Die Schwestern vom Ku'damm: Jahre des Aufbaus - Brigitte Riebe - E-Book
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Die Schwestern vom Ku'damm: Jahre des Aufbaus E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Wirtschaftswunder, Kaufrausch, Träume in Pastell - drei Schwestern und ein Kaufhaus am Ku'damm. Der Auftakt der großen 50er-Jahre-Trilogie von Bestseller-Autorin Brigitte Riebe. Berlin im Mai 1945: Es ist die Stunde Null, die Stadt liegt ebenso in Trümmern wie die Seelen der Menschen. Auch das Kaufhaus Thalheim am Ku'damm ist zerstört. Fassungslos stehen die drei Schwestern Rike, Silvie und Florentine vor der Ruine des einst so stolzen Familienunternehmens. Doch Rike, die Älteste, hat einen Traum: Sie will das Kaufhaus wieder aufbauen und mit raffinierten Stoffen und neuesten Modekreationen Farbe in das triste Nachkriegsberlin bringen. Nach der Währungsreform scheint es tatsächlich aufwärts zu gehen, die Menschen hungern nach Konsum und schönen Dingen. Doch die neuen Zeiten bringen neue Probleme. Als ein dunkles Geheimnis zutage tritt, das ein unrühmliches Licht auf das Kaufhaus und seine Geschichte wirft, müssen die Schwestern erkennen, dass die Vergangenheit noch immer lebendig ist…

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Seitenzahl: 524

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Brigitte Riebe

Die Schwestern vom Ku’damm

Jahre des Aufbaus

Roman

Über dieses Buch

Wirtschaftswunder, Kaufrausch, Träume in Pastell

 

Berlin im Mai 1945: Es ist die Stunde null, die Stadt liegt ebenso in Trümmern wie die Seelen der Menschen. Auch das Kaufhaus Thalheim am Ku’damm ist zerstört. Fassungslos stehen die drei Schwestern Rike, Silvie und Florentine vor der Ruine des einst so stolzen Familienunternehmens. Doch Rike, die Älteste, hat einen Plan: Sie will das Kaufhaus wiederaufbauen und mit raffinierten Stoffen und neuesten Modekreationen Farbe in das triste Nachkriegsberlin bringen. Nach der Währungsreform scheint es tatsächlich aufwärtszugehen, die Menschen hungern nach Konsum und schönen Dingen. Doch die neuen Zeiten bringen neue Probleme. Als ein dunkles Geheimnis zutage tritt, das ein unrühmliches Licht auf das Kaufhaus und seine Geschichte wirft, müssen die Schwestern erkennen, dass die Vergangenheit noch immer lebendig ist …

 

Teil 1 der großen 50er-Jahre-Trilogie von Bestsellerautorin Brigitte Riebe.

Vita

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte wieder lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

Für Reinhard – danke für alles

Sei klug und halte dich an Wunder.

Mascha Kaléko

Prolog

Berlin, Juni 1932

Das Schönste, was sie jemals gesehen hat!

Überwältigt greift Rike nach der Hand ihres Vaters. Ganz kurz geniert sie sich dafür, weil sie doch seine Große ist und schon lange kein Baby mehr wie ihre jüngeren Geschwister. Aber die Zwillinge jagen sich längst übermütig auf den Rolltreppen, Oskar wie immer vorneweg, Silvie ihm hinterher. Als Mama ihn ermahnt, denkt er nicht daran, zu gehorchen. Wozu ist er schließlich der Kronprinz der Familie? Für Papa steht fest, dass natürlich er einmal sein Nachfolger wird. Deshalb nimmt Oskar sich schon jetzt mehr raus als seine beiden Schwestern zusammen. Sogar im Auto hat er Rabatz gemacht, als Papa verlangte, die ganze Familie solle während der Fahrt zum Ku’damm schwarze Augenbinden tragen – um die Überraschung noch größer zu machen.

Nun steht Rike im Foyer, legt den Kopf in den Nacken und blickt nach oben, aber sie erkennt das Kaufhaus Thalheim & Weisgerber kaum wieder, so sehr hat es sich verändert. Hier, vom Erdgeschoss aus, kommt es ihr viel luftiger und auch größer vor, dabei hat es nach wie vor drei Stockwerke.

Aber dieses riesige neue Glasdach, durch das der blauweiße Sommerhimmel grüßt!

Lichter, so hell, dass es sie fast blendet.

Farben, nichts als Farben.

Ein Marmorbrunnen im Parterre, der gleich neben ihr bunt erleuchtete Fontänen sprüht.

Die neuen Rolltreppen, die lautlos nach oben oder unten gleiten und mühsames Steigen ersetzen.

Geräumige Probierkabinen mit weißen Vorhängen.

Dezente Duftbrisen, die im Intervall durch die Belüftungsanlagen strömen.

Verführung zum Kaufrausch – allerdings nur für jene, die es sich auch leisten können.

Überall Stangen mit Kleidern, Mänteln, Hosen, Blusen, Jacken, dahinter zahllose Regale und davor einladende Verkaufstische, auf denen sich Hemden, Strümpfe, Handschuhe und Gürtel stapeln, alles eben, was die moderne Dame und der moderne Herr zum Leben brauchen. Dazwischen elegant drapierte Schaufensterpuppen, so lebensecht, als würden sie im nächsten Moment zu laufen oder zu sprechen beginnen. Rike berührt die feinen Stoffe verstohlen im Vorbeigehen und spürt dabei Leinen, Wolle und Seide. Sie liebt alles, was gewebt, gewirkt oder gesponnen ist, interessiert sich für Schnitte und Kleidergrößen, Kragenformen und Ärmelvarianten, viel mehr als für die Gebirgszüge Europas oder diese endlosen englischen Vokabeln, die ihr nun schon im zweiten Jahr auf dem Westendgymnasium eingetrichtert werden. Mathe dagegen und überhaupt alles, was mit Zahlen zu tun hat, liegt ihr, auch wenn so mancher vielleicht den Kopf darüber schüttelt, weil sie doch ein Mädchen ist.

«Ein Zauberreich», murmelt sie und lässt ihren verzückten Blick über all die ausgestellten Schätze gleiten, während die 13-köpfige Gruppe mit der Rolltreppe in den ersten Stock fährt. «Und du, Papa, du bist hier der Magier!»

«Es gefällt dir?», hört sie ihn sagen.

Rike nickt begeistert, merkt dann aber plötzlich, dass sie gar nicht gemeint war. Mama ist es, der Papas besorgte Frage gilt, ihre wunderschöne Mutter mit den schwarzen Haaren und den gewitterblauen Augen, für die die neue Mode mit der betonten Schulterpartie, den wadenlangen Röcken und der enggegürteten Taille wie gemacht ist. Heute trägt Alma Thalheim ein blaues Seidenkleid mit cremeweißen Tupfen nebst passendem Bolero, das sie geradezu königlich aussehen lässt. Aber selbst schlicht in Rock und Twinset gekleidet, gelingt es ihr spielend, andere Frauen zum Verblassen zu bringen.

Rike liebt ihre Mutter so sehr, dass es manchmal fast weh tut, auch wenn sie ihr seit der Geburt der Zwillinge nicht mehr allein gehört. Bevor Mamas Bauch so dick geworden ist, dass sie schon Angst bekam, er würde platzen, waren sie beide eine Einheit, die nichts und niemand auseinanderbringen konnte.

Mama-Rike.

Rike-Mama.

Doch mit den beiden Schreihälsen, die gut drei Jahre nach ihr zur Welt kamen, war diese Idylle schlagartig vorbei. Mama ist nun immer müde und wirkt bedrückt, muss sich oft ausruhen und hat plötzlich kaum noch Zeit für ihre Älteste. Erst hat Rike viel geweint, irgendwann hat sie jedoch beschlossen, das Beste daraus zu machen, weil es sich ja doch nicht ändern lässt. Inzwischen hat sie gelernt, nach außen hin tapfer zu sein, aber so richtig leicht fällt es ihr noch immer nicht, ihre Mama mit den Zwillingen zu teilen.

«Und das ist wirklich euer Ernst, Fritz?» Mamas rauchige Stimme klingt eher gereizt als freudig, während sie die Auslage im ersten Stock inspiziert. «Dieser ganze sündteure Pomp? Ausgerechnet jetzt, wo noch immer so viele Menschen keine Arbeit haben.»

«Ich muss meiner ebenso klugen wie charmanten Schwägerin recht geben», schaltet sich nun Onkel Carl ein, und heute klingt er gar nicht so locker wie sonst. «Ihr solltet vorsichtiger sein, Fritz. Die Nationalsozialisten mögen keine Konsumtempel, die den arischen Einzelhandel bedrohen. Erst recht nicht, wenn sie auch noch zur Hälfte in jüdischer Hand sind. Das könnte äußerst unangenehme Konsequenzen haben. Und glaube mir, leider weiß ich sehr genau, wovon ich rede.»

Selten genug, dass Papas jüngerer Bruder sich überhaupt ins Kaufhaus bequemt. Mode und Menschenmassen sind ihm gleichermaßen zuwider. Heute aber hat er sogar seine Frau Lydia mitgebracht sowie seine Söhne Gregor und Paul. Carls sandfarbenes Haar ist zerzaust, als hätte ihm die Lust zum Kämmen gefehlt, nicht gerade das, was man von einem seriösen Staatsanwalt erwartet. Außerdem raucht er zu viel und soll darüber hinaus ein Faible fürs Nachtleben haben, auch wenn Rike nur erahnen kann, was damit gemeint sein könnte.

Sogar Oma Frida, die sonst alles gut findet, was ihr Ältester sich ausdenkt, zieht ein bedenkliches Gesicht. Unsicherheit und zu große finanzielle Wagnisse hasst sie noch mehr als Streitigkeiten zwischen ihren beiden Söhnen. Alle in der Familie wissen, wie sehr sie noch immer um ihren Mann trauert: Wilhelm Albert Thalheim, der mit seinem imposanten Geschäft für Knöpfe und Galanteriewaren nahe dem Potsdamer Platz den Grundstock für Wohlstand und Aufstieg der Familie gelegt hat, verstorben kurz vor der Geburt der Zwillinge.

