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Die Seele und der Sinn des Lebens Adriaan Bekman geht der Frage nach, wodurch sich die Existenz unserer Seele bemerkbar macht - und was wir dafür tun können, in einen lebendigeren Kontakt mit ihr zu treten. Dieses Buch schafft einen Raum der Reflexion, der Kontemplation und des Dialogs, der Sie ermutigen kann, der seelenzentrierten Aufmerksamkeit einen zentralen Platz in Ihrem Leben einzuräumen.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2023
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ADRIAAN BEKMAN
Eine geisteswissenschaftliche Betrachtung
AUS DEM NIEDERLÄNDISCHEN VON MARIANNE HOLBERG
URACHHAUS
Einleitung
1. Die Existenz der Seele
Warum dieses Buch?
Die Geschichte der menschlichen Seele
Warum haben wir es schwer mit der Seele?
Wie konnte die Seele unserer Aufmerksamkeit entgleiten?
Wie ist die Wirkung einer seelenlosen Zeit auf den Menschen?
2. Das Erscheinen der Seele
Wie ist die Seele im Laufe der Zeit in uns erschienen?
Der Unterschied zwischen Seele und Geist
Wie können wir heutzutage die Seele wahrnehmen?
Wie können wir unsere Seele entwickeln?
3. Vertraut werden mit der Seele
Wie werden wir vertraut mit unserer inneren Seele?
Wie gehen wir gesund mit unserer äußeren Seele um?
Das Erleben der Seele
4. Unsere eigene Seelenschöpfung
Die Organisation als Erscheinung unserer Seele
Begeisterung als Prozess der Sinngebung
Die persönliche Seele und die gemeinsame Seele
5. Mit dem Blick auf die Zukunft der menschlichen Seele
Die Zukunft der Seele
Verwendete und weiterführende Literatur
Schon seit über dreitausend Jahren fragt sich der Mensch, ob es überhaupt eine Seele gibt, und wenn ja, wie diese menschliche Seele beschaffen ist. Philosophen vertieften sich – oft auch im Dialog mit anderen – in diese Frage und überlieferten uns ihre schönen und wertvollen Betrachtungen.
Durch sie zieht sich wie ein roter Faden der Gedanke, dass die Frage nach der Seele zugleich die Frage nach dem Sinn des Lebens, unseres Lebens ist. Die Fragen »Was ist die Seele?« und »Was können wir von der Seele wahrnehmen?« bilden das Puzzle der Seele. Aus dem »Was an uns erscheint«, »Was wir wahrnehmen können«, »Was wir erleben können«, entstehen die Wie- und die Warum-Frage. Die Wie-Frage lautet: Wie kann so etwas entstehen und an uns sichtbar werden?, und die Warum-Frage: Warum kann so etwas an uns sichtbar werden?, aber auch: Warum kann es danach auch wieder verschwinden?
Mit der »Wie-« und der »Warum-Frage« bewegen wir uns aus der sichtbaren Welt in die unsichtbare Welt und überlegen, wie und warum die unsichtbare Welt zu uns spricht.
Und schließlich sehen wir als weitere Konstante in diesen jahrhundertelangen Betrachtungen zur menschlichen Seele, dass wir in zwei verschiedenen Welten leben: in der Welt des Seins und in der Welt des Werdens.
Der Welt des Seins gehören wir ebenso an wie alle kosmischnatürlichen Wesen auf der Erde – und vielleicht auch in ihrem Umfeld. Sie hat eine gewisse Vorhersagbarkeit, weil ihr Sinn inhärent anwesend ist. Die Welt des Werdens dagegen, des Sichtbarwerdens und Verschwindens, ist eine Welt, die durch unsere Tätigkeit entsteht und – anders als die Welt des Seins – gewissermaßen unvorhersehbar ist und der wir selbst erst einen Sinn geben müssen.
