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Ein Neuanfang wartet auf FBI-Agentin Sadie Scott: Als Profilerin arbeitet sie nun für das FBI Los Angeles Division und ermittelt gleich in ihrem ersten großen Fall gegen einen Serienvergewaltiger. Während der Ermittlungen lässt sie sich nicht anmerken, was sie wenige Monate zuvor durchgemacht hat. Davon wissen in Los Angeles nur ihr Freund und Kollege Phil und Matt, mit dem sie frisch verheiratet ist. Auch Matt ist nun Agent beim FBI und schon bald bittet er Sadie um Hilfe. Er ermittelt undercover gegen einen mexikanischen Kartellboss und ist zufällig auf eine Mordserie an illegalen Einwanderinnen aus Mexiko gestoßen. Erschreckende Gemeinsamkeit: Alle toten Frauen haben kurz vor ihrer Ermordung ein Kind geboren. Neben ihren eigenen Ermittlungen unterstützt Sadie Matt bei seiner Arbeit, doch beide ahnen nicht, in welche Gefahr sie sich begeben …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Undercover
Sadie Scott 6
Psychothriller
Liebe ist die stärkste Macht der Welt,
und doch ist sie die demütigste, die man sich vorstellen kann.
Mahatma Gandhi
Inzwischen hatte Sadie aufgehört, zu zählen, wie oft sie jeden Tag die Polizeisirenen hörte, die den Wilshire Boulevard entlangjagten und langsam wieder verklangen. Selbst durch die geschlossenen Fenster konnte man, wenn es leise war, das Rauschen der nahen Interstate 405 hören, das Hupen der Autos auf dem flimmernden Asphalt.
Das Büro, in dem sie arbeitete, lag auf der dem Pazifik zugewandten Seite des FBI-Hochhauses im Nordwesten von Los Angeles. Das hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.
Die Mittagspause war gerade vorbei und sie wollte sich wieder an ihren Rechner setzen, als ihr Telefon klingelte. Die Nummer auf dem Display des Telefons sagte ihr nichts.
„Special Agent Sadie Whitman“, meldete sie sich und klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter ein.
„Gut, dass ich Sie erreiche, Agent Whitman“, sagte eine freundliche Frauenstimme. „Hier ist Detective Marla Winter vom Pasadena Police Department. Ich denke, ich benötige Ihre Hilfe.“
„Worum geht es?“, fragte Sadie.
„Es geht um den Pasadena Stalker“, sagte Detective Winter.
„Okay, was kann ich für Sie tun?“
„Er hat vorletzte Nacht wieder zugeschlagen. Diesmal traf es eine junge Verkäuferin. Sie ist zwar inzwischen stabil, aber sie redet nicht wirklich mit mir. Ich denke, allmählich könnte ich da wirklich Hilfe gebrauchen.“
Sadie nickte verstehend. Der Pasadena Stalker war ein Serienvergewaltiger, der Pasadena nun seit dem Frühjahr in Atem hielt. In unregelmäßigen Abständen brach er in die Apartments alleinstehender Frauen ein, überwältigte sie und quälte sie die ganze acht lang. Sadie hatte schon längst davon gehört und war nicht überrascht über diesen Anruf.
„Man sagte mir, dass Sie ein Händchen für sowas haben“, fuhr Detective Winter fort.
„Ich kann mein Glück gern versuchen“, sagte Sadie.
„Es geht um Janine White. Sie liegt im Huntington Memorial Hospital. Bitte, sprechen Sie mit ihr. Ich brauche diese Aussage. Vielleicht hat sie etwas an ihm bemerkt, das uns weiterhilft.“
„Bin schon unterwegs“, sagte Sadie. Winter verabschiedete sich von ihr und Sadie legte auf. In Windeseile hatte sie ihre Sachen zusammengesucht und hielt den Autoschlüssel in der Hand. Der schnellste Weg nach Pasadena führte über die Interstate 10. Um diese Zeit war da noch kein Stau zu befürchten, deshalb ging sie das Risiko ein.
Sie setzte sich in einen der FBI-Dienstwagen, gab das Ziel im Navigationsgerät ein und fuhr los. Aus dem Radio schallten die Black Keys.
Jetzt also der Pasadena Stalker. Sie war mit dem Fall bereits vertraut, denn der fiel jetzt in ihre Zuständigkeit. Seit sechs Wochen gehörte sie als einzige Profilerin zur Major Crimes Unit des FBI in Los Angeles, einer Einheit, die bei schweren Verbrechen aktiv wurde und entweder von vornherein ermittelte oder die Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützte. Als Profilerin der Behavioral Analysis Unit hatte man sie mit Kusshand genommen – erst recht, nachdem sie im Frühsommer noch vor ihrem Umzug einen Kurs absolviert hatte, der sie im Umgang mit traumatisierten Menschen schulte. Auf die Idee hatte sie das Profiler-Team in England gebracht, das über einen ausgebildeten Traumatherapeuten verfügte. Sadie wusste, wie wichtig es war, jemanden mit solchen Kompetenzen an Bord zu haben - und weil sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte, hatte sie eben selbst eine solche Fortbildung gemacht.
Es war brütend heiß, aber dank der Klimaanlage merkte Sadie das im Auto kaum. Tatsächlich war um diese Zeit nicht sonderlich viel Verkehr, so dass sie nach einer halben Stunde pünktlich in Pasadena eintraf. Sie parkte den Wagen in der Nähe des Krankenhauses und erkundigte sich, nachdem sie ihre Dienstmarke vorgezeigt hatte, am Empfang nach Janine White.
Während sie auf den Aufzug wartete, betrachtete sie ihr Spiegelbild in den Aufzugtüren. Sie trug eine schlichte, nicht zu schicke Bluse, eine schwarze Hose, unauffällige Schuhe. An diesem Tag hatte sie sich ihr langes, feuerrotes Haar zu einem Zopf gebunden, beschloss nun aber, es doch lieber offen zu tragen. Das sah nicht so streng aus. Einschüchternd wollte sie schließlich nicht auf Janine wirken.
Als sie die richtige Etage erreicht hatte, verließ sie den Aufzug und folgte dem Flur bis zu dem Zimmer, in dem Janine White lag. Sie klopfte vorsichtig, wartete kurz und öffnete dann langsam die Tür. Das Krankenbett stand direkt vor dem Fenster; es war ein Einzelzimmer. Der Monitor neben dem Bett war ausgeschaltet, davor stand ein Tropf. Im Bett lag eine junge Frau mit dunklem Haar. Sie blickte zu Sadie, sah sie aber nicht wirklich an.
Schon von der Tür aus konnte Sadie sehen, wie furchtbar er sie zugerichtet hatte. Das tat er immer. Sie hatte ein blaues Auge, im Gesicht klebten Pflaster, ihre Handgelenke waren bandagiert. Mehr konnte Sadie auf Anhieb nicht sehen, auch wenn sie wusste, dass da mehr war.
„Hallo, Janine“, sagte Sadie halblaut. „Ich hoffe, ich störe nicht. Mein Name ist Sadie Whitman, ich bin beim FBI.“ Zur Untermauerung ihrer Worte hielt sie kurz ihre Marke hoch.
Doch Janine erwiderte nichts. Sie schaute wieder aus dem Fenster, ihr Blick ging unverändert ins Leere.
Sadie zog einen Stuhl heran und setzte sich ans Fußende des Bettes. Aus dem Fenster konnte man auf die nahen Berge blicken. Sie waren sonnenverbrannt. Es wurde Zeit, dass es mal wieder regnete.
Sadie sagte überhaupt nichts. Janine hatte sie schon angesehen und sich jetzt wieder eingekapselt, aber das würde nicht so bleiben. Sadie studierte die Beschriftung am Fußende des Bettes und wartete.
„Was wollen Sie?“, fragte Janine schließlich. Sie klang heiser, die Würgemale an ihrem Hals verrieten den Grund dafür. Sadie hob den Kopf, die Blicke der beiden trafen sich.
„Vorhin habe ich mit Detective Winter telefoniert“, sagte Sadie. „Sie ist besorgt.“
„Besorgt?“, wiederholte Janine verständnislos.
Sadie nickte. „Sie sagte mir, dass Sie nicht mit ihr gesprochen haben.“
Janine schüttelte den Kopf, aus ihrem Auge löste sich eine Träne. Dieser Anblick ließ Sadie nicht kalt, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen.
„Ich verstehe, wie schwer Ihnen das fallen muss“, sagte sie und hatte das Gefühl, das müsse in Janines Ohren wie der pure Hohn klingen. Wie eine Floskel. Dabei meinte sie es ernst.