«Markus ist getauft», erwidert Papa mit fester Stimme, und sein Gesicht rötet sich, ein untrügliches Zeichen, dass er sich zu ärgern beginnt. Das blütenweiße Hemd mit der blauen Krawatte scheint plötzlich zu eng, so nervös zupft er am Kragen herum. «Und damit so protestantisch wie du und ich. Es ist der ideale Zeitpunkt, Carl! Die Leute fassen endlich neuen Mut, und nichts anderes tun wir auch. Außerdem werden sich die Nazis auf Dauer nicht halten können. Und falls du jetzt wieder mit all den Landtagen ankommst, in denen sie inzwischen schon sitzen – für mich zählt einzig und allein die anstehende Reichstagswahl. Und da werden sie grandios scheitern!»

«Und wenn nicht?», fragt Mama. Sie schaut dabei nicht Papa an, sondern seinen Compagnon, den die Kinder der Familie ebenfalls «Onkel» nennen, obwohl er gar nicht ihr richtiger Onkel ist. Bislang hat Markus Weisgerber kein Wort gesagt, sondern nur die ganze Zeit vielsagend in sich hineingelächelt. Mama erwidert sein Lächeln nicht. «Wäre es nicht klüger gewesen, erst einmal abzuwarten, wie die politische Lage sich weiterentwickelt, bevor man solch immense Investitionen riskiert?» Ihre schlanke Hand mit dem Schlangenring am kleinen Finger, den sie niemals ablegt, flattert durch die Luft und sinkt dann zurück auf ihren flachen Bauch.

Wortlos starrt Markus Weisgerber zurück, und für einen Augenblick scheint die Luft zwischen den beiden zu brennen. Seit einiger Zeit reagiert Mama fast immer angespannt, sobald er in ihre Nähe kommt. Früher haben sie viel zusammen gelacht, doch wenn sie sich jetzt begegnen, fühlt es sich an wie kurz vor einer Explosion.

«So oder so habt ihr jetzt Schulden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Denn die alten Verbindlichkeiten sind doch auch noch längst nicht abgestottert, wie jeder sich ausrechnen kann, der das Einmaleins beherrscht.» Tante Lydia schnappt nach Luft, und ihr himmelblauer Hut mit den altmodischen Schleifen wippt dabei empört auf und ab. «Immer ganz hoch hinaus – ja, das passt zu euch beiden Hasardeuren! Was ich allerdings nicht Mut nennen würde, sondern eher grenzenlose Unvernunft. Denn das alles hier» – ihr molliger Arm, in pastelligem Tweed verpackt, beschreibt einen weiten Kreis – «lässt sich doch in einem einzigen Leben nicht zurückverdienen, selbst wenn alle Kassen von früh bis spät klingeln. Und mehr als einmal reich heiraten gelingt vermutlich nicht einmal dir, lieber Fritz!»

«Wenn euer Abenteuer schiefgeht, dann ist mein großzügiger Vater also auf einen Schlag seine schöne Schuhfabrik los.» Mamas kurzes Lachen klingt bitter. «Denn den habt ihr doch sicherlich zusätzlich zur Bank angepumpt, oder etwa nicht?»

Rike hasst es, wenn die Erwachsenen so miteinander reden, zynisch, ohne jedes Gefühl. Macht sofort Schluss damit, würde sie am liebsten schreien, ihr tut euch doch nur weh. Aber wer hört schon auf eine Elfeinhalbjährige?

«Dein geschätzter Vater, liebe Alma, kriegt jeden Pfennig zurück», versichert Markus, der in seinem hellgrauen Flanellanzug mit dem englischen Streifenhemd frisch und dynamisch aussieht. Neben ihm wirkt Papa in strengem Anthrazit älter, aber auch seriöser. «Und mehr als das, denn natürlich kassiert auch er die üblichen Zinsen. Das Angebot, uns für eine Weile finanziell unter die Arme zu greifen, kam übrigens von ihm. Und niemand weiß doch besser als du, welch gewiefter Geschäftsmann er ist. Mach dir also bitte keine Sorgen!»

«Wieso ist er dann heute nicht hier?», fragt Mama spitz. «Das wäre doch das Mindeste an Anstand gewesen!»

«Weil wir für ihn sowie für Herrn Direktor Hallwein und dessen Kollegen vom Vorstand der Commerzbank bereits gestern Abend eine Spezialführung durch das neue Haus veranstaltet haben», erwidert Papa. «Glaub mir, Liebling, wir wissen, wie wir mit unseren hochverehrten Investoren umzugehen haben!»

Markus lächelt noch eine Spur gewinnender. Die braunen Locken, das Kinngrübchen, die geradezu unverschämt weißen Zähne – Rike hat schon immer für ihn geschwärmt. Aber so gut wie heute hat er ihr noch nie gefallen, beinahe, als verleihe ihm der Luxus des frischrenovierten Kaufhauses ebenfalls neuen Glanz.

«Mensch, Leute, jetzt lasst doch mal all diese kleinlichen Bedenken sein», sagt er launig. «Und freut euch lieber so richtig mit uns! Mein Freund Fritz, ein Heer von Handwerkern, unser gesamtes Personal sowie meine Wenigkeit haben in den vergangenen Wochen kaum geschlafen, miserabel gegessen, dafür von früh bis spät geackert – und det allet nur, um euch heute vor Begeisterung komplett vom Hocker zu hauen! Und was is nu: Hör ich Klatschen, oder hör ich Klatschen?»

Applaus ertönt, herzlich, aber nicht überwältigend.

«Herr Weisgerber hat recht», mischt sich nun Ruth Sternberg ein, die Chefin der Maßschneiderei im dritten Stock, die, wie Papa immer behauptet, goldene Hände hat. Als einzige der Angestellten hat er sie heute mit zu dieser Zusammenkunft gebeten, was bedeutet, dass sie für ihn quasi zur Familie gehört. Sie hat ihre kleine Tochter Miri mitgebracht, die schüchtern neben der temperamentvollen dunkelhaarigen Mutter steht. «Natürlich sind wir kein Karstadt und erst recht kein KadeWe, aber das streben wir ja auch gar nicht an. Bei uns geht es um Mode, Mode und noch einmal Mode: mit Schick und Pfiff, erschwinglich für ein gutbürgerliches Publikum. Wir sind und bleiben Thalheim & Weisgerber, das Familienkaufhaus am Ku’damm mit Geschmack und Herz!»

Zwei junge Mädchen mit weißen Schürzen und Häubchen schieben im Foyer, in das sie alle zurückgekehrt sind, Servierwägelchen mit Sektkühlern, Gläsern, Tellern und Silberplatten voll belegter Häppchen herein. Die Erwachsenen prosten sich zu, und Mama entzieht sich Papas überschwänglicher Umarmung viel zu schnell. Die Kinder dürfen mit Waldmeisterbrause anstoßen und so viel von den liebevoll garnierten Fleischsalat-, Schinken- und Käseschnittchen nehmen, wie sie wollen. Und erst diese Süßigkeiten! Baumkuchen, Windbeutel, Obsttörtchen, Käsesahne und sogar Malakofftorte – es ist fast wie im Paradies. Vor allem Gregor und Paul, die zu Hause mit Leckereien knappgehalten werden, greifen zu, als hätten sie seit Tagen gehungert.

Rike ist immer noch so erfüllt von all dem Schauen und Staunen, dass sie kaum etwas hinunterbringt. Aber sie will als Älteste der Kinderschar keinesfalls eine Spielverderberin sein, also stochert sie zumindest mit der silbernen Kuchengabel in ihrem Windbeutel herum.

«Du hast aber ein schönes Kleid an», sagt Miri leise, die die Größere schon lange sehnsüchtig beäugt hat und endlich den Mut findet, sie anzusprechen. «Bestimmt doch von deiner Mama, oder?» Sie hält sich ein bisschen schief, weil sie immer Probleme mit dem Rücken hat. Als Kleine musste sie monatelang in einem Gipsbett liegen, damit die Wirbel fester wurden und sie überhaupt richtig gehen konnte. Deshalb darf sie auch nicht herumtoben wie andere Kinder, sondern muss immer vorsichtig sein. «Ich kann auch schon ganz gut nähen. Meine Mama hat mir alles gezeigt.»

Rike nickt, weil sie nicht undankbar erscheinen will, aber sie fühlt sich gar nicht wohl in diesem lauten roten Samt. Außerdem zwickt ihr Kleid unter den Achseln, und über der Brust spannt es auch. Schuld daran sind diese harten juckenden Hügelchen, die ihr seit neustem plötzlich wachsen. Misstrauisch beäugt Rike sie morgens im Badezimmer, und manchmal kneift sie die Augen zu und hofft, sie würden einfach wieder verschwinden. Ja, sie will natürlich erwachsen werden und auch einen Busen haben wie richtige Frauen, aber doch noch nicht jetzt.

Die Zwillinge tragen Marineblau, Oskar einen teuren Bleyle-Matrosenanzug mit knielangen Hosen und weiß abgesetztem Kragen, Silvie das passende Kleidchen. Mama liebt es, sie gleich anzuziehen, was die beiden früher widerspruchslos geschehen ließen, seit einer Weile jedoch protestieren sie dagegen.