Vermutlich ist die Frage nach dem Sinn des Lebens sehr viel dringender geworden durch die Spannung zwischen der Welt des Seins und der Welt des Werdens. Für den Menschen in seinem Innern wie auch in seiner Beziehung zur äußeren Welt nimmt die Sinngebungsfrage an Bedeutung zu. Denken wir nur an die vernichtende Wirkung unserer Taten auf alle Naturwesen und an den Kampf »aller gegen alle«. Wir leben als Menschen in unserer eigenen, von uns selbst organisierten Welt, die mit zunehmender Kraft die Substanz der kosmisch-natürlichen Welt verbraucht.
Auch der selbstverständliche Umgang der Menschen untereinander verschwindet, und manchmal fragen wir uns hilflos: Wie soll es mit uns weitergehen? Das gilt für die einzelnen Menschen, doch es gilt auch für das (Weiter-)Leben der Weltbevölkerung.
In meinem Buch Die menschliche Schöpfung, Philosophie des organisierten Lebens* habe ich den Versuch unternommen, die Welt des von uns organisierten Lebens mit den grundsätzlichen Fragen zu verbinden, die wir uns schon so lange stellen: den Fragen nach dem Ursprung der Seele sowie nach der Freiheit des Menschen und der Menschheit. Ausgehend von der »Be-seelung« ging es mir darum, den Sinn unseres Daseins stärker ins Bewusstsein zu bekommen. Die Frage nach der Seele, so wurde mir klar, stand ursprünglich im Mittelpunkt, dann jedoch, im Laufe der Jahrhunderte von der Wissenschaft in den Bereich der Religion verbannt, wurde sie peripher – eine Sonntagsfrage.
In diesem Buch nun gehe ich der Frage nach, wie die Seele überhaupt sichtbar wird und auch, wie wir uns ihrer Wirksamkeit in unserem organisierten Leben stärker bewusstwerden können. Es entsteht ein reflexiver Raum der Betrachtung und des Dialogs, der uns ermutigen kann, der Seele wieder einen zentralen Platz in unserem Leben zu schaffen.
Mir ist bewusst, dass eine definitive Antwort auf die Frage nach der Seele nicht gegeben werden kann, doch mir ist ebenfalls bewusst, dass die Beschäftigung mit dieser Frage uns darin stärken kann, den Sinn des Daseins in unserem eigenen Leben bewusster zu untersuchen und zu gestalten.
In den folgenden Betrachtungen kann der Leser mit mir auf die Reise zur Erforschung der Seele gehen, um sich der Sinngebungsfrage im eigenen Leben inspiriert, beseelt und zugleich aufmerksamer zu widmen.
* Adriaan Bekman: Die menschliche Schöpfung. Philosophie des organisierten Lebens. Verlag Ch. Möllmann, Borchen 2017 (Niederländisches Original: Bezieling – filosofie van het georganiseerde leven).
Im diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Frage: Gibt es die Seele? Die Antwort könnte entweder sein: Ja, es gibt die Seele, oder: Nein, die Seele gibt es nicht. Es wäre eine »Wahrheits-Antwort«, die so jedoch nicht gegeben werden kann, denn die Frage nach der Existenz der Seele ist nicht zu beantworten. Dagegen bietet das Forschen nach der Existenz der Seele eine Fülle von Möglichkeiten, auch nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Das soll in diesem Kapitel gezeigt werden. Es ist eine Erkundung der Sinngebungsfrage in unserem eigenen Leben und im Leben anderer.
Bereits seit über 3000 Jahren suchen wir also nach einem überzeugenden Beweis dafür, dass die Seele existiert beziehungsweise nicht existiert. Je nach unserer geistigen Orientierung suchen wir nach einer Materialisierung der Seele oder nach dem Mysterium der Seele. In dieser jahrhundertelangen Suche stellte man sich die Seele zum einen als ein menschlich-körperliches Organ vor und dann wieder als das Unsichtbare, Unbegreifliche, das uns erregt, bewegt.
