Die schwarze Kasse der Terroristen - Gabriele Greenwald - E-Book

Die schwarze Kasse der Terroristen E-Book

Gabriele Greenwald

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Beschreibung

Berlin und Washington. Das Geld der Terroristen. Und ein Fememord. Keiner läßt sich gern etwas wegnehmen, schon gar nicht einen Koffer voller Geld. Das jedoch passiert den vier vermummten Gestalten aus der linken Terroristenszene, die Barbara Henderson anfang der siebziger Jahre bei einem Fememord im Berliner Wald beobachtet. Die Suche der Terroristen nach Barbara bleibt zunächst erfolglos. Zwei Jahrzehnte geht alles gut. Nach dem mysteriösen Tod von Barbaras Mann und ihrer Rückkehr in die alte Heimat kurz nach der Wiedervereinigung machen sich die einstigen Genossen wie auch Geheimdienstler auf die Jagd nach dem Geld. Schließlich gelingt es ihnen, Barbara in ihre Gewalt zu bringen …

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Seitenzahl: 377

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Autoreninfo

Gabriele Greenwald, Jahrgang 1944, Studium der Philologie, Soziologie, Politischen Wissenschaften und Publizistik. Sie war Dozentin für Deutsch und Englisch, Medienanalytikerin für die US-Regierung, Auslandskorrespondentin für deutsche und amerikanische Medien. Seit 1978 hat sie ihren Hauptwohnsitz in Washington, DC.

Haupttitel

Gabriele Greenwald

Die schwarze Kasse der Terroristen

Kriminalroman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanischer Originaltitel:

»No Place Like Home«

© 1997 by Gabriele Greenwald

© 2016 by CMZ-VerlagAn der Glasfachschule 48, 53359 RheinbachTel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: Berliner Dom

Trotz intensiver Nachforschungen konnte der Rechteinhaber dieses Fotos nicht ausfindig gemacht werden; er wird eine Vergütung im üblichen Rahmen erhalten, wenn er sich mit dem Verlag in Verbindung setzt.

Umschlaggestaltung: Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung: rübiarts, Reiskirchen

ISBN Paperback 978-3-87062-177-3ISBN epub 978-3-87062-257-2ISBN mobi 978-3-87062-258-9

20160717

www.cmz.de

Motto

In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.

Fredrich von Logau

Inhalt

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Der Service war superb. Nicht wie das letzte Mal, als ich die Strecke über den Atlantik flog, Washington – Brüssel, Economy Class aus anerzogener Sparsamkeit, immerhin Fensterplatz, und auf den beiden Sitzen neben mir ein volleibiges Ehepaar hatte, das mir mit seinen flächendeckend entfalteten Zeitungen und überschwappenden Körperteilen auch noch das letzte bißchen Bewegungsfreiheit nahm. Meine verzweifelten Blicke in Richtung Stewardess waren so erfolgreich wie eine Eingabe beim Fiskus. In meiner Not bemerkte ich zu meinen Nachbarn beiläufig, daß ich ein akutes Blasenleiden hätte und voraussichtlich alle paar Minuten aufs Örtchen müßte. Binnen der nächsten fünf Minuten hatte ich die Sitzreihe für mich.

Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich ein in Erinnerung an einst erlittene Erniedrigungen. Auf diesem Flug konnte ich in meinem breiten Sitz auf dem Oberdeck des Jumbos ausgiebige Streckübungen machen, ohne daß dies jemanden gestört hätte. Zwar hatte ich mir nur ein Business-Class-Ticket gegönnt – mein längst abgelegter Protestantismus stand zwischen mir und der First Class –, aber bis zum Flugzeugwechsel in Frankfurt fast das gesamte Deck und einen unablässig tänzelnden Steward für mich allein.

Nach all den Jahren kehrte ich nun, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, nach Berlin zurück, in die Stadt, in deren Trümmern ich gespielt, an deren Schulen ich gelitten und durch deren Universität, der Freien, ich mich meistens gelangweilt hatte. Hier wollte ich den Rest meines Lebens verbringen – und in Ruhe das beträchtliche Vermögen genießen, das mir, nun, sagen wir: zugefallen war. Die garstige Jahreszeit ließe sich unschwer in einer Villa auf Sanibel Island, Florida, oder in einem Condo in Vail, Colorado, absolvieren. Ich hatte vor, dennoch nicht allzu aufwendig zu leben. Nicht so jedenfalls, daß es die Aufmerksamkeit der Steuerbehörden hüben wie drüben oder Neid und Habgier bei meinen Mitmenschen erregen würde. Understatement – das war es. Mir würde es genügen zu wissen, daß ich mir nahezu alles leisten könnte, wenn ich nur wollte. Und – ich mußte mich in acht nehmen. Denn mein Geld hatte Vergangenheit.

Trotz gegenteiliger Bemühungen konnte ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren, als wir in das Berliner Stadtgebiet einflogen. Da, wo Mauer und Todesstreifen die Stadt jahrzehntelang wie ein enger Gürtel in oben und unten geteilt hatte, war nun ein leeres breites Band, auf dem sich Radler und Spaziergänger statt der menschlichen und hündischen Greifkommandos des Ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Gebiet tummelten. Tegels Wälder und Seen lösten die Plattenbaumonumente der Ost- und Westberliner Stadtplaner ab, die sich in ihrer Auffassung von menschengerechtem Wohnen über alle ideologischen Schranken hinweg wundersam einig gewesen waren.

Gerade war mir, als hätten wir den ›Pavillon du Lac‹ überquert, den französischen Offiziersclub in der Viermächte-Vergangenheit Berlins. Erinnerungen flossen in mein Hirn wie ein klebriges Rinnsal, gleich dem maple syrup, den ich mir immer auf die Frühstücks-Eierkuchen kippte. Ich hatte jahrzehntelang verdrängt. Kann man da wieder anknüpfen, wo man vor ewigen Zeiten aufgehört hat? Die nächsten Monate würden es zeigen.

Die Boeing 737 setzte ruckelig auf und löste den faustgroßen Stein, der sich bei Landungen immer in meinem Magen einzunisten pflegte. Ich haßte das Fliegen. Es war nichts Kultiviertes an dieser Art der Entfernungsbewältigung. Mein Körper brauchte immer Tage, um sich von solcher Mißhandlung zu erholen, trotz Melatonin. Während ich gut zwanzig Minuten auf das Auftauchen meiner Koffer warten mußte, legte ich mir im Kopf noch einmal den Zeitplan für meine ersten Tage in Berlin zurecht. Vorläufiges Quartier hatte ich im ›Hotel Seehof‹ am Lietzensee bestellt, wollte mich jedoch schnellstens nach einer preiswerteren Unterkunft umsehen. Hoffentlich ließ sich auf dem notorischen Berliner Wohnungsmarkt überhaupt etwas halbwegs Erschwingliches finden, aber – man konnte sich ja etwas leisten.

»Das darf doch einfach nicht wahr sein! Ich hab dich schon eine Weile beobachtet und dachte, das gibt’s doch nicht!« Eine Hand legte sich wie eine Schraubzwinge von hinten auf meine Schulter. Ich hätte mich gar nicht umzudrehen brauchen, um zu wissen, wer da so aus dem Häuschen geraten war. Auch nach Jahrzehnten war Johanna v. Trebischs baltisches ›r‹ unverwechselbar.