«Ich will aber nicht aussehen wie dieser Schmutzfink!», mault Silvie jetzt immer, wenn es ans Anziehen geht, weil Oskar jedes Kleidungsstück früher oder später ruiniert. Auch heute hat sein Anzug schon wieder Flecken und einen langen Riss im rechten Hosenbein. Um sich von ihm abzusetzen, hat Silvie darauf bestanden, sich die Haare wachsen zu lassen, während sie als Kleinkinder mit ihren akkuraten Bubiköpfen kaum auseinanderzuhalten waren. Zu so schönen dicken Affenschaukeln, wie Rike sie voller Stolz trägt, reicht es zwar noch lange nicht, aber Silvie ist auch so eine Augenweide, blond, heiter und geschmeidig, ganz anders als ihre dunkelhaarige, ein wenig staksige ältere Schwester, die oft so ernst und verschlossen wirkt.

«Und ich erst recht nicht wie ein Mädchen!» Das Maximum an Abscheu, das Oskar in seine Stimme zu legen vermag. Dabei liebt er Silvie abgöttisch und schleicht sich an vier von fünf Nächten in ihr Bett, um bloß nicht allein schlafen zu müssen, was sie ebenso genießt wie er.

Auch wenn sie sich manchmal streiten, dass die Fetzen fliegen: Diese beiden haben nicht nur die blitzeblauen Thalheimaugen von Papa geerbt, sie verbindet auch etwas, das die restliche Welt ausschließt, das hat Rike schon beim ersten Blick in den Doppelstubenwagen feststellen müssen. Sobald Silvie krähte, begann auch Oskar zu schreien und umgekehrt, und natürlich bekamen sie alle Kinderkrankheiten ebenfalls zur selben Zeit. Gegen diese Symbiose kommt sie nicht an, was immer sie auch versucht. Trotzdem fühlt Rike sich für alles verantwortlich, was die beiden anstellen, und manchmal konnte sie das Schlimmste tatsächlich verhindern. Aber dazu muss sie verdammt aufmerksam sein, also schaut sie jetzt immer wieder zur linken Rolltreppe, auf der Oskar schon eine Weile seine Possen reißt.

Übermütig tänzelt er zuerst nur auf einem Bein, was ihm offensichtlich aber bald zu langweilig wird, da der erhoffte Applaus der Erwachsenen ausbleibt. So verfällt er auf die absurde Idee, ausgerechnet hier den Salto auszuprobieren, den er schon seit Wochen überall hingebungsvoll übt. Der Absprung gelingt ihm noch einigermaßen, dann aber kann er offenbar die Geschwindigkeit der rollenden Stufen nicht richtig einschätzen. Er landet schräg, rutscht aus, fällt hin und knallt dabei mit dem Gesicht auf. Seine feinen blonden Haare verfangen sich in den geriffelten Stufen. Immer tiefer wird er hineingezogen, kann aus eigener Kraft nicht mehr hoch – und beginnt gellend zu schreien.

Mama kreischt entsetzt auf.

Rike verstummt vor Schreck.

Silvie brüllt los, als sei sie selbst schwer verletzt.

Papa rennt zur Rolltreppe und stoppt die Fahrt. Oskars Haare müssen an einigen Stellen mit Hilfe von Ruth Sternbergs großer Stoffschere bis auf die Kopfhaut abgesäbelt werden, um ihn überhaupt freizubekommen. Dabei wimmert er leise vor sich hin und sieht schließlich aus wie ein mageres, zerrupftes Vögelchen, das aus dem Nest gestürzt ist.

Quer auf seiner Stirn klafft ein breiter blutender Riss.

Onkel Carl bringt ihn mit Papas Auto in die Charité, damit er dort fachkundig versorgt werden kann.

Tief besorgt bleiben die anderen im Kaufhaus zurück.

Mama und Papa sitzen auf einmal ganz nah beieinander wie schon lange nicht mehr. Rike fühlt sich schuldig, weil sie nicht gut genug aufgepasst hat. Silvie weint, will sich von keinem trösten lassen. Der Zauber der festlichen Einweihung ist jäh verflogen. Keiner hat mehr Lust, zu trinken oder gar zu essen.

Es gibt nur noch ein einziges Thema: Oskar und seine gefährlichen Eskapaden – bis er zwei Stunden später am Arm von Onkel Carl wieder zu ihnen zurückkehrt. Die Stirnwunde ist mit vielen Stichen genäht, der wüste Stachelkopf noch immer blutverkrustet, sein Lächeln aber wieder schon so strahlend wie das eines Siegers …

1

Berlin, Mai 1945

Kein Laut drang von draußen in ihr Kellerversteck, kein Pfeifen der Stalinorgeln, kein Flugzeugdröhnen, kein abgehacktes Flakgeschütz oder dumpfes Panzerdröhnen. Es war dämmrig in dem niedrigen Raum, stickig, weil das kleine Fenster die ganze Nacht geschlossen gewesen war, und sehr still. Rikes müder Blick glitt über die kleine Gruppe Schutzsuchender, die hier auf dem harten Boden lag, ausgehungert seit Wochen, erschöpft und verdreckt, weil nur noch die Pumpe ein paar Straßen weiter Wasser spendete, das zu kostbar zum Waschen war. Sie war die Einzige, die nicht schlief, weil sie die letzte Nachtwache übernommen hatte.

Von ihrem Vater schon seit Tagen keine Spur.

Als letztes Aufgebot des Volkssturms war der fünfundfünfzigjährige Friedrich Thalheim mit einem Gewehr und einer Kiste Panzerfäuste ausgerüstet worden und anschließend mit ein paar weiteren älteren Männern sowie einer Gruppe Hitlerjungen zur Verteidigung der Spandauer Brücke losgezogen. Doch die Brücke war inzwischen längst in russischer Hand, so wie ganz Berlin.

Deutschland hatte kapituliert. Hitler war tot und der mörderische Krieg endlich zu Ende.

Warum also kam der Vater nicht nach Hause? Hatten die Russen ihn gefangen genommen?

War er tot?

Ein für Rike unerträglicher Gedanke, wo sie doch schon nichts von Oskar gehört hatten. Opa Schubert, der Vater ihrer Mutter, lebte in der Schweiz, seit Jahren so gut wie ohne Kontakt zur Familie. Oma Frida, die Großmutter väterlicherseits, inzwischen schwer vergesslich, hatte 1943 ihre gemütliche Wohnung in der Bleibtreustraße verlassen müssen, weil sie allein nicht mehr zurechtkam, und war zu Tante Lydia nach Potsdam in die Französische Straße gezogen. Ausgerechnet in jenen Bezirk der alten Garnisonstadt also, den es beim britischen Bombenangriff vor gut zwei Wochen am schwersten getroffen hatte.

Hatten die beiden die Katastrophe überlebt?

Und war das Stofflager aus ihren letzten Vorräten, das Rike und ihr Vater unter größten Mühen in der Nauener Vorstadt unter dem Dach einer ehemaligen Weberei eingerichtet hatten, ebenfalls ein Raub der Flammen geworden? So vieles hing für sie davon ab, die ganze Zukunft – und sie durfte mit niemandem darüber sprechen.

Es herrschte absolute Funkstille.

Kein Wunder, waren doch die meisten Telefonverbindungen unterbrochen; es verkehrten weder Züge noch S-Bahnen, und sogar der Schiffsverkehr zwischen Berlin und Potsdam war eingestellt worden. Auch von Onkel Carl gab es nichts Neues. Schon vor Jahren hatte der aus Gewissensgründen sein Amt als Staatsanwalt niedergelegt, um zunächst als Nachtwächter im Potsdamer Hotel «Zum Einsiedler» zu arbeiten und später in ebendieser Funktion bei der UFA in Babelsberg. Die Beinverletzung von 1917 hatte ihn vor einer erneuten Rekrutierung verschont. Seine Söhne Gregor und Paul jedoch hatten zuletzt an der Ardennenfront gekämpft und befanden sich, sofern noch am Leben, mit Sicherheit irgendwo im Westen in alliierter Kriegsgefangenschaft.

Würden die beiden nach Hause zurückkehren?

Niemand war derzeit in der Lage, diese Frage zu beantworten.

Kein Thalheim-Mann weit und breit. Claire, die zweite Ehefrau ihres Vaters, kam als Familienvorstand nicht in Frage. Sie war zu sehr mit ihrem Kummer um Friedrich beschäftigt. Anfangs hatte Rike die rotblonde Halbfranzösin mit größter Skepsis betrachtet, erst recht, als diese nicht nur nach wenigen Wochen einen goldenen Ring am Finger trug, sondern auch noch im Handumdrehen schwanger geworden war. Doch im Lauf der Jahre war Claire ihr mit ihrer freundlichen, leicht überdrehten Liebenswürdigkeit ans Herz gewachsen. Ein Mutterersatz konnte sie für Rike natürlich niemals sein. Florentine, die inzwischen zwölfjährige Tochter, die sie Friedrich knapp neun Monate nach der Hochzeit geschenkt hatte, vergötterte dagegen ihre maman, während Rike in Claire eine Vertraute, in guten Tagen sogar eine Art Freundin sah. Ab und zu haderte sie jedoch bis heute mit dieser in ihren Augen übereilt geschlossenen Ehe.

Wie hatte Friedrich seine Alma, ihre heißgeliebte Mutter, so schnell durch eine andere Frau ersetzen können?

Für Rike fühlte sich deren Tod noch immer an wie eine Wunde, die sich vielleicht niemals schließen würde. Jener rabenschwarze Tag vor dreizehn Jahren hatte ihre Kindheit jäh beendet. Die Mutter blutüberströmt zwischen hupenden Autos mitten auf dem Ku’damm liegend, war ein Schreckensbild, das ihr bis heute Albträume bereitete. Es hatte Rike allergrößte Überwindung gekostet, überhaupt wieder in einen Wagen zu steigen, und sie war erleichtert gewesen, als schließlich die meisten Automobile für die Kriegswirtschaft beschlagnahmt wurden.

Und nun womöglich auch noch der Vater, jener ehrgeizige Mann mit den großen Plänen, der das Unternehmen geschickt durch schwierigste Zeiten geführt hatte – bis zu jener Schreckensnacht im November 1943, als die britischen Bomben, die die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum Einsturz brachten, auch ihr nahe gelegenes Kaufhaus am Ku’damm zerstört hatten.

