Die Schwestern der Quelle - Christiane Link-Raule - E-Book

Die Schwestern der Quelle E-Book

Christiane Link-Raule

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Beschreibung

Eine Reise durch die Zeit Ein Geheimnis, das überdauert Avala und vier ihrer Töchter hüten das geheime Rezept eines Trankes. Doch jede der Töchter kennt nur eine Zutat. Die Frauen werden verfolgt von skrupellosen Ordensbrüdern, die nach Macht streben. Doch was hat Nora, eine Botanikerin in einem Pharmazie-Unternehmen, damit zu tun? Liegt es an ihrem Spezialgebiet, der Heilkräuterkunde? Oder gibt es weiter Verflechtungen, von denen niemand etwas ahnt? Auf einer abenteuerlichen und gefährlichen Reise erfährt Ruun, die fünfte und jüngste Tochter Avalas, von ihrer Aufgabe. Sie will gemeinsam mit Nora, deren Bruder und Noras Freundin, verhindern, dass der Geheimbund den Trank benutzen wird. Denn eines scheint sicher: der Trank verhilft zur Macht. Zum Guten wie zum Bösen. "Die Schwestern der Quelle" vereint Kräuterkunde, starke Frauen, eine gefährliche Suche und ein Kampf gegen Machtbestreben.

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Autorin

Christiane Link-Raule lebt und arbeitet im Allgäu. Sie hat Kommunikationswissenschaft und Germanistik studiert und war als Journalistin lange Jahre für Tageszeitungen und Magazine tätig. Sie musiziert, spielt Theater und widmet sich mit Begeisterung der Kräuterkunde.

Das erste Buch der Autorin war ein Kinderbuch, das rund um den Bodensee an Orten spielt, die sie mit Ehemann und ihren drei Kindern erkundet hat.

Die Kinder sind flügge geworden. Höchste Zeit also, einen lang gehegten Traum zu verwirklichen: einen Roman zu schreiben.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

TEIL 1

SPITZWEGERICH

PFEFFERMINZE

ROSMARIN

EISENKRAUT

HOLUNDER

VERVEINE

KAPUZINERKRESSE

EIBE

SALBEI

BASILIKUM

WACHOLDER

PETERSILIE

SENF

EISENHUT

KAMILLE

ZISTROSE

YSOP

ALANT

BRENNNESSEL

RINGELBLUME

WEINREBE

ALOE VERA

FRAUENMANTEL

HERZGESPANN

Teil 2

Teil 3

Epilog

Dankeschöns und eine Anmerkung

Anmerkung

PROLOG

Das Feuer in ihrer Mitte prasselte leise und tauchte den nahen Waldrand in ein warmes, orangerotes Licht. Aleidis, Flordelis und Gunda saßen schweigend und nachdenklich um das Lagerfeuer und hüllten sich in ihre Schafwolldecken. Die Abende und Nächte waren noch kalt. Aleidis, die älteste der drei Frauen, räusperte sich und flüsterte: „Wir müssen es verstecken.“ Flordelis nickte. „Sie werden uns verfolgen und versuchen, es in ihre Hände zu bekommen“ Gunda schwieg nachdenklich.

Es war Zufall, dass sie es entdeckt hatten. Aleidis wollte mit exotischen Zutaten einen Trank gegen schlechte Laune entwickeln, Flordelis grummelte verärgert, dass das ein überflüssiges Experiment mit kostbaren Kräutern sei. Gunda schwieg. Wie immer. Nachdem jedoch Aleidis eine Kostprobe ihres Tranks genommen hatte, stellte sie fest, dass dieser Schluck zwar nicht die schlechte Laune kurierte, wohl aber eine überaus überraschende andere Wirkung verursachte. Die Freude war groß und alle Frauen der Schwesternschaft hatten gefeiert. Erst am nächsten Morgen wurde ihnen klar, welche Macht dieses Mittel enthielt. Und dass es nicht in falsche Hände gelangen durfte.

TEIL 1

„Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft.“

Johann Wolfgang von Goethe

SPITZWEGERICH

HEILEND

Ruun streifte, Kinderlieder singend, durch die Wiesen, die gerade zu blühen begannen. Sie wusste, sie war mit ihren 15 Jahren schon zu groß für die Purzel- und Sternchenfängerinnen-Lieder, aber es machte ihr einfach Spaß, die vertrauten Melodien zu singen. Ihr Lieblingslied war das Abancas-Lied, das ihr ihre Mutter Avala schon an der Wiege vorgesungen hatte: Es handelte von fünf kleinen Zwergenmädchen, den Abancas, die durch die Welt reisen und Abenteuer erleben.

Ruuns lange rote Locken waren in einem festen Zopf gebändigt, doch bei all ihrem Hüpfen und Singen lösten sich bereits einzelne Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen. Sie streifte sie ungeduldig weg. Schlimm genug, dass sie dauernd mit ihrem langen Leinenrock an den Brombeerranken hängenblieb, die überall wuchsen, obwohl die Frühlingssonne erst seit kurzem ihre warmen Strahlen großzügig aussandte. Energisch riss Ruun sich jedes Mal los, wohl wissend, dass ihre Mutter nicht begeistert sein würde, wenn sie mit zerrissenem Rock nach Hause kommen würde. Sie hielt Ausschau nach jungen Löwenzahnblättern, Spitzwegerich und Gänseblümchen. Mit etwas Glück fand sie vielleicht sogar schon ein paar Blättchen des Wilden Dosts. Dost, Löwenzahnblätter und die Gänseblümchen würden die abendliche Suppe schmackhafter machen, den Spitzwegerich würde ihre Mutter zu einem heilenden Brei für das von Insekten zerstochene Bein ihrer Schwester verarbeiten. Ravenna war gestern Abend von einer Reise aus dem Grünspitzenwald zurückgekehrt und sah sehr mitgenommen aus, da allzu viele stechende Plagegeister in den düsteren Tannenschonungen, in denen sie unterwegs gewesen war, ebenfalls eine Heimstatt gefunden hatten. Im Gegensatz zu Ruun, die nur die Pflanzen und Kräuter in der Umgebung sammeln durfte, waren ihre älteren Schwestern, außer Sitavia, öfter in fremden Gegenden und Ländern unterwegs, auf „Kräuteraventiure“, wie sie ihre Ausflüge spaßeshalber nannten.