Johanna. Ausgerechnet ihr mußte ich beim Frühstück im Vorgarten vom ›Forsthaus Paulsborn‹ im wahrsten Sinne des Wortes in die Hände fallen. Meine Vergangenheit lauerte mir bereits am dritten Tage meiner Rückkehr auf. Das konnte ja heiter werden. Ich machte eine Vierteldrehung mit dem Plastiksessel und sah sie leibhaftig vor mir, die einstige Erdmutter unserer Revolutionären Roten Zelle des Instituts für Soziologie an der Freien Universität Berlin, kurz Rotz Soz genannt. Noch immer wogte alles an ihr, einschließlich der naturkrausen braunen Haare, die jetzt abwechselnd grau und dunkel waren. Unterhalb ihres Burberry-Saums hatten zwei Rauhhaarteckel eine Spirale von Leinen um ihre Waden geschlungen.

Schon wegen der Perspektive war ich aufgestanden, unsicher, ob ich sie umarmen sollte oder nicht. Ich entschied mich gegen einen solchen Ausbruch von Spontaneität, streckte ihr unter Ausrufen der Verblüffung und des kontrollierten Entzückens die Hand entgegen und forderte sie zum Platznehmen auf.

»Du, ich hab nicht viel Zeit. Meine nächste Probandin ist in zehn Minuten fällig, und die beiden hier müssen schnell noch ein paar Bäume vergiften.« Sie deutete bedauernd auf die beiden zweifellos reinrassigen Zuchtexemplare an ihren Fesseln. »Aber ich hab heute nachmittag ein paar Freistunden. Komm doch vorbei, wenn du Zeit und Lust hast. Ich bin hier ganz in der Nähe zu Hause.« Mit einem schnellen Griff zog sie eine Visitenkarte aus der Manteltasche und schob sie mir zu.

Ich nickte dümmlich, noch immer etwas überwältigt von der Begegnung.

»Also dann, so um drei.«

Johanna strahlte, entwirrte ihre Beine und zog mit ihrem Jagdgeschwader von hinnen. Als ich meinen Blick von ihr lösen konnte, warf ich den nächsten auf die zurückgelassene Visitenkarte: Dr. Johanna v. Trebisch, Psychotherapeutin. Die Adresse war eine der feinsten in Berlin. Nicht schlecht für eine linke Revoluzzerin, aber sie hatte ja immer ihre betuchte Familie im Hintergrund gehabt.

Stunden später wurde mein Klingeln am Gartentor in der Max-Eyth-Straße Sekundenbruchteile darauf von einem hündischen Heulduett beantwortet. Dann erschien die Dame des Hauses an der Tür und summte mich in ihr Anwesen. Die Gründerzeitvilla verfehlte ihren Eindruck auf mein biederes Gemüt keineswegs. So hatte ich mir in meiner vor-pseudorevolutionären Zeit immer das komplette bürgerliche Glück vorgestellt.

Johanna hatte, obwohl sie nie in Lettland gelebt hatte, den exotischen Teil ihrer baltischen Familienvergangenheit mit Leidenschaft kultiviert. Die weniger vorzeigbaren Segmente hatte sie wahrscheinlich mit der gleichen Intensität verdrängt und kompensiert. Zusammen mit Joachim Wedekind war sie die radikalste in unserer Zelle gewesen, hatte sich des ›von‹ in ihrem Namen schnellstens entledigt und die Neubauwohnung, die ihr die Familie in Lankwitz gekauft hatte, mit einer ideologisch geziehmenderen Wohngemeinschaft in Moabit vertauscht, trotz der langen Anfahrt zur Uni.

»Erzähl du zuerst«, drängte sie, »wir haben uns ja völlig aus den Augen verloren. Wie lange ist es her …?«

»Fast ein Vierteljahrhundert!«

Sie schlug in einer beinahe kindhaften Geste die Hände vor sich zusammen und ließ ihre mütterliche Form in einen tiefen Ledersessel fallen, der seine Insassin nicht ohne Kampf wieder herausgeben würde. Ich begann zu erzählen, von meinem Leben in Amerika, meinem Antiquitäten-Geschäft, etwas vager von den Gründen meiner Rückkehr nach Berlin.

Sie unterbrach mich mit keiner Silbe. Zuhören hatte sie schon immer gekonnt. Fast hatte ich den Eindruck, als speichere sie jedes meiner Worte. Ich ertappte mich dabei, wie ich vorsichtiger wurde, mich nicht so total zurückfallen ließ in die einstige Vertrautheit, die einmal zwischen uns geherrscht hatte, obwohl ich ein tiefes Bedürfnis danach verspürte. Doch es gab einfach Dinge, die niemand auch nur ahnen durfte.

Unsere Freundschaft hatte damals mit einem kleinen Eklat begonnen. In einer der endlosen richtungbestimmenden Sitzungen von Rotz Soz hatte mich Johannas betuttelnde Art gereizt. Sie, die ein paar Jahre älter war als die meisten von uns, mit Ausnahme von Joachim und Robert und einer unsäglichen Angelika, verteilte ständig Gratisratschläge. Ich brummte, sie solle mit ihrem Babuschka-Gehabe aufhören, und traf damit mitten ins Schwarze. Aus ihren goldfarbenen Augen schoß ein Reptilienblick zu mir herüber, und ich dachte, ich hätte soeben eine lebenslange Vendetta auf mich gezogen. Aber genau das Gegenteil trat ein: Irgendwie hatte ich ihr imponiert. Bislang war ich nur durch sprachlose Anpassung und erfolgreiches Teekochen in der Gruppe aufgefallen; mit der dahingesagten Bemerkung an Johannas Adresse hatte ich mich in ihren Augen emanzipiert. Fortan genoß ich ihr Interesse an mir mit der kuriosen Faszination, die Kleinbürger nur für den Adel reserviert haben, und war mir plötzlich selbst viel mehr wert. Johannas palatales ›r‹ riß mich aus meinen Reminiszenzen.

»Und was soll nun weiter werden? Hast du schon eine Behausung? Du könntest natürlich bei mir wohnen, bis du etwas Passendes gefunden hast. Ich kenne da einen Top-Makler, der hat sicher schon etwas für dich in seinem Zettelkästchen.«

Sie war schon wieder dabei, mein Leben zu organisieren. Dazu durfte ich es nicht kommen lassen. Ich hatte damals nicht ohne Grund den Kontakt zu ihr und den anderen einschlafen lassen. Zu total waren Aufsicht und Kontrolle geworden. Also log ich, ich hätte schon vorübergehendes Quartier bei einer anderen Bekannten, und obendrein wisse ich doch noch gar nicht, ob ich endgültig hierbleiben würde. Das hinge von so vielen Dingen ab, unter anderem davon, ob ich mich hier wieder heimisch fühlen könnte.

Mit einer wortlosen Geste akzeptierte sie mein Ringen um Distanz und bot mir an, mich wieder bei ihr zu melden, wenn ich Lust hätte. Sehr geschickt, wie sie die Longe wieder etwas durchhängen ließ. Ihre nächste Klientin wartete bereits im Konsultationszimmer, und ich verabschiedete mich nicht ohne Herzlichkeit. Sie hatte mir in großen Zügen ihre Geschichte erzählt. Aber warum hatte sie mit keinem Wort Joachim oder Robert erwähnt? Ich mußte sie unbedingt fragen.

