musik stört, weil ich genau über Ihnen wohne.«

»Halt die Fresse, alter Geier! Verdammte Mumie, bildest du dir ein, du wärst hier der Herr im Haus? Immer nur den anderen auflauern! Scheiße, nie hat man seine Ruhe! Immer sitzt einem irgendein kackiger Opa im Nacken.«

Der Junge auf dem Sofa sagte etwas. Seine Stimme klang sanft. Vilho verstand ihn zwar nicht, hörte aber den beschwichtigenden Tonfall. Alles würde gut ausgehen. Er wollte sich einfach nur wieder umdrehen und die Wohnung verlassen. Doch plötzlich überfiel ihn der Schwindel wie eine Sturzwelle, die Beine gaben unter ihm nach, er klammerte sich an den Jungen, der wütend aufbrüllte und ihm die Faust ins Gesicht donnerte. Vilho stürzte. Schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante. Blut spritzte auf den stinkenden Teppich zwischen eine leere Spritze und eine Bierdose.

»Scheiße, ich hab ihn wohl abgemurkst«, sagte der Junge kichernd. Vilho wurde schwarz vor Augen. Er sah noch, dass der Junge ihn angrinste, dann aber mit einem Schlag ernst wurde. Vorsichtig tastete er nach Vilhos Puls, fand ihn jedoch nicht.

»He’s fucking dead«, brüllte er zum Sofa hinüber. »We have to do something. Get up, you fucking nigger, move your stinky ass, we have to do something, and fast!«

2

Es war noch früh am Morgen und dunkel. Kriminalmeisterin Anna Fekete war abrupt aus dem Schlaf geschreckt, aus einem widerlichen Traum, an den sie sich jedoch nicht mehr erinnern konnte. Ihr Laken war feucht von kaltem Schweiß. Sie duschte heiß, dann kochte sie sich zur Abwechslung einen Tee. Bei der Arbeit würde es Kaffee zur Genüge geben. Während sie an ihrem Tee nippte, las sie die Morgenzeitung und lauschte den Geräuschen aus dem allmählich erwachenden Hochhaus. Auch in der Nachbarwohnung wurde geduscht. In der Küchenwand rauschten die Wasserleitungen. Irgendwo schepperte es. Wieder einmal wurde Anna bewusst, dass sie keinen ihrer Nachbarn persönlich kannte. Im Treppenhaus grüßte man einander höflich, aber wer die anderen Hausbewohner waren, wo sie arbeiteten, welche Träume, Glücksmomente oder Leiden sie hatten, davon wusste sie nichts. Sie konnte nicht einmal die Namen an den Briefkästen einzelnen Gesichtern zuordnen. Doch im Grunde war ihr das ganz recht. Sie sehnte sich nicht nach nachbarschaftlichem Miteinander, wollte nicht an der gemeinsamen Verschönerung des Hinterhofs teilnehmen und auch nicht an den Versammlungen im Gemeinschaftsraum. Ihrer Meinung nach war diese Form des Miteinanders lediglich das Resultat eines verdammten, überbewerteten Mythos. Es sehnten sich nur diejenigen danach, die sie noch nicht persönlich hatten erleiden müssen: die Überwachung durch Mitmenschen, die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten und eine oft fast schon gewaltsame Beschneidung der individuellen Freiheit. All das hatte man im Westen zu liebevoller Fürsorge und Obhut deklariert, deren Abwesenheit angeblich die Wurzel allen sozialen Übels sein sollte. Anna ärgerte sich darüber. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es auch in Finnland die größte Sorge der Menschen gewesen, was wohl die anderen, die Nachbarn und Verwandten, von einem dachten und über einen redeten; damals hatten die Menschen auch hier zugelassen, dass ihr Leben sich an den Erwartungen der Gemeinschaft ausrichtete, sie hatten gefürchtet, nicht akzeptiert zu werden, und aus dieser Angst heraus eine Rolle akzeptiert, die ein anderer ihnen aufzuzwingen gedachte. Wie viele hatten ihr ganzes Leben lang darunter leiden müssen? Und zu diesem Zustand wollte man jetzt zurückkehren? Annas Gedanken wanderten zu ihrem Bruder Ákos. Ob er wohl noch unglücklicher und versoffener wäre, wenn er wieder nach Serbien ginge? War er deshalb in Finnland geblieben?