Ole Martin Høystad beispielsweise fasst die Geschichte der Seele als 3000 Jahre Kulturgeschichte so zusammen:
So wie die Liebe im Hochmittelalter »erfunden« und durch bildliche Darstellungen und Geschichten bestimmt wurde, deren Symbol das Herz war, so auch die Seele, die in der griechischen Antike »erfunden« wurde. Wenn sie erst einmal erfunden oder mit Bildern und Begriffen konstruiert ist, wird sie Teil unseres Menschenbildes. Ihre Stellung ist in allen Kulturen der Welt so stark, dass es faktisch unmöglich ist, sich einen Menschen ohne Seele vorzustellen. Früher war die Vorstellung verbreitet, dass Gottes Schrift sich in die Herzen der Menschen als Sitz der Seele eingraviert hat. Aber nicht Gott hat die Seele be-schrieben. Es ist die Schrift der Menschen, es gibt viele Geschichten über die Seele mit Bildern und Symbolen, die unser Inneres erschaffen und geformt haben. […] Die Seele ist eine individuelle und persönliche Größe, die wir in einem lebenslangen inneren Prozess ordnen und formen. Diese Größe hat man nicht ausschließlich allein geschaffen, doch es ist die eigene Schuld, wenn man sie verliert.*
Platon sah die Seele als eine von Gott geschenkte Schöpfung an. Aristoteles sah die Seele als das an, was den Körper bewegt. Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Hannah Arendt sorgten sich um die Seele als dasjenige, was den Menschen wirklich zum Menschen machen kann: sein eigenes Wesen und das der anderen in Freiheit sichtbar werden zu lassen und daran fortwährend zu scheitern. – Wir sehen, dass das letzte Wort zur Seele noch nicht gesprochen ist und wir dazu verurteilt sind, die Erforschung der Seele fortzusetzen.
Einen der eindrucksvollsten Ausdrücke für die Seele finden wir in dem Begriff »Beseelen«. Beseeltheit drückt eine Kraft aus, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllt, eine Bewusstseinskraft, die aus dem menschlichen Ich, dem menschlichen individuellen Geist wachgerufen wird. »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen« (Jesaja 43,1).
Die Vorstellungen von der menschlichen Seele haben sich im Laufe der Zeit geändert. Aus einer autonomen Kraft, die aus der geistigen Welt erscheint und sich im Menschen in einem irdischen Körper manifestiert, wurde ein Prozess, der zwischen Menschen stattfindet und bei dem eine Begegnung mit dem Anderen eine Verantwortung bedeutet.
Außerdem wurde die Seele im Laufe der Zeit aus dem Zentrum unserer Aufmerksamkeit vertrieben, verbannt in ein religiöses Glaubensverständnis von Leben und Tod, bzw. von Leben nach dem Tod. Auch wurde die Seele besetzt mit all dem, was den Menschen von außen beherrschen und bestimmen will, und wir ringen darum, unsere Seele in ihrer Entwicklung zu lenken. All dies bildet vielleicht die wesentliche Aufgabe der menschlichen Seele, und das bedeutet, sich aus der Kraft des Geistes, dem eigenen Ich, ihre Freiheit zu erobern, in Liebe zum Anderen und mit Respekt zu allem, was lebt.
Während die Seele einst den zentralen Platz im menschlichen Dasein einnahm und es darauf ankam, sie zu bewahren, ist sie jetzt zu einer peripheren, nur manchmal noch am Rande unseres Lebens existierenden Erscheinung geworden. Wir haben uns einem materiellen, einem organisierten Leben verschrieben, einem von uns selbst geschaffenen Leben, einem von uns selbst als sinnvoll empfundenen Dasein. Dabei haben wir die Sicherheit verloren, Teil einer ewigen göttlichen Schöpfung zu sein, aus der wir stammen und in die wir zurückkehren. Dadurch sind wir gezwungen, ein geschäftiges und aufreibendes Leben zu führen, in dem alles, was wir erschaffen und zustande bringen, auch von uns »versorgt«, gepflegt werden muss. Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist, dass wir dauernd auf der Suche nach etwas sind, das unserem Leben einen Sinn gibt und uns erfüllen kann.