Entgegen meinen Gepflogenheiten orderte ich beim Zimmerservice meines Hotels einen Cognac, denn die etwas popelige Zimmerbar enthielt nur Weinbrand. Ich trank sonst nie harte Sachen, auch nicht, wenn sie nichts kosteten, wie im Flugzeug. Aber dies war eine Ausnahmesituation. Kurz darauf brachte der Etagenkellner, ein junger Schlaks, das Gewünschte. Er machte an der Tür noch einmal kurz halt und wandte sich um. Hatte ich zu wenig Trinkgeld gegeben? Oder zu viel? Blöde weibische Unsicherheit!

»Sie sind aus Washington, stimmt’s?« kam es zögernd aus der Richtung der Tür. »Ich bin nämlich ’n Redskins-Fan!« Was sollte ich bloß auf dieses unerwartete Geständnis erwidern?

»Ach, du meine Güte, da haben Sie sich aber ein Team ausgesucht. Die sind seit dem Fortgang von Joe Gibbs ja nicht mehr wiederzuerkennen!« Ich mimte die Fachfrau und hatte offenbar genau die Meinung dieses Football-Fans getroffen, der heftig nickte.

»Das könnse laut sagen. Übrigens«, ein kurzer, innerer Kampf schien in meinem Zimmerkellner stattgefunden zu haben, »da war vorhin so’n Typ an der Rezeption, der hat nach Ihnen gefragt. Der Empfangschef sollte Ihnen nichts sagen. Das müssense aber für sich behalten.«

Ich nickte verschwörerisch und zutiefst beunruhigt. Die Personenbeschreibung des Kellners brachte mir auch keine Erleuchtung. Nach mehr als zwanzigjähriger Abwesenheit – von einem mehrwöchigen Aufenthalt abgesehen – war ich kaum wieder hier in Berlin, und schon hatte ich eine ehemalige Mit-Revolutionärin aus meiner ideologischen Dinosaurierzeit getroffen und geheimnisvollen Besuch im Hotel gehabt. Niemand hatte von meiner Ankunft wissen können. Außer Sandy und Marion Allen, aber die würden sich nicht so affig geheimnistuerisch verhalten haben.

Am nächsten Morgen sah alles ganz anders aus. Meine Phantasie war wohl etwas mit mir durchgegangen. Alles ist erklärbar, und es gibt auch so etwas wie einen Zufall, versicherte ich mir. Gerade wollte ich zum Telefonhörer greifen, um eine Serie von alten, ehrbaren Uni-Kontakten zu reaktivieren, da klingelte der Apparat. Ich hob den Hörer ab und meldete mich kurz mit »ja bitte«. Das Knacken am anderen Ende der Leitung sagte mir, daß man dort auf eine Konversation keinen Wert legte. Verdammt, war das auch ein Zufall?

Schnell trat ich ans Fenster. Zwar hatte ich nie an richtigen Aktionen teilgenommen, aber an ein paar Sachen aus den konspirativen Schulungsabenden erinnerte ich mich noch. Auf der anderen Straßenseite stand ein Telefonhäuschen. Ein Mann kam heraus, etwa späteres Mittelalter, warf eine Zigarette zu Boden, trat sie aus und sah langsam zu meinem Zimmerfenster herauf. Obgleich er mich durch die Gardine unmöglich sehen konnte, zuckte ich zurück. Mir war die Telefonierlust zunächst vergangen, ich wollte erst einmal von hier fort. Da das Frühstück nicht in der Zimmermiete enthalten war, konnte ich es ebensogut woanders einnehmen. Meine Nostalgie trieb mich an die alten Orte von früher zurück, die wieder mit meinen Geruchsmarken versehen werden mußten. Ob die ›Wannsee-Terrassen‹ schon geöffnet waren? Bis ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin gelangte, waren sie es sicher. Bevor ich zur Bushaltestelle gegenüber ging, stattete ich der Telefonzelle noch einen Besuch ab. Dort lagen drei Kippen. Zwei antike, eine ganz frische. Gut, daß ich immer ein Tempo-Taschentuch dabei hatte.

Der Ausblick von den ›Wannsee-Terrassen‹ war so herrlich wie früher, auch Frühstück und Bedienung waren dieselben geblieben: genau so lieblos wie einst. Die Halbinsel Schwanenwerder – immer hatte ich von einem Haus dort geträumt. Jetzt hätte ich es nicht einmal gewollt, selbst wenn eines käuflich gewesen wäre. Nicht, weil die Insel weniger attraktiv geworden wäre; nein, die Sicherung eines Hauses dort am Wasser mußte ein Alptraum sein, davon konnte ich ein Lied singen.

Ich machte mich bei strahlendem Frühsommerwetter auf den Rückmarsch entlang des Wannseebadwegs zu meiner Bushaltestelle Ecke Kronprinzessinnenweg. Alle Busliniennummern und Routen waren seit der Wiedervereinigung geändert worden. Auf der Hinfahrt hatte ich mich zweimal verfahren, weil ich zu stolz war, in meiner Heimatstadt nach den Anschlüssen zu fragen. So gedemütigt erkundigte ich mich diesmal beim Fahrer, denn ich wollte noch schnell beim Konsulat in der Clayallee nachfragen, ob Post für mich eingetroffen sei.

Es lag ein Brief meines Anwalts da, der mich drängte, endlich eine Entscheidung über den Verkauf unseres Hauses in Great Falls, Virginia, zu treffen. »Man hängt hier nicht so an Häusern wie wir in Deutschland«, hatte mich einst meine Cousine Juliane ins Bild gesetzt, die ebenfalls, wenngleich auch zehn Jahre früher, in die Vereinigten Staaten geheiratet hatte und justament wieder glücklich geschieden war. Am Anfang meines amerikanischen Lebens im Jahre 1973 war sie ein unaufhaltsam sprudelnder Quell an Lebenshilfe gewesen. Auch an den Ehemännern hänge man laut besagter Juliane eben nicht so sehr, zumal es sich durchaus lohnen könne, sich einvernehmlich und einträglich scheiden zu lassen.

Für mich verbanden sich zu viele Erinnerungen mit diesem unserem Haus. Es war ein Paradies direkt am Potomac, das wir, das heißt Mr. and Mrs. James Beaufort Henderson III, uns 1975 zugelegt hatten, als sich unser Verbleib in der Washingtoner Gegend abzeichnete. Das im Kolonialstil erbaute rote Backsteinhaus auf dem fünf acres großen Grundstück (ich habe bis heute nicht gelernt, wie viele Morgen fünf acres sind) war eine absolute Extravaganz, denn es war viel zu groß für uns. Da wir auch keine Anzeichen für die Gründung einer Großfamilie erkennen ließen, war von vornherein klar, daß wir zwei Figuren mit Hund zuzüglich gelegentlichem Logierbesuch eine Menge Platz haben würden. Außerdem war es in bedauernswertem Zustand, weswegen wir es uns leisten konnten, und eines der wenigen älteren Häuser in einer ländlichen Gegend, die rapide mit riesigen brandneuen Lustschlössern zersiedelt wurde. Ich hatte mein Herz, gallonenweise Schweiß und unzählige Blutergüsse in die Restauration dieses Juwels gesteckt, und im Laufe der Jahre war es ein richtiges Zuhause geworden.