Erwartungsgemäß sagte Janine nichts, deshalb fuhr Sadie fort. „Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen, um den Täter zu finden. Glauben Sie mir, die Polizei nimmt den Fall sehr ernst und tut alles in ihrer Macht Stehende, damit so etwas nicht wieder passieren muss.“
Doch Janines einzige Reaktion bestand aus einem leisen Schluchzen. Sadie konnte sie gut verstehen. Sie hatte schon vermutet, dass sie so nicht weiterkam. Also beschloss sie, aufs Ganze zu gehen und Janine zu einer Reaktion zu provozieren.
„Wir wissen über ihn, dass er sehr groß ist, trainiert aussieht, immer eine Maske trägt ...“
In diesem Moment begann Janine plötzlich, sehr heftig zu schluchzen. Sadie hörte sofort auf. Sie hatte gehofft, durch diese Konfrontation etwas auszulösen.
„Er hat so dunkle Augen“, sagte Janine. „So böse ...“
„Wie klingt seine Stimme?“, fragte Sadie. Sie war sofort hellwach und konzentriert.
„Ruhig. Immer ruhig. Es sei denn, er ist wütend“, sagte Janine. „Dann klingt sie gefährlich.“
„Drohend?“, fragte Sadie.
Janine nickte. „Ich kann sie immer noch hören.“
„Hat er einen Akzent?“
Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Er klingt wie jemand aus der Gegend.“
„Kommt Ihnen irgendwas an ihm bekannt vor?“
„Nein, nichts. Ich weiß nicht, wie er auf mich gekommen ist.“
Sadie hatte nun nicht mehr den Eindruck, dass Janine nicht sprechen wollte. Man musste nur die richtigen Fragen stellen. Mit ihrer Aufzählung seiner Merkmale hatte sie bei Janine etwas getriggert, das ihr dabei half, zu sprechen.
„Wann sind Sie vorgestern nach Hause gekommen?“, fragte Sadie.
„Das war so gegen halb neun ... ich hab mir noch schnell ein Sandwich gemacht und die neue Folge von Navy CIS geguckt.“ Janine holte tief Luft. „Sie war noch nicht vorbei, als er plötzlich hinter mir stand. Ich weiß nicht, wie er reingekommen ist. Ich habe nichts gehört. Nicht mal, wie er hinter mich geschlichen ist.“
„Wie hat er sich bemerkbar gemacht?“
„Er hat mir mit der einen Hand das Messer an die Kehle gehalten und die andere auf meinen Mund gedrückt. Dann hat er gesagt, ich soll mich auf den Bauch legen, auf den Boden.“ Tränen strömten Janine über die Wangen. „Ich habe es gemacht. Bis dahin hatte ich ihn nicht mal gesehen.“
Sadie nickte ernst. Das machte er eigentlich immer so. Weil Janine heftig weinte, übernahm Sadie das Reden für sie.
„Dann hat er Sie gefesselt?“, fragte Sadie.
Janine nickte. „Mit Handschellen.“ Mehr konnte sie nicht sagen, ihre Stimme brach weg. Doch Sadie ließ ihr Zeit.
„Was ist dann passiert?“, fragte sie nach einigen Augenblicken.
„Er hat verhindert, dass ich schreie. Mit einem Tuch. Dann lag ich am Boden und er ist ins Schlafzimmer gegangen.“ Janine zitterte heftig und wischte sich über die Augen. „Er hat Stricke an meinem Bett befestigt. Als er damit fertig war, ist er zurückgekommen. Er hat mich ins Schlafzimmer geschleift, meine Füße festgebunden und dann meine Hände. Ich konnte mich nicht mehr rühren.“ Sie schnappte heftig nach Luft und atmete stoßweise.
„Ganz ruhig“, sagte Sadie. „Sie machen das wirklich toll, Janine. Das ist uns eine wahnsinnig große Hilfe dabei, ihn zu finden, wissen Sie das?“
„Er ist so ein Schwein“, sagte Janine schluchzend. Sadie wusste, dass sie es jetzt nicht übertreiben durfte, sonst machte Janine wieder dicht. Erneut ließ sie ihr einen Moment Zeit, bevor sie ihr wieder auf die Sprünge half.
„Dann hat er Ihre Sachen mit dem Messer zerschnitten“, formulierte sie es vorsichtig.
Janine nickte. „Er hat sich Zeit gelassen. Ich konnte ja nichts tun. Nicht mal schreien. Er ... er hat nur die ganze Zeit gesagt, dass ich ihn ansehen soll. Das wollte ich nicht ... es war furchtbar.“
Das konnte Sadie sich nur allzu gut vorstellen. Sie konzentrierte sich jedoch ganz auf Janine, auf ihre Worte und das, was ihr zugestoßen war. Inzwischen wussten die Ermittler über den Pasadena Stalker, dass er ein Sadist war. Er war sehr geschickt, denn niemand sah ihn je kommen und gehen. Die Frauen in ihren Wohnungen zu überfallen war seine Vorgehensweise. Das war auch gar nicht so selten, wie Sadie wusste. Er benutzte einen Dietrich, lauerte ihnen auf, überwältigte sie, fesselte sie an ihr eigenes Bett und tat dann die ganze Nacht über, wonach auch immer ihm der Sinn stand. Er vergewaltigte sie, traktierte sie mit seinem Messer, würgte sie. Dabei war er die ganze Zeit maskiert und er benutzte Kondome, so dass die Ermittler nicht das kleinste Krümelchen DNA hatten. Sadie hoffte, dass er irgendwann einen Fehler machte. Dass er immer maskiert und darauf bedacht war, seine DNA für sich zu behalten, ließ sie vermuten, dass er einschlägig vorbestraft und sein genetischer Fingerabdruck längst in der Datenbank hinterlegt war.
„Hat er mit Ihnen gesprochen?“, fragte Sadie schließlich.
„Ja ... er hat verschiedene Dinge gesagt. Er wollte mich erniedrigen. Er hat mir Dinge befohlen ... er wollte ja, dass ich nicht leise bin. Ich sollte auch weinen. Das hat ihn angetörnt“, berichtete Janine mit zitternder Stimme.
„Haben Sie sich irgendwas gemerkt? Ist Ihnen irgendwas an ihm aufgefallen? Welche Kleidung trug er?“
„Er trug einen Overall“, sagte Janine. „Dunkelblau. Darunter hatte er ein T-Shirt. Das hat er auch die ganze Zeit anbehalten. Mir ist aufgefallen, dass er für einen Weißen ziemlich dunkle Haut hatte. Vielleicht stammt er von Einwanderern ab. Unter dem T-Shirt trug er eine Kette.“
„Eine Kette?“, wiederholte Sadie interessiert.
„Ja, eine dicke Silberkette. Irgendwann konnte ich den Anhänger sehen. Und er hatte eine Tätowierung am Oberarm.“
Sadie nickte, davon wusste sie schon. Die Kette interessierte sie viel mehr.
„Wie sah der Kettenanhänger aus?“, fragte sie.
„Ich fand das verrückt ... es war ein Engel. Ein silberner Engel, ziemlich groß. Er hat die Kette gleich wieder unter sein T-Shirt gesteckt.“
„Danke, Janine. Davon hat uns bislang noch keine Frau berichtet.“ Ganz sicher war Sadie sich da zwar nicht, aber soweit sie über den Fall Bescheid wusste, hatte sie davon nichts erfahren. Außerdem wollte sie Janine aufbauen und ihr das Gefühl geben, dass sie die Ermittlungen vorantrieb. Irgendetwas musste ihre schmerzvolle Aussage ja bringen.
„Was hat er zu Ihnen gesagt?“, fragte Sadie dann. „Ist Ihnen etwas Besonderes im Gedächtnis geblieben?“
Janine putzte sich die Nase und überlegte eine Weile. „Einmal war es seltsam ... da hat er mich Susie genannt. Das habe ich nicht verstanden.“
Susie? Damit konnte Sadie auch erst nichts anfangen, aber sie beschloss, es sich zu merken.
„Sonst noch etwas?“
Janine schüttelte den Kopf. „Nichts Bestimmtes. Eigentlich nur Befehle ... Dinge, die ich tun sollte. Ich weiß nicht, ob er besonders gesprächig war oder nicht. Er hat immer wieder etwas gesagt. Wenn er ...“ Janine holte tief Luft. „Wenn er mich geschnitten hat, hat er mich gefragt, ob das weh tut. Oder wenn er mich gewürgt hat ... ob er loslassen soll.“
„Okay“, sagte Sadie. „Sie sind richtig tapfer, Janine.“
„Dieses Schwein!“, schrie Janine plötzlich. „Sie müssen ihn kriegen, bitte ... Ich dachte, das hört nie auf. Er hat es einfach immer wieder getan. Er ... er liebt Blut. Er ...“
„Ganz ruhig“, versuchte Sadie, Janine mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Ich weiß, was er getan hat.“
Schluchzend verbarg Janine das Gesicht in den Händen. „Ich wollte einfach nur, dass er aufhört. Dass er verschwindet. Mich einfach in Ruhe lässt ... aber ich konnte ja nichts tun. Gar nichts. Ich dachte, ich ersticke. Dann habe ich gehofft, dass er verschwindet und mich am Leben lässt, weil er ja maskiert war. Und das hat er dann auch gemacht.“
„Wann ist er gegangen?“, fragte Sadie.