Vielleicht könnte diese Suche des heutigen Menschen im großen Zusammenhang so aussehen: Nachdem wir als Menschheit aus einem göttlich verankerten Ur-Dasein zunächst in einem Leben gelandet sind, das bestimmt wurde von der Offenbarung Eingeweihter über jene Wesen, die uns das Leben geschenkt haben; und danach als Menschheit in ein Leben gekommen sind, in dem wir noch die Wirkungen der göttlichen Einflüsse erleben konnten, leben wir jetzt, heutzutage, in einem von Göttern geschaffenen Werk, aus dem diese sich zurückgezogen haben, das uns aber die Möglichkeit gibt, selber die Verantwortung zu tragen und damit unsere Seele aus eigener Kraft auf eine bewusstere Daseinsstufe hinzuentwickeln. Damit können wir aus freiem Willen den Schöpferkräften wieder näherkommen, die uns einst ins menschliche Dasein entlassen haben.
Man kann sich die Frage stellen: Gibt es ein Leben vor der Geburt und gibt es ein Leben nach dem Tod? Auch kann man fragen, was und wer unser Leben zwischen Geburt und Tod lenkt. Ist das Leben vorherbestimmt, oder leben wir aus einer freien Entscheidung? Diese Fragen berühren in unserem irdischen Dasein das Mysterium des Lebens, mit dem unsere Seele tief verbunden ist.
Um eine bewusstere Verbindung mit diesem Mysterium des Lebens zu bekommen, können wir uns in das vertiefen, was sich in unserem Inneren abspielt. Wir nehmen die Gedanken wahr, die durch uns hindurchziehen, und die Gefühle, mit denen wir leben. Wir denken über das nach, was wir tun, und über die Impulse, die dahinter verborgen sind, sowie auch über unser Tun, das daraus folgt. Wir entdecken, dass es in uns eine autonome Instanz gibt, unser eigenes Ich, dem diese Seelenregungen möglich sind, und auch, dass diese Seelenregungen nach und nach bewusster werden, dass wir sie durchschauen. So bemerken wir, dass wir immer wieder bestimmten Situationen, bestimmten Herausforderungen begegnen, dass es Dinge gibt, die uns immer wieder faszinieren, sich wiederholende Gefühle, dass Urteile in uns aufsteigen und ganz bestimmte Entscheidungen getroffen werden. Wir können in uns gehen und uns prüfen. Wir entdecken den wunderbaren Reichtum unseres Lebens – Erfahrungen, Erkenntnisse, Begegnungen, Konfrontationen. So können wir den Früchten unseres Lebens auf die Spur kommen, den Sinn unseres Lebens »sehen«, den Wert unseres Lebens »erlauschen«. Auch diese Arbeit vollbringt unser Ich in der Seele und kann die Früchte in geistiges Leben aufnehmen. Dies wird in einem natürlichen Prozess von Wachen, Schlafen und Träumen erlebt und verarbeitet. Immer wieder tauchen wir ein in die Realität unseres wachen Lebens, immer wieder verarbeiten wir die Erfahrungen im Schlaf, und die Bedeutung all dessen träumen wir. Je bewusster wir diesen natürlichen Prozess erleben können, desto mehr können wir unser Dasein zu einem reicheren und sinnvollen Leben entwickeln. Wenn wir nachlässig und unaufmerksam sind, wird die Seele nicht ernährt – und verdorrt. Unser Ich, der Geist, trocknet aus und kann seine Arbeit nicht verrichten.