Verkaufen? Jetzt noch nicht. Ich faxte George, unserem Anwalt, er solle die Maklerfirma Pardoe & Graham mit der Vermietung des Hauses beauftragen. Meine Sachen würde ich im Laufe der nächsten sechs Wochen ausräumen und auf den Speicher stellen, bis ich eine endgültige Entscheidung über meinen weiteren Verbleib getroffen hätte.

2

Es war ein hinreißend schöner Tag gewesen, dieser Donnerstag, der 24. August 1972, jedenfalls noch um 6.30 Uhr in der Frühe. Einer von jenen Spätsommermorgen, die einen mit fast religiöser Dankbarkeit erfüllen. Sonnenstrahlen suchten sich im noch frischen Grün des Waldes einen Weg, der Boden duftete nach köstlichem Verfall, Flechten, Moosen und Pilzen.

Eigentlich machte mein Reitstall am Hundekehlesee erst um 8.00 Uhr auf, aber ich hatte mich ein wenig mit dem Pfleger Herbert angefreundet, der mir Wotan auch früher herausgab, wenn nicht so viel zu tun war. Herbert war schmal, von unbestimmbarem Alter, ein abgehalfterter Jockey, dem zum Verhängnis geworden war, daß man auf Pferden nicht nur sitzen, sondern auch auf sie setzen konnte.

»Wetten und Saufen, weeßte«, hatte er mir anvertraut, »ham mein Leben ruiniert. Jetz mußick Ställe ausmistn und diesn einjebildetn Lackaffen von Privatbesitzan den Hintan inn Sattel hieven!«

Schon kam er mit dem gesattelten Wotan aus der Box und freute sich über den Fünfer, den ich ihm für seine Gefälligkeit in die Hand drückte. Wotan gehörte nicht mir, sondern war das Weihnachtsgeschenk eines Berliner Bau-Unternehmers an seine Gattin. Diese hatte ihn – den Wallach – nach Gesichtspunkten der Abstammung und des Exterieurs ausgewählt. Beim Ehemann hatte sie offenkundig andere Kriterien walten lassen. Nach mehreren Versuchen des Besteigens, bei denen Wotan jeweils sein Mißfallen geäußert hatte, beschloß sie, er sei wohl doch nicht das richtige für sie. So war ich an ihn geraten, denn er mußte bewegt werden.

Nach ein paar bangen Stunden in der Bahn stellte ich fest, daß Wotan gar nicht so übel war, wenn man die Gerte zu Hause ließ. Der Trakehner hatte einen hohen Vollblutanteil und war daher sensibel und, soweit man bei Pferden davon sprechen kann, intelligent. Im Laufe des Frühjahrs und Sommers hatten wir bei unseren Ausritten in den Grunewald Gefallen aneinander gefunden. Das Beste war, daß mich dieses exquisite Vergnügen keinen Pfennig kostete, denn als frisch examinierter Kunsthistorikerin kam mir jede Spende recht.

Ich griff den Zügel, saß am Abreitplatz auf und verließ das Gelände durch die hintere Pforte in Richtung Wald. Wenn man so früh ausritt, waren die Jungs von der Reiterstaffel Grunewald noch in den Buntkarierten, und man konnte schon mal vom Hufschlag hinunter und querwaldein reiten. Wotan hatte das Zeug zum Military-Pferd, ich wollte heute am Schwarzen Weg entlang zu den Urstrom-Hügeln und -Tälern an der Havel. Da gab es gute Steigungen, und außerdem war Pilzsaison. Oft schon hatte ich einen Beutel Pfifferlinge von einem Morgenritt mitgebracht, damals noch sehr zur Freude meiner Mutter.

Wotan war ausgesprochen gut aufgelegt. Berlins Pferdenarren schätzten den Schwarzen Weg als rasante Galoppstrecke. Es wurde immer ausgesprochen ereignisreich, wenn sich zwei große Gruppen von Schulreitern entgegengaloppierten und im Scheitel einer Biegung unverhofft aufeinandertrafen. Ich bog links auf den Weg ein in Richtung Havel, schnallte die Bügel höher und gab dem Pferd den Kopf frei. Seine Hufe berührten kaum den Boden, so glatt und fließend waren seine Bewegungen.

Einen halben Kilometer vor der Einmündung des Weges in die Havelchaussee nahm ich die Zügel wieder auf und bog nach links vom Weg ab in den Wald. Die linke Seite war abschüssig, stieg dann aber nach der Talsohle wieder an. Rechts ging es ziemlich steil bergan. Kurz vor der Havelchaussee mündete noch ein anderer Pfad in den Schwarzen Weg und bildete eine Art Ypsilon, in dessen Gabel ein Hügel lag. Auf den hielten wir zu. Er war zwar unten nur von Eichen und Buchen bestanden, auf halber Höhe jedoch begann gut belaubtes Unterholz, das mir für meine Absichten Schutz gewähren sollte, denn der Morgenkaffee meldete sich und heischte nach Entsorgung.

Ich saß ab und schlang Wotans Zügel um einen kräftigen Zweig, wobei ich nicht verhindern konnte, daß er sich trotz Wassertrense im Maul gierig über das Grün machte. Hastig nestelte ich an mir und gab mich meiner Morgenandacht hin und war schon wieder im Hochrappeln, da sah ich noch aus der Kniebeugenperspektive einen Mann näherkommen. Er mußte von der Havelchaussee her auf dem Pfad entlanggegangen sein und hielt schnurstracks auf einen Punkt in der Talsohle zu, etwa hundert Meter von mir entfernt. Das Merkwürdige war, daß er einen Koffer schleppte.

Sachte komplettierte ich meinen Aufzug und nahm das kleine japanische Fernglas aus meinem Anorak, das ich im Wald immer bei mir trug. Ich mußte gegen die Sonne schauen, konnte aber dennoch die Gesichtszüge des Mannes erkennen. Ungläubig setzte ich das Glas ab, als hätte es einen optischen Fehler. Das da unten war unzweifelhaft Robert, das stille Wasser aus meiner alten Zelle Rotz Soz! Was der da bloß wollte? Das sollte ich gleich sehen. Die darauffolgenden Stunden bestimmen noch heute mein Leben.

Robert hatte die Waldstelle gefunden, die er gesucht hatte, und ließ sich auf beide Knie nieder. Vorher hatte er einmal in die Runde geschaut, nicht gehetzt, aber auch nicht ohne Eile. Offensichtlich hatte er mich und das Pferd nicht entdeckt, denn jetzt räumte er mit behandschuhten Fingern die Blätter und die Humusschicht beiseite und nahm etwas hoch, was wie eine Plastikplane aussah. Ich reckte meinen Hals, um besser sehen zu können. Dort schien eine vorbereitete Grube zu sein, die er eben bloß noch freigelegt hatte. Sich umschauend nahm er den grauen Samsonite-Koffer und legte ihn flach dort hinein, breitete darüber dann die Plane, den Waldboden und ein paar Windbruchäste, und nach ein paar Minuten sah alles so aus, als sei niemand dort gewesen.

Er richtete sich auf, ging ein paar Meter weiter an einen Baum und steckte sich eine Zigarette an. All dies kam mir wie eine Ewigkeit vor, und doch waren erst ein paar Minuten vergangen. Ich war gebannt. Was konnte in dem Koffer sein? Meine Phantasie war gerade dabei, auf Touren zu kommen, als Robert sich in Bewegung setzte, auf mich zu, in Richtung Schwarzer Weg und Havelchaussee. Sicher hatte er dort seinen Wagen geparkt, denn er war ja wohl nicht mit dem Koffer durch den ganzen Wald gelaufen.