Sie warf einen Blick auf die Uhr, schlüpfte in Röhrenjeans und eine sportliche Kapuzenjacke, beschloss, trotz der Kälte mit dem Fahrrad zu fahren, und zog ihren gefütterten Overall, Mütze und Handschuhe an. Irgendwie war sie ja verrückt – die Angewohnheit zahlreicher Finnen, sommers wie winters mit dem Rad zu fahren, dem eisigen Frost und den gefährlich glatten Straßen zu trotzen. Ihre Angehörigen in der Heimat wären entsetzt, wenn sie davon wüssten. Doch Anna hatte das Radfahren im Winter genießen gelernt. Wenn man nur ordentliche Spikereifen hatte und einen guten Helm trug, stellte der Schnee kein Hindernis dar. Und es tat gut, vor Dienstantritt Sauerstoff zu tanken und die vom Schlaf noch steifen Glieder in Bewegung zu setzen.

»Anna, auf dich wartet heute eine spezielle Aufgabe«, verkündete Hauptkommissar Pertti Virkkunen bei der Morgenbesprechung im Dezernat für Gewaltdelikte.

»Ach ja? Und was?«

Esko Niemi holte sich die dritte Tasse Kaffee, Sari Jokikokko-Pennanen malte Kringel auf ihren Notizblock, und Nils Näkkäläjärvi nippte an einer Tasse Tee. Virkkunen sah missmutig aus.

»Seit letzter Nacht sitzt eine junge Ungarin bei uns in der Zelle.«

»Oh! Und was hat sie verbrochen?«

»Wir ermitteln wegen grober Straßenverkehrsgefährdung mit Todesfolge. Sie hat letzte Nacht einen Mann überfahren.«

»Ach du … War sie betrunken?«

»Nein.«

»Drogen?«

»Den Tests der Streife zufolge nicht. Aber die Blutprobe geht natürlich noch ins Labor.«

»Zu schnell gefahren?«

»Das wissen wir noch nicht. Jedenfalls spricht das Mädchen kaum Finnisch und auch nicht besonders gut Englisch. Es wäre das Beste, wenn du die Vernehmung übernehmen könntest.«

»Natürlich.«

Eine leise Nervosität zwickte Anna in der Magengegend. EineUngarin? Eine Vernehmung auf Ungarisch? Konnte sie das überhaupt? Was hieß »unmittelbar Beteiligter«, wie sagte man »Todesfolge«? Es gab so viele Wörter in ihrer Muttersprache, die sie inzwischen vergessen oder noch nie gehört hatte. Wie würde sie die notwendigen Fachausdrücke in Erfahrung bringen können? Ein Bekannter ihrer Mutter war Jurist. Vielleicht sollte sie mit ihm Kontakt aufnehmen.

»Jetzt geh schon, wir können das Mädchen nicht ewig festhalten.«

»Was? Jetzt gleich?«

»Ja.«

»Wer ist denn der Tote? Wo ist der Unfall passiert? Und wann? Ich kann doch nicht völlig blank zur Vernehmung gehen!«

»Letzte Nacht um kurz nach zwölf auf einer der Landstraßen, die aus der Stadt hinausführen. In der Nähe von Kangassara, also an der Stadtgrenze. Das Opfer ist ein alter Mann. Er trug nur einen Schlafanzug. Wir haben ihn noch nicht identifizieren können – Sari wird überprüfen, ob es übereinstimmende Vermisstenmeldungen gibt. Hier sind die Aufnahmen, die die Kriminaltechnik am Unfallort gemacht hat.«

Anna sah auf die Fotos hinab. Die Leiche und die Blutspritzer sahen ekelhaft aus. Sie würde sich wohl nie an den Anblick gewöhnen. Aber was war eigentlich schlimmer – sich an Gewalt und grässlich zugerichtete Leichen zu gewöhnen, sodass einen ihr Anblick kaltließ, oder jedes Mal aufs Neue geschockt zu sein?