„Im Morgengrauen. Als es anfing, hell zu werden, hat er sich angezogen, sein Messer genommen und ist gegangen. Einfach so. Er hat nicht mal was gesagt. Losgebunden hat er mich auch nicht. Irgendwann habe ich dann versucht, dieses Tuch aus dem Mund zu kriegen. Ich habe geschrien, so laut ich konnte. Ich habe am Bett gerüttelt. Schließlich haben die Nachbarn dann an der Tür geklopft und als ich nicht aufgemacht habe, haben sie die Polizei gerufen. Die hat mich gefunden.“
Genau wie in den anderen Fällen. Der Täter hatte ja kein Problem damit, in eine Wohnung in einem Apartmentkomplex einzusteigen. Bislang waren die Frauen alle am nächsten Morgen gefunden worden – mit Schnittverletzungen am ganzen Körper. Einige der vorigen Opfer hatten berichtet, dass er es genoss, ihnen in die Haut zu schneiden und an ihrem Blut zu lecken. Sadie hatte sich geschüttelt, als sie davon gelesen hatte. Er genoss es, Macht zu haben und sie auszuüben – stundenlang. Er vergewaltigte die Frauen und wenn er in ihren Zimmern irgendwelche Gegenstände fand, die er dafür benutzen konnte, nahm er auch die. Er würgte sie, wenn ihm danach war – manche bis zur Bewusstlosigkeit. Dann weckte er sie wieder auf.
Aber es war immer nur eine Nacht. Dann hatte er genug, ging wieder – und er ließ seine Opfer am Leben. Für Sadie klang das nach einem gewaltigen Ego. Viele dieser Täter begingen anschließend noch Morde, um ihre Taten zu verdecken und Zeugen zu beseitigen, aber das war diesem Kerl vollkommen egal. Er wollte sie nicht töten. Er wollte, dass sie weiterlebten, um von ihm zu erzählen und in Angst und Schrecken zu leben. Das fand Sadie ziemlich widerwärtig.
Sie holte tief Luft und blickte zu Janine. „Beschreiben Sie ihn mir. Alles, was Ihnen einfällt.“
„Seine Haare konnte ich nicht sehen“, begann Janine langsam. „Die Maske reichte bloß bis knapp unter sein Kinn. Dunkle Augen hat er und ganz dichte Augenbrauen. Wenn Sie ihn jetzt vor mich stellen, erkenne ich ihn bloß an den Augen. Die habe ich ja die ganze Zeit gesehen.“
Sadie nickte bloß und hörte weiter zu.
„Er ist wirklich sehr groß und er scheint Sport zu machen oder zu trainieren, jedenfalls hat er muskulöse, starke Arme. Er hat auch ziemlich behaarte Beine. An einem Bein hat er eine Narbe ...“ Janine überlegte kurz. „Ich glaube, links. Ein ganz langer Strich an der Wade, ziemlich dunkel.“
„Sehr gut, Janine“, sagte Sadie und lächelte. „Das ist großartig.“
„Er hat was von einem Latino. Außerdem hatte er ganz lange, schlanke Finger, das fand ich eigenartig. Passte nicht richtig zu ihm.“
Nur sein Gesicht konnte Janine natürlich nicht beschreiben. Das ärgerte Sadie, denn er hatte bislang immer diese Maske getragen und deshalb wusste keins der Opfer, wie er wirklich aussah.
Janine wischte sich die letzten Tränen ab. „Ich wollte einfach nur, dass es aufhört. Dass er wieder geht. Ich hatte immer Angst, dass mich mal so ein Irrer angreift ... aber in meiner eigenen Wohnung ...“
„Wir kriegen ihn, Janine“, sagte Sadie und nickte heftig. „Sie haben ihn mir gut beschrieben. Ich werde mit der Polizei sprechen und dann sehen wir zu, dass wir ihn endlich aus dem Verkehr ziehen.“
„Bitte“, sagte Janine. Erneut kullerte eine Träne über ihre Wange. „Das war die furchtbarste Nacht meines Lebens. Seien Sie bloß froh, wenn Ihnen das nie passiert ...“
Für einen Moment vergaß Sadie zu atmen. Sie starrte Janine einfach nur an, aber dann fing sie sich.
„Vielen Dank, Janine. Sie können stolz auf sich sein. Kommen Sie schnell wieder auf die Beine.“ Mit diesen Worten stand Sadie auf, griff nach ihrem Portemonnaie und zog eine Visitenkarte heraus. „Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen, rufen Sie mich an.“
Janine war überrascht. „Danke ...“
„Alles Gute“, sagte Sadie, nickte ihr zu und verließ das Zimmer wieder. Auf dem Gang kamen ihr zwei Schwestern entgegen. Sadie starrte stur geradeaus, während sie zu den Aufzügen ging und sich beeilte, das Krankenhaus zu verlassen. Sie musste dringend den Krankenhausgeruch aus der Nase bekommen. Schnell. Damit verband sie nicht viel Gutes.
Als sie draußen auf dem Parkplatz stand, lehnte sie sich erst einmal gegen den Dienstwagen, schloss die Augen und atmete tief durch. Das hatte solange gut geklappt, bis Janine ihren letzten Satz gesagt hatte.
Aber sie konnte es ja nicht wissen.
Sadie setzte sich in den Wagen, um der brütenden Hitze zu entgehen, stellte die Klimaanlage an und rief bei der Polizei von Pasadena an, wo sie sich mit Detective Winter verbinden ließ.
„Agent Whitman hier“, sagte sie.
„Hat sie mit Ihnen auch nicht gesprochen?“, fragte Winter.
„Doch. Bin gerade fertig.“
Für einen Moment war es still in der Leitung. „Also hat sie mit Ihnen gesprochen.“
„Ja, sie hat mir einiges erzählt. Ich kann gern vorbeikommen und es Ihnen schildern.“
„Gute Idee“, sagte Winter und nannte Sadie die Adresse ihrer Dienststelle. Sadie legte auf und fuhr los. Inzwischen war mehr Verkehr auf der Interstate. Erneut führte ihr Weg gleich an Downtown vorbei.
Allmählich gewöhnte Sadie sich an das Leben in dieser riesigen Stadt. Es war das erste Mal, dass sie in einer so dicht besiedelten Gegend lebte. In Oregon war, ähnlich wie in Waterford, der Hund begraben gewesen und auch in Virginia hatten sie in keiner großen Stadt gelebt. Aber Los Angeles war eine Metropole. Eigentlich war es eine gewaltige Ansammlung vieler kleiner Städte.
Bis sie das Büro von Detective Winter betrat, war eine weitere halbe Stunde vergangen. In der Polizeidienststelle war um diese Zeit nicht besonders viel los. Marla Winter saß an ihrem Computer und blickte auf, als Sadie im Türrahmen stand.
„Sie müssen Special Agent Whitman sein“, sagte sie, während sie aufstand und auf Sadie zuging, um ihr die Hand zu schütteln.
Sadie nickte. „So ist es.“
„Kommen Sie rein“, sagte Detective Winter. „Was trinken?“
„Bitte“, sagte Sadie. Im Handumdrehen hatte die Polizistin ihr ein Glas Wasser besorgt und setzte sich ebenfalls wieder.
„Schießen Sie los“, sagte sie.
„Hat je eins der Opfer erwähnt, dass er eine Silberkette trägt?“, fiel Sadie gleich mit der Tür ins Haus.
Winter schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Hat sie das gesagt?“
Sadie nickte. „Sie hat ihn mir überraschend detailliert und lebhaft beschrieben. Außer der Kette sprach sie von einer Narbe am Bein und der Tätowierung am Oberarm.“
„Eine Narbe?“, sagte die Polizistin. „Das wusste ich auch noch nicht. Mir war nur die Tätowierung bekannt.“
„Das war alles noch sehr frisch“, sagte Sadie. „Es ist ihr schwer gefallen, mir den Tathergang zu beschreiben und ich bin auch nicht mit dem ins Detail gegangen, was er ihr angetan hat. Jedenfalls nicht jetzt.“
„Aber er ist unser Mann?“
„Definitiv“, sagte Sadie. „Ich habe den Fall ja beobachtet und sie hat mir den Tathergang so beschrieben, wie die anderen Opfer ihn auch angegeben haben.“
Sie gab Winter detailliert wieder, was Janine ihr erzählt hatte und die Polizistin nickte zufrieden.