Er war stets ihr Vorbild gewesen, ihr Halt, ihr Ein und Alles, erst recht seit dem Tod der Mutter. Um ihm nachzueifern, hatte sie sich nach dem Abitur an der Friedrich-Wilhelms-Universität für Betriebswirtschaft eingeschrieben. Garantiert hätte sie längst einen Abschluss in der Tasche – wäre nicht dieser verdammte Krieg dazwischengekommen, der die Seelen der Menschen ebenso zerstört hatte wie die Straßen und Häuser von Berlin.

Ihrem Vater durfte einfach nichts Schlimmes passiert sein!

Rike wünschte sich in diesem Moment, sie hätte darum beten können, doch die Schrecknisse der letzten Jahre hatten jedes religiöse Gefühl in ihr ausgelöscht.

Rike betrachtete die schlafende Flori, ausnahmsweise mal nicht mit einem Bleistift in der Hand, obwohl sie garantiert sofort wieder loszeichnen würde, sobald ihre Augen offen waren. Neben ihr und Claire hatte sich Eva Brusig mit ihren fünfjährigen Töchtern zusammengerollt, geflohen aus dem brennenden Dresden. Es war eine Zufallsbekanntschaft an der Wasserpumpe gewesen, doch Silvie hatte sofort dafür plädiert, die Flüchtlingsfamilie aufzunehmen, weil Grete und Hanni Zwillinge waren. Allerdings hatten sie unterwegs alle Papiere verloren und konnten somit nicht offiziell als im Haushalt lebende Personen registriert werden. Was zur Folge hatte, dass ihnen auch keinerlei Lebensmittelmarken zustanden. Die Thalheims mussten somit drei zusätzliche Esser mit durchfüttern.

«Und wenn schon? Wir tun es doch für Oskar!», hatte Silvie mit feuchten Augen gesagt, als Rike einen Einwand gewagt hatte, weil sie selbst doch so wenig hatten. «Vielleicht findet sich ja eine mitleidige Seele, die sich seiner annimmt, wo immer er gerade auch sein mag. Außerdem hör ich die Kleinen so gern reden. Klingt doch fast wie Vogelgezwitscher.»

Silvie – mit ihrem naiv-unerschütterlichen Glauben an das Gute! Nicht einmal die stark gedrosselte Kalorienzufuhr hatte ihrer Schönheit etwas anhaben können. Rike selbst bestand fast nur noch aus Haut und Knochen wie die meisten anderen ringsumher, und ihre dunklen Augen wirkten in dem ausgezehrten Gesicht übergroß. Dass es hier unten keinen Spiegel gab, bedauerte einzig und allein Silvie. Natürlich war auch ihre Schwester dünner als früher, aber sie hatte noch immer den prachtvollen Busen, der die Männerblicke auf sich zog, und die langen, perfekt geformten Beine, die jetzt allerdings ein ölverschmierter Monteuranzug verbarg. Es war Claires Idee gewesen, die Mädchen und sich selbst so auszustaffieren, der Versuch einer Schutzmaßnahme gegen den Hass und die unersättliche Gier der Roten Armee, die angeblich allem Weiblichen auf deutschem Boden drohten.

Ob das allerdings wirklich helfen würde?

Flori, die jüngste der drei Schwestern, schien den Ernst der Lage noch nicht so recht zu begreifen. Der abgewetzte Blaumann schlackerte um ihre zarten Gliedmaßen, und obwohl sie schon annähernd so groß war wie ihre grazile Mutter, wirkte sie darin ein wenig verloren. Doch die letzten Monate hatten auch sie verändert. Sie war nicht mehr das schüchterne Kind, das in seinen Traumwelten lebte, das bewiesen die Zeichnungen, die sie auf jeder nur denkbaren Unterlage hinterließ. Anstelle von Tierskizzen oder liebevoll kolorierten Märchenfiguren zeigten sie nun mit wenigen Strichen hingeworfene Gestalten, die Säcke schleppten, Bollerwagen zogen oder geduckt hinter eingestürzten Mauern kauerten.

Rike war froh, dass Flori irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen war. So konnte die Kleine wenigstens nicht ständig um Essen betteln und alle mit ihrer endlosen Fragerei nerven, ob die Russen auch Kindern weh tun würden.

Waren die Soldaten der Roten Armee nicht eigentlich als Befreier nach Berlin gekommen? Aber warum machten dann solch schreckliche Nachrichten über ihr Wüten in der besiegten Stadt die Runde? War das ihre Rache für Untaten, die die Wehrmacht im Osten begangen hatte, obwohl doch jede Wochenschau die deutschen Soldaten als strahlende Helden präsentiert hatte, die tapfer und ehrenvoll für ihr Vaterland kämpften?

Rike hatte auch hierauf keine Antwort.

Bei Licht betrachtet, wusste sie eigentlich so gut wie gar nichts mehr: fünfundzwanzig Jahre, Halbwaise, ledig und kinderlos, ohne Berufsausbildung oder akademischen Abschluss und vor allem bar aller Illusionen, so lautete ihr nicht gerade ermutigendes persönliches Fazit. Ihre einstige Welt lag begraben unter Tonnen von Schutt – und mit ihr so ziemlich alles, woran sie einmal geglaubt hatte. Anfangs hatte die allgemeine Woge der Begeisterung für Hitler auch sie erfasst, doch es war nur ein Strohfeuer gewesen, das rasch wieder erlosch. Sehr bald schon war es Rike verleidet gewesen, sich als Teil dieser begeisterungsfähigen, dem Führer blindergebenen Jugend zu fühlen, in die die Nationalsozialisten so große Hoffnungen setzten. Dafür hatte vor allem Onkel Carl gesorgt, der jüngere Bruder ihres Vaters, der nicht müde wurde, seiner Nichte in langen Gesprächen die richtigen Fragen zu stellen. Später dann mehrte Walter Groop Rikes Bedenken, jener sensible junge Soldat aus Köln, den sie eigentlich heiraten wollte – bis die jüngere Schwester ihn ihr ausgespannt hatte, denn das war die andere Seite der scheinbar unschuldigen Silvie.

Gerade verlagerte diese im Schlaf ihre Position. Dabei verrutschte der alte Schal, den Silvie sich um den Kopf geschlungen hatte, und gab ein paar Strähnen frei, alles andere als duftig, doch definitiv noch immer sehr blond. Rikes Gefühle ihr gegenüber waren nach wie vor zwiespältig. Inzwischen gelang es ihr wieder, die geliebte kleine Schwester von früher in ihr zu sehen, doch ein falsches Wort oder ein zu kecker Blick genügte, um die alten Wunden wieder aufzureißen.

Obwohl Walter nicht wiederkommen würde.

Zur Jahreswende 42/43 war er in Stalingrad gefallen. Seitdem galt auch ihr Bruder als vermisst. Nach über zwei Jahren noch immer keine Nachricht von Oskar – damit war er für Rike tot, und sie zwang sich, dieses eigentlich Undenkbare wieder und wieder zu denken, in der Hoffnung, sich endlich daran zu gewöhnen.

Silvie freilich behauptete steif und fest das Gegenteil.

«Ich würde doch spüren, wenn er nicht mehr am Leben wäre», fuhr sie jedes Mal wütend auf. «Zwillinge können das. Aber ich spüre nichts. Rien de rien. Die Russen haben Oskar gefangen genommen. Abertausende deutsche Soldaten sitzen in deren Lagern und müssen in sibirischen Bergwerken oder Steinbrüchen unter erbärmlichen Bedingungen schuften. Unser Bruder ist einer von ihnen.»

«Und warum hören wir dann nichts von ihm? Kein Brief – nicht einmal ein paar lumpige Zeilen!»

«Weil sie ihn doch nicht lassen, du Mondschaf! Aber Oskar wird uns schreiben. Bestimmt schon ganz bald. Du weißt doch, wie gewitzt er ist! Und irgendwann kommt er wieder frei. Dann kehrt er zu uns zurück. Das weiß ich ganz genau …»

Es machte Rike ganz krank, sie so reden zu hören. Denn jedes Mal glomm dann doch wieder ein winziger Hoffnungsschimmer in ihr auf, der die Sehnsucht nach dem verschollenen Bruder noch quälender machte. Wie unbekümmert und draufgängerisch war Oskar von jeher gewesen, ein Sonnenschein, der alle zum Lachen bringen konnte! Keiner war in der Lage, ihm etwas übelzunehmen, so waghalsig seine Streiche und Kapriolen auch immer ausfallen mochten. Er war verrückt nach Geschwindigkeit und hatte schon in Kindertagen zahlreiche Unfälle gebaut, mit und auf allem, was Räder hatte. Seine Sucht nach Abenteuern wuchs, je älter er wurde. Natürlich hatte er das Notabitur nur mit Ach und Krach bestanden, von ihm lachend als Lappalie abgetan. Was bedeuteten schon Noten, wo er doch als Pilot oder zumindest Rennfahrer eine strahlende Karriere vor sich hatte? Den väterlichen Plan, als Nachfolger das Kaufhaus in der nächsten Generation weiterzuführen, nahm er achselzuckend hin.

Irgendwann einmal. Warum auch nicht?

Aber erst, wenn er ausgiebig gelebt hätte.

Sich Oskar als Soldat vorzustellen war Rike nie wirklich gelungen, und es war ihr selbst dann noch schwergefallen, als er während eines kurzen Heimaturlaubs leibhaftig in der grauen Uniform vor ihr gestanden hatte. Ihr Vater schien Schlimmes zu befürchten, denn als sein Sohn in den Krieg zog, hatte er ihm als Talisman den Ehering der toten Mutter mitgegeben, den Oskar seitdem an einer stabilen Schnur um den Hals trug. Er musste versprechen, ihn wieder zurückzubringen, jedem einzelnen von ihnen, doch Rike hatte gespürt, wie wenig er selbst davon überzeugt war.