Ruun war noch zu jung. Zumindest meinten das ihre Mutter und ihre vier Schwestern. Ruun selbst fand jedoch, dass sie durchaus schon anspruchsvollere Aufgaben übernehmen könnte. Erst neulich hatte sie wieder lange gebettelt, doch einmal mit einer ihrer Schwestern losziehen zu dürfen. Es schien, als ob ihre Mutter gewillt wäre, sich das noch einmal zu überlegen. Bald würde sie erneut fragen und hoffte, dass ihr Beharren nicht zur Unzeit käme. Denn gestern Abend, nachdem ihre Schwester angekommen war, hatte sie im Halbschlaf gehört, wie die beiden besorgt flüsterten. Avala und Ravenna saßen um das Feuer in ihrer Hütte und sprachen von Vorräten und der Vorsichtsmaßnahme, das Buch an einem Ort zu verstecken, an dem es niemand finden könne. Auch müssten die beiden anderen Schwestern, die auf Reisen waren, und Sitavia, die nebenan wohnte, informiert werden. Mehr hatte Ruun nicht verstehen können, denn das Flüstern wurde noch leiser, als ihre Mutter merkte, dass sie nicht schlief, sondern die Ohren spitzte. Ruun sah ihre älteren Schwestern Venetia und Arelasia nur noch selten. „Schade“, dachte Ruun. Sie hatten zusammen viel Spaß gehabt bei ihren wilden Spielen auf der großen Wiese. Zwar hatte sie als Jüngste immer verloren, wenn es um Schnelligkeit und Kraft ging, aber ihre Schwestern machten das wieder gut, indem sie ihr Geschichten erzählten und mit ihr leckere Hollerküchlein buken.

Ruun wohnte, solange sie denken konnte, mit ihrer Mutter und ihren Schwestern am Rande des Dorfes Friwalden unterhalb der Burg Bergfels. Avala war die Heilerin des Dorfes, die Kräuterfrau, die alle aufsuchten, wenn sie krank waren oder wenn sie einen Rat für ihre Sorgen benötigten. Sogar der Burgherr und sein Gefolge an adeligen Damen und Herren, die sonst nur selten mit den Dorfbewohnern Kontakt hatten, kamen zu ihr und gaben ihr als Lohn Münzen, die sie gut versteckt aufbewahrte. Die Dorfbewohner bezahlten mit ihren Ernteerzeugnissen, so dass Avala und ihre Töchter stets genug zu essen und zu trinken hatten. Insgesamt ging es ihnen gut, fand Ruun. Nur die Frage nach ihrem Vater quälte sie manchmal. Sie hätte ihn gern kennengelernt, denn den Erzählungen nach war er ein tapferer Ritter gewesen. Avala hatte ihr berichtet, dass er bei einer Auseinandersetzung im Norden des Landes, im Dienste des Herzogs Cuno von Nordighall, ums Leben gekommen war. Die Erinnerung daran war für Avala so schmerzhaft, dass sie den Herzog gebeten hatte, sie ziehen zu lassen, um im Süden des Landes ein neues Leben zu beginnen. So waren sie alle nach Friwalden gekommen und lernten dort von ihrer Mutter die Kräuterkunde.

Doch das lag weit zurück und sie war noch ein Kleinkind gewesen, als das Unglück geschah. Ruun stolperte plötzlich über eine Wurzel und schrak auf aus ihren Grübeleien, über die sie die Zeit vergessen hatte. Die Sonne stand schon tief, und ihre Mutter hatte ihr verboten, in der Dunkelheit alleine draußen zu sein. Glücklicherweise war ihr Korb randvoll mit frischen Kräutern, so dass Avala keinen Grund haben würde, sie zu schelten.

Nora erwachte mit einem Schrei. Was war das für ein schrecklicher Traum. Eine junge Frau wurde von einem dunkel gekleideten Mann auf einem Pferd niedergestochen. Im linken Arm hielt er ein Baby, in der rechten Hand ein Schwert, überall war Rauch. Der Traum war so beängstigend, dass Nora schweißgebadet erwachte und einen Moment brauchte, um sich zu orientieren. Erst als sie ihre Nachttischlampe einschaltete und sich in ihrem gemütlichen Zimmer umsah, die vertraute Umgebung wahrnahm, beruhigte sie sich und setzte sich kopfschüttelnd in ihrem Bett auf. Ein Verfolgungstraum, wie sie ihn seit ihrer Pubertät nicht mehr gehabt hatte. Erschreckend. Ob sie in ihre zweite oder gar dritte Pubertät kam? Nora ermahnte sich, nicht kindisch zu werden und legte sich wieder hin. Sie dachte an ihr morgiges Treffen mit ihrem Chef. Was er wohl wollte? Insgeheim freute sie sich auf den Termin, denn ihr Chef war ein außerordentlich attraktiver und charmanter Mann. Sie arbeitete in einem mittelständischen Pharmaunternehmen, das sich auf biologische Heilmittel spezialisiert hatte. Ihr Fachgebiet war die Phytopharmazie. Sie erforschte Heilpflanzen und deren Wirkstoffe, die sie auf ihren therapeutischen Wert untersuchte, um dann ein pflanzliches Arzneimittel herzustellen. Erst neulich hatte sie eine schonende Hautcreme gegen allergische Pusteln entwickelt. Sie seufzte und hoffte, noch einmal einschlafen zu können.