Noch etwa vierzig Meter war er von mir entfernt, unten in der Talsohle, als ich von der Havel her das rhythmische Keuchen von Joggern hörte. Vier Männer kamen Robert entgegengetrabt, in Sweatshirts mit Handtüchern um den Hals und übergezogenen Kapuzen wie die Amateurboxer, die an der Havel immer ihr Lauftraining machten. Sie steuerten direkt auf Robert zu, der für einen Moment daran zu denken schien wegzulaufen, sich dann aber anders besann.

Etwas in mir schien platzen zu wollen. Mein Herz saß in meinem Halse und schlug dort dröhnend, ich hatte wohl die Luft zu lange angehalten. Wotan war wundersam ruhig. Nachdem sein Interesse an den grünen Zweigen erloschen war, hatte er einfach den Schädel herunterhängen lassen und entspannte sich. Mir schoß durch den Kopf, daß ich schleunigst von hier weg sollte, denn die Jogger hatten Robert eingekreist.

Es gab einen kurzen, mit gepreßten Stimmen ausgetragenen Wortwechsel und eine anschließende Pause. Man schien sich zu kennen. Schon glaubte ich, daß alle auseinandergehen wollten, da zog einer aus seinem Hosenbund einen Gegenstand, die drei anderen packten Robert. Langsam und noch immer mit angehaltenem Atem setzte ich das Fernglas vor die Augen. Das war eine Knarre, die der da hielt! Der Pistolenmann setzte mit ruhigen, geübten Bewegungen einen Schalldämpfer auf den Lauf, machte einen kleinen Ausfallschritt mit dem rechten Fuß und streckte den Arm nach vorn.

Alles ging so unausweichlich schnell. Es gab keinen Schrei, ja nicht einmal einen Knall, nur zweimal ein wischendes Ploppen wie bei der Fehlzündung einer Silvester-Rakete. Robert sackte in sich zusammen. Zwei beugten sich über ihn, dann tuschelte das Quartett, der Schütze bückte sich nach den Patronenhülsen. Auf den Wink des einen setzten sie sich zur Havelchaussee hin in Bewegung.

Allmählich löste sich meine Erstarrung. Ich war Zeugin eines Mordes geworden, eines Fememordes gar, oder einer Exekution, so hatte es jedenfalls ausgesehen. Keine Spur mehr von den Männern. Ich mußte zu Robert hinunter. Vielleicht lebte er noch, und ich konnte Hilfe holen.

Die fünfzig Laufschritte den Hügel hinunter kamen mir wie das Bostoner Marathon vor. Dann stand ich über dem ehemaligen Studienkameraden, der mit geöffneten Augen auf dem Rücken lag. Da, wo sich Stirn und Nasenwurzel trafen, war ein einziges, etwas ovales Loch, wie ein drittes Auge, aus dem ein Rinnsal Liquor und erstaunlich wenig Blut lief. Und ich hatte immer gedacht, daß bei einem Kopfschuß aus so kurzer Distanz das halbe Hirn in der Landschaft herumfliegt. Dies war nun eine sogenannte sterbliche Hülle. Irgendwie aber zutreffend, diese blöde Bezeichnung. Sollte ich ihm die Augen zudrücken? Spricht man in einem solchen Moment ein Gebet, für alle Fälle?

Ein sich näherndes Motorengeräusch riß mich aus meinen pietätvollen Erwägungen. Das hörte sich wie ein Geländewagen an. Ich geriet in Panik und stürzte auf mein Versteck im Unterholz zu. Da kam auch schon ein Land Rover in den Schwarzen Weg gebogen, zwei der Jogger sprangen heraus und sammelten Robert wie eine Rolle Teppichboden auf. Ein Dritter bugsierte ihn auf die Ladefläche, und schon ging es im Rückwärtsgang weg. Das war ein eingespieltes Team. Ich erhob mich aus der Hocke. Nichts wie weg hier. Wotan war ein wenig unruhig geworden, als sich der Rover so hochtourig entfernte, aber Gottseidank war er stehengeblieben. Ich würde von der nächsten Telefonzelle aus die Polizei benachrichtigen und alles berichten.

Oder?

3

Nach der Stippvisite im US-Konsulat hatte ich noch von unterwegs die Allens angerufen. Sandford war Jims einziger Freund gewesen. Beide hatten in Vietnam zusammen gedient und waren dann nach Berlin gekommen. Während Jim nach Ablauf seiner vier Jahre die Armee verlassen hatte, war Sandford geblieben, nicht zuletzt wegen seiner Berliner Ehefrau, und hatte als Zivilangestellter weiter bei der Militärregierung gearbeitet. Was er dort machte, war mir nie klar, aber ich war mir sicher, daß er weiterhin mit militärischer Aufklärung befaßt war, wie Jim und er damals bei der Army.

Sandys Frau Marion war ein Mensch, den man sofort mochte. Lebhaft, herzlich und nicht einzuschüchtern, konnte sie einem die übelste Laune vertreiben. Wie sie an den eher vierschrötigen, rauhbeinigen Sandy gekommen war, blieb ihr Geheimnis. Aber die Zeit hatte ihr Recht gegeben: Die Ehe war vorbildlich, und man hatte den Eindruck, als hätten die beiden noch immer Freude aneinander. Ein paarmal hatten sie uns in Great Falls, Virginia, besucht, als Jim Jura an der Georgetown University studierte, und auch danach, als er eine Position im Stab von Senator Charles McCann aus South Carolina bekommen hatte.

Marion kam gleich zur Sache, als ich mich meldete.

»Also, wir haben heute abend nichts vor und würden uns doch nur miteinander langweilen. Da kommst du wie gerufen.« Sie akzeptierte keine Widerrede und bestellte mich für 18.00 Uhr in ihre Wohnung in Westend. Mir paßte das wunderbar, dann blieben noch ein paar Stunden zum Baden, Umziehen und Ausruhen im Hotel. Überdies könnte ich mir eine Strategie für meinen weiteren Verbleib in Berlin unter leicht veränderten Vorzeichen zurechtlegen.

Da man im Hotel heutzutage Nachrichten nicht mehr an der Rezeption abholt, sondern auf seinem Fernsehschirm flimmern sieht, ging ich gleich zu meinem Zimmer hinauf. Den Schlüssel hatte ich bei mir getragen; es war eine von diesen neumodischen Codekarten, die angeblich so sicher sind. Ich hatte noch keine drei Schritte in mein Zimmer getan, da wußte ich, daß jemand hier gewesen war. Die Tür offenlassend, ging ich gänzlich hinein, schaute ins Bad, auf den Balkon und in die Schränke. Wer immer das auch war, er war wenigstens nicht mehr hier.

Wenn ich nicht eine außergewöhnlich gute Nase für menschliche Ausdünstungen hätte, wäre mir der unerwünschte Besuch nicht einmal aufgefallen. Meine Sachen waren sehr professionell durchsucht worden, selbst Klopapier, Medikamente, Zahnpasta und Cremetöpfchen waren inspiziert, denn die Zahnpasta war vom Ende der Tube her ein wenig hochgedrückt worden war – etwas, was ich mir nie hatte angewöhnen können. Auch die Eiswürfel aus dem Zimmerkühlschrank waren herausgelöst und fast unmerklich schief wieder in den Behälter hineinsortiert worden. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Paco Rabane After Shave, vereint mit dem Moschus des Trägers, lag in der Luft, sicher nicht die Duftmarke des Zimmermädchens.