«Wie geht es dir?», hatte sie gefragt. «Die Wahrheit, bitte! Mir ist klar, dass es an der Front ganz anders zugeht, als es die Propaganda uns vorgaukelt. Ist es auszuhalten?»

«Frag lieber nicht, Schwesterherz!» Der Versuch eines Lächelns, das sofort wieder erlosch. Plötzlich hatte Oskar das Gesicht eines Greises, und die alte Narbe auf seiner Stirn schien zu glühen.

«Aber ich muss es wissen!», hatte sie beharrt. «Nun sag schon.»

«Hängst du noch immer so an deinem verehrten Dante?»

Rike nickte.

Die Verse des berühmten italienischen Dichters gehörten zu ihrer Lieblingsliteratur. Vor dem Krieg hatte sie bei einer älteren Dame aus Perugia, die nur ein paar Straßen weiter lebte, Italienischstunden genommen und träumte seitdem davon, sein schönes Land ausführlich zu erkunden. Rom, Venedig, Florenz, Mailand, diese Namen waren wie kostbare Perlen, die Rike im Halbschlaf durch ihre Hände gleiten ließ. Vielleicht würde das Reisen später möglich sein, wenn die dunkle Zeit endlich vorbei war. Sie selbst sehnte sich nur noch nach Frieden. Alle, die das Denken noch nicht ganz verlernt hatten, taten das, auch wenn es lebensgefährlich war, so etwas laut zu äußern.

«Dann stell es dir ungefähr so vor wie die unterste Stufe seines Infernos, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nein, es ist sogar noch schlimmer! Dieses Abschlachten konfrontiert dich mit dem Übelsten in dir. Und wer blickt schon gern klaftertief in den eigenen seelischen Morast?»

Als Silvie sich im Schlaf bewegte, wurde Rike aus ihren Gedanken gerissen. Was würde sie darum geben, könnte er jetzt bei ihnen sein: einfallsreich, unerschrocken, stets zu einem Scherz aufgelegt! Doch Oskar war schon seit langem unerreichbar, und so war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich selbst der Verantwortung zu stellen.

Sie mussten essen, um zu überleben, und Rike hatte den schmierigen Wurstersatz und das ungenießbare Eichelmehlbrot, an dem man sich die Zähne ausbiss, ebenso über wie die anderen im Keller. Was es noch auf Lebensmittelkarten gab, war nicht nur viel zu wenig, sondern oft dazu kaum genießbar, gepanschtes, wertloses Zeug, das den Magen nur für kurze Zeit besänftigte. Kaum Fett oder Fleisch, bestenfalls Eipulver, Graupen statt Mehl, Kunsthonig anstelle von Zucker. Gemüse war zur raren Delikatesse geworden. Sogar den Muckefuck, der den Bohnenkaffee längst abgelöst hatte, gab es nur noch streng rationiert. Hätten sie nicht noch auf ein Restchen Eingemachtes aus besseren Zeiten zurückgreifen können, es wäre noch übler gewesen. Draußen im Garten hatten sie aus zusammengeklaubten Ziegelsteinen eine Notherdstelle errichtet, mit Holz heizbar, auf der sich wenigstens Suppe kochen ließ, auch wenn es eine halbe Ewigkeit dauerte, bis die harten Graupen endlich durch waren. Es tat weh, dass die Zweige des alten Kirschbaums dafür herhalten mussten, unter dem Rike als Kind so gern gelesen hatte, nachdem sie den geliebten Apfelbaum bereits geopfert hatten. Wie Mahnmale streckten die beiden einstmals so üppigen Bäume ihre verkümmerten Äste in den blauen Frühlingshimmel. Aber Holz war in Berlin inzwischen so knapp geworden, dass man nehmen musste, was immer man kriegen konnte.

Ihr leerer Magen begann wütend zu knurren, und den anderen würde es gewiss ähnlich ergehen, sobald sie wach wurden. Könnten sie es wagen, ihr Versteck zu verlassen, ohne zu wissen, wie nah die Russen waren?

Ein Geräusch von draußen ließ Rike aufhorchen – und nicht nur sie.

Flori schlug die Augen auf und lauschte.

«Taps», sagte sie mit verklärtem Lächeln. «Rike, mein Schnuckelchen ist wieder da! Er hat bestimmt gespürt, wie oft ich ihn gezeichnet habe.»

«Das könnte irgendein Hund sein», erwiderte Rike absichtlich schroff, weil sie neue stundenlange Heulereien befürchtete, falls die Kleine sich irrte. «Dein Westie ist schon vor Wochen verschwunden. Also mach dir bitte keine sinnlosen Hoffnungen.»

Wieder ertönte Bellen, dieses Mal um einiges lauter.

«Aber das ist Taps», beharrte Flori. «Und schon viel näher, hörst du nicht?» Sie war aufgesprungen. «Wahrscheinlich sucht er uns. Weil er nämlich Angst hat, so allein da draußen. Ich muss sofort zu ihm!»

«Das wirst du schön bleiben lassen!» Rike, inzwischen ebenfalls auf den Beinen, hielt sie fest, aber Flori wehrte sich dagegen und begann zu weinen.

«Was ist denn los, ma puce?», fragte Claire schlaftrunken, die sich nicht einmal in den Kriegsjahren ihre französischen Redewendungen abgewöhnt hatte. «Und macht doch bitte keinen so schrecklichen Radau, Kinder!»

Inzwischen waren auch die anderen Frauen im Keller wach, Silvie, Eva Brusig und die Zwillinge, die sofort loszwitscherten.

«Wir bleiben alle da, wo wir sind.» Rikes Stimme zitterte leicht, so angespannt war sie. Aber sie musste auf ihre Autorität pochen. Falls jemandem aus der kleinen Truppe etwas zustieß, würde sie sich das niemals verzeihen. «Und wenn Taps zehnmal draußen kläfft!»

«Wie kannst du nur so herzlos sein?» Silvie drückte die kleine Schwester fest an sich. «Unser Zwerg hier musste doch schon genug durchmachen. Außerdem ist Taps ein Familienmitglied.» Sie zog ein schmutziges Taschentuch aus ihrer Brusttasche und wischte Floris Tränen weg. «Ich gehe nachsehen. Und sollte es tatsächlich dein kleiner Rabauke sein, dann bringe ich ihn mit, einverstanden?»

Glückliches Strahlen auf dem schmalen Kindergesicht. Jetzt, wo es so blass war, fielen die unzähligen Sommersprossen noch mehr auf. Wie eine zartbräunliche Milchstraße waren sie auf Stirn, Nase und Wangen getupft, zusammen mit den Kupferlocken eine reizvolle Kombination, die schon im Kinderwagen neugierige Passanten in entzücktes Staunen versetzt hatte. Im Lauf der Jahre war Florentine Thalheim immer hübscher geworden, und jetzt, an der Schwelle zum jungen Mädchen, besaß sie fast elfenhafte Grazie.

Wenn die Russen diese kleine Schönheit in die Hände bekämen …

Rike konnte plötzlich kaum noch schlucken.

«Kann ich nicht doch mit?», bettelte Flori. «Bitte!»

«Keine geht», stieß Rike hervor. «Weder du noch Silvie. Ich verbiete es euch!»

«Und ob ich gehe!», widersprach Silvie aufsässig. «Das Glück unserer Kleinen ist mir nämlich wichtig. Außerdem habe ich keine Angst. Vor niemandem. Und verbieten lasse ich mir erst recht nichts, schon gar nicht von dir!»

Entschlossen ging sie zur Tür, drehte den Schlüssel um und stapfte hinaus. Ihre Schritte polterten über die alte Eisentreppe, die hinauf in den Garten führte.

Alle starrten ihr hinterher.

«Wie mutig sie ist», sagte Eva Brusig bewundernd. «Fast wie ein junger Mann. Also, ich würde mich nicht jetzt allein nach draußen trauen!»

«Oder verbohrt», murmelte Rike. «Um nicht zu sagen, leichtsinnig. Muss man das Schicksal wirklich mit aller Macht herausfordern?»

Um ruhiger zu werden, griff sie zu dem Strickzeug neben sich. Sie hatte Handarbeiten von jeher gehasst, doch inzwischen war auch sie aus Not dazu übergegangen, alte Jacken und Pullover aufzuribbeln, um etwas Neues daraus fabrizieren. Mit den Ergebnissen jedoch war Rike niemals zufrieden. Alte Wolle blieb alte Wolle, ganz egal, was man daraus strickte. Es mochte vor Kälte schützen, schön allerdings fand sie dieses ganze selbstgemachte Zeug nicht. Voller Sehnsucht dachte sie an die schicken Kleider und Kostüme, die sie vor dem Krieg getragen hatte.

Wie selbstverständlich war es damals für die ganze Familie gewesen, stets an die neueste Mode zu kommen. Großzügig hatten sie schon nach einer Saison Kleidungsstücke ausgemustert, die heutzutage der reinste Luxus wären. Ein winziger Rest des früheren Glanzes befand sich noch in drei Koffern, die Rike für den Notfall gepackt hatte. Sie standen in Oskars altem Zimmer, hinter der spanischen Wand, auf der er sich zu Schulzeiten mit kühnen Strichen künstlerisch ausgetobt hatte. Nun lag das Kaufhaus Thalheim in Trümmern. Nach dem Bombenangriff war das Glasdach des Kaufhauses zersplittert, die meisten Mauern waren niedergebrannt oder in sich zusammengestürzt. Rike war bei diesem Anblick am Morgen danach zu erschüttert gewesen, um zu weinen, aber der Gedanke an diese Katastrophe ließ die ganze Familie seitdem nicht mehr los. Gott sei Dank hatte sie zufällig ein paar Tage zuvor zwei Singer-Nähmaschinen zur Reparatur gebracht. Die waren unbeschädigt geblieben, Garant für einen Neuanfang und zusammen mit dem geheimen Potsdamer Stofflager ihr größter Schatz.