»Gibt es in Kangassara nicht ein Pflegeheim? Vielleicht ist der Alte von dort weggelaufen?«

»Kann sein. So was passiert ja ständig. Allerdings kommen diese Leute dann selten unters Auto.«

»Eher erfrieren sie«, warf Sari ein.

Esko hatte noch kein Wort gesprochen. Alle hatten seine geröteten Augen und das leise Zittern der Kaffeetasse in seiner Hand bemerkt, doch keiner hatte sich dazu geäußert, nicht einmal Virkkunen. Vielleicht hatte er sich insgeheim ausgerechnet, wann Eskos Pensionierung anstand, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich nicht mehr lohnte einzuschreiten. Außerdem erledigte Esko seine Arbeit und feierte nie krank, auch wenn keiner verstand, wie er das trotz seiner unverkennbaren Sauferei hinbekam. Manche Menschen brauchten wohl den Alkohol, dachte Anna. Um zu überleben. Oder um früher zu sterben. Um das Warten auf den Tod erträglich zu machen. Den Schmerz zu betäuben. Als Inspiration im eintönigen Alltag. Als Aufputscher. Als Farbklecks im Grau. Als Befreiung. Zum Selbstbetrug. Zur Selbstzerstörung. Es konnte schließlich nicht jeder ein durchtrainierter, sportlicher Gesundheitsfanatiker sein. Man brauchte die Säufer, die Übergewichtigen und Depressiven, damit man Statistiken erstellen und mit Beispielen aufwarten konnte, die den Menschen Angst machten. Und Alkohol eignete sich hervorragend dafür, vor dem Verderben zu warnen.

Wie mag es Ákos gehen?, fragte sich Anna. Sie ahnte, dass ihr Bruder schon seit mindestens einer Woche wieder trank.

»Prima, dass wir es ohne Dolmetscher schaffen«, sagte Virkkunen. »Ich rufe gleich im Zellentrakt an. Sie sollen die Ungarin in den Vernehmungsraum bringen.«

»Jó reggelt, Fekete Anna vagyok«, stellte Anna sich vor.

»Farkas Gabriella, kezét csókolom«, erwiderte die junge Frau förmlich. Anna war peinlich berührt. So hatte sie noch nie jemand begrüßt. Küss die Hand. Das sagte man zu Älteren. Oder zu eindeutig Höhergestellten. Doch dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie bei der Ausübung ihres Berufs genau das war: höhergestellt. Mächtig. Sie hatte alle Macht über diesen Menschen. Nein, natürlich nicht alle Macht. Glücklicherweise schützten Gesetze und Erlasse die Rechte des Einzelnen und schränkten Annas Befugnisse ein, aber in einer derartigen Situation – wie in den meisten dienstlichen Situationen – verschob sich das Gleichgewicht zu ihren Gunsten. Ein einfacher Gruß, den sie selbst nahezu gedankenlos verwendete, wenn sie in der Heimat ältere Verwandte traf, hatte ihr urplötzlich eine neue Erkenntnis über ihren Beruf beschert. Die Kraft der Worte, dachte sie. Die Verbindung von Muttersprache und Verständnis. Wie vieles war ihr noch immer verborgen, wie viel lag hinter den Wörtern der fremden neuen Sprache versteckt?

Anna spürte, dass Gabriella eine Reaktion von ihr erwartete. Sie beschloss, zuerst wiederzugeben, was sie über den Unfall erfahren hatte, und fragte dann, ob ihre Angaben zutreffend seien. Gabriella nickte.

