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Etwas angeschlagen kehrt Profilerin Sadie zum FBI zurück und ist überrascht, als Besuch aus England dort ist. Teamchef Nick hat Andrea Thornton, die britische Profilerin mit deutschen Wurzeln, zum allgemeinen Wissensaustausch eingeladen. Schnell stellt Sadie fest, dass sie erheblich mehr Gemeinsamkeiten mit Andrea hat als nur den Beruf. Als die BAU ein Hilfegesuch aus Boston erreicht, bietet Andrea den Profilern ihre Unterstützung an und reist mit nach Boston. Sadie ist froh, jemanden bei sich zu haben, mit dem sie vorbehaltlos sprechen kann, zumal sie im Moment ohne ihren Freund Matt auskommen muss, der gerade in der FBI-Academy die Schulbank drückt. Der Fall, der sie in Boston erwartet, ist jedoch auch nicht ohne: Seit Monaten werden dort junge Männer ermordet - ohne jegliche Brutalität, aber die Polizei hat keinen Hinweis auf den Täter. Die Profiler ahnen, dass sie es mit einer schwerwiegenden psychischen Störung zu tun haben ...
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Ruhe in Frieden
Sadie Scott 4
Psychothriller
In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.
Johann Wolfgang von Goethe
„Ich glaube, der ist ganz gut geworden.“ Zufrieden verschränkte Norman die Arme vor der Brust. Sadie warf ebenfalls einen Blick in den Backofen und nickte zustimmend.
„Verhungern werden wir wohl nicht.“
Wortlos legte Norman einen Arm um die Schultern seiner Nichte und seufzte. In diesem Moment dachten sie beide an Fanny, die sonst immer den Truthahn zu Thanksgiving zubereitet hatte. Sadie hatte ihr oft dabei geholfen und konnte sich deshalb noch daran erinnern, was zu tun war. Sie hatte Norman von sich aus angeboten, früher zu kommen, um ihm dabei zu helfen. Er hatte das Angebot dankbar angenommen.
„Ich merke erst jetzt, was Fanny eigentlich alles im Haushalt getan hat“, sagte Norman verhalten. „Eigentlich war ich der Meinung, dass ich sie dabei unterstütze und die Hälfte übernehme, aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmte.“
„Sie hat sich doch nie beklagt“, sagte Sadie.
„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt so viele Handgriffe, bei denen mir bewusst wird, dass sie fehlt. Ich habe schon die Wäsche schrumpfen lassen und wenn ich nachts allein in meinem Bett liege, ist es ganz vorbei.“
„Das Angebot steht“, sagte Sadie. „Ich kann die Katzen auch wieder zurückholen, damit sie bei dir leben.“
Norman schüttelte den Kopf. „Nein, behalt du mal schön deine Katzen. Ich nehme dir nicht die Haustiere weg. Aber vielleicht hole ich mir eigene ... oder gleich einen Hund?“
„Warum nicht? Der hält fit. Das ist doch gerade auch nicht so verkehrt.“
„Eben.“ Kritisch spähte Norman in den Kühlschrank und inspizierte die Vanillecreme. Sie hatten so viel Essen, dass es für eine ganze Kompanie reichen würde, wie er scherzhaft gesagt hatte. Aber inzwischen war sein Appetit auch wieder besser. Die Chemotherapie war vorüber, ihm sprossen wieder erste Haare und er konnte immerhin so gut kochen, dass er nicht verhungerte.
Aber Sadie konnte ihrem Onkel ansehen, dass er nicht glücklich war. Er war einsam und er trauerte immer noch um Fanny. Für Sadie war es auch unbegreiflich, dass ihre Tante nie wieder bei ihnen sein würde. Nachdem Norman vor wenigen Wochen das Krankenhaus verlassen hatte, hatte er sofort begonnen, das Schlafzimmer zu renovieren. Nur so ließen sich die Blutspuren endgültig beseitigen. Gary hatte ihm dabei geholfen, denn Sadie und Matt waren beide nicht dazu in der Lage gewesen. Es war noch nicht lang her, dass Matt seine Armschlinge nicht mehr tragen musste und Sadie hatte auch ziemlich lang auf Krücken laufen müssen.
Als das vorüber gewesen war, hatten sie sich den Wetterbericht angesehen und sich in den ersten Flieger gesetzt, als klar gewesen war, dass die Nationalparks im Südwesten noch problemlos befahrbar waren. An manchen Stellen hatte zwar schon Schnee gelegen, aber Sadie erinnerte sich an unvergeßliche Stunden, die so bald nicht wiederkommen würden.
Denn inzwischen hatte Matt die Ausbildung an der FBI Academy begonnen. Das war nur möglich, weil er sich mit den Ausbildern darauf geeinigt hatte, zu Anfang den Schwerpunkt auf die theoretische Ausbildung zu legen und mit dem Training etwas später zu beginnen. Seine Schulter heilte zwar gut, aber auch seine Ausbilder wollten ihn nicht zu früh dem anstrengenden Parcours im Wald, der berühmten Yellow Brick Road, aussetzen.
In diesem Augenblick betrat er die Küche. Er hatte den Tisch gedeckt und schnupperte demonstrativ.
„Das Schätzchen im Ofen riecht aber gut“, stellte er lobend fest.
„Hoffen wir, dass er die Versprechen hält“, sagte Norman. „Sadie, weißt du noch, wie uns der Braten in einem Jahr fast verbrannt ist?“
„Der Ofen war auch kaputt“, sagte sie entschuldigend.
„Ja, aber essbar war er nicht mehr. Wir mussten uns Pizza kommen lassen!“
„Wirklich?“ Matt lachte.
„Ja, wirklich. War das nicht im Jahr vor deinem Highschool-Abschluss, Sadie?“
Sie nickte. „Das war wirklich vollkommen absurd. Aber auch sehr lustig! Und die Pizza war wenigstens gut.“
„Da kann ich nicht mithalten“, gab Matt zu. „Ich habe nur eine Geschichte, in der unser Hund damals unseren Weihnachtsbaum umgerissen hat. Aber das ist bestimmt fünfundzwanzig Jahre her.“
Sadie lächelte. In diesem Moment klingelte es an der Haustür und sie schaute nach, wer dort war. Sie erkannte Matts Vater und vermutete, dass die junge Frau neben ihm Matts Schwester war.
„Matt, deine Familie ist da“, rief sie und öffnete den beiden.
„Sadie“, sagte Mr. Whitman und begrüßte sie mit einer väterlichen Umarmung.
„Schön, dass Sie da sind“, erwiderte Sadie, bevor er zurücktrat und seiner Tochter Platz machte. Sie trug ihr braunes Haar schulterlang und hatte schon auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit mit Matt.
„Du musst Tammy sein“, sagte Sadie und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.
„Stimmt genau“, sagte Tammy und lächelte.
„Da seid ihr ja“, sagte Matt aus dem Hintergrund. Tammy quiekte vor Freude und war mit einem Satz an Sadie vorbei, um ihren Bruder zu umarmen.
„Hey, man könnte ja glauben, du hast mich seit einer Ewigkeit nicht gesehen“, sagte er.
„So kommt es mir auch vor! Du machst ja Sachen, Großer, also ehrlich. Kaum passt man eine Sekunde nicht auf ...“
Er ging gar nicht weiter darauf ein. „Kommt rein“, sagte er.
Im Wohnzimmer wartete Norman auf sie alle. Matt übernahm die Vorstellungsrunde, aber dafür, dass sie einander gerade erst kennenlernten, fiel die Begrüßung sehr vertraut aus.