Die Nähmaschinen im Garten zu vergraben wie das Tafelsilber, einen Satz antiker Leuchter und Mamas Schmuck, hatte sie nicht gewagt, aus Angst, sie könnten im feuchten Erdreich verrotten. Also hatte sie sie schließlich zusammen mit Silvie in den Geräteschuppen geschleppt und dort Berge von Lumpen und altem Gerümpel darübergehäuft. Man musste schon das Unterste zuoberst wühlen, um sie zutage zu fördern. Zuletzt hatten sie in Ermangelung einer besseren Idee noch die beiden Fahrräder hineingeschoben, die heute, wo alle anderen Verkehrsmittel stillstanden, kostbarer waren denn je. Kein ideales Versteck, wie Rike bewusst war, aber sie waren einfach zu groß, um sie anständig zu tarnen.

Claire dagegen hatte darauf beharrt, ihren noch verbliebenen Schmuck in einem unscheinbaren Säckchen bei sich zu behalten. Den Ehering hatte sie abgezogen, doch noch bis gestern prangte die goldene Uhr am Handgelenk, die Friedrich Thalheim ihr zur Geburt der gemeinsamen Tochter geschenkt hatte.

«Unsere Befreier werden dich niederschlagen oder sogar Schlimmeres, um in ihren Besitz zu kommen», hatte Rike immer wieder gewarnt, bis Claire sie endlich doch ablegte. Wo sie sie jetzt versteckt hatte, verriet sie nicht, aber weit konnte es nicht sein, da sie den Keller seitdem nicht verlassen hatte.

«Wo Silvie wohl bleibt?», drang Floris Stimme in Rikes Gedanken, als die Kellertür mit einem lauten Knall aufflog.

Ein großer, massiger Mann in erdbrauner Uniform kam herein, der Silvie vor sich herstieß, gefolgt von einem zweiten jüngeren, der den kleinen Terrier am Genick gepackt hielt. Ein halbes Dutzend weiterer Soldaten kam hinzu, bis der Keller übervoll war. Claire zog Flori so eng an sich, als wolle sie sie nie mehr freigeben.

«Saldat?», knurrte der Erste.

«Kein Soldat», antwortete Rike schnell, der das Herz bis zum Hals schlug. Jetzt nur nichts Falsches sagen! «Nirgendwo. Keine Männer. Nur Zivilisten. Mütter und Kinder.»

Sie hatten eine weiße Fahne aus dem Fenster gehängt und alles verbrannt, was im Haus an das Dritte Reich erinnerte, darunter das Parteibuch ihres Vaters, der auf massives Drängen der Industrie- und Handelskammer schließlich doch der NSDAP beigetreten war. Silvie hatte sich bereit erklärt, Oskars alte HJ-Trophäen zu beseitigen, auch seine zahlreichen Sportauszeichnungen, die sie zunächst als Andenken behalten wollte – jedenfalls konnte Rike nur hoffen, dass sie es tatsächlich getan hatte.

Warum hatte sie die Schwester nicht kontrolliert? Silvie konnte so spontan, so unüberlegt handeln.

Rike begann zu schwitzen. Hatte der Mann aus Russland sie verstanden? Aus schrägen schwarzen Augen starrte er sie weiterhin bohrend an.

Taps strampelte wie wild, um sich aus dem unbequemen Griff zu befreien. Schließlich drehte der Hund sich blitzschnell nach links und schnappte dabei mit seinen spitzen Zähnen nach der Hand seines Peinigers. Mit einem Schmerzenslaut ließ der ihn fallen und hob dann den Stiefel, um zuzutreten.

«Nein!» Flori riss sich von ihrer Mutter los. «Das darfst du nicht! Er wollte doch nur …»

Der junge Soldat erstarrte mitten in der Bewegung und wandte sich nun ihr zu. Dann begann er zu grinsen. Sein Schmerz schien vergessen.

«Frau», sagte er und schnalzte einladend mit der Zunge. «Schenschina, komm!»

Schutzsuchend schmiegte Taps sich an Floris Bein. Die rührte sich nicht von der Stelle.

«Das ist ein Kind», sagte Claire mit dünner Stimme. «Un enfant. A little girl. Merde, ich kann leider kein einziges Wort Russisch. Aber umbringen kann ich Sie, mein Herr, falls Sie es wagen sollten, ihr etwas anzutun. Lassen Sie gefälligst die Hände von meiner unschuldigen Tochter!»

«Frau», wiederholte der Soldat, nun schon ungeduldiger. Er wirkte wie höchstens zwanzig, wenn nicht noch jünger. Stirn und Wangen waren von eitrigen Aknepickeln übersät. «Syuda!»

«Nix syuda», entgegnete Silvie wütend. «Nicht bei unserer kleinen Schwester. Und auch sonst bei keiner von uns, kapiert?»

Seelenruhig zog er ein Messer aus seinem Gürtel.

«Frau!», befahl er drohend. «Seychas-sche!»

Claire und die beiden Schwestern tauschten angsterfüllte Blicke. Von Eva Brusig und ihren Zwillingen, die sich in eine Ecke gedruckt hatten, kam ausnahmsweise kein einziger Laut.

«Er meint es ernst», murmelte Rike. «Todernst, das höre ich, obwohl ich kein Wort verstanden habe. Was sollen wir tun?»

«Ihm vielleicht eine aufs Maul hauen?», zischte Silvie zurück. «Größte Lust dazu hätte ich. Und dem Dicken gleich hinterher, der mich so grob von der Straße gezerrt hat. Den halben Arm hat er mir dabei ausgekugelt!»

«Damit uns dann seine Kameraden umbringen? Die scharren doch schon vor Ungeduld mit den Füßen. Außerdem ist der Kerl dreimal so schwer wie du. Das überleben wir nicht!»

«Ich gebe ihnen meinen Schmuck», sagte Claire bedrückt. «Was nützt mir der ganze Juwelenplunder, wenn mein Kind leiden soll?»

Bevor die anderen etwas entgegnen konnten, riss sie schon an der Schnur, die sie um den Hals trug.

Ein brauner Beutel fiel auf den Boden.

«Da!» Sie deutete darauf. «Nehmt es. Gold! Alles echt.»

Blitzschnell hatte der junge Soldat sich gebückt, den Beutel aufgehoben und ihn geöffnet.

«Zoloto», sagte er verblüfft, nachdem er hineingeschaut hatte. «Chyasy. Uhri!» Claires kostbare Armbanduhr verschwand blitzschnell in seiner Hosentasche. Er lachte kurz, steckte sich den Beutel in den Gürtel, dann packte er mit besitzergreifender Geste Floris Arm.

«Frau», sagte er nachdrücklich, als sei er den unfreiwilligen Aufschub nun mehr als leid. «Dawei!»

In diesem Augenblick öffnete sich erneut die Tür. Eine schlanke Frau in dunkelgrüner Uniform kam herein; auf dem Kopf eine gleichfarbige Armeemütze mit rotem Stern. Noch bevor sie etwas gesagt hatte, nahmen die anwesenden Russen Haltung an, und der junge Soldat ließ Floris Arm so abrupt wieder los, als habe er sich verbrannt.

«Kapitan Natalia Petrowa», sagte sie in hartem, aber fehlerfreiem Deutsch. «Fünfte Panzerdivision. Dieses Haus ist hiermit beschlagnahmt.»

2

Berlin, Mai 1945

Der Garten duftet und blüht, ganz so wie früher, als Herr Gruhlke mit seiner Engelsgeduld noch dafür verantwortlich war. Langsam geht Rike über das Gras, das sich unter ihren nackten Füßen anfühlt wie ein taufrischer Teppich. Die Obstbäume stehen in voller Blüte, und nah am Haus breitet die große Magnolie verschwenderisch ihre rosaweiße Pracht aus.

Aber blüht die nicht eigentlich erst viel später?

Egal, jetzt geht es ihr nur um Spüren und Genießen.

Sie trägt ein weißes Seidenkleid, das bei jeder Bewegung locker um ihre Beine schwingt. Ihre dunklen Haare sind offen, wellig und weich. Kein Hunger plagt sie, und für einen köstlichen Augenblick scheinen alle Sorgen vergessen. Ein Glücksgefühl steigt in ihr auf, wie sie es lange nicht mehr gespürt hat. So frei und leicht und stark ist sie, viel mutiger, als sie jemals gedacht hätte.

Weiter und weiter geht sie, denn der Garten ist auf einmal riesengroß, und mit jedem Schritt wächst Rikes Freude. Am Gartentor sieht sie eine Frauengestalt stehen, hochgewachsen und schlank, in der lässig-eleganten Haltung, wie sie nur eine einzige auf der ganzen Welt beherrscht.

Mama.

Ihre Lippen formen die Buchstaben erst lautlos, schließlich flüstert Rike sie. Und schreit sie dann.

«Mama!»

Die Gestalt hebt die Hand, als wolle sie ihr zuwinken, doch als Rike ihr entgegenrennt, wird sie immer blasser, bis sie sich schließlich ganz auflöst …

 

«Rike, wach auf!» Silvie beugte sich besorgt über sie.

«Was ist los?», murmelte Rike schlaftrunken.

«Du hast im Schlaf laut geschrien», sagte Silvie. «Bestimmt wieder einer deiner bösen Träume. Verstehen konnte ich nichts, aber es klang so angstvoll. Da habe ich dich lieber geweckt.»

«Danke.» Ihre Lippen waren vor Trockenheit rissig, und sie verzog angewidert die Nase, denn aus der hintersten Ecke des Kellers roch es streng aus dem Exkrementenkübel. Für einen Moment war sie zu schwach, um aufzustehen. Erst nach und nach fühlten sich ihre Gliedmaßen wieder kräftig genug an, um sie zu bewegen.