»Wo wolltest du hin?«

»Nach Kangassara. Dort wohne ich. Ich bin Au-pair.«

»Wie lange schon?«

»Etwas über zehn Monate.«

»Und du bist insgesamt für ein Jahr dort angestellt?«

»Ja.«

»Woher kommst du?«

»Budapesti vagyok. És te?«

»Én vajdasági magyar vagyok. Magyarkanizsárol.«

»Ach! Ich habe Freunde in Erdélyi. Selbst war ich noch nie in der Vojvodina. Leben Sie schon lange in Finnland?«

»Von Kind an. Einigen wir uns darauf, dass ich die Fragen stelle?«, bat Anna in bemüht freundlichem Ton.

»Ja, natürlich, Entschuldigung. Ich habe seit zehn Monaten nur über Skype Ungarisch gesprochen«, antwortete Gabriella verlegen.

»Ich kenne das Gefühl … Aber zur Sache. Woher bist du letzte Nacht gekommen?«

»Von der Uni. Genauer gesagt aus dem Studentendorf. Von einer Party.«

»Trotzdem hat der Atemtest null Promille angezeigt.«

»Ich trinke nicht, wenn ich noch fahren muss … und auch sonst nicht viel.«

»Hast du irgendetwas anderes genommen?«

»Nein. Aber ich habe Musik gehört …«

»Na, das ist ja nicht verboten.«

»Ich war ganz darauf konzentriert. Es war ungarische Volksmusik«, sagte Gabriella leise.

»Erzähl mir bitte in eigenen Worten möglichst genau, was dort auf der Straße passiert ist.«

Gabriella sah mit einem Mal merkwürdig verkrampft aus. Sie kämpfte offensichtlich mit den Tränen, sah Anna nicht mehr an, sondern starrte nur mehr ins Leere und atmete unregelmäßig. Dann erzählte sie mit gepresster Stimme, sie habe den Mann, der dort auf der Straße gelegen hatte, zwar gesehen, aber irgendwie habe der Wagen ihr nicht mehr gehorchen wollen – er sei einfach weitergerollt, es sei ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, obwohl es in Wirklichkeit höchstens eine Sekunde oder zwei gedauert haben mochte. Der Mann sei immer näher gekommen – und sie habe einfach nichts tun können. Sie schilderte, wie es geknackt hatte, als sie ihn schließlich überrollt hatte. Und wie sie einen Moment lang die Fassung verloren und ihren eigenen Tod mehr gefürchtet hatte als den des Mannes.

»Muss ich jetzt ins Gefängnis?«, fragte sie und weinte nun ganz ungeniert.

»Zuallererst müssen wir feststellen, wie schnell du unterwegs warst. Wenn du nicht zu schnell gefahren bist, hast du vermutlich nichts zu befürchten. Allerdings ist dabei natürlich zu beachten, dass man das Tempo dem Gesetz nach an die Straßenverhältnisse anpassen muss. In der letzten Nacht waren die Straßen spiegelglatt.«

»Ich bin es einfach nicht gewöhnt, bei solchem Wetter zu fahren. Dabei hatte man mir gesagt, der Wagen hätte gute Winterreifen.«

»Wem gehört er überhaupt?«

»Es ist der Zweitwagen meiner Au-pair-Familie. Ich darf ihn benutzen. Komme ich je wieder nach Hause? Ach, ich bin furchtbar, ich denke immer nur an mich …«

»Für die Dauer der Ermittlungen und eventuell der Gerichtsverhandlung wirst du wohl hier in Finnland bleiben müssen. Das können wir klären, wenn wir genauer wissen, welche … Anklage erhoben wird. Oder ob es überhaupt zu einer Anklage kommt.«

Anna hatte erst über den Ausdruck »Anklage erheben« nachgrübeln müssen. Ich sollte mir von zu Hause ein Buch mit juristischen Fachausdrücken schicken lassen, dachte sie. Ich kann dieser Frau noch nicht einmal sagen, dass ich sie gerade unter dem Verdacht der groben Straßenverkehrsgefährdung vernehme, a büdös fene! Im schlimmsten Fall ist das ein Dienstfehler. Ich hätte auf einem Dolmetscher bestehen müssen. Und gleichzeitig zugeben, dass ich meiner Muttersprache nicht mehr mächtig bin.