„Das ist gut. Immerhin haben wir jetzt ein paar weitere Anhaltspunkte. Leider ist es nicht besonders viel ... ich wette mit Ihnen, seine DNA ist in der Datenbank.“
„Das glaube ich auch“, sagte Sadie.
Winter legte den Kopf schief und lachte kurz. „Ich verstehe jetzt bloß nicht, wie Sie das fertiggebracht haben. Gestern habe ich geduldig auf sie eingeredet, stundenlang. Ich habe ganz allein mit ihr gesprochen. Aber da kam nichts. Bis zur Mittagspause habe ich es heute wieder versucht, aber ohne Erfolg.“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie bestimmen lassen, was sie mir erzählt und was nicht. Eigentlich hat es nicht lang gedauert, bis sie angefangen hat, zu reden.“
Winter schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Ich meine, deshalb hatte ich sie auch angerufen. In unseren Reihen haben wir niemanden, der sich damit auskennt, aber eine Kollegin hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagte mir, dass Sie da entsprechend ausgebildet sind.“
Sadie nickte. „Wie wichtig das ist, weiß ich aus meiner Zeit in Quantico.“
„Ach, Sie sind richtig drüben bei den Profilern gewesen?“, fragte Winter.
„Ja, bis zum Frühjahr. Als hier nach jemandem mit Erfahrung im Profiling gesucht wurde, bin ich hergekommen.“
„Wie interessant“, sagte Winter. „Tausend Dank, wirklich. Mit diesen neuen Merkmalen kann ich mich gezielter auf die Suche machen.“
„Wenn Sie noch einmal Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid.“
Winter bedankte sich noch einmal, reichte Sadie zum Abschied die Hand und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Auf ihrem Weg nach draußen fragte Sadie sich, wie der jetzt noch aussehen sollte. Es war fast vier. Wenn sie zurück beim FBI war, hatte es kaum noch Sinn, etwas anzufangen – aber dann hatte sie eine Idee. Sie wollte sich die Akten des Stalker-Falls noch einmal genauer ansehen.
So fuhr sie zu den Federal Buildings am Wilshire Boulevard zurück und setzte sich an ihren Schreibtisch. Am Computer suchte sie alle Unterlagen über den Pasadena Stalker heraus.
Seine Übergriffe waren immer identisch verlaufen. Er hatte sich mit Einbruchswerkzeug Zutritt verschafft – zumindest vermutete die Polizei das, denn es gab so gut wie keine Einbruchsspuren. Die Frauen ließen ihn jedoch auch nicht herein. Sie waren auch nicht unvorsichtig. Plötzlich war er da, überwältigte sie, fesselte sie ans Bett und quälte sie die ganze Nacht lang. Sie alle hatten den Overall und die Maske beschrieben, irgendwann die Tätowierung und auch seine Hautfarbe. Obwohl es keine DNA gab, konnten sie ziemlich sicher sein, dass es immer derselbe Mann war. Er war noch jung, keine dreißig. Und wenn er im Morgengrauen fertig war, verschwand er, ohne sie zu töten.
Das war ein enorm großes Risiko für ihn und verriet Sadie deshalb seine Selbstsicherheit. Er hatte ein riesiges Ego. Er vergewaltigte die Frauen mehrmals und liebte es, sie zu schneiden. Es war immer nur die eine Nacht. Diese Stunden mussten den betroffenen Frauen wie eine Ewigkeit vorkommen.
Er hatte Anfang April begonnen und schlug alle zwei bis vier Wochen zu. Er tat das ziemlich unregelmäßig, aber er musste seine Opfer vorher ausgekundschaftet haben. Jedes Mal wählte er alleinstehende, junge Frauen ohne Hunde, die in Apartments ohne Alarmanlage lebten. Und sie entsprachen alle dem gleichen Typ.
Sadie studierte die Beschreibung, die die Polizei von ihm hatte, und stellte fest, dass sie nur aufgrund der Zeugenaussagen erstellt worden war. Es beschrieb seine Ethnie, die Stimme und die Tätowierung, stellte ebenfalls die Vermutung an, dass seine DNA in der Datenbank war und er immer maskiert war, weil er befürchtete, sonst erkannt zu werden. Aber da stand natürlich nichts über seine Psyche und seine Motive.
Sadie beschloss, sich am nächsten Tag dranzusetzen. Inzwischen war es kurz vor fünf und sie wollte nicht zwischen Tür und Angel mit einem Profil beginnen. Das brauchte Zeit. Sie würde ihre Vermutungen über Nacht reifen lassen und am nächsten Morgen in aller Frische damit beginnen. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
Es war ihr wichtig, nicht ständig zu spät nach Hause zu kommen. Ihre Katzen verließen sich auf ihre Portion Futter. Dass Matt schon zu Hause sein würde, war hingegen nicht so sicher, aber Sadie musste ja auch erst einmal dorthin.
Sie setzte sich ins Auto und machte sich auf den Weg nach Culver City. Im Auto angekommen, lauschte sie auf die Staunachrichten und war nicht überrascht, zu hören, dass die Interstate 405 schon wieder hoffnungslos verstopft war.
Ihr war es gleich, sie beschloss, über den Westwood Boulevard auszuweichen, wie sie es öfter tat. Trotz der Ampeln würde sie so schneller sein.
Sie hatten ein kleines Haus mitten in Culver City gefunden. In der Nähe lag das Schulzentrum, diverse Filmstudios waren nicht weit, es gab einen Park und zahlreiche Geschäfte. Trotzdem war es eine sehr grüne Gegend.
Dort, wo Phil jetzt wohnte, war das etwas anders. Er hatte ein Apartment in Palms gefunden, war damit aber auch sehr zufrieden. Sadie überlegte, ihn anzurufen, denn sie hatte seit Tagen nichts von ihm gehört.
Als sie in ihre Straße einbog, musste sie daran denken, dass das die typisch amerikanische Wohngegend war. Das störte sie jedoch nicht. Sie und Matt hatten dort ein hübsches kleines Haus mit einem ebenso hübschen kleinen Garten entdeckt – und es war jetzt ihres. Es waren zwar noch nicht alle Umzugskartons ausgepackt, aber sie fühlte sich dort trotzdem wohl und auch die Katzen hatten wieder mehr Gelegenheit, auch außerhalb des Hauses herumzustromern.
Sie parkte in der Einfahrt, denn Matts Challenger stand in der Garage. Im Augenblick fuhr er mit der Metro, weil alles andere zu auffällig gewesen wäre, und wann er nach Hause kam, stand meist in den Sternen. Er ermittelte eben undercover, da waren normale Büroarbeitszeiten eher die Ausnahme.
Die Sonne schien ihr ins Gesicht, als sie zum Haus ging und die Tür aufschloss. Wie fast jeden Abend stand Figaro lamentierend im Flur und verlangte nach Futter.
„Na, mein Hübscher“, sagte Sadie, schnappte sich den Kater und ging mit ihm um die Küche, um ihm Futter zu spendieren. Mittens war nirgends zu sehen.
Sadie überlegte kurz, ob sie die Klimaanlage anstellen sollte, entschied sich dann jedoch, sich zuerst einmal umzuziehen. Sie tauschte die Bürokleidung gegen Shorts und Top und band sich wieder einen Zopf. Ein wenig Hunger hatte sie und höchstwahrscheinlich würde es Matt nicht anders gehen, deshalb steckte sie ihre Nase in den Kühlschrank und überlegte, was man kochen konnte. Im Kühlschrank fand sie nichts Überzeugendes, entdeckte aber in einem der Küchenschränke eine riesige Dose Campbell’s Nudelsuppe.
Da musste sie nicht lang überlegen. Sie schnappte sich die Dose und machte sich daran, sie zu öffnen. Durch den plötzlichen Kraftaufwand machte sich ein leichter Schmerz in ihrem rechten Unterarm bemerkbar. Ohne lange nachzudenken, hielt Sadie die Dose mit der anderen Hand fest und versuchte es erneut.
In solchen Momenten spürte sie den verheilten Bruch immer noch. Die Erinnerung lenkte ihren Blick auch auf die zahlreichen frischen Narben, die ihre Arme verunzierten. Sie waren der Grund dafür, dass sie im Büro entweder lange Ärmel trug oder versuchte, besonders die geraden Narben an ihren Handgelenken unter ihrer Armbanduhr oder einem Armband zu verstecken. Sie wollte nicht, dass jemand falsche Schlüsse zog – und sie hätte auch kaum erklären können, dass sie sich die Wunden nicht einmal selbst beigebracht hatte.