Eine lebendige Seele entsteht aus Bewegung und Staunen – aus der Bewegung unseres Körpers, aber auch aus unserem Offensein für das, was uns bewegt. Wir sind nicht verschlossen, wir sind eine offene Seele, wenn wir in Bewegung sind. Sobald wir uns bewegen, werden alle Sinne aktiv. Wir tasten, sehen, lauschen, riechen, schmecken. Doch auch unser Gleichgewichtssinn wird aktiv, unser Lebenssinn, unser Sprachsinn und unser Ich-Sinn, mit dem wir den anderen Menschen wahrnehmen. Unser Körper ist voller Bewegung: Atmung, Blutkreislauf etc. Sobald sich etwas nicht mehr bewegt, zieht sich das Leben aus dem Körper zurück. Dieser Bewegungsleib trägt den Namen Ätherleib, in dem unsere Energie und Lebenskraft tätig ist, aber auch unsere prinzipielle Erinnerung an das, was uns immer bewegt hat.
Eng verbunden mit diesem Bewegungsleib ist der Erfahrungsleib. Wir machen Erfahrungen, vor allem auch bei Begegnungen, die uns anregen und wachmachen. Wir strahlen vielleicht eine gewisse Stimmung aus, erleben, was sich um uns herum abspielt, und bauen einen Astralleib auf, der diese Erlebnisse in Erkenntnis umsetzt. Verbunden damit ist Verinnerlichen und Lernen, und das wiederum ist die Arbeit unseres Ich.
Dieser Lebens- und Bewegungsprozess wird gefördert durch eine Haltung des Staunens: Fragen haben, aufgeschlossen sein, etwas in uns hereinlassen, etwas erforschen wollen, das alles sorgt dafür, dass die Welt so, wie sie sich zeigen will, dann auch wirklich erscheint und uns anspricht. So gibt es reiche tägliche Nahrung für die Seele, die unaufhörlich darum bemüht ist, diese Nahrung aufzunehmen und zu einem wachen, höheren Bewusstsein zu verarbeiten. Wie der Körper seine Lebensenergie aus guter Nahrung holt, holt die Seele die Energie aus staunendem Erleben, das dem Ich Geistesnahrung schenkt und damit den Geist immer reicher werden lässt.
Wir kennen Tage, an denen wir ratlos herumlaufen und nicht recht wissen, was wir anfangen sollen. Wir kennen Tage, an denen wir beinahe zugrunde gehen vor lauter Stress mit der vielen Arbeit und allen Verpflichtungen. Wir kennen Tage, an die wir mit Freude zurückdenken, und wir kennen Tage, die wir lieber nicht in Erinnerung behalten wollen. So bekommt die Seele die Aufgabe, für Begeisterung und den Sinn des Lebens zu sorgen.
Unsere Umgebung stellt hohe Anforderungen an uns, denen wir nachkommen müssen. Zu Hause und bei der Arbeit wird viel von uns erwartet, manchmal mehr, als wir bewältigen können. Die Seele soll Ordnung schaffen, und dazu braucht sie die Kraft unseres Ich. Die Seele ist im Prinzip paradox und lebt in Polaritäten, während der Geist autonom ist und als Teil einer geistigen Welt lebt. Die Seele lebt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Innenwelt und Außenwelt. Die Seele ist »zwischendrin« und kann dieses »Zwischen-drin«-Leben nur aus »Inter-esse« verwirklichen, und nicht aus Zwang und Macht und der damit verbundenen Angst. Der Geist wird in Situationen gerufen, in denen wir präsent sind und aktiv werden. Er ist bereit zu erscheinen, wenn die Seele freudig-beseelt mit dem eigenen Impuls verbunden ist und zugleich mit dem anderen Menschen, der etwas von uns möchte.
Wenn das Ich in der Seele erscheint, ist eine wirkliche Verbindung mit dem Anderen möglich. Die Seele ist dann nicht gefangen in »Vor-Urteilen«, einer festen Meinung, einem unangenehmen Gefühl, in Panik, sondern kann frei anwesend sein und sich äußern. Zwischen Menschen entsteht sogleich das Vertrauen, dass man offen sein und sich austauschen kann, ohne dass es zu Konflikten kommt. Wir erleben Freudiges und Sinnvolles, und das bringt uns weiter auf unserem Weg zu einem bewussten Leben.