»Zum Glück war er so alt«, riss Gabriella sie aus ihren Gedanken. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn es ein Kind gewesen wäre. Ich glaube, dann würde ich mich umbringen.«

»Ja«, sagte Anna, »zum Glück war es kein Kind. Der Mann lag also auf der Straße, als du ihn gesehen hast?«

»Ja.«

»Sicher, dass er nicht die Straße überqueren wollte?«

»Nein, er lag einfach nur da. Ich habe zuerst gar nicht erkannt, dass es sich um einen Menschen handelte. Es sah aus wie … ein dunkler Haufen, ein Kieshaufen oder so was in der Art. Oder ein Müllsack.«

»Hat er sich bewegt?«

»Ich weiß nicht … Ich glaube nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.«

»In welcher Position lag er da, erinnerst du dich noch?«

»Nein. Es war so schrecklich! So unwirklich! Irgendwann habe ich begriffen, dass es sich um einen Menschen handelte und dass er immer näher kam … Moment! Kann sein, dass er auf der Seite lag. Es kommt mir so vor, als hätte ich sein Gesicht gesehen, als hätte er mir direkt in die Augen gestarrt … Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Warum hat der Mann dort gelegen? Wer war er?«

»Das wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich ein Demenzpatient, der aus dem Heim ausgebüxt ist und sich verirrt hat. Die wandern oft an den seltsamsten Orten herum.«

»Hatte er einen Infarkt?«

»Vielleicht. Oder er ist gestürzt. Das erfahren wir bei der Obduktion.«

»Seine Angehörigen werden mich hassen.«

Gut möglich, dachte Anna, sprach es aber nicht aus.

»Einfach unglaublich, dass Sie Ungarin sind«, fuhr Gabriella fort. »Einfach fantastisch. Ich würde es nicht ertragen, wenn ich das alles hier auf Englisch besprechen müsste.«

»Du könntest einen Dolmetscher bekommen.«

»Sie sind besser als ein Dolmetscher. Ich will Sie.«

Darauf wusste Anna nichts zu erwidern.

Esko Niemi stand in der Raucherecke vor dem Polizeigebäude und dachte mit Widerwillen an die Aufgabe, die ihm die Zentralkripo aufgebrummt hatte. Herrgott, sakrament! Es fuchste ihn ungemein, den Laufburschen für diese Schlipsträger spielen zu müssen. Er wollte einzig und allein von Virkkunen Befehle annehmen – auch wenn selbst dessen Befehle ihm oft genug gegen den Strich gingen. Überhaupt kotzte ihn in letzter Zeit alles an. Nur wusste er beim besten Willen nicht, warum. Irgendetwas Undefinierbares bedrückte ihn, er fühlte sich in die Ecke getrieben, in einen Käfig gesperrt. Die gleiche Beklemmung hatte er auch früher schon hin und wieder verspürt, doch daran wollte er sich lieber nicht erinnern. Vielleicht sollte er einfach seine Wohnung verkaufen, eine Jagdhütte erstehen und sich in die Einsamkeit zurückziehen. Er brauchte keinen großen Komfort. Fließend Wasser wäre gut, eine kleine Kochnische müsste die Hütte wohl haben und eine Schlafkammer. Eine Sauna und einen Ofen. Und ohne Strom wäre die Hütte zu primitiv – ein sibirisches Arbeitslager schwebte ihm ja nun auch wieder nicht vor. Vielleicht konnte er ja Sonnenkollektoren auf dem Dach installieren, die waren inzwischen einigermaßen erschwinglich. Andererseits war er doch kein grüner Spinner. Aber zumindest ausprobieren konnte man es doch … Selbst Virkkunen hatte inzwischen kleine Kollektoren auf seiner Sommerhütte angebracht. Mindestens einmal pro Sommer fuhr Esko mit Virkkunen hinaus, um zu fischen und sich zu entspannen. Diese Solardinger reichten zumindest für ein paar Lampen und den Computer. Ein Boot am Ufer, ein überdachter Grillplatz – ein einfaches Leben, weit weg von allem. Verdammt, das wäre herrlich. Esko spürte, wie sich ihm die Brust zuschnürte. Mit der Faust massierte er sich das Brustbein. Es waren die Träume, die dahinter brannten. Er war zwar kein junger Mann mehr, aber er hatte immer noch ausreichend Zeit, in seinem Leben etwas anderes zu tun, als durch den endlosen Scheißsumpf des Verbrechens zu waten. Doch vorher musste er diesen Flaumbärten von der Zentralkripo noch zeigen, wie ein erfahrener Polizist seinen Job erledigte. Dieser Fall würde sein Grande Finale werden. Danach würde er verschwinden. In die untergehende Sonne reiten, und hinter ihm würde eine Staubfahne wehen.