Dabei musste sie sich eingestehen, dass eine Erklärung sehr wohl möglich gewesen wäre. Nur war Sadie nicht bereit, in Los Angeles auch nur ein Wort über ihre Begegnung mit dem Pittsburgh Strangler zu verlieren. Sie wusste nicht, wie Nick es gedeichselt hatte, dass niemand davon erfuhr, aber sie war dankbar dafür. Nur so war ein Neuanfang möglich, denn außer ihr, Matt und Phil wusste niemand Bescheid.
Sie war jetzt Special Agent Sadie Whitman. Sadie Scott war nicht mitgekommen.
Sie hatte die Suppe gerade in einen Topf gegeben, als sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Augenblicke später stand Matt in der Küche. Er trug eine zerschlissene Jeans, die ältesten seiner Schuhe und ein einfaches weißes T-Shirt. Die Kette, die er um den Hals trug, passte überhaupt nicht zu ihm, genausowenig wie die Gelfrisur. Aber Sadie musste zugeben, dass er auf diese Weise bestens getarnt war.
Lächelnd umarmte Matt sie und schenkte ihr einen tiefen Kuss. „Hallo, Mrs. Whitman.“
Sadie lachte. „Das gefällt dir, was?“
„Durchaus“, sagte Matt und grinste. „Es hat eben nicht jeder so eine wunderschöne und kluge Frau.“
Errötend senkte Sadie den Blick. „Du übertreibst wieder schamlos.“
„Nein, das ist mein Ernst. Ich hatte heute wieder zuviel mit zu stark geschminkten Püppchen auf High Heels zu tun.“
„Du wolltest es nicht anders“, erinnerte Sadie ihn.
„Nein, aber diese Zuhälter sind furchtbar.“ Matt griff nach der Kette und zog sie sich über den Kopf. „So könnte ich nicht freiwillig herumlaufen.“
„Kommst du denn weiter?“
„Ja, schon. Es ist halt noch zu früh, um sie anzusprechen. Ich denke, ich muss da noch ein wenig Präsenz zeigen, bevor sie irgendwann nicht mehr misstrauisch sind.“
„Das gehört dazu“, sagte Sadie.
„Richtig.“ Er hielt inne und schnupperte. „Campbell’s.“
„Gut erkannt.“
Matt stellte den Topf auf den Herd und schaltete die Herdplatte ein. „Das kommt mir jetzt gelegen.“
Sadie trat hinter ihn und legte die Arme um ihn. Matt ließ das nicht lange gelten, sondern drehte sich zu ihr um und drückte sie an sich. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und wiegte sie übermütig hin und her, so dass sie lachen musste.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Sadie.
„Ich mache das einfach gern“, sagte Matt. „Ich freue mich immer noch darüber, dass wir jetzt verheiratet sind.“
Sadie lächelte, denn dafür liebte sie ihn. Er ließ sie jeden Tag wissen, was sie ihm bedeutete. Dass er sie liebte, hatte sie zwar immer gewusst, aber besonders seit ihrer spontanen, kleinen Hochzeit in Las Vegas zeigte Matt ihr jeden Tag, was er für sie empfand. Einfach so und ohne ihr das Gefühl zu geben, dass er das aus Gewissensgründen tat. Er meinte es so – und das war alles, was sie in diesem Augenblick brauchte.
Schließlich saßen sie gemeinsam mit der Nudelsuppe am Tisch und hatten gerade angefangen, zu essen, als sie die Katzenklappe hörten und Mittens erschien. Die Katze maunzte einmal kurz und begab sich dann zum Napf.
„Es ist gut, dass die beiden jetzt einen Garten haben“, sagte Matt.
„Das stimmt. Ich freue mich, dass du die beiden magst.“
„Ohne hätte ich dich nicht gekriegt“, sagte er nicht ganz ernst gemeint.
„Ich hätte sie Norman geben können.“ Das brachte Sadie auf einen Gedanken. „Ich würde ihm wirklich gern eine Freude machen. Er hat eine Anerkennung dafür verdient, was er all die Jahre für mich getan hat.“
Matt nickte. „Das hat er allerdings.“
„Ich weiß, ihm ein Auto zu kaufen, ist natürlich so eine Sache ... aber ich würde mir den Wagen gern mal ansehen.“
„Ich komme mit“, sagte Matt. „Aber auf dem Foto sah er gut aus.“
Sadie trug sich schon seit längerem mit dem Gedanken, Norman einen Lebenstraum zu erfüllen. Ähnlich wie Matt liebte er besondere Autos und er träumte seit Jahr und Tag davon, sich einen 1964er Ford Mustang zuzulegen. Beim Stöbern im Internet hatte Sadie ein gepflegtes und fahrtüchtiges Modell bei einem Händler in der Stadt entdeckt – in wundervollem Candy Apple Red, aber das hatte natürlich alles seinen Preis. Und da sie sich gerade erst ein Haus gekauft hatten, war das eine Investition.
Allerdings hatte Norman sie auch schon beim Hauskauf unterstützt. Seit er vor einem halben Jahr die Lebensversicherung seiner Frau ausbezahlt bekommen hatte, staubte das Geld auf einem Konto ein und als Sadie und Matt das Häuschen in Culver City entdeckt hatten, hatte ihnen Startkapital gefehlt. Norman hatte ihnen nicht nur sofort ausgeholfen, er hatte ihnen das Geld geschenkt – und noch etwas extra. Er hatte all seinen Kindern etwas zukommen lassen, wusste aber nicht, was er mit dem übrigen Geld tun sollte und einen Mustang hatte er sich auch noch nicht gekauft. Sadie wollte es tun. Sie wollte Norman etwas zurückgeben.
„Wie war dein Tag?“, fragte Matt schließlich.
Sadie zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Ich habe mit dem letzten Opfer des Pasadena Stalkers gesprochen.“
Matt nickte wissend. „Der läuft also immer noch frei rum.“
„Ja, leider. Eine Polizistin hatte mich um Hilfe gebeten. Die Frau wollte nicht mit ihr sprechen.“
„Mit dir aber schon.“
Sadie nickte. „Eigentlich war das gar kein Problem.“
„Und du hast dir das dann einfach angehört?“
„So ziemlich“, sagte Sadie. „Es gibt aber noch gar kein psychologisches Täterprofil. Darum werde ich mich morgen mal kümmern.“
Matt lächelte. „Du findest da bestimmt noch was.“
„Das wäre schön, denn es geht mir gegen den Strich, dass der Kerl frei rumläuft.“
„Das kann ich mir denken.“
Sadie hob den Blick und sah ihn direkt an. „Ich verstehe immer noch nicht, dass dich das nicht stört.“
„Was?“, fragte Matt.
„Ich habe eine traumapsychologische Fortbildung gemacht und mich in eine Einheit versetzen lassen, die sich – ähnlich wie die BAU – mit den ganz schweren Fällen beschäftigt. Ausgerechnet ich und ausgerechnet jetzt. Niemand versteht das. Nur du.“
Matt ließ seinen Löffel sinken. „Es steht mir doch gar nicht zu, darüber zu urteilen. Ich sehe ja, dass es dir damit gut geht. Ganz davon abgesehen, dass ich auch nichts anderes möchte. Ich muss die Probleme doch nicht herbeireden.“
„Nein, sicher“, murmelte Sadie. „Aber Norman erdrückt mich manchmal geradezu mit seiner Sorge und Phil kann mich auch nicht ansehen, ohne dass ich in seinen Augen sehe, woran er denken muss. Gerade bei dir könnte ich verstehen, wenn es dir ähnlich ginge.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich schreibe dir doch nicht vor, wie du dich zu verhalten hast, Sadie. Und du kannst nicht leugnen, dass es am Anfang verdammt schwierig war. Aber ich würde sagen, wir haben das zusammen gemeistert. Ist doch gut.“
„Ist es auch“, sagte Sadie mit einem Lächeln. „Manchmal traue ich mir selbst fast nicht. Ich habe der Frau zugehört – und da war nichts. Gar nichts. Ich bin einfach nur auf sie eingegangen.“
„Hm“, machte Matt. „Ganz ehrlich: Mir fällt niemand ein, der ähnliche Voraussetzungen mitbringt, um mit solchen Dingen umzugehen, wie du. Natürlich schockt dich so etwas nicht mehr, wie könnte es auch? Anders kann ich mir das auch nicht erklären.“
Sadie griff über den Tisch nach seiner Hand und hielt sie ganz fest. Matt verstand, obwohl sie kein Wort sagte.