„Vielen Dank für die Einladung“, sagte Mr. Whitman. Er war fast so groß wie sein Sohn und ein eher hemdsärmeliger Typ, auch wenn er sich für Thanksgiving ein wenig herausgeputzt hatte. Er war älter als Norman und entsprechend etwas ergrauter. Tammy war gerade dreißig, wie Sadie wusste.
„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Norman und deutete aufs Sofa. Tammy hatte gerade erst Platz genommen, als sie ihrem Bruder bedeutete, sich zu ihr zu gesellen. Sie rutschen alle ein wenig zusammen, damit Sadie auch noch Platz hatte. Matts Vater schaute sich neugierig um.
„Ein schönes Haus“, stellte er mit einem anerkennenden Nicken fest. Derweil spähte Tammy an ihrem Bruder vorbei zu Sadie.
„Matt hat nicht übertrieben“, sagte sie. „Du hast ja wirklich so schöne Haare!“
Sadie errötete. „Alles echt.“
„Ja, so ein schönes Rot kann man auch nicht färben! Das muss so wachsen.“
„Du starrst sie an“, mahnte Matt mit brüderlicher Strenge.
„Ich starre sie überhaupt nicht an! Ich muss doch mal gucken, wen du da heiraten willst.“
„Das ist Starren, Tammy“, fand er.
„Ist es nicht!“
Sadie lachte, denn sie fühlte sich durch Matts Schwester ein wenig an ihre beste Freundin erinnert.
„Lass gut sein“, sagte sie. „Wir wollen uns doch kennenlernen, oder nicht?“
„Siehst du“, sagte Tammy triumphierend zu ihrem Bruder. „Wir verstehen uns schon.“
Sadie lächelte, denn Tammy war ihr auf Anhieb sympathisch. Matts Vater kannte sie bereits, sie hatten ihn gemeinsam besucht, bevor sie sich auf ihren Wüstentrip begeben hatten. Matt hatte seinem Vater eröffnet, dass er heiraten wollte und Sadie gleich mitgebracht, damit sein Vater die zukünftige Schwiegertochter kennenlernen konnte. Für Thanksgiving war es Normans Idee gewesen, Matts Familie nach Waterford einzuladen, denn so konnten sie sich gleich ein wenig beschnuppern. Tammy war aus New York angereist, wo sie lebte und arbeitete. Thanksgiving war für sie alle ein besonderes Familienfest.
„Es freut mich, dass Sie gekommen sind“, wandte Norman sich an Matts Familie.
„Sehr gern, wir haben uns wirklich über die Einladung gefreut. So lernen wir uns alle einmal kennen!“, sagte Mr. Whitman. „Nun, Sadie kenne ich natürlich schon, aber damit ist es ja nicht getan.“
„Nein, auch wenn ich Sie enttäuschen muss, dass wir uns heute nicht alle kennenlernen können“, sagte Norman. „Meine Tochter Joanna konnte es nicht einrichten, zu kommen.“
„Vielleicht Weihnachten“, sagte Mr. Whitman. Er warf einen Blick auf seinen Sohn. „Wie geht es der Schulter?“
„Besser“, sagte Matt. „Zwar habe ich dadurch noch eine gewisse Schonfrist in der Academy, aber die geht leider auch vorbei ...“
„Und wie geht es dir?“, erkundigte Mr. Whitman sich bei Sadie.
„Alles in Ordnung“, sagte sie. „Nach dem Wochenende fange ich auch wieder an, zu arbeiten.“
Norman beugte sich vor. „Haben Sie keine Vorbehalte. Sie dürfen uns alle Fragen stellen. Es war bestimmt eigenartig für Sie, von Matt zu hören, wer Sadie ist.“
Von dieser offensiven Äußerung war Mr. Whitman beeindruckt. Dennoch zögerte er einen Moment.
„Das stimmt schon ... Matt rief mich an und sagte mir, dass er angeschossen wurde und warum. Ich wusste ja aus den Nachrichten, was passiert ist. Aber dann sagte Matt mir, wer Sadie wirklich ist und dass die beiden heiraten wollen. Natürlich hatte er mir vorher schon von ihr erzählt, aber er hat mir nur gesagt, dass er eine neue Freundin hat. Ich wusste ja von nichts!“
Norman nickte verstehend. „Rick Foster war in unserer Familie nie ein sehr beliebtes Thema, wie Sie sich denken können. Trotzdem können Sie vorbehaltlos mit uns darüber sprechen. Nun, da er tot ist und unsere Identität kein Geheimnis mehr sein muss, wollen wir auch keins mehr daraus machen.“
„Das finde ich toll“, sagte Tammy. „Ich könnte verstehen, wenn Sie gar nicht darüber reden wollten.“
„Aber ich hasse es, zu lügen“, sagte Sadie und griff nach Matts Hand. „Ich habe Matts Nähe lang gescheut, weil ich fürchtete, ihn anlügen zu müssen.“
„Das hat sich ja zum Glück nicht bewahrheitet“, sagte er und blickte zu seiner Familie. „Es hat mich nie interessiert, wer Sadies Vater war. Für mich zählt, wer sie ist – und sie ist ein ganz wundervoller Mensch.“
„Daran habe ich keinen Zweifel“, sagte Mr. Whitman, während Sadie wieder errötete. Sie kamen aber nicht dazu, das Thema weiter zu vertiefen, weil es wieder klingelte. Diesmal ging Norman zur Tür. Er kehrte mit Phil zurück, den er auch eingeladen hatte – genau wie Tessa. Norman hatte sich ein fröhliches und geselliges Thanksgiving gewünscht. Auf dem Kamin neben dem Esstisch stand ein großes, gerahmtes Foto von Fanny, so dass Sadie das Gefühl hatte, auch ihre Tante wäre dort.
Sie stand auf, um Phil zu begrüßen. Die beiden umarmten einander, dann übernahm Matt erneut die Vorstellung aller.
„Wie schön, alle kennenzulernen“, sagte Tammy. „Ein solches Thanksgiving hatten wir seit Mums Tod nicht mehr!“
„Matt hat schon viel von Ihnen erzählt“, richtete Mr. Whitman sich an Phil. Die beiden waren gerade ins Plaudern geraten, als Gary, Sandra und Ben eintrafen. Ein Lächeln stahl sich auf Sadies Lippen, als sie ihren Neffen in der Trage entdeckte.
„Hat der Kleine viele Haare bekommen!“, staunte sie, während sie Gary und Sandra nacheinander umarmte.
„Erstaunlich, was?“ sagte Gary. „Schön, dich zu sehen. Alles gut?“
Sadie nickte. Sie waren gerade noch damit beschäftigt, sich alle vorzustellen, als Tessa dazustieß und die Runde komplett war. Zu Sadies Erstaunen hatte ihre Freundin sich die Haare komplett schwarz gefärbt, es war nichts Buntes mehr darin zu sehen.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte Sadie überrascht.
Tessa grinste verschwörerisch. „Sylvie gefällt das besser.“
„Sylvie?“, fragte Sadie, aber dann knuffte sie ihre Freundin in die Seite. „Du hast mir gar nichts erzählt!“
„Ist ja auch noch ganz frisch. Ich dachte, ich hebe mir die Überraschung für heute auf!“
„Hast du etwa eine neue Freundin?“, fragte Phil, der inzwischen hellhörig geworden war.