Wir müssen raus hier, dachte Rike, sonst werden wir noch alle krank. Und etwas zu essen brauchen wir auch. Nun wollen sie uns sogar das Dach über dem Kopf wegnehmen. Aber wenn wir jetzt das Haus verlassen, ist es dann für immer verloren? Und was droht uns erst auf den zerbombten Straßen Berlins?

Sie setzte sich auf, fuhr mit den Fingern durch die störrischen Haare und betrachtete dabei die mutlose kleine Truppe auf dem Kellerboden.

Ich rede mit dieser Russin, dachte sie. Eine muss es tun. Und schlimmer als jetzt kann es kaum kommen.

Der Entschluss war plötzlich so klar, dass er keinen Aufschub duldete. Rike stand auf, dann ging sie zur Tür, die hinauf ins Haus führte.

«Du willst doch nicht etwa rauf zu diesen – Barbaren?», fragte Claire angstvoll.

«Doch», sagte Rike, um einiges zuversichtlicher, als ihr eigentlich zumute war. «Genau das will ich. Und zwar zu Kapitan Petrowa. Ihr wartet hier solange auf mich.»

Nicht nur Silvie konnte mutig sein. Rike würde allen beweisen, dass sie ihrer jüngeren Schwester in nichts nachstand.

«Aber Taps muss auch raus», wandte Flori ein. «Siehst du nicht, wie er schon alles zusammenkneift? Ich könnte ihn ja schnell mal in den Garten bringen.»

Schon wieder der Hund! Eigentlich hing Rike ebenso wie der Rest der Familie an dem lustigen kleinen Kerl, aber in der augenblicklichen Situation war es mühsam, sich auch noch um ihn zu sorgen zu müssen.

«Gut. Dann lassen Silvie und ich ihn eben draußen sein Geschäft machen.» Sie gab sich alle Mühe, ruhig und besonnen zu klingen. «Du bleibst solange bei Claire.»

«Aber …»

«Nichts aber», unterbrach sie Rike. «Sonst können wir Taps leider nicht behalten. Willst du das?»

Flori biss sich auf die Lippen, aber wenigstens war sie jetzt still.

Rike und Silvie lehnten an der Hausmauer und sahen Taps dabei zu, wie er im verwilderten Garten ein paar vergnügte Runden drehte und es auf einmal gar nicht mehr eilig mit dem Pinkeln hatte. Gedankenverloren betrachtete Rike das, was vom einst so üppigen Garten übrig war. Früher hatte sie Herrn Gruhlke gern beim Gärtnern geholfen, neue Pflanzen gesät und sich gefreut, wenn sie dann zu blühen begannen. Besonders liebevoll hatte sie sich um die Rosenhecke seitlich der sonnigen Terrasse gekümmert, die sie Sommer für Sommer mit ihrem Duft verwöhnt hatte und die jetzt total verwildert war. Aber Herr Gruhlke war in Russland gefallen. Und wer von ihnen hatte sich schon in der Verfassung gefühlt, an so etwas wie Rosenschneiden oder Heckenpflege zu denken, solange jederzeit direkt neben einem eine Bombe einschlagen konnte?

«Warum bist du so hart zu ihr?», fragte Silvie. «Das hat Flori nicht verdient.»

«Das bin ich doch gar nicht», verteidigte sich Rike. «Ich bin bloß vernünftig, weil uns hier sonst alles um die Ohren fliegt. Allerdings würde ich mir wünschen, dass du mich dabei unterstützt, anstatt mir bei jeder Gelegenheit in den Rücken zu fallen.»

Ihre Beschwerde saß. Silvie wurde nachdenklich. «Und du willst wirklich mit dieser herrischen Russin reden?», fragte sie schließlich in sanfterem Tonfall.

«Hast du einen besseren Vorschlag?», kam prompt Rikes Gegenfrage.

«Nein. Leider nicht. Soll ich mitgehen?»

«Bleib lieber unten und hab ein Auge auf die anderen», erwiderte Rike. «Die alte Alarmglocke neben dem Lichtschalter ist noch intakt, das habe ich erst neulich ausprobiert. Falls die Russen Anstalten machen, euch auf den Leib zu rücken, klingelst du. Dann höre ich es oben schrillen und kann sofort reagieren.»

Sie brachten Taps zurück in den Keller, und Rike machte sich auf den Weg. Doch bereits auf der Treppe wurde ihr mulmig zumute, und sie musste auf halber Strecke stehen bleiben.

Was, wenn die Offizierin gar nicht mehr im Haus war und sie stattdessen zwischen die russischen Soldaten geriet?

Und wenn schon.

Sie konnte sich nicht leisten, einen Rückzieher zu machen, denn sie brauchten dringend eine Lösung, mit der es sich halbwegs leben ließ.

Rike atmete aus und nahm die letzten Stufen.

Im Erdgeschoss der Villa angelangt, bot sich beim vorsichtigen Blick in die Küche ein verheerendes Bild. Wie gnadenlos hatten die russischen Soldaten in Erna Kolowskis einstigem Heiligtum gewütet! Fast zwanzig Jahre hatte die Schlesierin «ihre» Familie Thalheim mit heimatlichen Spezialitäten verwöhnt, bis sie nach den ersten schweren Bombenangriffen zu ihrer Familie zurückgekehrt war. Rike wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war, denn der anfangs rege Briefverkehr war nach und nach eingeschlafen.

Aber falls doch, dann hätte Erna spätestens bei diesem Anblick vermutlich der Schlag getroffen: Die Türen der meisten Hochschränke waren herausgerissen, der schwarz-weiß geflieste Fußboden mit Porzellan- und Glasscherben übersät. Auf dem Gasherd standen große Töpfe, aus denen es nach Kohl und ranzigem Fett stank, wie auch immer die Soldaten das bewerkstelligt haben mochten, denn die Gasleitungen funktionierten schon seit Wochen nicht mehr.

Rike zwang sich wegzuschauen.

Es sind lediglich Dinge, dachte sie, die sich wieder reparieren oder ersetzen lassen. Jetzt geht es um uns, die Menschen.

Ihre Angst wuchs, aber sie ging trotzdem weiter und stieß die Wohnzimmertür einen Spaltbreit auf. Der Salon, wie Claire das großzügige Wohnzimmer gern nannte, glich einem Heereslager: überall Uniformteile, Militärdecken, Stiefel, Gewehre, Essnäpfe, halbleere oder leere Flaschen. Zum Glück waren wenigstens die persischen Seidenteppiche in Sicherheit. Die nämlich hatten Rike und ihr Vater schon vor Monaten zusammengerollt und mit einer Fuhre Brennholz für Tante Lydia und Oma Frida ins Stofflager nach Potsdam transportiert. Auf den nachtblauen Sofas lümmelten sich schlafende Soldaten, ebenso auf dem Boden. Es stank nach Schnaps und Zigaretten, und natürlich lagen überall Kippen verstreut. Aber die Sessel wirkten so unversehrt wie die schweren Taftvorhänge, die hochbeinigen Bauhausstühle und der ausziehbare Esstisch für bis zu sechzehn Personen. Allerdings war die Wand, an der das Venedigaquarell gehangen hatte, leer, und der Tresor, der sich dahinter verbarg, stand offen. Das schwarze Leder der Corbusier-Liege war aufgeschlitzt. Und hatten sie es tatsächlich fertiggebracht, vor der Terrassentür auf dem bis dato makellosen Eichenparkett ein Feuer zu entfachen?

Andere sind ausgebombt, ermahnte Rike sich, bevor ein neuer Anfall von Wehmut sie überwältigen konnte, auf der Flucht, wenn nicht gar mausetot.

Also schau nicht zu genau hin! Außerdem konnten sie das Wichtigste hier gar nicht finden …

Vorsichtig zog sie sich zurück und stieg so leise wie möglich nach oben. Sie durften einfach nicht aufwachen. Gegen keinen der Russen hätte sie mit ihrem aktuellen Fliegengewicht auch nur die geringste Chance gehabt.

Wo mochte Kapitan Petrowa stecken?

In Claires und Friedrichs Schlafzimmer war sie jedenfalls nicht. Ebenso wenig in Silvies «Bude», wie diese lakonisch ihre vier Wände zu nennen pflegte. Auch Oskars einstiges Zimmer war leer. Gleiches galt für Floris Kabinett mit dem kleinen Türmchen, das früher einmal ein Mädchentraum in Rosa und Weiß gewesen war, inzwischen aber ziemlich verwahrlost wirkte.

Rike ging weiter hinauf in den zweiten Stock, stieß Tür um Tür auf. Hier waren die Decken niedriger, die Zimmer kleiner und einfacher ausgestattet, da vor allem für die Unterbringung von Hauspersonal gedacht, bis auf das großzügig geschnittene Gästeapartment mit Balkon direkt über dem Elternschlafzimmer, in dem früher Freunde und Bekannte der Familie gewohnt hatten, wenn sie zu Besuch in Berlin waren.

Jetzt blieb nur noch das ausgebaute Dachgeschoss – Rikes Reich. Ihr Vater hatte sich gleich zu Kriegsbeginn zu dieser kostspieligen Maßnahme entschlossen und damit verhindert, dass seine Älteste nach der Volljährigkeit das Elternhaus verließ, um mit ihren Freundinnen Elsa und Lou eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Damals war es bereits schwierig gewesen, an geeignete Baumaterialien zu kommen, aber Friedrich Thalheim hatte all seine Beziehungen spielen lassen, um die Tochter daheimzuhalten.

«Ich mache mir sonst zu viele Sorgen um dich», hatte er behauptet, doch inzwischen wusste Rike, dass ihre Anwesenheit im Haus vor allem eine Beruhigung für ihn selbst gewesen war. Entstanden war eine luftige, bewusst sparsam möblierte Zweizimmerwohnung mit Kochnische und einem kleinen Bad. Sie hatte sich hier wohlgefühlt, auch wenn diese Lösung zumindest vorerst den Abschied von einem selbstbestimmten Leben bedeutete, wie sie es sich schon als Gymnasiastin erträumt hatte. Nach der Enttäuschung mit Walter war sie also das geblieben, was sie immer gewesen war: Papas vernünftige Große, die zuerst an ihn dachte – und danach an sich selbst.