Aus einer anderen Ecke des Großraumbüros drang Gelächter an ihre Ohren. Sadie hatte gelernt, so etwas auszublenden und konzentrierte sich weiter auf die Fallakten des Pasadena Stalkers.
Welcher Vergewaltiger benutzte denn immer Kondome? Das kam so selten vor, dass Sadie nicht mal ein entsprechender Referenzfall einfallen wollte. Das konnte er nur tun, weil er verhindern wollte, dass man seine DNA bekam. Also war er einschlägig vorbestraft. Dann war er höchstwahrscheinlich auch nicht allzu jung.
So mussten sie ihn doch finden können. Sie kannten schon so viele seiner Merkmale.
Er hatte ein enormes Selbstbewusstsein und er verzichtete darauf, seine Opfer zu töten, obwohl er sadistische Tendenzen hatte. Macht auszuüben war ihm wichtig, aber nur über seine Opfer und nicht über Leben und Tod. Er missbrauchte und dominierte sie, aber Töten war ihm nicht wichtig. Damit ging er Risiken ein. Warum?
Sadie wusste es nicht, aber sie hielt ihn für intelligent. Für das Profil war wichtig, dass er die Frauen gezielt aussuchte. Er beobachtete sie. Unter diesem Gesichtspunkt fand Sadie die Frequenz der Taten erschreckend, denn er schlug ja alle paar Wochen zu.
Es nährte ihren Verdacht, dass er vielleicht ein Gangmitglied war. Auf jeden Fall ging er wohl keiner geregelten Arbeit nach, dazu fehlte ihm die Zeit und er hatte eine enorme kriminelle Energie. Nur töten war nicht sein Ding.
Er stalkte die Frauen, brach unbemerkt bei ihnen ein, vergewaltige sie und verschwand wieder. Nein, dumm konnte er nicht sein und auch nicht ungeschickt. Dass er Frauen gegenüber ein riesiges Ego hatte, wenn er sie gefesselt hatte, hieß auch nicht unbedingt, dass das in anderen Kontexten auch so war. Vielleicht war er in seiner Gang eher ein kleines Licht.
Es hatte ihm nie Mühe gemacht, die Frauen zu überwältigen. Dadurch, dass er bei ihnen einbrach und sie im eigenen Bett misshandelte, sorgte er dafür, dass sie sich in ihren eigenen vier Wänden nie mehr sicher fühlen würden. Sadie stützte den Kopf in die Hände und ließ sich alles durch den Kopf gehen. Vielleicht war es kein großes, sondern ein ganz kleines Ego. Vielleicht markierte er bloß. Er riskierte wagemutige Dinge, um sich selbst etwas zu beweisen, aber zum Töten fehlte ihm letztlich der Mut.
Das passte besser. Sadie durchdachte alles neu. Sie stellte sich einen Mann Anfang oder Mitte zwanzig vor – aus dem Knast entlassen, arbeitslos, Gangmitglied. Er hielt sich mit Gelegenheitsverbrechen über Wasser, vielleicht mit Drogen. Und weil er wusste, dass seine DNA in der Datenbank war, benutzte er Kondom und Maske. Er reagierte Frust an seinen Opfern ab.
Aber warum brach er dann bei ihnen ein? Warum nicht eine Prostituierte verschleppen und auf einem verlassenen Grundstück vergewaltigen?
Die Opfer entsprachen alle demselben Typ. Vielleicht wollte er sich auch beweisen, dass er so etwas konnte. Vielleicht war ihm alles andere zu einfach.
Er schützte also ein großes Ego vor, ohne wirklich eins zu haben. Aber warum dieser Typ Frau? Hatte das einen Grund?
Sadie ging zurück zum ersten Fall. Der war für ihn vermutlich besonders bedeutsam. Ganz oft kannten der Täter und sein erstes Opfer sich. Er hatte nicht zufällig dort begonnen, wo er angefangen hatte. Sadie nahm den Fall erneut genau unter die Lupe.
Sheila Hopkins arbeitete als Kellnerin und Kassiererin, lebte seit einem Jahr allein und hatte eine kleine Wohnung im Süden Pasadenas. Sie war einundzwanzig und hatte zwar einen neuen Freund, aber erst seit kurzem. Sadie fragte sich, ob es unerwünschte Verehrer oder Ex-Freunde gab, die man genauer unter die Lupe nehmen musste. Aber Sheila hatte auch angegeben, den Täter nicht zu kennen.
Er war durch ein gekipptes Fenster eingestiegen, während Sheila geduscht hatte. Dann hatte er ihr aufgelauert, sie an ihr Bett gefesselt und vergewaltigt. In dieser Nacht war er mehrmals über sie hergefallen. Er hatte sie gewürgt, geschlagen und ihr überall mit seinem Messer Schnitte beigebracht. Sie hatte es als Butterflymesser beschrieben. Das passte zu der Idee, dass er ein Kleinkrimineller war.
Im Morgengrauen war er dann verschwunden. Sheila war erst am Nachmittag von ihrem Freund gefunden worden, als sie längst bewusstlos dagelegen hatte.
Sie mussten noch einmal mit Sheila reden. Vielleicht kannte sie den Täter, ohne es zu wissen. Und nachdem er beim ersten Mal Erfolg gehabt hatte, hatte er Blut geleckt und weitergemacht. Dass ihm noch niemand auf der Spur war, spornte ihn erst recht an.
Sadie griff zum Hörer und wählte die Nummer des BAU-Chefs in Quantico. Vielleicht hatte sie Glück und traf Nick im Büro an.
„Dormer“, meldete er sich knapp.
„Hey, Nick.“
„Sadie!“, sagte er hocherfreut. „Das ist ja eine Überraschung. Wie geht es dir?“
„Gut“, sagte sie. „Und dir?“
„Wir haben wie immer viel zuviel zu tun. Und ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass du uns nicht fehlst.“
Sadie lächelte. „Ihr mir auch. Aber vielleicht kannst du dir vorstellen, wie froh ich bin, wieder in Kalifornien zu sein.“
„Oh, und wie. Was ist mit Matt, hat er sich schon eingewöhnt?“
„Ja, er mag seinen Job. Es gefällt ihm.“
„Wenn ich mal drüben bin, besuche ich euch“, sagte Nick. „Ist ja nun schon ein paar Tage her, dass wir uns gesehen haben.“
„Leider ... aber es geht mir gut.“
Nick atmete tief durch. „Freut mich zu hören. Wirklich. Warum rufst du an?“
„Ich habe gestern mit dem letzten Opfer eines Serienvergewaltigers gesprochen. Die Presse hat ihn Pasadena Stalker getauft.“
„Okay. Davon haben wir hier nichts mitbekommen.“
„Nein, das dachte ich mir. Ich erarbeite gerade ein Profil für ihn.“
„Schieß los“, sagte Nick, der wusste, dass sie seine Meinung hören wollte. Sadie beschrieb ihm die Fälle, die immer gleichen Vorgehensweisen und stellte ihm dann auch ihre Schlussfolgerungen vor. Konzentriert hörte Nick sich alles an, stellte nur hin und wieder eine Rückfrage.
„Okay“, sagte er dann. „Ich kann deine Verunsicherung verstehen. Einerseits geht er große Risiken ein, indem er die Opfer in Apartmenthäusern überfällt und am Leben lässt, andererseits stellt er es aber gut durchdacht an. Aus meiner Erfahrung heraus glaube ich, dass er eigentlich verunsichert ist und sich etwas beweisen will. Dumm ist er jedoch überhaupt nicht. Sonst wäre er wohl kaum bis jetzt davongekommen. Ich denke auch, dass er längst erkennungsdienstlich behandelt wurde und ihr eigentlich nur noch den richtigen Hinweis braucht. Die Idee, dass er ein Gangmitglied ist, finde ich gut. Mit deinem Profil und allen übrigen Fakten, die ihr bereits über ihn habt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihr ihn findet.“
„Also kannst du keine Fehler erkennen?“, fragte Sadie.
„Nein, ich denke, du hast das alles richtig bestimmt. Nicht schlecht.“ Er hielt kurz inne. „Schon beachtlich, dass du dort gleich weitermachst.“
Sadie schaute sich um, bevor sie antwortete, aber es war niemand in Hörweite. „Darüber habe ich gestern noch mit Matt gesprochen. Er ist wirklich der Einzige, der sich darüber nicht wundert.“
„Vielleicht sollte ich das auch nicht“, sagte Nick. „Bei euch weiß niemand Bescheid, oder?“
„Nein, da du es vermieden hast, mehr zu sagen als nötig ...“
„Das musste einfach aufhören.“
„Danke, Nick. Ich muss Schluss machen“, sagte Sadie, bevor er das Thema noch weiter vertiefte. Das konnte sie gerade nicht brauchen. Schon gar nicht im Büro.