Tessa nickte. „Sie ist gerade bei ihrer Familie. Warum bist du nicht bei deiner?“
„Und du?“, fragte Phil lachend. Die Antwort war jedoch einfach, denn Phil hatte nur noch einen Vater, der im Pflegeheim lebte, und Tessas Mutter war vor einigen Jahren weggezogen. Allerdings hatte Tessa Weihnachten ganz für sie und ihren Bruder reserviert.
Bevor sie sich um den Tisch scharten, gehörte die Aufmerksamkeit aller dem kleinen Ben. Fröhlich glucksend lag das Baby in seiner Trage und beobachtete die vielen Gesichter, die ihn verzückt bestaunten. Mit seinen winzigen Fingern fuchtelte er in der Luft herum.
„Nein, wie süß“, sagte Tammy. „Wie alt ist er?“
„Gut zwei Monate“, sagte Sandra. „Er ist ein richtiger kleiner Schatz!“
„Lass mich raten, Jo kommt nicht?“, fragte Gary in Richtung seines Vaters.
Norman nickte. „Sie sagte, sie schafft es nicht.“
„Gut, dann ist heute die Stimmung besser“, sagte Gary. Sadie seufzte. Sie vermisste Jo auch nicht sonderlich, aber sie fand es trotzdem nicht schön, dass ihre Cousine wirklich nicht zu Thanksgiving erschien. Vor allem fiel ihr kein gescheiter Grund dafür ein. Jo war schon eine Kratzbürste gewesen, als sie alle noch jünger gewesen waren und zu Hause gelebt hatten, aber seit sie alle ihrer eigenen Wege gingen, schien Jo sich gar nicht mehr für die Familie zu interessieren. Gary war es recht und auch Sadie störte es nicht, aber sie wusste, dass es Norman wehtat. Vor allem in diesem Moment. Jo hatte sich seit der Beerdigung ihrer Mutter, die sie fluchtartig verlassen hatte, nicht mehr zu Hause blicken lassen.
Sadie fragte sich, ob sie der Grund für Joannas Fernbleiben war. Schließlich glaubte ihre Cousine, es sei ihre Schuld, dass ihr Vater Fanny ermordet hatte. Das hatte Sadie verletzt, denn sie hatte Fanny auch geliebt und sie verstand nicht, warum ihre Ermordung ihre Schuld sein sollte.
Alle scharten sich um den langen Tisch. Matt setzte sich mit Sadie neben seinen Vater und gegenüber seiner Schwester. Gary und Sandra hatten sich mit dem kleinen Ben an eine Ecke des Tisches gesetzt und Bens Trage auf einem Hocker abgestellt. Als alle Platz genommen hatten, ging Sadie Norman in der Küche zur Hand. Allerdings bestand Norman darauf, dass er den Truthahn aus dem Ofen holte. Wenig später stand das Prachtstück auf dem Tisch, umgeben von Gemüse und vielen anderen Leckereien. Sadie war nervös, während die anderen den ersten Bissen nahmen, aber die Aufregung war unnötig.
„Vorzüglich!“, lobte Mr. Whitman das Essen. Sadie und Norman tauschten einen erleichterten Blick. Matt sagte vorzugsweise gar nichts, sondern genoss das Essen einfach.
„Wie war die Scharfschützenausbildung?“, wandte er sich jedoch kurz darauf an Phil.
„Die war klasse“, erwiderte der Angesprochene. „Ich hätte nicht gedacht, wie umfangreich diese Ausbildung wirklich ist. Aber der Umgang mit Präzisionsgewehren ist gar nicht so leicht. Man muss immer die Windgeschwindigkeit beachten und man muss die Nerven haben, stundenlang auf dem Bauch zu liegen und das Ziel im Auge zu behalten.“
„Die Nerven hast du doch“, behauptete Matt.
„Schon, aber das ist wirklich nicht ohne. Macht allerdings Spaß.“
„Und welche Pläne hast du jetzt?“, fragte Sadie. „Immer noch das Hostage Rescue Team?“
Phil nickte verlegen. „Da du es jetzt ansprichst ... ja. Wahrscheinlich wirst du mich jetzt hassen, aber ... ich war vor drei Wochen drüben in Quantico und habe die Aufnahmeprüfungen gemacht.“
Für einen Moment starrte Sadie ihn sprachlos an. „Ist nicht dein Ernst.“
„Doch.“ Phil grinste.
„Du warst drüben und hast nichts gesagt?“
Er nickte. „Ich wollte erst sehen, ob ich das packe.“
„Ja, und? Hast du?“, fragte sie neugierig.
„Ja“, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht.
„Wahnsinn!“, sagte Sadie. „Sie haben dich genommen?“
Er grinste. „Am Dienstag komme ich rüber nach Quantico. Ich habe mir auch in Dale City eine Wohnung genommen.“
„Du bist aber wirklich gemein“, sagte Matt. „Weder sagst du uns, dass du bei uns drüben bist, noch erzählst du uns von diesem Erfolg!“
„Ich wollte euch überraschen“, sagte Phil. „Ich hatte nicht wirklich geglaubt, dass sie mich einladen würden. Eigentlich habe ich ja nicht besonders viel Erfahrung, sowohl beruflich als auch als Scharfschütze ... aber die haben rausgefunden, dass ich der Schütze im Grimes-Fall war. Scheinbar hat sie das beeindruckt.“
„Das kann es ja auch“, sagte Matt.
Mr. Whitman hörte aufmerksam zu, er fand das alles sehr spannend. Schließlich fragte er: „Können Sie sich das denn wirklich vorstellen – beruflich Menschen erschießen?“
Phil nahm ihm die direkte Frage nicht übel. „In letzter Zeit habe ich natürlich viel darüber nachgedacht, aber ich bin gut darin. Genaugenommen habe ich das ja auch schon hinter mir, aber an diesem Tag hatte ich die Wahl: Grimes oder Matt.“
Mr. Whitman nickte ernst. Ihm war bewusst, dass Phil damals das Leben seines Sohnes gerettet hatte.
„Ich wollte das auch nicht werten“, sagte er. „Es hat mich nur interessiert. Ich war immer so ein friedliebender Mensch und könnte mir das gar nicht vorstellen, aber ich bewundere Ihren Mut. Und ich weiß zu schätzen, dass Sie meinen Sohn damals gerettet haben.“
Phil lächelte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb.
„Ich ziehe den Hut vor dir“, sagte Matt. „Ich hab die Jungs vom HRT schon in Quantico rumlaufen sehen. Die trainieren ja den ganzen Tag!“
„Nicht den ganzen“, sagte Phil. „Aber ich kann euch sagen, die zweiwöchige Aufnahmeprüfung war hart genug. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel im Matsch gelegen!“
„Glaub ich dir“, sagte Matt. „Das blüht mir auch noch.“
„Das heißt, du bist demnächst auch beim FBI“, stellte Sadie fasziniert fest.
„So ist es“, sagte Phil. „Als Quereinsteiger. Ich meine, richtig drin bin ich noch nicht. Jetzt stehen mir erst mal sechs Monate Training bevor. Und wenn die vorbei sind ... man hat ja nicht ständig Einsätze. Aber man trainiert täglich ein paar Stunden. Immer fit bleiben, nichts verlernen.“
„Ich kann es nicht glauben“, sagte Matt. „Dann sind wir mit etwas Glück demnächst alle drei beim FBI!“
Sadie lächelte, denn der Gedanke gefiel ihr. Sie freute sich riesig für Phil, denn darauf konnte er mächtig stolz sein. Er war seinem großen Ziel auch endlich näher gekommen.
