Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein literarischer Rausch – der neue Roman von Sulaiman Addonia Das mutige Ausloten eines Lebens am Rande der Gesellschaft und die Bedeutung von Sexualität Wie in einem literarischen Rausch erzählt Sulaiman Addonia die Geschichte von Hannah, einer minderjährigen eritreischen Geflüchteten, und ihrer ersten Zeit in London. Während sie in einem fremden Land mit ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit ringt, werden sexuelle Begegnungen zu einem unmissverständlichen Ausdruck ihres Seins – ein trotziger Aufschrei gegen die endlose Bürokratie der Einwanderung. Eindimensionalen Erzählungen über Flucht, Trauma und einem Leben am Rande der Gesellschaft setzt Addonia eine unkonventionelle, vielschichtige Protagonistin entgegen, die ihren Platz in der Welt sucht. »Die Sehenden« ist ein mutiger, eindringlicher Roman, der Psyche und Sexualität seiner Figuren auf unvergleichliche Weise entschlüsselt. Eine Geschichte über Vergangenheit und Gegenwart, generationsübergreifende Lebenserfahrungen, koloniale Traumata und das reale Gesicht der europäischen Einwanderungspolitik sowie ihre Auswirkungen auf Zufluchtssuchende »In Die Sehenden nimmt uns Sulaiman Addonia mit in eine ebenso bezaubernde wie raue Welt, in der sich Sehnsüchte und Erinnerungen überschneiden. Wie fesselnd und elegant und ergreifend und witzig und voller Vitalität! Und was für eine Fülle von Bildern! Absolute Weltklasse.« Peter Verhelst »Es gibt viele Gründe, warum nur wenige Schriftsteller*innen mit meinem Hintergrund den Durchbruch schaffen. … Ich habe Jahre gebraucht, um Selbstvertrauen zu gewinnen, die Narben und Wunder meines Daseins als junger Geflüchteter zu erkennen und die Kraft zu finden, mich zu melden und zu sagen: ›Ich bin gut genug, um ein Schriftsteller zu sein.‹« Sulaiman Addonia, 2024
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sulaiman Addonia
Roman
Aus dem Englischen
von Sula Textor
Meine Mutter brachte mich in Keren zur Welt, aber in London habe ich mich noch einmal neugeboren, in dieser Frühlingsnacht, als ich auf einer Bank am Fitzroy Square in Bina-Balozi eindrang. Es war, als hinge eine Laterne an der Spitze meines Strap-On, sodass ich mich selbst in seinem Inneren gespiegelt sah, in einer Welt so vertraut wie unvertraut, schön und verstörend, aufwühlend und bestärkend. Hannah. Bina-Balozi schrie meinen Namen. Nie habe ich mich so gegenwärtig gefühlt, ich gab mich der Macht meiner Lust hin, blähte die Kraft meines Verlangens auf, um in ihm zu atmen und auf neue Art zu sehen und gesehen zu werden. Das O in Bina-Balozis Hintern öffnete sich wie eine Rosenknospe mitten in der Nacht. O Bina-Balozi, Duft meines Gartens. O. B. B. In dieser Nacht, als meine Hände sich fester um Bina-Balozis Hüften legten, flüsterte ich meine Geschichte in sein Ohr, in den Himmel über London, unzensiert und wahrer als die in meinem Asylantrag, der in den Regalen des Home Office stand und verstaubte. Sie ging so: Meine Mutter kam in Keren zur Welt, am 27. März 1941 bei Sonnenaufgang, als britische Truppen die Italiener besiegten, die ein halbes Jahrhundert über unser Land geherrscht hatten. Die Geburt geschah in einem Haus am Fuß der Berge von Keren, die Stadt hatte drei Monate lang Gefechte erlebt, drei Monate lang Europäer um unser Land kämpfen sehen, drei Monate, in denen meine schwangere Großmutter Stoffe mit Blumen- und Schmetterlingsmuster um ihren Bauch band, während ganz in der Nähe heftiges Artilleriefeuer tobte. Vergeblich. Meine Mutter kam in diese Welt und lebte in ihr mit unberechenbarer Kraft. Als das Kind geboren war, ging das Hausmädchen meinen Großvater suchen, aber der feierte in den Straßen eine andere Art von Geburt. Er schwenkte Blumen und sang aus Dankbarkeit für die britischen Soldaten, die sein Land vom Faschismus befreit hatten. Ein britischer Offizier wandte sich ihm und allen um ihn herum zu und sagte: Ich hab das nicht für dich gemacht, nigger. Ich Hab Das Nicht Für Dich Gemacht. Nigger. Mein Großvater weinte, nicht über die Geburt seiner Tochter, sondern über das