Um Gewißheit zu haben, rief ich den Empfang an. Nein, es seien heute in meinem Zimmer keine Reparaturen durchgeführt worden, und außer der Raumpflege hätte niemand Zutritt gehabt. Witzlos, weiter zu fragen, denn entweder die Aufwartung oder die Rezeption hatten meinen Besucher eingelassen. Hatte der sich mit Polizeimarke oder Geldschein ausgewiesen?

Der Gedanke, daß sich die Polizei für mich interessierte, war nur um weniges tröstlicher als die Alternative. Ich verstand die Welt nicht mehr. Es gab keine Vorsichtsmaßregel, die ich nicht angewandt hätte. Nur zweimal hatte ich von dem Geld etwas angerührt, und dann hatte ich im vergangenen Jahr, 1991, nach der unseligen Einführung der neuen bundesrepublikanischen Banknoten allerdings nach Berlin kommen und den Umtausch organisieren müssen. Da war ich tatsächlich in Schwierigkeiten geraten, denn ich konnte ja nicht gut Hunderter, Fünfhunderter und Tausender für ein paar Millionen Mark auf einen Banktresen packen, möglichst noch mit den alten Banderolen. Aber aus dieser Bredouille hatte mir ein großer Glücksumstand namens Tante Lene geholfen.

Jetzt saß in meinem Kopf wieder ein kleines Männchen mit einem Hammer und schlug gnadenlos gegen meine Schläfen. Im Badezimmer lagen die Ibuprofen-Dragees, die meist halfen. Ich starrte in den Spiegel, der mir ungalant das Bild einer ratlosen, grauhäutigen Mittvierzigerin mit Ringen unter den Augen zurückwarf. Noch vor einer Woche hatte ich mir selbst ganz gut gefallen: Barbara Henderson, gepflegt, selbstsicher, erfolgreich, noch keine grauen Haare, noch alle eigenen Zähne, Blinddarm und andere Innereien, verwitwet, und im Begriff, in die Stadt ihrer Jugend zurückzukehren.

4

Nein, damals an jenem Donnerstagmorgen am Schwarzen Weg hatte ich die Polizei nicht gerufen. Fast schon hatte ich die Havelchaussee erreicht und damit eine Telefonzelle. Angst und Neugier jedoch stoppten meine Schritte, ließen mich umkehren. Angst, daß ich bei einer Meldung namentlich als Augenzeugin bekannt würde und dann vielleicht selbst auf der Abschußliste des Mordquartetts stehen könnte, denn aus welcher Ecke die kamen, war mir klar. Neugier zu erfahren, was wohl in dem Koffer verborgen sei, der den asketischen Revolutionär Robert Hamann das Leben gekostet hatte. Ich weiß bis heute nicht genau, wie ich den großen, wohl fast vierzig Pfund schweren Hartschalenkoffer auf das Pferd heraufbekommen habe. Vorher hatte ich hastig, so gut es ging, alle Spuren beseitigt, denn in ein paar Minuten könnten schon Spaziergänger oder die Mitglieder des Pinschervereins mit ihren Raubtieren kommen. Aber nichts rührte sich. Überhaupt hatte ich unwahrscheinlich viel Dusel. Der verwunderte Gaul ließ alles mit sich geschehen und trug mich ungesehen an die Koenigsallee, gleich unterhalb des Sägewerks, wo ich meinen dunkelblauen Käfer geparkt hatte. Hier konnte ich direkt an meinen Kofferraum heranreiten und meine Last verstauen. Zwei Autos fuhren vorbei, deren Fahrer keine Notiz von mir nahmen. Auch die Reiterstaffel Grunewald war allem Anschein nach noch nicht ausgeschwärmt.

Bis zum Stall waren es dann nur noch ein paar Schritte. Inzwischen war es fast 8.45 Uhr. Die vergangene Stunde hatte mich um Jahre altern lassen. Eilig gab ich Wotan ab, beschloß aber dann, mich genauso wie immer zu verhalten. Also, den Sattel runter und dann die Pferdebeine abspritzen! Ich führte ihn auf die Betonpiste hinter den Hauptstallungen und versorgte das Tier. »Halt ja das Maul«, raunte ich ihm zu, bevor ich Herbert die Zügel in die Hand drückte mit der Bemerkung, das Dahlemer Feld sei mal wieder sehr trocken gewesen.

Im Blindflug gelangte ich zu meiner Einzimmerwohnung in der Münchener Straße in Schöneberg. Vom Hängeboden holte ich meinen großen Überseekoffer und stürzte wieder hinaus an mein Auto. Schnell bugsierte ich den Samsonite in meinen eigenen Koffer, verschloß diesen und hob so beide aus dem Kofferraum.

Eine Hand tippte mir auf den Rücken, und ich fuhr so zusammen, daß sich das breitflächige Gesicht meines Wohnungsnachbarn Otto Leiser zu einem hemmungslosen Grinsen verzog.

»Na, Mädel, man könnte meinn, Se ham jrade ’ne Bank übafalln. Jemse ma her, ick trach Ihnn den, det is doch ville zu schwer für Ihnn.«

Ich riß ihm den Koffer aus der Hand, nahm mich dann aber zusammen und lachte, indem ich ihm das Ding zurückgab.

»Natürlich haben Sie Recht, Herr Leiser; wissen Sie, meine Mutter verkleinert ihren Haushalt andauernd und gibt mir immer so viele Sachen mit. Ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Zeug hinsoll.«

Leiser schnaufte mit mir die halbe Treppe zu meiner kleinen Hochparterre-Wohnung hoch und trug mir den Koffer noch in die Diele. Taktvoll schlug er meine unaufrichtige Einladung zum Verweilen bei einer Tasse Kaffee ab. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, ließ ich mich auf meine Doppelmatratze fallen. Erst unter die Dusche oder erst den Koffer aufmachen? Ich entschied mich für die äußerliche Sauberkeit und kam unter den kühlen, massierenden Wasserfäden wieder ein wenig zu mir.

Der Samsonite war natürlich verschlossen, aber ein Samsonite-Schlüssel öffnet alle Produkte dieser Marke, und da ich einen Aktenkoffer dieses Fabrikats besaß, hatte ich auch den passenden Schlüssel. Vorsichtig schob ich, auf dem Boden kniend, den flachen Leichtmetall-Schlüssel in die für ihn vorgesehene Öffnung, da prallte ich zurück. Wie dilettantisch ich mich doch anstellte! Wenn das Ding nun innen mit einer Sprengladung gesichert war! Um ein Haar hätte ich vielleicht meinen ganzen sozialen Altneubau aus dem Jahre 1959 mitsamt Herrn Leiser und seinen anderen Insassen in die Luft gejagt.

Ratlos lehnte ich mich zurück. Die Erleuchtung kam alsbald: Ich holte eine kleine Stichsäge und einen Handbohrer aus dem Werkzeugkasten und drillte sehr vorsichtig vier Löcher in die eine Kofferseite, ziemlich dicht an der Oberkante. Sodann schob ich Millimeter um Millimeter und in sehr spitzem Winkel die Stichsäge in eines der Löcher und begann, behutsam von Loch zu Loch zu sägen. Nach einer Ewigkeit hatte ich ein Rechteck ausgesägt, groß genug, um Einlaß für eine Hand zu bieten.