Während die Männer sich angeregt unterhielten, wandte sie sich Tammy zu.
„Matt sagte, du arbeitest in New York bei einem Fernsehsender.“
„Ja, das klingt jedoch spannender, als es ist. Ich arbeite dort im Schneideraum. Das macht Spaß, aber eine Berühmtheit bin ich nicht!“
„Das macht ja nichts“, sagte Sadie augenzwinkernd.
„Finde ich auch, aber die meisten Leute, denen ich das erzähle, verbinden immer jede Menge Glamour mit dem Fernsehen.“
„Wunschdenken“, sagte Sadie grinsend.
„Wahrscheinlich.“ Tammy zögerte für einen Moment, aber dann sprach sie es doch aus. „Als ich erfuhr, wer Matts neue Freundin ist, musste ich daran denken, dass ich dein Bild zuerst im Schneideraum gesehen habe. Das war schon irgendwie absurd. Und niemand hat herausgefunden, in welcher Beziehung du zu Foster standest?“
Sadie schüttelte den Kopf. „Zum Glück nicht. Ich befürchte immer, dass das noch kommt ... aber zum Glück tut es das nicht.“
„Ja, das stimmt. Wirklich eine verrückte Sache.“
„Da sagst du was.“ Sadie lächelte verlegen.
„Also ich kann dir versichern, Sadie ist nicht verrückt“, mischte Tessa sich von der Seite ein. „Ich kenne sie schon ewig und sie ist ein echter Goldschatz!“
„Besten Dank“, sagte Sadie grinsend. Ihre beste Freundin war wie immer unmöglich. „Erzähl du mal lieber von deiner neuen Freundin.“
„Du stehst auf Frauen?“, fragte Tammy. „Cool.“
„Cool?“, wiederholte Tessa. „Das hat auch noch keiner gesagt.“
„Ich finde das cool. Bei Frauen weiß man doch viel eher, woran man ist.“
„Nur weil du kein Händchen für Männer hast“, ärgerte Matt sie von der Seite.
„Komm du mal nach New York und guck dir die Kerle an! Die sind nicht wie hier“, beschwerte Tammy sich.
„Wo wohnst du in New York?“, fragte Tessa.
„Ich bin in einer WG in Brooklyn. Ist ganz nett. Für immer will ich dort nicht bleiben, aber im Moment macht es Spaß.“
„New York ist doch cool! Ich meine – Waterford.“ Tessa lachte. „Aber zum Sommersemester werde ich noch Informatik studieren, dann komme ich hier raus.“
„Lenk nicht vom Thema ab“, sagte Sadie streng. „Was ist mit Sylvie?“
Grinsend sagte Tessa: „Die habe ich vor zwei Wochen auf einer Queer-Party in San Francisco kennengelernt. Es gibt da eine Ebene, auf der wir perfekt harmonieren ...“
„Ich kann es mir denken“, sagte Sadie amüsiert. „Hast du ein Foto?“
Tessa nickte und nahm ein Foto aus ihrem Portemonnaie. Es zeigte eine junge Frau etwa in ihrem Alter mit langen braunen Haaren. Sie war sehr hübsch.
„Hoffentlich ergibt sich eine Gelegenheit für mich, sie kennenzulernen“, sagte Sadie.
„Ach, bestimmt. Es läuft gerade super bei uns!“
Während des Essens unterhielten sich alle angeregt miteinander. Sadie fand es toll, zu sehen, dass all die Menschen, die ihr wichtig waren, an einem Tisch saßen. Die Stimmung war super, Matts Familie fühlte sich willkommen und Norman hatte ein wenig Ablenkung und Beschäftigung.
Aber Fanny fehlte. Sadie konnte auf ihr Foto schauen, das ihr genau gegenüber auf dem Kaminsims stand. Es war ein schwacher Trost für sie, zu wissen, dass Fannys Mörder ebenfalls tot war. Ihr Tod war trotzdem vollkommen sinnlos gewesen.
Norman hielt sich darüber ziemlich bedeckt, aber Sadie wusste, dass es ihm etwas ausmachte. Das hörte sie an seiner Stimme, wenn sie mit ihm telefonierte, und sie sah es ihm an, wenn sie ihm gegenüberstand. So gut kannte sie ihn nach all den Jahren.
Aber Fannys Tod lag, genau wie Bens Geburt, auch erst etwa zwei Monate zurück. Dasselbe galt für Ricks Tod. Sadie wusste, dass er anonym auf einem Friedhof in Oregon bestattet worden war. Sie wusste jedoch nicht, wo, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Inzwischen konnte sie zwar wieder ohne Krücken laufen, aber sie musste regelmäßig gymnastische Übungen machen und ging auch noch zur Physiotherapie, damit ihr Bein wieder ganz in Ordnung kam. Allein das erinnerte sie an die Entführung durch ihren Vater – an die vielen Stunden voller Angst, in denen sie ihm ausgeliefert gewesen war, und an die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Nicht nur durch den Schuss in ihren Oberschenkel, sondern auch durch alles andere, was er getan hatte.
Entschlossen verbannte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf den Nachtisch, den Norman und Sandra aus der Küche geholt hatten. Sie hatten viel von dem Truthahn geschafft, aber den Nachtisch ließ sich auch niemand nehmen. Besonders die zuckersüchtige Tessa griff begeistert zu.
„Wie kannst du so viel Süßkram verputzen und trotzdem so dünn sein?“, fragte Sandra. „Seit der Geburt würde ich mir wünschen, endlich wieder abzunehmen!“
„Kommt noch“, versuchte Norman, seiner Schwiegertochter Mut zu machen.
„Wollt ihr eigentlich Kinder?,“ fragte Tammy an ihren Bruder und Sadie gewandt. Überrascht blickten die beiden einander an und suchten nach Worten.
„Keine Ahnung“, sagte Matt, der sich zuerst gesammelt hatte. „Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.“
„Nein“, stimmte Sadie zu, um auch etwas zu sagen. Dabei wusste sie gar nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte nicht oft darüber nachgedacht, ob sie sich eine Familie wünschte. Bis sie Matt getroffen hatte, hatte sie ja nicht mal einen Freund gehabt.
Aber wenn sie ehrlich war, war Familie etwas, was sie mit Schmerz verband. Sie hatte ihre Mutter und ihre Geschwister geliebt, aber sie hatte sie auch verloren. In der Familie hatte sie Gewalt, Angst und Missbrauch kennengelernt. Bislang hatte ihr immer das Bedürfnis gefehlt, selbst eine Familie gründen zu wollen. Sie ertrug ja schon den Gedanken daran nicht, Matt vielleicht einmal zu verlieren. Wie sollte das erst mit Kindern sein?
„Im Moment kommt das sowieso nicht in Frage“, sagte Matt, dem Sadies Schweigsamkeit nicht entging. „Ich habe gerade mit der Academy angefangen und weiß noch gar nicht, wo ich danach lande. Und Sadie ist ja auch noch nicht lang beim FBI.“
„Ach, und dabei hätte ich doch auch so gern einen niedlichen kleinen Neffen wie Ben da drüben ...“ seufzte Tammy.