Am nächsten Morgen klopfte sie pünktlich um neun Uhr zur Besprechung an die Tür ihres Chefs, Dr. Barnabas von Berg, den alle „Barney“ nannten. Er wirkte locker und ließ nie den Chef heraushängen. Die Gespräche mit ihm waren stets auf Augenhöhe. „Auf faszinierender Augenhöhe“, wie Nora fand, denn seine dunklen Augen funkelten, wenn er gut gelaunt war. Ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, mit dem er gemeinsam das Unternehmen leitete. Baldur von Berg - allein schon der Name! – war etwas älter, viel ernster und sehr distanziert. Kein Mensch würde sich trauen, mit ihm Scherze zu machen oder ihn gar „Baldi“ zu rufen. Nora kicherte nervös bei dem Gedanken. Der Mann sah die Menschen so durchdringend an, dass sie manchmal vermutete, er könne sogar Gedanken lesen. Was natürlich Unsinn war. Nora schüttelte über sich selbst den Kopf und konzentrierte sich, als sie das „Herein“ hörte. Sie zog ihren blauen Blazer glatt, fuhr sich noch einmal durch die Haare und befeuchtete mit der Zunge ihre vollen Lippen. Sie waren trocken und Nora ärgerte sich, dass sie nicht noch schnell einen Schluck Wasser getrunken hatte. Jetzt musste es so gehen. Sie war wie immer trotz aller Vorfreude auf das Gespräch angespannt.

Heute, das sah Nora sofort, funkelten die Augen leider gar nicht. Barneys Miene war ernst, und er saß nicht wie sonst am Besprechungstisch, sondern hinter seinem wuchtigen Schreibtisch aus Eichenholz. Mit einer knappen Handbewegung forderte er sie auf, davor Platz zu nehmen. „Frau Dr. Grünthal! Ich habe Sie eingestellt, weil Ihnen der Ruf vorauseilte, innovativ zu sein. Weil Sie kreative Heilmittel erfinden.“ „Das habe ich doch bereits“, sagte Nora überrascht und erschrocken. „Ja. So Nettigkeiten wie ‚Furunkel ade‘ sind ganz in Ordnung. Auch das ‚Machen Sie aus einem Kater ein Kätzchen, wirkungsvoll nach einer durchzechten Nacht‘. Aber wenn ich Ihr Labor weiter finanzieren soll, erwarte ich von Ihnen etwas Außergewöhnliches, etwas Herausragendes, das es noch nie gab.“ Nora lachte verunsichert. „So etwas wie einen Zaubertrank, meinen Sie?“ „Genau“, entgegnete ihr Chef und begann dabei schon wieder leicht zu lächeln. „Absolut einzigartig und alles andere in den Schatten stellend. Eine natürliche Krebstherapie oder ein Anti-Parkinson-Kraut, das die Dopaminausschüttung fördert. Oder eben einen Zaubertrank. Ohne Nebenwirkungen und heilsam.“ Barney sah Nora an. Als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck sah, grinste er verschmitzt. „Nicht ganz realistisch, ich weiß. So groß muss es ja auch nicht gleich sein. Aber mir sitzen meine Konkurrenten im Nacken. Ich setze große Hoffnung in Ihr kreatives Talent. Wir wollen heilen - auch schwere Krankheiten.“

Barney stand auf und kam auf sie zu. „Geschmeidig wie ein Panther“, dachte Nora und wurde rot. Schnell erhob sie sich, drehte sich schwungvoll um und hoffte, dass er ihre Röte nicht bemerkt hatte. Barney ging zur Tür, hielt sie Nora auf und schenkte ihr zum Abschied ein aufmunterndes Lächeln. „Wir sehen uns“, sagte er, während er kurz, wie zufällig, seine Hand auf ihren Arm legte. Nora verließ nachdenklich das Büro. Sie dachte an die Wärme seiner Hand. Und an ihre letzte Rezeptur: „Magengeschwür – nie mehr gespürt.“ Das war doch schon mal ein guter Anfang. Aber natürlich würde sie sich anstrengen und versuchen, bahnbrechende Kräuterelixiere zusammenzustellen. Nora seufzte verträumt. Wie er zum Schluss wieder schelmisch gelächelt hatte, mit seinem Grübchen auf der rechten Seite der Wange…

PFEFFERMINZE

KÜHLEND

Morgen war es endlich soweit. Ruun konnte nicht einschlafen, so aufgeregt war sie bei der Vorstellung, dass sie mit Ravenna losziehen durfte. Sogar mit einem geheimen Auftrag ihrer Mutter. Sie sollten in die Venrana-Schlucht im Grünspitzenwald wandern, um eine Pflanze zu suchen, die nur dort wuchs. Welche genau das war, wusste nur Ravenna. Aber Ruun war das egal. Es hatte fast drei Monate der Bettelei bedurft. Also Hauptsache, sie durfte mit. Zwar hatte die Mutter ihr erklärt, dass eine Kräuterfrau neun Jahre in die Lehre gehen müsse und erst dann in die Welt gehe. „Mit deinen sieben Lehrjahren hast du noch lange nicht genügend Kenntnisse.“ Aber ausnahmsweise dürfe Ruun mitgehen, denn sie habe fleißig gelernt, sei aufmerksam gewesen und werde demnächst ihren 16. Geburtstag feiern. „In den drei Wochen, die du im Kloster Rupertsberg bei der edlen Äbtissin Hildegard verbracht hast, hast du wirklich gute Fortschritte gemacht und dein Kräuterwissen erheblich erweitert.“

Ruun wollte mehr von der Welt sehen als ein Kloster oder ihr Dorf, den angrenzenden Wald und den Fluss, der zwei Marschstunden entfernt lag und über den ein schöner Wasserfall stets Regenbogenschleier webte. In der letzten Zeit waren immer mehr Ritter auf dem Weg in den Orient durch das Dorf gezogen. Ein großer Kreuzzug, hieß es, locke die Menschen in fremde Länder, in denen es Völker mit anderen Hautfarben und anderen Sitten gebe. Avala zog ihre Tochter zwar immer fort von den Ritterlagern, in denen abends die Geschichten erzählt wurden. Aber Ruun schnappte dennoch einiges auf.

Avala wollte nicht, dass Ruun an den Feuern saß und zuhörte. Es sei gefährlich, meinte sie. Und zu Ruuns Schutz mitkommen wollten weder sie noch Ravenna oder Sitavia. „Wir haben besseres zu tun, als uns Schilderungen von grausamen Schlachten und Eroberungen anzuhören.“ Aber Ruun sah, dass Avala sich öfter als früher besorgt umsah. Es musste wohl noch einen anderen Grund für ihre Vorsicht geben.