Esko trat die bis zum Filter aufgerauchte Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. Als er auch diese fertig geraucht hatte, machte er sich auf den Weg zu Annas Büro.

»Pack Lippenstift und Tampons ein, wir sehen uns die Unfallstelle an«, rief er ihr zu.

»Lass dir endlich mal was Neues einfallen«, antwortete Anna.

»Ich geb mir Mühe«, brummte Esko. »Aber das tue ich ja sowieso die ganze Zeit«, murmelte er leise vor sich hin.

Sie nahmen den Aufzug in die Tiefgarage des Polizeigebäudes, stiegen in einen hellblauen, unmarkierten Ford und fuhren hinaus auf die Straße. Am wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne. Auspuffwolken dampften im beißenden Frost, die Silhouetten der Häuser zeichneten sich scharf vor dem überwältigenden Blau des Himmels ab. Die Schneehaufen an den Straßenrändern wurden allmählich schmutzig grau. So sieht meine Lunge irgendwann auch aus, wenn ich nicht mit dem Rauchen aufhöre, dachte Anna. Aber an irgendetwas muss man ja sterben, und sei es an Lungenkrebs. Sie verdrängte den unangenehmen Gedanken an Klinikbetten, Schmerzmittel und Sauerstoffgeräte und konzentrierte sich auf die Menschen auf der Straße, die immer weniger wurden, je näher sie dem Vorstadtgürtel und Kangassara kamen. Die Stadt wich einem Wäldchen, und dann tauchte hinter einer Kurve das Auto auf, das die Polizisten in der vorangegangenen Nacht von der Fahrbahn an den Straßenrand geschoben hatten. Das Areal war mit Absperrband markiert. Sie stellten ihren Wagen weit genug von der Unfallstelle entfernt an der Böschung ab, um keine Spuren zu zerstören, und Anna stieg aus. Die vereiste Straße schimmerte im hellen Licht. Von Weitem waren an dem Auto, mit dem Gabriella unterwegs gewesen war, keine größeren Schäden zu erkennen. Die genaue Prüfung war allerdings Aufgabe des fahrzeugtechnischen Experten in der Ermittlungskommission für Verkehrsunfälle – was für eine Berufsbezeichnung, dachte Anna. Im Vergleich dazu klingt Kriminalmeisterin beinahe menschlich. Bald würde der Wagen zur Prüfstelle gebracht; alle denkbaren Daten über den Straßenzustand, den Reibungskoeffizienten, den Zustand der Reifen, Bremsspuren und eventuelle Dellen würden miteinander in Zusammenhang gebracht und mit den Verletzungen und Kollisionsspuren an der Leiche sowie den Fotos und Zeichnungen der Kriminaltechnik verglichen werden; dann würde ein Ausschuss mit sämtlichen verfügbaren Dokumenten und Computerprogrammen arbeiten und seine Auffassung über den Unfallhergang darlegen. Anna wunderte sich oft, über welche Fülle an hoch spezialisiertem Know-how die Polizei verfügte. Sie fand es faszinierend, sie staunte immer wieder darüber, und es gab ihr das Gefühl, in ihrer Branche aufsteigen und sich weiterentwickeln zu können. Nicht im langweiligen Trott stecken bleiben zu müssen.