„Da hätte ich einen Vorschlag für dich“, sagte Matt grinsend. „Du suchst dir einfach einen Kerl und machst selbst ein Kind!“
„Danke, lieber Bruder.“ Tammy grinste ihn breit an und versuchte, sich nicht ärgern zu lassen. In diesem Moment begann Ben, zu plärren. Er hatte die Windel voll, deshalb ging Gary mit ihm nach oben ins Bad. In der Zwischenzeit räumten die anderen den Tisch ab. Sadie brachte einige Schälchen in die Küche, aber dann ergriff sie plötzlich die Flucht auf die Terrasse.
Es war kühl und wolkenlos. Inzwischen war es schon spät und der Mond stand am Himmel. Sadie sog die kalte Luft tief in ihre Lunge und schloss die Augen.
„Hier bist du“, riss Tessas Stimme sie aus ihren Gedanken. Schlagartig fuhr sie herum.
„Tessa“, entfuhr es ihr.
„Ja, das bin nur ich.“ Tessa stellte sich neben Sadie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war vorhin die falsche Frage, oder?“
„Was meinst du?“
„Ob ihr Kinder wollt.“
„Ach, Tammy wollte nur plaudern“, winkte Sadie ab.
„Schon klar. Aber du willst gar nicht, oder?“
Die Blicke der beiden trafen sich.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Sadie.
„Wie lang kenne ich dich jetzt? Du liebst die Verbrecherjagd. Matt liebst du auch, das weiß ich ... aber ich sehe dich nicht mit einem Kind zu Hause sitzen.“
„Ich mich auch nicht“, murmelte Sadie leise. „Aber der Grund ist ein anderer.“
„Welcher denn?“
„Meine eigene Familie ist tot ... selbst die Mutter meiner neuen Familie ist tot. Familie ist etwas, das mir bislang nur wehgetan hat.“
„Kann ich verstehen“, murmelte Tessa.
„Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, seit ich mit Matt zusammen bin. Im Moment reicht es mir, ihn zu haben.“
„Das glaube ich dir. Vor allem jetzt, oder?“
Sadie nickte nur. Sie lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ist denn alles okay?“, fragte Tessa.
„Denke schon“, sagte Sadie.
„Was soll das denn heißen?“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Es ist alles okay.“
„Gut ... also wenn dem mal nicht so ist und du reden willst – ich bin hier. Du hast meine Nummer.“
„Ich weiß“, sagte Sadie. Sie wusste dieses Angebot zu schätzen, aber sie wollte jetzt nicht über ihren Vater reden. Nicht schon wieder.
„Was macht ihr denn hier?“, schreckte Matt die beiden auf.
„Frauenkram“, erwiderte Tessa knapp.
„Störe ich?“
„Nein“, sagte Sadie. Als er vor ihr stand, floh sie sich in seine Umarmung und drückte den Kopf an seine Brust.
„Immer diese Heteros“, stichelte Tessa.
„Was soll das denn heißen?“, fragte Matt und lachte.
„Sie will uns nur ärgern“, sagte Sadie.
„Klar“, sagte Tessa. „Na, ich gehe dann mal rein.“
„Bis gleich“, sagte Sadie. Matt wiegte sie in den Armen und küsste sie auf die Stirn.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja“, behauptete Sadie. „Mir war nur nach frischer Luft. Die Luft drinnen ist ja zum Schneiden.“
„Das stimmt. Was denkst du über meine Familie?“
„Sie sind toll“, sagte Sadie mit einem Lächeln. „Dein Dad ist sowieso super und Tammy ist richtig nett.“
„Das freut mich. Komm, gehen wir wieder rein.“
Sadie nickte, auch wenn sie sich kaum von ihm lösen wollte. Sie liebte es, ihm ganz nah zu sein. Seine muskulösen Arme versprachen Schutz und Geborgenheit. Und er roch so gut ...
Als sie wieder ins Wohnzimmer kamen, stand Gary gerade mit seinem Sohn auf dem Arm mitten im Raum.
„Willst du ihn mal halten?“, fragte er Sadie. Sie nickte, denn gegen ihren Neffen hatte sie absolut nichts einzuwenden. Sie nahm den Kleinen auf den Arm, der aber zu allem Überfluss sofort wieder anfing, zu weinen.
„Ach, das tut er im Moment ständig“, sagte Gary unbeeindruckt und nahm seinen Sohn zurück. Er plärrte jedoch fröhlich weiter und beruhigte sich erst auf dem Arm seiner Mutter wieder.
„Wann wollt ihr denn eigentlich heiraten?“, erkundigte sich Mr. Whitman. „Gibt es da schon Pläne?“
Sein Sohn schüttelte den Kopf. „Bisher noch nicht. Irgendwann nächstes Jahr vielleicht.“
„Ich freue mich schon. Du hast dir ein nettes Mädchen ausgesucht“, sagte Mr. Whitman und zwinkerte Sadie freundlich zu. Sofort lächelte sie und freute sich, dass ihr zukünftiger Schwiegervater sie so schätzte.
Nachdem alles aufgeräumt war, versammelten sich alle auf dem Sofa. Es wurde eng, aber es funktionierte. Ben hatte sich inzwischen beruhigt und war wieder eingeschlafen. Norman und Matts Vater waren in ein Gespräch verwickelt, Gary plauderte mit Phil, Tessa und Tammy unterhielten sich mit Sadie und Matt.
In diesem Moment fühlte Sadie sich wieder ganz ruhig. Sie war zu Hause, bei ihrer Familie, sicher und geborgen. Norman hatte das Haus schon weihnachtlich dekoriert, so dass es auch schon Weihnachten hätte sein können. Sadie hatte Thanksgiving immer gemocht und sie war froh, dass die Academy über die Feiertage schloss, so dass sie mit Matt nach Hause geflogen war.
„Hattest du jemals einen Freund?“, fragte Tammy an Tessa gerichtet.
„Nicht wirklich“, sagte Tessa. „Ich habe mal versucht, mit einem Jungen zu knutschen, aber das war nicht mein Fall. Ich stand nie wirklich auf Typen. Mädels sind mein Ding!“
„Kann ich verstehen“, sagte Matt augenzwinkernd.
„Ja, schon klar.“ Tessa streckte ihm die Zunge heraus.
„Und wie ist Sylvie so?“, fragte Sadie.
„Sie ist Kindergärtnerin. Das ist ziemlich cool. Sie wohnt in Livermore und wir besuchen uns jetzt, wann immer es geht. Sie hat übrigens auch Katzen, Sadie. Ihr würdet euch verstehen!“
Sadie lächelte. Das konnte sie sich vorstellen. Allerdings würde es wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis sie Sylvie wirklich kennenlernen konnte.
Als Gary und Sandra sich mit ihrem Sohn auf den Heimweg machten, brachen auch die anderen nach und nach auf. Irgendwann waren nur noch Norman, Matt und Sadie übrig. Sie räumten noch ein wenig auf, aber dann beschlossen auch sie, ins Bett zu gehen.
„Das war sehr schön“, sagte Norman oben im Flur. „Genau so hatte ich mir das gewünscht. Bunt und gesellig.“
„Dass Tessa dir nicht zu schrill ist“, sagte Sadie.
„Ach was, ich kenne sie doch schon ewig. Sie ist in Ordnung. So, gute Nacht, ihr beiden!“
Norman wandte sich ab und ging in sein Schlafzimmer. Sadie blickte ihm hinterher und folgte dann Matt in den Nachbarraum, den Norman als Gästezimmer hergerichtet hatte. Er musste sich allein in dem großen Haus fühlen, dachte sie.