Ruun war nicht entgangen, wie ärmlich manche der Reitenden waren und wie abgenutzt ihre Rüstung. Noch ärmer jedoch waren die hinter den Rittern herziehenden Wanderer, denen ihre Mutter stets Breitwegerichblätter für die blasigen Füße gab, trotz ihrer Besorgnis und dem Abstand, den sie zu den Reisenden hielt. Zwar zog das Hauptheer des Kaisers nicht durch ihre Gegend, sondern nur einige Ritterzüge, die sich später auf dem Weg mit dem großen Heer vereinigen würden. Doch Ruuns Neugier auf die Welt nahm von Tag zu Tag zu. Morgen würde sie endlich ihre erste längere Reise antreten.

Nora ging in ihren Garten, in dem sie die heimischen und einige exotischen Kräuter angebaut hatte. Sie wollte sich einen Gedanken stimulierenden Tee zubereiten mit etwas Minze, Rosmarin, Schafgarbe und Wegwarte. Wie ernst Barney heute zu Beginn ihrer Besprechung gewesen war. So kannte sie ihn gar nicht. Normalerweise lachte er, umschmeichelte sie, machte ihr Komplimente und hatte beim letzten Sommerfest mit ihr getanzt. Tatsächlich hatte er sich nach dem Tanz noch intensiver um sie gekümmert und ihr sogar das „Du“ angeboten, obwohl sie sich mal wieder vollkommen schusselig benommen hatte. Er hatte ihr charmant aus der Patsche geholfen, als ihr beim Tanz der Absatz abbrach, sie stolperte und fast auf das Büffet gefallen war. Auch, dass ihr Kleid an den Schultern dabei einriss, hatte er nur mit einem fröhlichen „So ist es doch luftiger, oder?“ kommentiert. All das Nette und Leichte hatte er heute nicht ausgestrahlt. Er musste wirklich ernste Sorgen haben. Aber sie würde ihm helfen. Ganz gewiss.

Nora lebte allein und hatte die Hoffnung aufgegeben, einen interessanten und geeigneten Partner zu finden. Zwar war sie erst 35 und mit ihren langen roten Locken und den grünen Augen durchaus attraktiv. Aber ihre letzten Beziehungen gingen stets nach kurzer Zeit wieder auseinander. Holger meinte, sie sei für ihn zu intellektuell, Bernd fand sie zu introvertiert, Egon ärgerte sich über die „verträumte Naivität“, wie er ihren nach Innen gerichteten Blick stets augenverdrehend benannte. Nur Barney schien sie mitsamt ihrer Leidenschaft für ihren Beruf zu schätzen. Und was wollte sie? Sie seufzte. So genau wusste sie es selbst nicht. Einerseits hätte sie gern Schutz und Geborgenheit, aber sie wollte sich auch nicht einengen lassen. Sie stellte sich eine Beziehung mit gegenseitiger Wertschätzung und Toleranz vor, in der gemeinsames Lachen nicht zu kurz kam.

Nora setzte sich mit ihrem Tee ins Wohnzimmer und sah hinaus auf ihren Garten. Viel Platz hatte sie nicht und den brauchte sie auch nicht. Ihr winziges Häuschen lag in der Nähe eines großen Waldes, die nahegelegene Straße war verkehrsarm und ruhig. Es war ein Glücksfall gewesen, dieses Minihaus mit Garten zu ergattern, denn hier konnte sie ihre Kräuter züchten, ohne dass jemand über den strengen Geruch des Baldrians schimpfte oder über die Wilde Karde, die das Balkongeländer überwucherte. Den bei Bauchschmerzen angebotenen Bio-Kamillentee hatte ihr ehemaliger Vermieter zwar gern angenommen, aber ansonsten mehr als einmal die Bemerkung fallen lassen, dass für sie doch „etwas auf dem Lande“ besser geeignet sei. Nora vermutete, dass es ihm weniger um ihre üppig wachsenden Pflanzen gegangen war, als vielmehr um das Ärgernis einer alten und mietpreisgebundenen Wohnung, die nach einer aufwändigen Renovierung das Dreifache an Miete eingebracht hätte. Also hatte sie nach einer neuen Wohnung Ausschau gehalten und dieses bezaubernde Häuschen am Stadtrand gefunden. Sie brauchte nun zwar etwas länger zur Arbeit, aber das war es wert. Die Busse und Bahnen fuhren regelmäßig, und ihr täglicher Spaziergang zur Haltestelle war immerhin eine angenehme sportliche Aktivität.

„Schluss mit Rumsitzen - denk lieber nach, was für eine neue Kräutermixtur du entwickeln könntest“, sagte sich Nora und trank einen Schluck Tee. Und noch einen und noch einen, bis die Tasse leer und ihr immer noch nichts eingefallen war. Sie ließ sich vom Schwung des Schaukelstuhls, auf dem sie normalerweise gut und ergebnisorientiert nachdenken konnte, nach vorn tragen, hüpfte hoch und suchte in ihren Kräuterbüchern nach Rezepten oder Anregungen für Mixturen. Sie würde demnächst mal wieder in die antiquarische Buchhandlung ihres Bruders Wilhelm gehen, um nach alten Heilkundebüchern zu suchen. Ihre eigenen kannte sie auswendig, und ihr Bruder fand stets seltene Originalausgaben. Wo er die immer aufstöberte, war ihr ein Rätsel. Zudem hatte sie ihn bereits seit zwei Wochen nicht mehr getroffen. Viel zu lang für ihre enge Beziehung, die sie seit frühester Kindheit hatten. Auch etwas, dachte Nora leicht entnervt, das die Männer, mit denen sie zusammen gewesen war, gestört hatte. Doch sie und ihr Bruder gehörten einfach zusammen. Basta!