Sehen konnte man nicht viel: Was immer im Koffer war, war mit einer gesteppten Decke umhüllt. Das machte meine Tastversuche nicht gerade leichter. Meine Finger bewegten sich in Richtung rechtes Schloß. Ich fühlte nach Drähten, Batterien, Plastikteilen, kleinen Behältnissen in der Umgebung der Schlösser. Schmerzhaft scheuerte sich die gesägte Kofferkante in meinen Handrücken. Robert hatte garantiert gewußt, wie man eine Zigarettenschachtel mit Semtex anbringt.

Das Telefon läutete neben mir auf der Flurkonsole. Ich erschrak so, daß ich mir den Handrücken an der Kante aufriß. Eine ärgerliche Unflätigkeit entfuhr mir. Wenn ich meine Nerven nicht besser unter Kontrolle bekäme, sollte ich doch lieber zur Polizei gehen, dachte ich und hob den Hörer ab. Es war Jim, der junge amerikanische Offizier, den ich vor einem halben Jahr bei einer Demo kennengelernt hatte. Er und sein Freund Sandy seien gerade aus Heidelberg zurückgekommen. Ob ich heute abend Lust auf eine Wagenrad-Pizza und ein Bier im ›Roma‹ hätte. Sandy und Marion wären auch dabei. Ich hatte überhaupt keine Lust, willigte aber ein.

Ein Pflaster behob den Schaden an meiner Hand fürs erste. Nun würde ich allerdings die Linke bei meiner Tasterei benutzen müssen. Die Schlösser schienen sauber zu sein. Robert hatte den Koffer wahrscheinlich nur für kurze Zeit im Wald verstecken wollen und eine Sicherung nicht für nötig gehalten. Oder er war so in Eile, daß er keine Zeit dafür gehabt hatte. Später fand ich heraus, daß der Koffer sehr wohl hätte scharf sein können, obgleich ich keine Drähte erfühlt hatte.

Aber ich hatte Glück. Nichts geschah, als ich den bereits eingeschobenen Schlüssel im Schloß drehte und den Kofferdeckel hochhob. Ich schlug die Decke zurück und stieß auf eine weitere Verpackungsschicht, Teerpapier, von der Art, wie es die Speditionsfirmen für Luftfracht verwenden. Ungeduldig riß ich es auf. Vor mir lagen Unmengen von Banknoten.

Als ich mit dem Staunen fertig war, begann ich fast mechanisch zu zählen. Zuerst die Schweizer Franken, dann die Dollar, dann die DM. Ich kam auf fast einhundertfünfzigtausend Schweizer Franken, über achtzigtausend Dollar und beinahe vier Millionen DM. Ein Teil der deutschen Hunderter war mit Bankbanderolen gebündelt, die Fünfhunderter teilweise auch; die Tausender waren lose. Alle Scheine waren gebraucht, und da die Bauchbinden von mehreren Banken aus Berlin, Hessen und Baden-Württemberg stammten, nahm ich an, daß das Geld aus Überfällen herrührte. Ich hatte aller Wahrscheinlichkeit nach das Sparschwein der RAF gefunden. Und nicht nur das, ich hatte es bei mir in der Diele liegen.

Geld war nicht das einzige, was Robert da so sorgfältig zusammengepackt hatte. In zwei Einzelklumpen fand ich eine 9 mm FEG-PJK und eine 9 mm Makarov, letztere mit fünfzig Schuß Munition der entsprechenden Sondergröße. Im Dreizehner-Magazin der ungarischen Pistole fehlte eine Patrone. Also war ein Schuß daraus abgefeuert worden, vielleicht sogar zwei, wenn eine zusätzliche Patrone im Lauf gewesen war, schlußfolgerte ich. Unter den Waffen entdeckte ich drei Sätze Personalpapiere, jeweils Ausweis, Paß und Führerschein. Ein Satz war mit Roberts Photos ausgestattet, zwei blanko.

Dann war da noch ein Briefumschlag mit drei Seiten voller Daten, Ziffern und Buchstaben, die auf Anhieb keinen Sinn ergaben. Es mußte verschlüsselte Information sein. Den Koffer konnte ich nicht einfach so in der Diele liegen lassen, also schloß ich ihn und schob ihn hinter den Vorhang meiner Abstell-Ecke. In mir tobten tausend Gedanken. Ich tat, was ich immer tat, wenn ich mir Überblick verschaffen wollte: Ich fertigte eine Liste mit Fragen an, fast wie am Anfang einer Seminararbeit.

Nach einer Stunde war die Liste komplett, versehen mit Antworten und alternativen Lösungsmöglichkeiten für meine Probleme. Alles hatte ich in Betracht gezogen, nur eines nicht, den Koffer zurückzugeben. Es gab von nun an keine Umkehr. Ich hatte mich nicht nur strafbar gemacht, sondern, und das war viel schlimmer, ich würde die ganze anarchistische Linke auf dem Hals haben, wenn ich mir einen Fehler leistete. Im Toilettenbecken verbrannte ich meine Aufzeichnungen. Von nun an mußte ich so vorsichtig wie eine Holztaube sein. Mein Leben hing davon ab, wie konsequent ich war. Den 24. August 1972 hatte es nie gegeben.

Inzwischen war es 12.30 Uhr geworden. Das Geld mußte aus meiner Wohnung verschwinden. Ich holte zwei große Leineweber-Plastiktüten aus dem Besenschrank, zog den Koffer wieder hervor und begann, die Tüten mit Geld zu füllen, die eine mit den Devisen, die andere mit DM. Fast fünf Minuten lang beobachtete ich den Hinterhof – meine Fenster gingen alle zum Hof –, verließ sodann meine Wohnung und spähte durch das Glas der Hauseingangstür auf die Straße. Keine Spur von Verfolgung oder Beobachtung, es sei denn, Otto Leiser lauerte wieder wie so oft hinter der Gardine seiner Wohnung in Erwartung ungewöhnlicher Ereignisse, die sein tristes Dasein ein wenig aufhellen würden.

Praktisch vor meiner Haustür befand sich der Nebeneingang der U-Bahnstation Bayerischer Platz. Drei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich hinunter und nahm den einlaufenden Zug, obgleich der in die falsche Richtung fuhr. Aber, man konnte ja nie wissen. Eine Station später stieg ich aus und nahm dann vom gegenüberliegenden Gleis den Zug in Richtung Nollendorfplatz und stieg um zum Wittenbergplatz. Das KaDeWe war eine Gottesgabe für Verfolgte oder die, die sich als solche fühlten. Hier konnte man jeden abschütteln. In der anrainenden Passauer Straße residierte eine Reitbekanntschaft von mir, deren Wohnung, Topfpalmen und Zierfische ich zur Zeit gerade für die Dauer ihres Urlaubs im Weserbergland bändigte.

Was ich vorhatte, fand ich nicht gerade anständig, aber ich befand mich ja gewissermaßen in einer Notlage, die auch ungewöhnliche Maßnahmen erforderte. Jeannette Schulze – in meiner Generation hatten es viele Eltern für erforderlich gehalten, ihren Töchtern als Ausgleich für einen ordinären Familiennamen einen französischen Vornamen zu verpassen –, Jeannette also bewahrte ihren Reisepaß recht sorglos in ihrem kleinen Biedermeier-Sekretär auf. Das war mir neulich aufgefallen, als ich bei ihr nach einer Rolle Tesafilm suchte, um eine Notiz an ihren Kühlschrank zu heften.