Matt ließ sich aufs Bett fallen und stöhnte. „Ich habe mich vollkommen überfressen.“
„Das glaube ich dir“, sagte Sadie und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Matt richtete sich auf und legte einen Arm um sie.
„Da hat Tammy vorhin ja die richtige Frage gestellt“, sagte er.
„Wegen Kindern?“
Er nickte. „Willst du Kinder?“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Das ist die falsche Frage, weißt du ...“
„Ich habe darauf auch keine eindeutige Antwort. Ich weiß es nicht. Es ist nicht, dass ich Kinder nicht mag. Aber eigene?“
Sadie hätte ihm gar nicht sagen können, welcher Stein ihr angesichts dieser Worte vom Herzen fiel.
„Und du willst gar keine eigene Familie?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Irgendwie wollte ich das nie so recht. Im Augenblick reicht es mir, dich zu haben“, gab sie zu.
Matt lächelte und küsste sie zärtlich. „Wir müssen das ja auch nicht überstürzen.“
„Danke“, sagte Sadie erleichtert. Sie war immer wieder so froh, dass sie ihn hatte und blieb noch eine ganze Weile einfach bei ihm sitzen.
Allmählich entschlossen sie sich doch, ins Bad zu gehen. Gemeinsam putzten sie die Zähne, dann zog Sadie ihren Schlafanzug an. Matt hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt – weicher Stoff und ein hübscher Schnitt. Es war ein neues und ungewohntes Gefühl für sie, von einem Mann angesehen zu werden und sich hübsch für ihn zu machen. Zwar gewöhnte sie sich allmählich daran, aber in diesem Moment hätte sie sich am liebsten in irgendeiner Ecke verkrochen. Sie bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen, denn für ihr Befinden konnte Matt schließlich nichts. Er machte ja nichts falsch.
Schließlich lagen sie zusammen im Bett. Sadie lag auf der Seite und Matt hatte sich von hinten an sie geschmiegt. Im Handumdrehen war er eingeschlafen, das konnte sie an seinen ruhigen Atemzügen merken. Einen Arm hatte er um sie geschlungen, was zwar schwer war, aber ihr auch ein wohliges Gefühl schenkte. Daran lag es jedenfalls nicht, dass sie kein Auge zumachen konnte – wie so oft in letzter Zeit.
Auf ihrem Rückflug von San Francisco nach Washington spielte ihnen die Zeitverschiebung nicht in die Hände. Es war schon später Nachmittag, als sie in ihrem Apartment in Dale City eintrafen, wo zwei maunzende Katzen sie erwarteten. Inzwischen hatten Mittens und Figaro sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt, auch wenn sie dort in der Wohnung bleiben mussten. Allerdings war die Wohnung inzwischen endlich eingerichtet. Sie hatten Möbel und die waren auch schon eingeräumt. Ihre Verletzungen hatten Matt und Sadie zwar beim Aufbauen und Einräumen ziemlich behindert, aber durch ihre Krankschreibung hatten sie immerhin genug Zeit gehabt, sich um alles zu kümmern.
So richtig zuhause fühlte Sadie sich in dem Apartment jedoch noch nicht. Während Matt im Schlafzimmer seine Tasche auspackte, setzte Sadie sich mit den Katzen aufs Sofa und kraulte die beiden. Sie beobachtete Matt, als er in die Küche ging.
„Hast du Hunger?“, rief er über seine Schulter zurück.
„Schon“, erwiderte Sadie. Also stellte Matt kurzerhand eine Tiefkühllasagne in den Ofen und ging wieder ins Schlafzimmer, um neue Sachen in seine Tasche zu packen. Er wollte noch an diesem Abend zurück nach Quantico; das wurde von den Rekruten an der Academy erwartet. Während der Ausbildung lebte man dort, das war Sadie auch nicht anders gegangen. Allerdings hatte es ihr damals nichts ausgemacht. Nun jedoch graute es ihr schon wieder davor, abends allein mit den Katzen in der gemeinsamen Wohnung zu sitzen. Matt hatte die Ausbildung ja gerade erst begonnen und so würde er noch mehr als drei Monate weg sein.
Sadie fand es erstaunlich, wie sehr sie sich bereits daran gewöhnt hatte, mit ihm zusammenzuleben. Manchmal machte es ihr Angst, wie sehr sie an Matt hing und dass sie am liebsten jede Minute ihres Lebens mit ihm verbracht hätte. Nie zuvor hatte sie einen anderen Menschen so nah an sich herangelassen. Sie hatte aber auch nie zuvor das Gefühl gehabt, jemandem so sehr vertrauen zu können.
Mittens sprang vom Sofa und lief in die Küche zum Napf, um dort lautstark kundzutun, dass sie ebenfalls Hunger hatte. Während Sadie ihr folgte, um ihr Futter in den Napf zu geben, trottete Figaro gemütlich hinterher. Er hatte es selten eilig. Seufzend beobachtete Sadie die beiden beim Fressen und war froh, dass sie die Tiere bei sich hatte. Sie hatte sich so sehr an die beiden gewöhnt, als sie noch allein gelebt hatte und die Anwesenheit der Katzen sorgte schon immer dafür, dass sie sich nicht so einsam fühlte.
Gemeinsam mit Matt räumte sie ein wenig auf, bis sie ebenfalls essen konnten. Matt spähte derweil auf die Uhr.
„Ich denke, es sollte reichen, wenn wir so gegen neun losfahren“, sagte er.
„Ich hasse es, dass du schon wieder gehen musst“, murmelte Sadie.
„Ich weiß. Aber es sind doch nur ein paar Wochen, dann ist die Ausbildung vorbei und alles ist wieder wie immer.“
„Und mit Pech wirst du versetzt.“
Er zuckte mit den Schultern. „Hoffentlich nicht, ich habe auch keine Lust, schon wieder umzuziehen. Aber könntest du mitkommen? Würdest du das wollen?“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Profiler werden ja überall gebraucht ... aber eigentlich mag ich es hier gerade.“
„Na ja, eine etwas größere Wohnung wäre schon gut gewesen. Und eine ruhige Lage mit Garten für die Katzen. Ich sehe das hier nur als vorübergehende Lösung.“
Da musste Sadie ihm eigentlich zustimmen, aber etwas Ruhe und Beständigkeit wären ihr in diesem Moment wirklich recht gewesen. Und eigentlich wollten sie ja auch heiraten ... Das war im Moment wirklich kein Thema. Dafür hatte Matt keine Gelegenheit. Wenn sie ihn in ein paar Stunden nach Quantico brachte, würde sie ihn erst einmal auf unbestimmte Zeit nicht wiedersehen.
„Was ist los?“, fragte er. „Du wirkst so traurig.“
Sadie seufzte. „Ich dachte nur gerade daran, dass du gleich wieder weg bist und ich gar nicht weiß, wann ich dich wiedersehe.“
„Ich bin doch nicht aus der Welt, Süße. Ganz im Gegenteil, ich bin ganz in deiner Nähe! Ich werde dir schreiben und dich anrufen und sobald man uns rauslässt, bin ich wieder bei dir“, sagte er.
„Ich weiß ... da müssen wir jetzt wohl durch.“
Matt griff nach ihrer Hand und drückte sie liebevoll. „Das schaffen wir schon. Allerdings bin ich froh, dass du weißt, was mich da jetzt erwartet. Dadurch verstehst du es ja besser.“
„Das stimmt“, sagte Sadie. Bald hatten sie das Essen bis auf den letzten Krümel verputzt. Während Matt in der Küche aufräumte, schlang Sadie von hinten die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Lächelnd hielt er inne und drehte sich zu ihr um. Er küsste sie aufs Haar, auf die Stirn und versank schließlich in einem zärtlichen Kuss mit ihr.