ROSMARIN

ANREGEND

Streng musterte Bruder Barnas seine Mitbrüder, die miteinander tuschelten. Im Gewölbekeller der Burg Bergfels hallten die Stimmen undeutlich nach, so dass Außenstehende nur ein an- und abschwellendes Gemurmel wahrnahmen. Auch wenn sie alle acht gleichberechtigt waren, so war Barnas doch der Primus inter pares, der erste, der das Wort ergreifen durfte und der letzte, der Entscheidungen absegnete. Er war es auch gewesen, der den Gewölbekeller der Burg Bergfels für sie gefunden hatte, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ihr alter Treffpunkt nicht mehr geeignet gewesen war. „Wir hatten Glück, dass wir sie endlich wieder gefunden haben. Aber wir dürfen sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren. Wir müssen die Frauen lückenlos überwachen.“ Langsam stand Bruder Gernot auf, rückte seinen Umhang zurecht und zog die Kapuze ein Stück zurück, so dass die anderen Brüder sein schmales Gesicht mit den tiefliegenden Augen, den vollen Lippen und der geraden, langen Nase sehen konnten. „Warum ist es notwendig, diese Kräuterweiber zu überwachen? Warum schnappen wir uns nicht einfach die Alte und sorgen dafür, dass sie uns das verrät, was wir wissen wollen?“ Seine Stimme war leise und dennoch so deutlich, dass ihn alle Brüder gut verstehen konnten. Sie schauten zu ihm auf und danach gespannt zu Barnas, um zu sehen, wie er auf diese abrupte Unterbrechung reagieren würde. Dieser runzelte die Stirn, sagte aber nur bestimmt: „Sie wird uns nichts verraten. Die Eingeweihten der Schwestern können ihren Geist auf Reisen schicken und sind dann nicht mehr erreichbar, egal was ihrem Körper geschieht. Die anderen kräuterkundigen Frauen kennen die Zutaten nicht. Unsere einzige Chance ist, Avala und ihren Töchtern zu folgen, sie zu beobachten…“ „damit wir die Zusammenstellung selbst herausfinden können“, fiel ihm Gernot erneut schroff ins Wort. Barnas sah ihn verärgert an. Gernot wollte offensichtlich nur allzu gern seine Stellung einnehmen und forderte ihn ständig heraus, obwohl er gerade erst vor einigen Monaten zu ihnen gestoßen war. Barnas war von Anfang an skeptisch gewesen, ob der junge Mann wohl zu ihnen passen würde. Er war zu ungestüm und … grausam? Sicher, sie waren alle bereit zum Töten, wenn es sein musste und ihrem Ziel diente, aber sie waren nicht grausam um der Grausamkeit willen.

Doch jetzt war nicht der richtige Moment, sich intensiver um diesen ehrgeizigen Bruder zu kümmern. Er würde ihn auf Reisen schicken und sehen, wie geschickt sich Gernot anstellen würde, wenn er eine der Schwestern treffen würde.

Barney lief unruhig in seinem Büro auf und ab. Diese Sache mit dem „Zaubertrank“ dauerte schon zu lange. Er musste mehr über Nora erfahren und herausfinden, ob sie wirklich die Richtige für seine Pläne war. Auf dem Sommerfest hatten sie zusammen getanzt und waren sich nähergekommen. Doch seitdem hatte er nichts mehr aus ihrem Leben erfahren, was er nicht schon wusste. Sie war eine begeisterte Pflanzenkundlerin mit einer ausgezeichneten Doktorarbeit über die heilende Wirkung einer Pflanze in ihrer Gesamtheit im Vergleich zur Heilwirkung der einzelnen, extrahierten Inhaltsstoffe. Ihre Analysen waren von der Fachwelt als brillant bezeichnet worden. Als er ihre hochgelobte Arbeit dann gelesen hatte, hatte er keine Sekunde gezögert und sie in die Firma geholt. Seine Hoffnung war groß gewesen, doch jetzt musste er schneller ans Ziel gelangen und den Druck erhöhen. Er würde Carmen beauftragen, bei Nora vorbeizuschauen. Vielleicht erfuhr sie mehr über Noras weitere Fähigkeiten und konnte sie zusätzlich motivieren. Er hatte Carmen schon einige Male bei besonders schwierigen Geschäftspartnern gegen einen guten Anteil am Gewinn engagiert. Sie war ehrgeizig und gewissenlos. Zwar war sie die Stellvertreterin seines Bruders und verdiente wirklich gut. Doch er wusste: Zusätzliche Einnahmen ließ sich Carmen nicht entgehen. Barney verstand seinen Bruder Baldur nicht, der anscheinend nicht merkte, dass Carmen ihn für ihre ehrgeizigen Pläne benutzte. Sie wollte viel mehr, und sie war machtverliebt. Das spürte Barney. Er hatte seinem Bruder bereits gesagt, dass er vorsichtig sein müsse. Doch Baldur hatte wie üblich nur mit ernstem Gesicht gesagt, dass Barney nicht immer das Schlimmste in allen Menschen vermuten müsse. Carmen sei doch sehr erfolgreich und effizient. Naja - er würde es Baldur nicht noch einmal sagen, denn sein Bruder hatte nie auf ihn gehört. Und mit Frauen kannte sich Baldur Barneys Meinung nach schon gar nicht aus. Gut also, dass sein Geschäftsbereich und der seines Bruders komplett getrennt waren. So konnte er Carmen ab und zu einspannen, ohne dass er Baldur in die Quere kam. Und falls Carmen irgendwann die Finger in seine Bereiche strecken sollte, würde er handeln. Aber zuerst sollte sie für ihn bei Nora vorfühlen.

EISENKRAUT

KRÄFTIGEND

Avala saß am Feuer und dachte nach. Die Gefahr war groß, da die Brüder sie nun nach so langen Jahren entdeckt hatten, obwohl sie vorsichtig gewesen war und ihre Spuren nach dem Tod ihres geliebten Alwin verwischt hatte. Aber da sie die Mädchen ernähren musste, musste sie als Kräuterfrau und Heilerin arbeiten, auch wenn das bedeutete, dass das die Brüder wieder auf ihre Spur bringen würde. Glücklicherweise lebten sie sehr abgeschieden hier in Friwalden. Sie hatte dieses kleine Dorf ausgesucht, weil es abgelegen war und dennoch in der Nähe des Wasserfalls lag. Zudem fand sie im nahegelegenen Wald viele der Kräuter und Pilze, die sie benötigte. Auch auf den Wiesen, die das Dorf umgaben, waren stets eine wertvolle Pflanze oder ein Gewürz zu entdecken. Ihre Kräuterapotheke war gut bestückt und die Mädchen hatten ihr von den Reisen weitere benötigte Pflanzen mitgebracht. Sie war stets umsichtig gewesen und hatte wie alle anderen Kräuterfrauen geheilt. Doch ihre wahren Kräfte enthüllte sie nicht. Sie musste die Mädchen schützen und das Geheimnis des Tranks wahren. Auch das Buch mit den starken, wundersamen und nicht ungefährlichen Heiltränken behielt sie stets bei sich. Es durfte nicht in falsche Hände fallen. Die Brüder, das war ihr klar, würden die Mischungen nicht zum Heilen nutzen. Sie würden sie zu ihrem Vorteil missbrauchen. Ihnen ging es immer nur um Macht und Machterhalt.