Das Besondere unseres Lebens besteht darin, dass es ein Kommen und Gehen ist, geboren werden und sterben, beginnen und enden, wachen und schlafen, erschaffen werden und vergehen. Letztlich bleibt vor allem die Frucht von all dem: die Entwicklung der menschlichen Seele zu einem umfassenderen Bewusstsein.
Im Laufe der Jahrhunderte sind zunehmend drei Seelenqualitäten zum Vorschein gekommen. Die Seele als Sprache, die Seele als unser Gedächtnis, die Seele als unser Gewissen.
Wir drücken alles in Sprache aus, wir kommunizieren, begreifen in Sprache, teilen in Sprache, arbeiten in Sprache. Eine große Vielfalt an »Sprachen« hat sich entwickelt und noch immer kommen viele hinzu. Es gibt nicht nur Landessprachen und Dialekte, sondern auch Amtssprachen, Fachsprachen, Managementsprachen, Organisationssprachen, Geheimsprachen, die irgendwann entstehen und bleiben. Mit Sprache können wir unsere Gedanken, Gefühle und Willensimpulse äußern und mit anderen teilen. Wer die Sprache beherrscht, kann in einer Gemeinschaft, in der diese Sprache kommuniziert wird, am Gespräch teilnehmen. In der Schule lernen wir Lesen, Schreiben und Rechnen und später andere Sprachen in all den Fächern, die uns angeboten werden. Kann ich die Sprache verstehen und mit ihr umgehen, etwa Mathematiksprache, Chemiesprache, die englische Sprache, Computersprache? Die Sprache nicht zu beherrschen, nicht zu verstehen, schließt uns aus.
Ein zweites Phänomen der sich entwickelnden menschlichen Seele ist das Gedächtnis. Wir können das, was geschieht, in unserem Gedächtnis speichern. Ein anfangs primitives Gedächtnis hat sich im Lauf der Jahrhunderte zu einem umfassenden Gedächtnis entwickelt. Zuerst haben wir ein biografisches Gedächtnis und können vieles aus unserem Leben ins Hier und Jetzt zurückholen. Wir haben ein Kurzzeitgedächtnis, in dem kürzlich Geschehenes gespeichert ist. Wir haben ein Fachgedächtnis, in dem wir sehr viel Fachwissen speichern können. Lässt das Gedächtnis uns im Stich, sind wir verloren. Doch haben wir mit der modernen Technologie eine ganze Reihe von Möglichkeiten, ein künstliches Gedächtnis herzustellen und zu füllen. Wir können alles aufzeichnen und speichern: Texte, Bilder, Zahlen. Außerdem ist dies Gedächtnis dann für jeden zugänglich, der den Zugangscode hat. – Unser eigenes Gedächtnis jedoch ist nicht nur Teil unseres wachsenden Gehirns, sondern lebt auch in unserem Ätherleib. Dort finden wir tiefer greifende Erinnerungen, an denen das Gehirn aber nicht mitarbeiten will.
Ein drittes Phänomen der Seelenentwicklung ist unser Gewissen. Mit der Zeit haben wir eingesehen, dass es nicht wünschenswert ist, sich gegenseitig zu töten, zu missbrauchen, zu beherrschen, zu manipulieren. Es entsteht ein moralisches Bewusstsein, wenn auch nicht gleichermaßen für alle Menschen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind ein Fundament für das Gewissen. Ein demokratisches System bietet dem Gewissen eine Chance, es gibt eine herrschende Macht und eine Gegenmacht, es gibt eine Regierung und es gibt ein Parlament. In Glauben, Kunst und Philosophie spielt das Gewissen eine wichtige Rolle. Lassen wir uns nach moralischen