„Jetzt will ich auch nicht mehr weg“, murmelte er. „Das hast du ja gut hinbekommen!“
Sadie steckte ihre Hände unter seinen Pullover. Er verstand die Einladung und tat es ihr gleich. Unter Küssen zog er ihr den Pullover aus und fuhr fort, sie am Hals und weiter abwärts zu küssen. Sadie schloss die Augen und genoss jede seiner Berührungen.
„Ich weiß, was wir jetzt machen sollten“, sagte er grinsend. „Wer weiß, wann wir das nächste Mal dazu kommen?“
Das ließ Sadie sich auch nicht zweimal sagen. Augenblicke später lagen sie im Schlafzimmer auf dem Bett und Matt gab der Tür einen Stoß, um die Katzen auszusperren. Die beiden wollte er gerade nicht sehen.
Sadie lag rücklings auf dem Bett und Matt beugte sich über sie. In einer liebevollen Bewegung strich er ihr Haar aus der Stirn und ließ seine Hand über ihren Körper wandern. Als er seinen Pullover auszog, sah Sadie sich außerstande, noch die Finger von ihm zu lassen. Sein muskulöser Körperbau machte sie schwach. Als sie seine Schulter berührte, hielt sie inne. Anders als sie seinerzeit hatte er einen Durchschuss gehabt, der gut verheilte. Trotzdem musste sie bei dieser Verletzung immer daran denken, wer sie ihm beigebracht hatte.
Matt spürte genau, woran sie dachte, ging aber nicht darauf ein. Er versuchte, sie abzulenken, indem er sich an ihrer Hose zu schaffen machte und sie ihr ganz langsam auszog.
„Du bist wunderschön“, sagte er, als sie schließlich nur noch in Unterwäsche neben ihm lag. Sie lächelte gerührt, denn solche Komplimente konnte sie gar nicht oft genug hören.
„Ich liebe dich“, sagte sie leise. Matt erwiderte diese Worte und begann, sie sanft durch die Unterwäsche zu streicheln. Sadie schloss die Augen und gab sich seinen Zärtlichkeiten vollkommen hin. Er wusste genau, was ihr gefiel. Seine Erfahrung hatte es ihr erleichtert, das überhaupt selbst einmal herauszufinden. Es war ihr nie schwergefallen, Matt zu vertrauen und sich mit ihm auf Entdeckungsreise zu begeben.
Langsam zog er ihr den BH aus. Als sie seine Hände auf der bloßen Haut spürte, entrang sich ihr ein leiser Seufzer. Matt wertete es als Ansporn und liebkoste ihre Brüste mit den Lippen. Sadie krallte sich an seinen Haaren fest und hielt die Luft an. Gleichzeitig ließ er eine Hand unter ihrem Slip verschwinden und streichelte sie im Schoß.
Sie glaubte, wahnsinnig werden zu müssen. Mit zitternden Fingern machte sie sich an seiner Hose zu schaffen und wollte ihm etwas von den Zärtlichkeiten zurückgeben, die er ihr zuteil werden ließ, aber er hielt ihre Hand sanft fest.
„Genieße es doch einfach“, sagte er und küsste sie. Er zog ihr den Slip aus und fuhr unbeeindruckt fort, sie zu liebkosen. Sadie krallte sich in der Decke fest und schnappte nach Luft. Es bereitete ihm gar keine Mühe, sie in Ekstase zu versetzen.
„Du bist so gemein“, sagte sie leise.
„Das gehört dazu“, sagte er.
„Matt ...“
„Was denn?“
„Komm schon.“
„Du bist aber ungeduldig“, sagte er und grinste. Er drückte ihre Beine auseinander und legte sich über sie, aber weiter tat er nichts. Gequält sah sie ihn an und brachte ihn damit zum Lachen.
„Sei nicht so gierig“, sagte er und schlang seine Finger um ihre. Er schenkte ihr einen tiefen Kuss und wurde dann doch endlich eins mit ihr. Sadie vergaß kurz, zu atmen und bäumte sich unter ihm auf. Das war der schönste Ansporn für ihn. Sie hatte die Beine um seine geschlungen und gab sich ganz dem intensiven Gefühl von Wärme hin, das sie überkam. Sie liebte es, ihn ganz dicht an sich zu fühlen und seine Wärme zu spüren. Genau das brauchte sie in diesem Moment.
Matt konzentrierte sich darauf, sie um den Verstand zu bringen. Er streichelte und liebkoste sie zärtlich und beobachtete, wie sie zunehmend die Kontrolle verlor, bis sie schließlich mit einem erstickten Schrei unter ihm erstarrte und ihn keuchend an sich drückte. Er ließ sich einfach mitreißen, küsste sie und sank zitternd neben sie. Er schaffte es gerade noch, die Decke halb über sie beide zu breiten, bevor er das Gefühl hatte, sich nicht mehr rühren zu können. Keuchend schmiegte er sich an Sadies Schultern und vergrub die Nase in ihrem wunderbar duftenden Haar. Sadie legte sich auf die Seite und schlang einen Arm um ihn. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie spürte seinen beschleunigten Herzschlag und beobachtete, wie sich seine Brust unter schnellen Atemzügen hob und senkte.
In diesem Moment fühlte sie sich endlich wieder richtig lebendig, aber Matt anzusehen, zerriss ihr fast das Herz. Im Augenwinkel sah sie immer noch seine Schusswunde. Es hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, ihn in Handschellen und mit der blutigen Schulter zu sehen. Das Wissen, dass sie ihn nur ganz instinktiv davor bewahrt hatte, dass ihr Vater ihn doch noch erschoß, nagte an ihr. Niemand durfte ihr Matt wegnehmen.
Augenblicke später bemerkte sie, dass Matt eingeschlafen war. Lächelnd beobachtete sie, wie er friedlich dalag und schlief. Sie selbst hatte auch keine große Lust, sich zu bewegen. Allerdings war sie in diesem Moment auch ganz ruhig und zufrieden. Das war ein perfekter Moment.
Nein, etwas anderes als das wollte sie gar nicht. Nichts trieb sie dazu, eine eigene Familie haben zu wollen. Nicht noch mehr, was man verlieren konnte. In ihrem Leben hatte sie genug verloren.
Instinktiv krallte sie ihre Finger in Matts Oberarm, aber das merkte er nicht. In ihren Augen brannten Tränen, als sie ihn ansah. Sie fühlte sich wie ein verliebter Teenager, der sich nicht einen einzigen Moment lang von seiner ersten Flamme trennen wollte. So ähnlich war es ja auch fast, wenn man davon absah, dass sie zehn Jahre zu alt dafür war.
Seine kurzen Bartstoppeln verleiteten sie geradezu, sie zu streicheln, aber damit hätte sie ihn nur geweckt und das wollte sie nicht. Sie wollte, dass er einfach nur dalag, damit sie ihn ansehen konnte.
Bis sie ihn getroffen hatte, hatte sie sich nie viel aus Männern gemacht und sie hatte sich auch nicht wirklich nach Liebe oder Sex gesehnt. Beim Gedanken daran hatte sie zu oft an ihren Vater denken müssen, der das alles pervertiert und Frauen entführt hatte, um sie zu foltern und zu vergewaltigen. Dieses Wissen hatte sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt. Erst später war ihr klar geworden, was das eigentlich bedeutete, aber das hatte es fast noch schlimmer gemacht.