Es war lange gut gegangen, doch mit den vielen Kreuzrittern, die durch die Lande zogen, waren auch wieder mehr Nachrichten unterwegs. Und irgendjemand würde erzählt haben, dass eine Kräuterfrau mit fünf Mädchen in Friwalden lebte. Dass Alwin nicht im Dienst seines Herrn als Ritter gestorben war, das wusste anfänglich nur sie. Es schien ihr leichter für die Mädchen zu sein, wenn sie nicht wussten, dass der „Ordo virtutis“, die Mitglieder der „Bruderschaft der Kraft und Tugend“ die wahren Mörder ihres Vaters waren. Alwin hatte, seitdem er sie als junge Maid kennengelernt hatte, versucht, sie zu beschützen und ihr eine zweite Identität zu verschaffen. Doch Barnas, ihr einstiger Spielkamerad und Nachbar, hatte sie, die Oberste Schwester der Quelle, bei einer Falkenjagd, die Herzog Cuno von Nordighall veranstaltet hatte, wiedererkannt. Er wusste zu viel von ihr und ihrer Ausbildung, um nicht seine Schlüsse zu ziehen. Dass er selbst zum Ersten der Bruderschaft geworden war, hatte Avala zufällig bei einem Gespräch gehört, das sie kurz vor dem Turnier, das nach der Jagd stattfinden sollte, belauscht hatte. Das Gehörte hatte sie zutiefst erschreckt, und sie hatte sich gefragt, ob sie das Dunkle in ihm nicht schon früher, in ihrer Jugend, hätte ahnen können, ahnen müssen?

Es war damals zu spät gewesen, um gemeinsam unerkannt zu entkommen. Also hatte sich Alwin im Turnier dem Kampf gestellt, damit sie und die Mädchen fliehen konnten, wohl wissend, dass ihn die Brüder nicht überleben lassen würden. Sie wollten und würden ihn töten, ob im Tjost, dem großen Lanzenkampf, oder danach im Verborgenen. Aber durch dieses Hinhalten hatte er Avala und den Mädchen Zeit für eine Flucht verschafft. Sein selbstloses Opfer hatte ihnen ermöglicht, ein neues Leben in Friwalden zu beginnen, unerkannt und lange Zeit friedlich. Im Laufe der Jahre, als Avalas Trauer zwar nicht geringer geworden, aber mehr in den Hintergrund gerückt war, hatte sie Venetia, Arelasia, Sitavia und Ravenna den wahren Grund ihres schnellen Umzugs enthüllt. Die Mädchen wussten seitdem um die Gefahr, die von den Brüdern ausging. Nur Ruun war noch ahnungslos.

Jetzt war es an der Zeit, noch einmal alle Zutaten für den Trank zu besorgen, denn ihre Vorräte für diese spezielle Mixtur gingen zu Ende. Sie wollte den Trank bereits ein letztes Mal zubereitet haben, wenn die Brüder auftauchten.

HOLUNDER

SCHÜTZEND

Venetia wischte sich mit ihrem Rockzipfel den Schweiß von der Stirn. Seitdem sie der Schwesternschaft angehörte, hatte sie so einen heißen Tag nicht erlebt. Ihre Mutter Avala hatte sie nur in einen Teil des geheimen Wissens eingeweiht, zu Venetias eigenem Schutz, wie sie sagte. Dass die Schwesternschaft der Kräuterkundigen Frauen außer dem allgemeinen Heilwissen auch über geheimes Wissen verfügte, war ausschließlich den Eingeweihten, den „Schwestern der Quelle“, bekannt. Doch nur Avala allein kannte die genaue Zusammensetzung des Tranks, den sie zubereiten wollte. Venetia und ihre Schwestern waren mit jeweils einer Zutat dafür zuständig.

Müde seufzte Venetia und setzte ihr Kopftuch ab, das sie auf Reisen stets trug. Irgendwann hatte sie sich spontan die Haare abgeschnitten, weil sie sie störten. Doch Avala meinte, dass sie damit unmöglich unterwegs sein könne. Eine Frau mit kurzen Haaren würde zu sehr auffallen. Seitdem trug Venetia ein Tuch, das ihr schmales Gesicht umrahmte, dazu einen knöchellangen Rock, eine Bluse mit langen schmalen Ärmeln und ein eng anliegendes Wams darüber, mit dem sie auch durch dichteres Gebüsch laufen oder steile Berge erklettern konnte. Dank ihrer langen Wanderungen war sie sportlich und muskulös. Und nun sollte sie noch einmal die Ingredienz besorgen. Ob das klug war angesichts der Vermutung, dass die Brüder sie beobachteten? Andererseits: einen Vorrat zu brauen, war sicherlich vernünftig. Venetia beobachtete ihre Umgebung und hielt Ausschau nach sonnigen Felshängen im lichten Laubwald, in dem sie sich befand. Dort sollte das Gesuchte zu finden sein. Sie seufzte noch einmal, wischte sich die Stirn mit ihrem Kopftuch und kletterte auf den kleinen Felsen, den sie entdeckt hatte. Oben angekommen, blieb sie vollkommen regungslos stehen, so, als ob sie mit der Umgebung verschmelzen wollte. Da hörte sie ein Rascheln im naheliegenden Gebüsch.