In dem dichten Fichtenwald herrschte eine tiefe Stille. Im Dunkelgrün der Äste erlosch die Helligkeit des Schnees. Anna betrachtete den Waldrand. In diesem Dickicht kommt man doch kein Stück voran, dachte sie. Der Mann musste auf der Straße gegangen sein.

»Ich fahre mal einen Kilometer weiter und komme dann wieder«, sagte Esko. »Vielleicht finden wir so heraus, aus welcher Richtung der Alte gekommen ist.«

»Okay. Und danach sehen wir uns die nähere Umgebung an.«

Esko warf einen skeptischen Blick auf die Fichten und räusperte sich. »Dort kommt man nicht durch«, murmelte er und sprach laut aus, was Anna soeben gedacht hatte. Dann ging er zum Wagen und fuhr davon.

Anna stand eine Weile reglos da. Sie hörte, wie sich das Motorengeräusch entfernte. Dass der Wagen ein Stück weiter anhielt und Esko die Tür zuschlug, nahm sie nicht mehr wahr. Einen Kilometer will er fahren?, überlegte sie. Vielleicht sollte ich ein Stück zurückgehen. Zügig marschierte sie etwa fünfhundert Meter stadteinwärts, machte dann kehrt und ging langsam wieder in Richtung Unfallstelle, wobei sie die Straße genau in Augenschein nahm. Im weichen Schnee am Straßenrand waren hier und da Abdrücke von Hundepfoten zu sehen. Das Eis auf der Straße jedoch war so hart, dass der Hundebesitzer selbst keinerlei Spuren darauf hinterlassen hatte – oder war der Hund frei herumgelaufen, ausgebüxt wie der Alte womöglich auch? Dann zwei Fußabdrücke – der eine halb im Schnee an der Böschung, der andere in einer Schneewehe, eingesunken, rundherum tiefe Pfotenspuren. Der Schnee ist noch nicht ordentlich verkrustet, dachte Anna. Für eine Skitour über die Felder ist es noch zu früh.

Die Fußabdrücke des Menschen waren klein. Der Hund war von einer Frau oder einem Kind ausgeführt worden, schloss Anna. Die Person war offensichtlich mitgezogen worden, als der Hund womöglich einen Hasen gewittert und in den Wald hatte laufen wollen. Die Spuren des Alten sind das nicht, dachte sie und ging weiter. Hier ist nichts. Die Straße ist zu eisig. Dann kamen die Absperrbänder wieder in Sicht. Trotz des Eises hatte Gabriellas Wagen Bremsspuren hinterlassen, die allerdings nur schwach zu erkennen waren. Auf einer solchen Oberfläche bleibt nichts haften, dachte Anna und betrachtete die Blutspuren auf der Straße. Immerhin war ihnen das geblieben: Blut und noch ein wenig mehr, was bei der Kollision aus dem alten Mann herausgesickert war, hatte sich in das Eis gesogen und schwarze Flecken darin hinterlassen. Ein widerlicher Anblick, dachte Anna.

Bald darauf kam Esko zurück. Er war sichtlich außer Atem.

»Vielleicht solltest du weniger rauchen«, bemerkte Anna.

»Warum, zum Teufel«, knurrte Esko, rieb sich die Brust und zündete sich eine Zigarette an. »Untersuchen wir lieber das Gebüsch, statt Mist daherzureden, einverstanden, Fräulein Moralapostel?«

Anna lachte. Manchmal hatte sie das Gefühl, Esko auf verquere Weise zu mögen – auch wenn dieses Gefühl meist nur für einen kurzen Augenblick anhielt.