Wir sahen uns nicht gerade wie eineiige Zwillinge ähnlich, aber wenn ich mir eine Brille aufsetzte, könnte es klappen. Mit ihrem Paß und den zwei Plastiktüten nahm ich meinen Weg in die Keithstraße, wo eine wohlbeleumdete kleine Privatbank ihre Pforten auch noch nach 13.00 Uhr geöffnet hielt, im Gegensatz zur Sparkasse und den Filialen der Großbanken. Ohne viel Aufsehens und mit Hilfe von Jeannettes Personaldokument mietete ich vier der größten Schließfächer dieses diskreten Instituts.

Heute nachmittag würde ich nicht mehr viel unternehmen können. Der Großteil des Geldes und der verräterische Koffer mitsamt den beiden Pistolen befanden sich noch in meiner Wohnung. Ebenso die verschlüsselten Aufzeichnungen und die Personalpapiere. Roberts Satz verbrannte ich in der Badewanne. Die Blankodokumente könnte ich vielleicht noch selbst brauchen.

Ich entnahm dem Samsonite alles Geld, verstaute dies, in diverse Plastiktüten gezwängt, in einen meiner eigenen Koffer und legte die in Tücher gewickelten Waffen zur Seite. Ob die wohl koscher waren oder Beweisstücke aus irgendwelchen bewaffneten Aktionen, von Robert als Druckmittel zurückgehalten? Merkwürdig war das schon mit der fehlenden Patrone im Magazin der FEG.

Ganz egal, weg mußten sie auch. Die codierten Blätter steckte ich mit einer kurzen Notiz in einen verstärkten Umschlag und adressierte ihn zunächst an Jeannette Schulze, 1000 Berlin 30, postlagernd. Was ich später damit machen würde, war mir noch nicht klar. Ich konnte den Umschlag heute noch abschicken und vorher schnell in dem Photoladen in der Grunewaldstraße Kopien machen. Die Waffen zerlegte ich, soweit es ging, in ihre Einzelteile, die ich peu à peu und an den verschiedensten Orten wegwerfen konnte. Natürlich, nachdem ich alle Abdrücke entfernt hatte.

Mit dem Koffer würde ich noch meine liebe Not haben. Er ließ sich kaum vernichten. Verbrennen konnte ich ihn wegen der zu erwartenden giftigen Dämpfe nicht, zersägen war viel zu mühselig. Also auch wegwerfen. Ich nahm das Futter heraus, schraubte die beiden Kofferhälften an den Scharnieren auseinander und wischte sorgfältig alle Spuren ab. Den würde ich heute abend nach der Pizza mit Jim, Sandy und Marion auf ein paar Bauschutt-Container verteilen, die ich in der Schöneberger Hauptstraße bemerkt hatte. Morgen früh würden dann die Bagger das ihre tun.

In dem Photoladen ließ ich außer den Kopien gleich noch ein paar Paßbilder von mir machen. Als ich nach Hause kam, merkte ich, daß ich halbtot war. In meinem Kopf raste ein hämmernder Schmerz; mein Nacken und mein Kreuz fühlten sich zum Zerbrechen an. Ich warf vier Thomapyrin in meinen Rachen und ließ mich auf die Doppelmatratze fallen. Trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht schlafen, mein Herz schlug mit raschem Dröhnen, ich mußte Unmengen von Adrenalin in meinen Adern haben.

Morgen war der Rest des Geldes auf die Schließfächer zu verteilen. Bei der Sparkasse konnten die Safeschlüssel deponiert werden, und ich mußte alles endgültig auf einen anderen Namen untergebracht haben, bevor Jeannette von ihrem Hamelner Reiterhof zurückkam, damit sie nicht irgendwelche Benachrichtigungen für meine Fächer erhielt. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?!

5

Auch nachdem ich 1968 meine Studienfächer gewechselt hatte und fortan nicht mehr Soziologie und Politische Wissenschaften hörte, sondern Kunstgeschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften, war ich regelmäßig demonstrieren gegangen. Es gehörte gewissermaßen zum studentischen Anstand, sich auf Demos zu zeigen und eine Reihe von sit ins und Institutsbesetzungen zu absolvieren. Ich schätzte besonders die Woodstock-Kameraderie und emotionale Intensität dieser Ereignisse. Zudem war für viele von uns der Vietnam-Krieg ein echtes Anliegen geworden.

Die Intensivierung des Bombenterrors gegen Nordvietnam durch die Amerikaner im Jahre 1972 hatte studentisches Blut überall in Wallung gebracht und auch eine Reihe von Demos in Berlin inspiriert. Ich war immer mitten drin, verwendete aber viel Sorgfalt darauf, nicht unbedingt in den Aktionsradius der Wasserwerfer und Tränengasbomben zu geraten. Bei einer solchen Massenveranstaltung lernte ich im Vorfrühling 1972 Jim kennen.

»Mit einem Button-down-Kragen und Hush Puppies sollte man nicht unbedingt auf eine linke Berliner Demo gehen«, riet ich wohlmeinend auf Englisch dem jungen Mann neben mir, den ich schon eine ganze Weile beobachtet hatte. »Du bist Ami, nicht wahr?«

Der so Ertappte nickte zögernd und fragte verlegen, ob er denn gar so auffällig sei.

»Einem genauen Beobachter schon«, schmeichelte ich mir etwas einfältig und erklärte ihm sodann, daß es solche Hemdkragen in Deutschland so gut wie gar nicht gebe. »Dein Haarschnitt ist auch ganz und gar unstudentisch«, fuhr ich unerbittlich fort und versetzte ihm den Gnadenstoß, »du bist beim Militär, hab ich recht?« Sein unumwundenes Geständnis fand ich dann einfach entwaffnend. Wir unterhielten uns weiter, und er erzählte mir, daß er an der Uni in Berkeley studiert und sich nach seinem Abschluß freiwillig gemeldet hatte.

»Warum denn das, um Gotteswillen?«

»Ich wäre sowieso gezogen worden, und dann hätte mich Uncle Sam zu den Grunzern, äh, in die Infanterie gesteckt …«

»Und dann wärst du gleich als Kanonenfutter nach Vietnam gekommen!« unterbrach ich verständnisvoll.

Er lachte bitter auf. »Ich bin auch so gleich zu Charlie gekommen, mit dem einzigen Unterschied, daß es nicht die Infanterie war und daß ich eine goldene Litze am Hut hatte.«

All die Jahre, die ich in einer Militärkutte aus dem Steg-Shop gegen den Vietnam-Krieg protestiert hatte, war mir noch nie jemand begegnet, der den Krieg aus eigener Anschauung kannte. Hier neben mir stand ein junger Mann, Mitte Zwanzig, kaum älter als ich, der war dabei gewesen. Während ich in meinem sicheren Berlin Resolutionen mitverfaßt, Protestaktionen geplant und mehr oder minder leidenschaftlich argumentiert hatte, waren dem Jungen hier neben mir die Kugeln um die Frisur geflogen, und er hatte vielleicht auch selbst Menschen töten müssen. Verstohlen sah ich ihn von der Seite an. Sah so ein Killer aus?