Nora freute sich auf den Nachmittag. Zwar hatte sie in der Nacht stark geschwitzt, aber der Morgen war klar und die Luft frisch. Sie hatte noch keine Idee für einen neuen Kräutertrank, aber es war ihr freier Tag, und sie wollte ihn unbeschwert genießen. Überraschenderweise hatte gestern noch Carmen angerufen und gefragt, ob sie zusammen Kaffee trinken oder einen Spaziergang machen wollten. So ganz einordnen konnte Nora den Anruf nicht. Bisher war Carmen, Botanikerin wie sie, eher abweisend und überheblich gewesen. Als Baldurs Stellvertreterin hielt sie sehr auf Abstand. Trotzdem hatte sich Nora über den unerwarteten Anruf gefreut und zugesagt. Ihre beste Freundin Celia war für ein Jahr nach Kanada gezogen, um dort Flora und Fauna zu bewundern, wie sie selbst sagte. In Wirklichkeit war es wohl eher der hübsche Tim, den sie „bewundern“ wollte. Nora und Celia hatten sich im Studium kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Anfangs hatte Nora gehofft, dass ihr Bruder Wilhelm mehr für Celia empfinden könnte, zumal er voller Begeisterung und Bewunderung über die quirlige und unterhaltsame junge Medizinerin sprach. Aber anscheinend hatte sie sich etwas ausgedacht, was nicht der Wirklichkeit entsprach. Die beiden verstanden sich prächtig, neckten sich und hatten miteinander Spaß. Aber mehr wie Geschwister, dachte Nora bedauernd. Wenn Nora und Celia gemeinsam mit Wilhelm auftauchten, nannten ihre Kommilitoninnen sie scherzhaft das „bunte Trio“, eine Bezeichnung, die das Offensichtliche zusammenfasste: die rothaarige Nora mit ihren grünen Augen, der grauäugige Blondschopf Wilhelm und Celia mit kurzen schwarzen Haaren und blauen Augen. Doch das Leben von Nora und Wilhelm war nicht nur äußerlich bunter geworden; es war offensichtlich, dass die gutgelaunte Celia dem ruhigen Geschwisterpaar guttat.

Nora gönnte der Freundin das Auszeit-Abenteuer von Herzen. Aber die Gespräche mit Celia fehlten ihr ebenso wie ihre unbeschwerten Treffen. Celia war meist guter Laune, abenteuerlustig und offen für Neues. Telefonieren war nicht das Gleiche, wie zusammen im Garten bei einem Glas Sekt über die Zukunft, die Männer und über die neuesten Gerüchte in der Welt der Wissenschaft zu plaudern. Celia hatte eine unbekümmerte Kindheit und schaffte ihr Studium mühelos, ebenso wie ihre Prüfungen. Wenn sie zurückkam von ihrem Abenteuertrip, würde sie im Städtischen Krankenhaus anfangen. Ihr Traumjob, wie sie sagte, denn sie war Medizinerin mit Leidenschaft. Nora selbst lebte seit Celias Abreise zurückgezogener als zuvor und sah auch Wilhelm nicht mehr täglich. Ihre Verbindung war nach wie vor eng, aber sie waren beide stark eingebunden in ihren Berufen. Das Übliche halt, dachte Nora und nahm sich vor, wieder mehr Zeit mit Wilhelm zu verbringen.

Barney hatte versucht, sie besser kennen zu lernen. Das schmeichelte Nora, und sie war durchaus bereit, ihn ebenfalls näher kennenzulernen. Aber natürlich konnte er keine Freundin ersetzen. Er war ihr Chef, ein interessanter Mann, ein mächtiger Mann in seiner Firma. Aber sie konnte ihn noch nicht richtig einschätzen. Sie war sich unsicher, ob er sie als Frau oder als Biologin schätzte. Sie hoffte, dass beides der Fall war. Doch es gab auch einen Wermutstropfen: Nora hatte den Eindruck, dass er Wilhelm, den er flüchtig kennengelernt hatte, nicht leiden konnte. Zumindest nahm er ihn nicht ernst, denn er nannte ihn einen weltfremden Bücherwurm.

Mal abwarten, wie das Treffen mit Carmen verlief. Vielleicht würde sie eine neue Bekannte gewinnen?

VERVEINE

ERFRISCHEND

Gernot überdachte seinen Plan. Wenn er Barnas die gesuchte Zutat mitbrachte, dann würde er mit Gewissheit mehr Geheimnisse der Bruderschaft erfahren. Zum Beispiel, was es mit diesem Trank auf sich hatte, den Barnas unbedingt haben wollte. Das musste ein wirkungsvolles Gemisch sein, wenn er einst alle Brüder auf die Suche nach den Frauen geschickt hatte und nun, da er sie gefunden hatte, die Geschicktesten der Brüder aussandte, um die Mission zu erfüllen. Sie hatten in Erfahrung gebracht, dass die Töchter von Avala gerade unterwegs waren. Um Venetia, die Älteste, kümmerte sich Woderik der Dunkle. Das arme Mädchen würde nicht viele Chancen haben gegen diesen gewandten Messerstecher, der schneller war als ein Wanderfalke und leiser als eine Fledermaus. Wie beherzt die Schwestern sich wohl wehren würden? Gernot lachte voller Vorfreude. Ihm war Arelasia zugeteilt, die zweitälteste und angeblich schönste der fünf Töchter. Er hoffte auf ein anregendes Kräftemessen, bei dem er seine Freude mit ihr haben würde.

Das Rascheln war verstummt. Venetia hatte die gesuchte Zutat gefunden und sicher in ihrem Beutel verwahrt, nachdem sie die Hornotter wieder verscheucht hatte. Wie ärgerlich, dass sie diesem giftigen Getier immer wieder begegnen musste. Sie mochte keine Schlangen, aber da sie die Älteste war, oblag ihr die Aufgabe, die gefährlich zu beschaffende Zutat zu besorgen. Das zumindest hatte Avala ihr erklärt, als Venetia sich darüber beschwert hatte. Sie fragte sich, wie um alles in der Welt die Kräuterfrauen auf so eine außergewöhnliche Zutat gestoßen waren. Venetia musste in einer Zeremonie an der Quelle der Regenbogenschleier schwören, niemals und niemandem das ihr übergebene Geheimnis zu verraten, nachdem drei alte Frauen einst beschlossen hatten, dass manches Wissen nur Eingeweihten vorbehalten sein sollte. Im Gegensatz zu diesem sehr kleinen Kreis waren die Kräuterkundigen Schwestern eine große und bunte Schar von Frauen aus allen Ecken des Landes. Vor Alwins Tod waren sie alle bei den Jahrestreffen dabei gewesen. Doch seit dem Umzug in den Süden durfte nur jeweils eine der Schwestern bei einem Treffen anwesend sein; Avala selbst war nie mehr dort anzutreffen. Früher hatte Venetia es nicht verstanden, doch heute war ihr klar, dass Avala als Oberste Schwester so vorsichtig sein musste. Auch wenn Venetia manchmal haderte, dass sie nicht so unbeschwert sein konnte wie die anderen Kräuterkundigen, so wusste sie doch um ihre besondere Aufgabe für die Schwestern der Quelle. Ob Ruun eines Tages auch eine Geheimnisträgerin werden würde? Vermutlich schon. „Schließlich kamen alle Töchter von Avala in den Genuss dieser keineswegs erstrebenswerten Auszeichnung“, dachte Venetia genervt und schämte sich gleich darauf wegen ihrer unbotmäßigen Gedanken.