Sie zwängten sich zwischen die Fichten, Anna auf der einen Straßenseite, Esko auf der anderen. Anfangs sanken sie bis zu den Knien ein, doch unter den Bäumen lag weniger Schnee. Dafür erschwerten die dichten Äste ihnen das Vorankommen. Auf diesem Weg hätte ein geschwächter alter Mann niemals auf die Straße gelangen können. Nicht die geringste Spur, nicht einmal die eines Tieres, dachte Anna – und entdeckte im nächsten Augenblick die Abdrücke eines Hasen im weichen Schnee. Diesem Hasen wäre der Hund sicher hinterhergerannt, wenn er nicht angeleint gewesen wäre. Anna suchte die Äste nach Stofffetzen ab, nach einem Haar – nach irgendetwas. Aber da war nichts.

»Seltsam«, sagte sie zu Esko, als sie wieder auf der Straße standen und sich den Schnee von der Kleidung klopften.

»Was?«

»Na, dass es hier absolut keine Spuren gibt. Keinerlei Hinweis darauf, woher der alte Mann gekommen sein könnte.«

»Ich finde das überhaupt nicht seltsam. Wenn der Alte über die Straße gelatscht ist, dann kann er keine Spuren hinterlassen haben. Das Eis ist verdammt hart.«

»Mag sein. Seltsam ist es trotzdem.«

»Du sollst übrigens in Ungarn Informationen über die Fahrerin anfordern«, sagte Esko. »Auftrag von Virkkunen.«

»Wo zum Teufel soll ich die denn anfordern? Und wie?«

»Na, hör mal, du kannst doch wohl telefonieren und in deiner Muttersprache reden. Oder mailen.«

»Vorhin bei der Vernehmung habe ich sogar überlegen müssen, wie man auf Ungarisch ›Anklage erheben‹ sagt. Und wen sollte ich überhaupt anrufen? In Ungarn gibt es unter Garantie mehr Polizisten, als diese Stadt Einwohner hat.«

»Frag Virkkunen. Die Aufenthaltsgenehmigung des Mädchens muss sicher auch überprüft werden.«

»Kannst du das nicht selbst erledigen? Ist überhaupt schon bekannt, wer der Tote ist?«

»Sari hat gerade eine SMS geschickt. Bisher scheint nirgends ein alter Mann vermisst zu werden. Sie telefoniert gerade sämtliche Pflegeheime und Krankenhäuser durch.«

»Nach den Fotos zu urteilen, war der Schlafanzug des Alten keine Klinikkleidung. Außerdem hätte man in so einer Anstalt doch längst bemerkt, wenn irgendjemand fehlt, oder nicht?«

»Ach, wenn du wüsstest, wie es in diesen Heimen zugeht …«

»Das weiß ich. Leider.«

Anna musste an ihre Großmutter denken, die inzwischen bei Annas Tante wohnte, der Schwester ihres Vaters. Oma nahm jeden Morgen ein Schlückchen selbst gebrannten Pálinka. Angeblich war der gut für den Kreislauf und das Gehirn, und für Anna gab es keinen Grund, daran zu zweifeln. Oma war mittlerweile über neunzig, hatte mehrere Kriege überlebt und schwere Schicksalsschläge erlitten, nicht zuletzt den Tod ihres Sohnes, ihres Enkels und ihres Mannes, und doch war sie immer fröhlich und lebenslustig geblieben. Zu Hause schob man alte Leute nicht ab in Heime, wo sie nur mehr vor sich hin vegetierten. Man siezte sie und erwies ihnen Respekt. Kezét csókolom.

»Es ist schon spät, und ich hab einen Bärenhunger. Komm, wir fahren in die Stadt und gehen was essen«, schlug Esko vor.

»In Ordnung«, sagte Anna. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts Anständiges zu sich genommen.

ENDE DER LESEPROBE