Sie atmete tief durch und widmete sich wieder ihrem Profil. Nachdem sie ihm den letzten Feinschliff verpasst hatte, rief sie bei Detective Winter an. Die Polizistin war sofort am Apparat.
„Haben Sie noch etwas für mich?“, fragte sie.
„Ich habe mich an einem Profil des Täters versucht“, sagte Sadie.
„Tatsächlich? Ich hatte überlegt, ob ich Sie darum bitten soll, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, Sie zu fragen.“
„Das mache ich gern“, sagte Sadie.
„Also, was haben Sie?“
„Ich denke, dass er ein Gangmitglied ist“, begann Sadie und erklärte der Frau alles, was sie sich überlegt hatte.
„Ich vermute, dass er in keiner Beziehung ist, aber es in seiner Vergangenheit eine Frau gab, die den Opfern ähnlich sieht. Gut möglich, dass jemand im Umfeld seiner Gang auch ahnt oder weiß, was er tut“, schloss sie dann.
„Wow“, sagte Winter. „Hört sich gut an. Gut möglich, dass er in einer Gang ist. Ich habe zwar schon allerhand Vorbestrafte den Opfern zum Abgleich gezeigt, aber bislang war kein Treffer dabei.“
„Ist auch nicht gesagt, dass er die Strafe hier abgesessen hat. Vielleicht kommt er woanders her.“
„Ja, mag sein. Aber jetzt habe ich schon ein ziemlich präzises Bild vor Augen. Damit kommen wir ihm näher! Danke, Agent Whitman.“
„Gern“, sagte Sadie und grinste. Sie genoss es, mit ihrem neuen Nachnamen angesprochen zu werden. Das fühlte sich gut an. Aber Nick hatte eben auch dafür gesorgt, dass nicht nur niemand wusste, wie sie vor ihrer Hochzeit hieß, sondern er hatte auch in ihrer Personalakte nicht mehr vermerkt als nötig. Als letzter Eintrag stand nur drin, dass sie im März bei einem Einsatz verletzt wurde. Sie wusste nicht, wie Nick das gedreht hatte, aber nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten wusste, dass ihr eigener Halbbruder sie entführt und in seine persönliche Hölle gebracht hatte.
Das sollte auch so bleiben. Weder in der Mittagspause noch bei dem späteren Meeting ließ sie sich etwas anmerken – so wie üblich. Im Büro gab sie sich professionell und etwas distanziert, weil es ihr nur recht war, mit niemandem ins Plaudern zu geraten. Darauf hatte sie keine Lust.
Das Meeting war noch nicht zuende, als sie das Vibrieren ihres Handys bemerkte. Es war eine Nachricht von Matt. Heute wird es spät. Warte nicht auf mich. Ich mache es wieder gut. Ich liebe dich.
Sadie antwortete ihm schnell, dass das in Ordnung war. Zwar gefiel es ihr nicht, aber das gehörte eben dazu. Es war Freitag, da war es wenig überraschend, wenn er Präsenz zeigen musste.
Er war damit beschäftigt, sich in ein regelrechtes Kartell einzuschleusen, das sich in den letzten Jahren in Santa Monica gebildet hatte. Er hatte es Sadie nur grob umrissen, denn auch wenn sie seine Frau und ebenfalls beim FBI war, war er dazu angehalten, möglichst viel für sich zu behalten. Er hatte ihr sowieso schon mehr verraten, als er sollte.
Ein Mexikaner namens Juan Filhos bestimmte nun schon seit längerem, wo es im Untergrund von Santa Monica langging. Er kontrollierte Drogen und Dealer, er kollaborierte mit Mädchenhändlern und stand auch unter Verdacht, für einige Auftragsmorde verantwortlich zu sein. Nun war es Matts Aufgabe, Filhos hochgehen zu lassen. Im Augenblick war er damit beschäftigt, sich in der Szene blicken zu lassen und das Vertrauen des Kartells zu gewinnen. Er machte das allein, um vertrauenswürdiger zu wirken und weil er ohnehin auf langjährige Polizeierfahrung zurückblickte, trauten seine Vorgesetzten ihm das auch zu. Er gab vor, neu in der Stadt zu sein und sich dafür zu interessieren, beim Kartell mitzumischen. Wie er Sadie erzählt hatte, hatte er zu einem von Filhos’ Handlangern Kontakt geknüpft, deshalb nahm sie an, dass er den Abend mit ihm verbringen würde – vermutlich in einem der Stripclubs, in denen er sich schon öfter bewegt hatte.
Das alles machte ihr nichts aus. Er machte seinen Job, so wie sie ihren machte.
Weil sie keine akute Aufgabe mehr auf dem Tisch hatte, machte sie früh Feierabend und fuhr auf dem Heimweg noch zu einem Supermarkt, um den Kühlschrank wieder zu befüllen. Bevor sie mit ihren Einkäufen nach Hause fuhr, hatte sie jedoch eine Idee und schrieb Phil eine Nachricht, in der sie ihn fragte, ob er nicht Lust hatte, sich mit ihr zu treffen.
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, aber als sie zu Hause angekommen war, hatte sie eine Nachricht von ihm erhalten. Sorry, bin schon vergeben. Ich gehe mit den Jungs weg.
Sadie antwortete ihm, dass es nicht schlimm war. Sie fand es toll, wie gut er sich mit seinen Kollegen verstand. Obwohl er in der Vergangenheit nur als Streifenpolizist gearbeitet hatte und beim Hostage Rescue Team nach drei Monaten rausgeflogen war, genoss er ein ziemliches Ansehen in seiner Einheit. Das lag wohl unter anderem an seiner beeindruckenden Treffsicherheit als Scharfschütze.
Aber jetzt musste sie sehen, wie sie den Abend verbrachte. Gern hätte sie auch wieder einmal mit Profilerin Andrea in England telefoniert, aber das ging aufgrund der Zeitverschiebung eigentlich nur am Wochenende.
Sie beschloss, es sich gemütlich zu machen, ein paar Filme auszuleihen und dabei ein bisschen Junkfood zu verspeisen. Das tat sie immer noch viel zu oft, aber ganz oft ließ der Job ihr keine Wahl. Am Wochenende liebte sie es, mit Matt zu kochen – wenn er denn nicht gerade im Einsatz war.
Sie brauchte eine Beschäftigung. Neue Bekannte. Vielleicht einen Sportclub. Das Problem hatte sie in Dale City schon gehabt. Aber in diesem Moment war ihr das alles egal. Sie schob ihre Tiefkühlnudeln in den Ofen, suchte sich Filme aus und machte es sich schließlich mit den Nudeln und ihren Katzen auf dem Sofa bequem.
Um kurz vor zehn war es jedoch auch damit vorbei. Sie wusste, ihre beste Freundin musste sie freitags nicht anrufen, denn da war Tessa immer ausgeflogen. So setzte Sadie sich schließlich mit Mittens auf dem Schoß vor ihren Computer und vertrieb sich die Zeit ein wenig mit Internetsurfen und der Suche nach einem neuen Buch, aber sie wurde nicht fündig.
Immer noch keine Spur von Matt. Sie räumte noch ein wenig auf und löschte das Licht in der Küche. Im Wohnzimmer fiel ihr Blick auf die Fotos, die groß und gerahmt an der Wand hingen. Ein paar nette Touristen hatten sie gleich im Anschluss an ihre Hochzeit vor der Wedding Chapel in Las Vegas fotografiert. Matt hielt sie so im Arm, dass man ihren Gipsarm auf dem Foto kaum erkennen konnte. Ihr buntes Sommerkleid und auch seine legere Kleidung ließen nicht erahnen, dass sie da gerade geheiratet hatten. Aber zumindest Sadie hatte sich auch spontan dafür entschieden. Matt hatte es geplant, aber er hatte sich nichts anmerken lassen wollen.
Wenn Sadie sich auf dem Foto betrachtete, wusste sie nicht, wie sie empfinden sollte. Zwar lächelte sie auf dem Bild und in diesem Moment war sie wirklich glücklich gewesen, aber eigentlich hatten sie zu keinem günstigen Zeitpunkt geheiratet. Und dabei dachte Sadie nicht daran, dass es ihr Geburtstag gewesen war.
Wenn sie genau hinschaute, konnte sie in ihren eigenen Augen sehen, wie verletzt sie zu diesem Zeitpunkt noch gewesen war. Auf dem Foto, das neben dem Hochzeitsbild hing, sah das schon anders aus. Sie hatten sich beide in Schale geworfen und sich nebeneinander mit ihren FBI-Dienstmarken von Phil ablichten lassen. Da trug sie auch schon keinen Gipsarm mehr. Matt strahle vor Stolz, was Sadie gut verstehen konnte. Für ihn war ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen.