War das vielleicht der Grund gewesen, warum Walter sich ganz überraschend für die heitere Silvie entschieden hatte, die so lebte und liebte, wie ihr der Sinn stand? Oder hatten ihn nur die aufregenden Kurven und das helle Lachen ihrer jüngeren Schwester bezaubert? Verdammt, diese quälenden Gedanken ließen sie einfach nicht mehr los!

Unwillkürlich war Rike stehen geblieben.

«Hände hoch!» Die harte Stimme der Russin ließ sie zusammenfahren. Die Offizierin stand in der geöffneten Tür, eine Armeepistole in der Hand, mit der sie auf Rikes Brust zielte.

«Entschuldigung!» Rike war dem harschen Befehl sofort gefolgt. «Ich wollte nur …»

«Was?»

«Mit Ihnen reden, Kapitan Petrowa», stieß sie hervor. «Ich bin unbewaffnet und komme in friedlicher Absicht.»

«Das haben die Menschen in Russland auch geglaubt, als die ersten deutschen Panzer in unser Land rollten», sagte sie. «Sie haben die fremden Soldaten herzlich begrüßt und ihnen Blumen geschenkt – bevor sie von ihnen niedergestreckt wurden.»

«Ich bin kein Soldat», sagte Rike mit dünner Stimme, «und habe niemals im Leben einem Menschen in Russland oder anderswo ein Leid zugefügt. Gleiches gilt für die Frauen und die Kinder im Keller. Wir müssen raus aus diesem unhygienischen Loch, sonst bekommen wir noch Ruhr oder Typhus. Und das wäre doch sicherlich nicht in Ihrem Sinn.»

«Das Haus ist beschlagnahmt», raunzte Kapitan Petrowa zurück, ließ die Pistole aber sinken. Aus der Nähe sah sie älter aus, als Rike zunächst gedacht hatte. Um die Augen lag ein feiner Fältchenkranz, und auch die Linien um Nase und Mund hatten sich schon in die Haut eingegraben. Besonders irritierend waren ihre goldenen Schneidezähne, die beim Sprechen aufblitzten.

Was mochte sie schon alles erlebt und durchlitten haben?

Sicherlich nichts, was ihre Sympathie für die Deutschen befördert hatte, denn ihre tiefliegenden Augen wirkten auf Rike wie blassblaue Eisseen – aber ihr Deutsch war makellos.

«Ich weiß», sagte Rike. «Darf ich die Arme trotzdem wieder runternehmen?»

Kurzes Nicken.

Rike räusperte sich mehrmals. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Im Garten gab es eine kleine Zuflucht, um die sie die Russin nun bitten würde. Erna hatte anfangs dort gewohnt, inzwischen stand sie seit Jahren leer. Das kleine Gebäude war schlecht heizbar und schon ein wenig marode, aber in der momentanen Lage erschien es Rike wie das Paradies.

«Es geht um das Gartenhäuschen», sagte sie. «Zwei Zimmer mit Toilette und Dusche, falls es jemals wieder Wasser aus der Leitung geben sollte. Wenn wir vielleicht dort unterkommen könnten?» Sie atmete tief aus. «Und etwas zu essen bräuchten wir auch», setzte sie hinzu. «Das gilt vor allem für die Kinder.»

«Kommen Sie», forderte die Russin sie auf und wedelte mit der Pistole, um ihre Worte zu unterstreichen. «Hier hinein.»

Beklommen folgte Rike ihr.

Ein alter Koffer, eine abgelegte Uniformjacke, ein paar benutzte Gläser, ein halber Brotlaib, ein Stück Speck auf einem aufgeschlagenen Tuch, das verführerisch duftete. Was könnte man damit für Köstlichkeiten zubereiten!

Sie zwang sich, möglichst flach zu atmen, um die Magensäfte nicht zu stark zum Fließen zu bringen, und sah sich dabei unauffällig weiter um. Nichts von der Einrichtung schien beschmutzt oder gar zerstört. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Natalia Petrowa hatte sich in ihrem Wohnzimmer häuslich eingerichtet, mochte Ordnung jedoch ganz offensichtlich ebenso wie Rike, das machte die Vorstellung erträglicher. Auf dem Schreibtisch, einer Sonderanfertigung aus Birkenholz, die ihr Vater ihr zum Studienbeginn geschenkt hatte, stapelten sich Landkarten, die oberste markiert mit diversen roten und blauen Linien, die die Russin eilig zudeckte.

Offensichtlich waren sie nicht für feindliche Augen gedacht.

«Wer ist das?» Kapitan Petrowa hatte die Waffe inzwischen abgelegt und hielt ihr nun ein gerahmtes Aquarell hin, das Rike schon ein Leben lang begleitete: das Porträt ihres Vaters in Uniform. Die Strapazen des Kriegs waren unübersehbar in dem schmalen Gesicht, doch die Augen leuchteten, und die ganze Haltung des jungen Mannes zeigte Entschlossenheit und ungebrochenen Lebenswillen. «Dein Mann – Faschist?»

«Mein Vater», erwiderte Rike, ohne auf die gefährliche zweite Frage näher einzugehen. «1918 in Frankreich nach dem Großen Krieg. Sein bester Freund hat das Bild gemalt – ein Jude.»

«Ist er …» Die rasche Handbewegung quer über den Hals war eindeutig.

«Nein», sagte Rike rasch. «Markus Weisgerber und seine Frau konnten Deutschland rechtzeitig verlassen. Soviel ich weiß, leben sie in Amerika. Wir alle vermissen ihn sehr.»

Abermals hatte sie einen Frosch im Hals und räusperte sich. Diesen Namen auszusprechen beschwor erneut den tödlichen Unfall mit all seinen Konsequenzen herauf. Warum hatte sie schon als Kind ihre Augen und Ohren überall haben müssen? Wenn sie ihrer Mutter an jenem Tag nicht heimlich gefolgt wäre …

«Faschist?» Für einen Moment war Rike so tief in ihren schmerzlichen Erinnerungen gewesen, dass sie gar nicht mehr weiter zugehört hatte. «Faschist?», wiederholte die Russin nun drängender.

Offenbar hatte sie gründlich in Rikes rotem Album gestöbert. Das Foto, das sie dort aus den weißen Ecken gelöst hatte, zeigte Oskar und Walter, beide in Uniform, mit ernster Miene vor einem Panzer der Wehrmacht. Eigentlich hatte sie es ja nach Walters Spontanverlobung mit Silvie in tausend Fitzelchen zerreißen wollen, aber bis auf einen verwackelten Schnappschuss, auf dem man kaum etwas erkannte, war es das einzige, das sie von Walter besaß – und somit war es heil geblieben.

«Ein Freund der Familie», sagte Rike steif und deutete auf Walter. «Ende 1942 in Stalingrad gefallen. Der neben ihm ist unser Bruder, der seitdem als vermisst gilt.»

Kapitan Petrowas Gesicht zeigte keinerlei Regung.

«Wo ist der Vater?», fragte sie weiter. «Auch in Russland? Im Keller war kein Mann.»

«Das wissen wir leider nicht.»

«Warum?»

«Um zur Wehrmacht eingezogen zu werden, war er schon zu alt. Zudem hatte er sich nach dem Großen Krieg geschworen, niemals wieder eine Waffe anzurühren. Trotzdem musste mein Vater zum Volkssturm, sonst hätte man ihn erschossen. Die alten Männer haben sie zum Schluss ebenso wenig verschont wie die Kinder.» Sie musste schlucken. «Ich frage mich, wo er wohl sein mag. Wir haben viel zu lange nichts von ihm gehört.»

«Faschisten – ein ganzes Volk von Faschisten!» Für einen Moment sah es so aus, als würde die Russin ausspucken wollen, dann aber hatte sie sich wieder unter Kontrolle. «Vielleicht ist er tot; vielleicht haben ihn die Soldaten der siegreichen Roten Armee gefangen genommen. Er wird für seine Taten büßen – ihr alle werdet büßen!»

Trotz des milden Frühlingstags bekam Rike Gänsehaut. Sollte sie um Gnade betteln? Doch angesichts Petrowas eisiger Blicke entschloss sie sich, darauf zu verzichten und lieber eindeutig Position zu beziehen.

«Dies ist kein Haus, in dem Hitler angebetet wurde», sagte sie. «Mein Bruder wollte niemals Soldat sein; mein Onkel Carl, einst Staatsanwalt, ist freiwillig zum Nachtwächter geworden, um nicht länger dem Unrecht dienen zu müssen. Nicht alle Deutschen sind schlecht. Es gibt in diesem Land durchaus Menschen mit Ehre und Gewissen.»

Sie hatte sich in Rage geredet und erschrak plötzlich. Hatte sie durch ihre Kühnheit jetzt alles verdorben?

Kapitan Petrowa musterte sie aufmerksam.

Täuschte Rike sich, oder hatte ihre Miene sich tatsächlich ein wenig entspannt?

«Ist Geld im Haus?», fragte sie plötzlich. «Der Tresor war leer. Andere Verstecke?»

Rike schüttelte den Kopf.

«Es war Krieg», erwiderte sie leise, den direkten Blickkontakt vermeidend. «Unser Geschäft wurde ausgebombt. Wir haben alles verloren.»

«Acht Tage», sagte die Russin schließlich. «Danach seid ihr weg. General Bersarin und sein Stab brauchen annehmbare Quartiere. Er hätte jeden Grund dafür, aber er wird euch besiegte Deutsche nicht verhungern lassen. Neue Lebensmittelmarken sind im Druck. Bis dahin müsst ihr durchhalten.»

Rike sah sie fragend an.