Die Hitze hatte ihr ordentlich zugesetzt. Sie beschloss, auf diesem Felsen nach getaner Arbeit eine kleine Ruhepause einzulegen. Sie hatte auf dem Weg hierher wilde Himbeeren gepflückt. Die wollte sie jetzt genießen, auch wenn im Gebüsch anscheinend schon wieder diese elende Hornotter leise raschelte.

Der Nachmittag mit Carmen war nett und unterhaltsam. Sie hatten zusammen einen Waldspaziergang gemacht, sich über die Wildkräuter dort unterhalten und tranken nun bei Nora im Garten noch einen Verveine-Tee, dessen zitrusartigen Geschmack beide sehr mochten. Erstaunlicherweise hatten sie eine Menge gemeinsame Vorlieben entdeckt, so dass Noras Zurückhaltung schwand. Sie erzählte von ihrer Kindheit und dass sie mit ihrem jüngeren Bruder bei der Großmutter aufgewachsen sei. „Meine Eltern sind bei einem Laborunfall ums Leben gekommen, als ich noch im Kindergartenalter war. Sie haben zusammen exothermische Reaktionen untersucht und etwas muss dabei schief gegangen sein. Das Labor brannte aus. Meine Eltern konnten wegen einer automatischen Verriegelung der Labortüren, nachdem ein Alarm ausgelöst war, nicht mehr ins Freie gelangen.“ Nora schlang die Arme um sich, als sie daran dachte, wie schrecklich die letzten Minuten ihrer Eltern gewesen sein mussten. „Die genauen Umstände sind nie aufgeklärt worden, aber unsere Großmutter, die Mutter meiner Mutter, hat sich liebevoll um uns gekümmert. Ihr habe ich auch meine Vorliebe für die Kräuterkunde zu verdanken.“

Carmen nickte ernst und nahm mitfühlend Noras Hände. Einen kurzen Moment zuckte Nora zurück, doch dann ließ sie sich vom warmen Händedruck trösten. Sie lächelte und schüttelte die Traurigkeit ab, denn sie wollte den Nachmittag nicht mit Erinnerungen beschweren. Carmen stand auf, sah sich im Garten um, bewunderte den gelb blühenden Odermennig, das Olivenkraut, die diversen Wurzen und die zierlichen Duftveilchen. „Da hast du dir ja ein kleines Paradies geschaffen“, rief sie aus und fragte, ob Nora alte Kräuterbücher von ihrer Oma habe und ob sie spezielle Rezepte ausprobiert hätte. „Jetzt hörst du dich an wie Barney“, sagte Nora grinsend. „Der hat mich neulich zusammengestaucht, weil ich noch keinen Zaubertrank kreiert habe.“ Carmen schob ihre dunkelbraune Haarmähne aus dem Gesicht und meinte gespielt empört: „Ich bin doch nicht Barney. Ich arbeite mit meinem urkonservativen Chef Baldur von Berg an klassischen Rezepten und verbessere sie. Ich spreche mit potenziellen Kunden über den Vertrieb und überzeuge sie vom enormen Wert unserer Produkte. Aber meine private Leidenschaft kommt dabei leider erheblich zu kurz. Ich liebe es, Mixturen zu erfinden und auszuprobieren. So wie du eben.“ Nora kicherte erheitert und freute sich, dass sie so einen guten Draht zueinander hatten. Sie genoss das unbeschwerte Plaudern.

Auch wenn ihre Oma, die schon vor der Geburt der Geschwister ihren Mann verloren hatte, ihnen eine recht unbeschwerte Kindheit ermöglicht hatte, so fühlte sich Nora seit dem Tod ihrer Eltern verantwortlich und zuständig für Wilhelms Glück. Er war ein ernstes Kind gewesen und machte sich das Leben selbst schwer. Sie vermutete, dass er den Schock über den frühen Tod ihrer Eltern schlechter verwunden hatte als sie. Er war zu klein gewesen, um sich zu erinnern, aber die Trauer und die Fassungslosigkeit aller um ihn herum hatte er sehr wohl gespürt. Das erklärte vermutlich auch seine außergewöhnliche Fähigkeit, etwas zu erahnen. Leider waren das meist Gefühle, die ihn ängstigten und überforderten. Schon deshalb lebte Wilhelm sehr zurückgezogen, auch wenn es mit den Jahren besser geworden war. Besonders ihre Freundin Celia konnte ihn immer wieder aufmuntern und aus seinen Grübeleien herausholen. Nora war froh, dass sich mit Celia noch jemand um Wilhelm kümmerte. Sie selbst hatte ihre Eltern als liebevolle Menschen in Erinnerung, die an das Gute glaubten und die ihr in den ersten Lebensjahren genügend Optimismus mit auf den Weg gegeben hatten.

Ein Fahrradklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Fröhlich pfeifend kam Wilhelm angeradelt und Nora winkte ihm erfreut zu. Wie schön, nun konnte sie ihn gleich mit ihrer neuen Freundin bekannt machen. Gut, dass sie ihr noch nicht von Wilhelms manchmal doch recht ungewöhnlichem Verhalten erzählt hatte. Denn so konnten sie sich unvoreingenommen kennenlernen. Carmens überraschten Gesichtsausdruck sah Nora nicht.

KAPUZINERKRESSE

STIMULIEREND

A