Hoffentlich war er auch jetzt glücklich. In Momenten wie diesem fühlte sie sich auch in der Millionenstadt Los Angeles einsam und isoliert. Zu ihren neuen Kollegen hatte sie noch keine besondere Beziehung aufgebaut, weil sie meist allein arbeitete, und sonst hatten sie außer Phil niemanden in der Gegend, den sie kannten.
Schließlich entschied Sadie, ins Bett zu gehen. Sie war müde und Mittens warf sie vermutlich am nächsten Morgen wieder früh aus dem Bett, denn der Katze war egal, ob es Samstag war oder nicht.
Sadie zog sich um, streifte nur ihr kurzes Nachthemd über und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Das ging nicht, ohne sich die roten Haare zu einem Zopf zu binden, denn inzwischen waren sie richtig lang. Matt mochte das, deshalb ließ Sadie sie einfach wachsen.
Sie versuchte, nicht zu sehnsüchtig an ihn zu denken, aber es fiel ihr schwer. Besonders, als sie im Bett lag und das Foto neben ihr stand, das Norman von ihnen gemacht hatte. Das war auch schon fast ein Jahr alt.
Sadie dachte nicht weiter darüber nach, sondern widmete sich ihrem Buch. Irgendwann fielen ihr jedoch die Augen zu und sie legte das Buch beiseite. Sie löschte das Licht und drehte sich auf die Seite. Durch die geöffnete Schlafzimmertür fiel immer noch etwas Licht hinein, von fern hörte sie Polizeisirenen. Eine Katze im Bett hätte ihr jetzt gefallen, aber es war keine da.
Im Handumdrehen dämmerte sie weg. Sie reagierte nicht, als die Haustür ins Schloss fiel und Matt unten das Licht einschaltete. Er legte seinen Schlüsselbund ab und zog sich die Schuhe aus, aber das alles war Sadie egal. Sie wurde erst aus dem Halbschlaf gerissen, als er die Treppe erklommen hatte und in der Schlafzimmertür stand.
„Sadie?“, fragte er leise. Sie machte ein unbestimmtes Geräusch.
„Ich wollte dich nicht wecken“, wisperte er.
„Hast du nicht“, erwiderte sie. Er sollte bloß nicht weggehen, sie sehnte sich nach seiner Nähe.
Wortlos betrat er das Schlafzimmer, streifte im Gehen sein T-Shirt ab und entledigte sich neben dem Bett seiner Hose. Sadie wollte schon das Licht einschalten, als Matt sich von hinten an sie schmiegte und sie in den Nacken küsste. Sofort war Sadie wie elektrisiert und tastete rücklings nach ihm. Er war ganz kühl.
„Du hast mir gefehlt“, sagte sie leise.
„Du mir auch“, erwiderte er und küsste sie erneut. Er strich ihr Haar zur Seite und übersäte ihren Hals mit Küssen. Sadie wandte sich ihm zu und gierte nach einer Berührung seiner Lippen. Ganz plötzlich stand ihr der Sinn nach sehr viel mehr.
Matt entging ihre Reaktion keineswegs. Er beugte sich halb über sie und fuhr mit der Hand unter die Decke, um sie berühren zu können. Sadie strich mit den Fingern durch sein Haar und genoss seine zärtlichen Berührungen. Vorsichtig schlug Matt ihre Decke zurück und zog einen Träger ihres Nachthemdes von ihrer Schulter. Unter Küssen arbeitete er sich ein Stück weiter abwärts vor. Für einen Moment hielt Sadie die Luft an, als sie seine Lippen auf ihrer Brust spürte.
„Du hast Hunger mitgebracht“, stellte sie grinsend fest. Dass Matt nicht einmal antwortete, war ihr Antwort genug.
Von unten schob er eine Hand unter ihr Nachthemd und begab sich mit seiner Hand auf Entdeckungsreise. Sadie konnte seine Umrisse nur schemenhaft im Licht erkennen, das vom Flur ins Schlafzimmer hinein fiel. Schließlich schob Matt seine Hand unter ihren Slip und raubte ihr ohne jede Mühe den Atem.
„Ich kann auch aufhören, wenn du nicht willst“, sagte er.
„Als würde ich nicht wollen“, erwiderte Sadie leise. Allerdings wusste sie, wie er das meinte. Es kam oft vor, dass er sich rückversicherte und sich nicht nur darauf verließ, dass ihr scheinbar gefiel, was er tat. Sie fand es lieb und gewissenhaft von ihm.
„Okay“, sagte er, küsste sie und fuhr damit fort, sie in den Wahnsinn zu treiben. Er berührte sie immer zärtlich und vorsichtig, aber das war es gerade, was ihr gefiel.
Irgendwann hielt er inne, entledigte sich seiner Shorts und warf sie irgendwohin. Langsam zog er ihren Slip aus und schloss sie von hinten in seine Arme, während sie seitlich vor ihm lag. Sadie hielt die Luft an, als sie ihn spürte. Sie drehte den Kopf zu ihm und küsste ihn, schlang ihre Finger um seine und vergaß in diesem Moment die ganze Welt um sich herum.
Inzwischen kannte Matt sie gut genug, um zu wissen, was sie mochte und wie er sie ganz mühelos um den Verstand brachte. Er hielt sie an sich gedrückt, küsste sie weiter in den Nacken und ließ sich alle Zeit der Welt. Als sie irgendwann seine Hand im Schoß spürte, war es ganz um sie geschehen. Sie umklammerte seinen Arm und gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein.
Ihretwegen hätte es ewig so gehen können, aber das tat es leider nicht. Matt hielt sich zurück, bis sie schließlich regelrecht explodierte und ließ sich erst dann mitreißen. Keuchend hielt er sie an sich gedrückt und strich ihr übers Haar.
„Das habe ich jetzt gebraucht“, sagte er leise und lachte.
Sadie küsste ihn. „Ich auch, glaube ich.“
„Fühlte sich zumindest so an.“ Langsam stand er auf, schaltete das Licht ein und ging auf die Suche nach seinen Shorts. Er lächelte ihr zu, bevor er ins Bad ging und sich die Zähne putzte.
Sadie war froh, noch nicht wirklich eingeschlafen zu sein. Der Blick auf ihren Wecker verriet, dass es kurz vor Mitternacht war.
Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie war unaussprechlich erleichtert darüber, so zu empfinden. Bis sie nach Los Angeles gezogen waren, hatte sie es nicht fertiggebracht, ihn so nah an sich heranzulassen. Sie hatten die verschiedensten Dinge versucht, aber es hatte nicht funktioniert, ganz gleich wie rücksichtsvoll Matt sich verhalten hatte. Solange ihre Verletzungen noch nicht alle verheilt waren, war es sowieso nicht möglich gewesen, aber auch danach hatte sie immer wieder an Sean denken müssen – ganz gleich, ob sie das wollte oder nicht. Es war ihr in so vieler Hinsicht nur recht gewesen, wieder umzuziehen. So konnte sie das alles hinter sich lassen.
Und jetzt war es wieder schön. Sadie wollte, dass auch Matt glücklich war. Das verdiente er einfach. Beklagt hatte er sich nie, weder in der furchtbar entgleisten Nacht gleich nach ihrer Hochzeit in Las Vegas, noch später. Aber inzwischen spürte Sadie fast keinen Unterschied mehr zu vorher.
Das wollte sie auch nicht. Das gestand sie Sean nicht zu. Sie lebte noch und er war tot – daran dachte sie jeden Tag.
Augenblicke später kam Matt ins Schlafzimmer und hatte Figaro im Schlepptau. Der Kater machte es sich am Fußende auf Sadies Seite bequem, während Matt sich ins Bett fallen ließ und tief durchatmete.
„Ich musste schon den ganzen Tag an dich denken“, sagte er. „Als sich plötzlich ergab, dass ich noch länger im Club bleiben würde, dachte ich, ich sterbe ...“
Sadie grinste. „Und ich dachte, du hättest zuviele halbnackte Tänzerinnen gesehen.“
„Die waren mir egal“, sagte Matt. „Die sind alle nicht mein Typ. Keine Rothaarigen dabei.“
Sadie lachte. „Charmeur.“
„Bis ich dich getroffen habe, wusste ich auch nicht, dass ich drauf stehe. Aber für mich bist du die schönste Frau der Welt.“
„Das ist gut, du musst es noch ein bisschen mit mir aushalten“, neckte Sadie ihn.