War ihr Leben je normal verlaufen?
Sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es langsam Zeit war. Sie weckte Matt, der sie selig ansah und noch schnell unter die Dusche sprang, bevor er sich seine Tasche schnappte und sie sich in seinen Challenger setzten, um nach Quantico zu fahren. Sadie mochte seinen Wagen und war schon ein paar Mal mit ihm gefahren, deshalb traute sie sich zu, den Wagen wieder nach Hause zu bringen. Auf dem Hinweg fuhr Matt jedoch. Das Radio spielte leise, auf der Interstate war um diese Zeit nichts los. So brachten sie den Weg nach Quantico für Sadies Geschmack viel zu schnell hinter sich.
Vor den Unterkünften der Academy parkte Matt und stellte den Motor ab. Sie stiegen beide aus und Matt stellte seine Tasche noch einmal ab, bevor er Sadie umarmte und ihr einen liebevollen Kuss schenkte.
„Ich werde dir schreiben“, versprach er noch einmal und klopfte auf seine Hosentasche, in der er sein Handy verstaut hatte.
„Du wirst mir fehlen“, murmelte Sadie. Fast hätte sie ihm gesagt, dass er alles für sie war, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihn das nur unter Druck setzen würde.
„Gute Heimfahrt“, sagte Matt, während er nur noch ihre Hand festhielt.
„Du schaffst das schon, das weiß ich.“ Sadie hob einen Daumen und lächelte.
„Na klar, und dann sind wir bald beide beim FBI.“ Er küsste sie noch einmal. „Ich liebe dich, Sadie Scott.“
Ihr Herz machte einen Sprung. „Ich liebe dich auch“, sagte sie.
Matt wandte sich ab, griff nach seiner Tasche und ging hinüber zum Gebäude. Sehnsüchtig blickte Sadie ihm hinterher. Er drehte sich noch einmal um, bevor er in der Tür verschwand, aber das machte es nicht besser für sie. Mit Tränen in den Augen starrte sie zur Tür hinüber, aber Matt war schon verschwunden.
Nur langsam setzte sie sich ins Auto und startete den Motor. Alles roch nach Matt. Das war sein Auto, aber jetzt war er weg. Es war die Hölle für Sadie, aber sie konnte und wollte ihm das nicht nehmen. Er hatte doch immer so gern zum FBI gewollt. Und jetzt hatte er es fast geschafft ...
Sie löste die Handbremse und rollte langsam vom Parkplatz. Verbissen kämpfte sie die Tränen zurück, denn jetzt musste sie fahren.
Im Radio lief ein Song von Monster Magnet, die Matt sehr gern hörte. Trotzig drehte Sadie das Radio lauter und konzentrierte sich auf das Lied. Auf der Interstate angekommen, trat sie das Gaspedal bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch und lauschte auf das Röhren der V8-Maschine unter der Motorhaube. Das tat jetzt gut.
Well I’ve wasted enough time on the edge of forever, dröhnte Dave Wyndorf ins Mikrofon. Sadie trommelte auf dem Lenkrad herum und sang mit. „And I’ve paid all the goddamn dues that I wanna pay ...“
Interessanter Zufall, dachte sie stumm und sang weiter mit. Sie wusste nicht, ob sie gut singen konnte, aber im Auto war ihr das egal.
Trotzdem hatte sie es bis zu Hause nicht geschafft, das Gefühl von Einsamkeit abzulegen. Sie betrat das Apartment, aber die Katzen kümmerten sich nicht um sie. Figaro und Mittens hatten sich aufs Sofa gelegt; einer links und einer rechts. Sadie setzte sich in die Mitte dazwischen und betrachtete ihre beiden Katzen, die so taten, als würden sie schlafen.
„Jetzt sind wir wieder allein“, murmelte sie und kraulte Figaro. Der Kater begann zu schnurren. Sadie schaltete den Fernseher ein, aber es kam nichts, was sie ablenkte. Außerdem war sie müde, deshalb beschloss sie zeitig, ins Bett zu gehen.
Als sie allein im Bad stand und sich die Zähne putzte, betrachtete sie sich missgelaunt im Spiegel. Das gefiel ihr gar nicht. Sie wollte nicht allein sein. Sie wollte nicht ohne Matt sein.
Aber er war fort. Im Bett wurde ihr das geradezu schmerzhaft bewusst. Die Decken und Laken waren zerwühlt, aber sie legte sich ganz allein hinein und seufzte.
„Mau“, machte es in der Tür. Figaro hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wann Sadie Zuspruch brauchte, und sprang mit einem Satz aufs Bett. Sadie breitete einladend den Arm aus und tatsächlich schmiegte sich der Kater an ihre Seite. Gerührt lächelte sie und kraulte den schnurrenden Haufen Fell.
Aber Figaro täuschte auch nicht darüber hinweg, dass Matt nicht dort war. Und dass es dunkel war. Sadie hatte bewusst die Tür offengelassen, so dass ein wenig Licht aus dem Flur ins Schlafzimmer drang. Vollständige Dunkelheit hätte sie nicht ertragen. Nicht, nachdem ihr Vater sie in dieses Loch gesperrt hatte.
„Mein eigen Fleisch und Blut ist so eine hübsche Frau geworden. So verlockend ...“
Sie wimmerte erstickt und schloss die Augen, aber die Tränen kamen trotzdem. Ihr war nach Schreien zumute, aber sie konnte ja nicht. Am liebsten hätte sie gebettelt und ihn angefleht, aber auch das konnte sie nicht.
Er drückte ihr das Messer immer fester an die Kehle. Sie wagte kaum zu atmen. Als sie spürte, wie er sie anfasste, schluchzte sie erstickt und ballte die gefesselten Hände zu Fäusten.
Er war ihr Vater. Das konnte er nicht machen. Das war völlig verrückt ...
Aber er machte es. Er zerrte ihr den letzten Fetzen Kleidung vom Leib, bis sie splitternackt war, und warf sie bäuchlings auf den Boden. Sie versuchte, sich umzudrehen, aber sie schaffte es nicht. Er hielt sie davon ab.
„Folter ist Lust, verstehst du, Kim?“
Sie schrie, aber geknebelt waren das nicht mehr als ein paar hoffnungslose Laute. Sie lag gleich neben der geöffneten Falltür, die tief und schwarz neben ihr aufklaffte.
Wenn er fertig war, warf er sie dort wieder hinein ...
„Du wirst deinen Matt nie wiedersehen. Jetzt hast du ja mich ...“
Sadie zappelte und protestierte wie wild, aber es half nicht. Der Schmerz kam trotzdem.
Schweißgebadet riss sie die Augen auf. Fast hätte sie um sich geschlagen. Mit gesträubtem Fell stand Figaro neben ihr auf dem Bett und starrte sie an. Er machte einen Buckel, aber als er merkte, dass alles in Ordnung war, legte er sich wieder neben sie und leckte seine Pfoten.
Langsam setzte Sadie sich aufrecht. Nicht schon wieder. Sie hatte gehofft, dass sie endlich nachts ihren Frieden haben würde. Viel zu oft suchten diese Bilder sie nachts im Traum heim. Und wenn es nicht das war, dann sah sie sich in einem finsteren Loch, in absoluter Dunkelheit. Ein Loch, in dem das Einzige, was sie sehen konnte, die bösen Augen ihres Vaters waren.