Ende einer Erniedrigung und den Anfang einer anderen. Sein Land und er gingen aus den Händen der Faschisten über in eine andere Form europäischer Unterdrückung. Diese Anekdote ist mir im Gedächtnis geblieben. Aus ihr wuchs in meiner Kindheit Bitterkeit gegenüber den Briten. Sie lenkten die Aufmerksamkeit meines Großvaters weg von der Geburt meiner Mutter und machten sich selbst in seinem Kopf breit. Meine Mutter wurde zur Waise gemacht von einem Mann, der seine Zeit allem Englischen widmete, von Büchern bis zum Essen, der den Lebensstil der Briten studierte, als könne er seinen gebrochenen Stolz reparieren, indem er ihr Aussehen und Verhalten nachahmte. Er hatte Schiebermützen besessen, aber nach der Ankunft der Briten wurde ein Filzhut seine bevorzugte Kopfbedeckung. Er kaufte graue Anzüge, trug englisches Wetter im sonnigen Keren. In seinen Hemdsärmeln steckten Manschettenknöpfe und seine Westen hatten zwei Taschen, in die er seidige Rosenblüten steckte, nachdem er erfahren hatte, dass die Rose Englands Nationalblume war – und ich summte tief, als ich Bina-Balozis Rose freilegte. O Bina-Balozi. Mein Großvater sprach Englisch mit meiner Mutter, damit es eine ihrer vielen Sprachen werden würde. Und meine Großmutter war so wütend, weil er bei der Geburt nicht an ihrer Seite gewesen war, dass sie ihrer Tochter einen italienischen Namen gab: Mary Malinconia. Ich denke oft an die Gefechte, an die in den Bergen und an die zu Hause zwischen meinen Großeltern, und frage mich, ob die Gewalt, die meine Mutter als Fötus im Bauch ihrer Mutter erfuhr, etwas zu tun hatte mit der, die sie meinem Vater zufügte und die bis zu mir durchsickern und in Bina-Balozis Innerem die Zähne verlieren sollte. O Bina-B, gib mir mehr von dem Frieden in dir. Das Gefühl der Erniedrigung lag in der Familie wie eine Krankheit, die auch ich geerbt hatte. Als ich zwei war, wurde meine Mutter von der äthiopischen Armee, die die Briten abgelöst hatte und seither unser Land kolonisierte, getötet. Ich habe keine Erinnerung an sie. Alles, was ich bisher erzählt habe, weiß ich aus zweiter Hand. Wie gebrauchte Kleider spazieren manche von uns durchs Leben mit Geschichten voller Löcher und Lücken. Aber, wie es in dem eritreischen Sprichwort heißt, das mein Vater mich gelehrt hat: ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል – kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. O Bina-B. Damals bei Diana, in der Anfangszeit meines Londoner Lebens, als ich nicht zur Schule gehen und Englisch lernen durfte und die Prüfung meines Asylantrags noch ausstand, entdeckte ich die Sprache meines Inneren. In dem Zimmer in Dianas Haus in Kilburn ließ man mich genauso warten, wie ich mir meinen Asylantrag in einem Büro des Home Office vorstellte: hochkant ins Regal geschoben zwischen Geschichten aus aller Welt, von Orten, die dieses Land einmal besetzt hatte. Ich stellte mir unsere Akten zur Seite geneigt vor, kurz vor dem Umkippen, ein Wasserfall aus Wörtern ergießt sich über den Boden des Home Office, das Gebäude wird mit Wörtern geflutet. In dem Zimmer bei Diana begann ich mit der Entdeckungsreise in die Welt in meinem Inneren, ein Spiel mit meinem tiefsten körperlichen und geistigen Verlangen. In London gehörte mir in den ersten Wochen nichts als Zeit, und ich glaubte schon, dass das Home Office mich mit Zeit überschüttet, um mich darin zu ertränken. Und auf der Bank am Fitzroy Square, als ich durch Regeln, Rollen, Normen, Ängste, Zweifel hindurch in Bina-Bs Tiefen drang, fand ich auch seine Heimatsprache. O. B. B. Bina-Balozi drehte sich um und schlang die Arme um meinen Hals. Seine Augen waren mein Spiegel – es gibt nichts Sinnlicheres, als sich in den Augen eines ungestümen Geliebten, der durch die Felder der eigenen Vorstellung streift, gespiegelt zu sehen. O. B. B. BBs Lustschreie erregten die Aufmerksamkeit einer Frau, die ihren Hund ausführte. Was machen Sie da? rief die Frau. Ich rief zurück: Was ist los? Haben Sie zu Hause keinen Sex? Das hier war kein Dogging. Die Straßen von London waren mein Zuhause – hier schlief ich, aß ich, wusch ich mich, weinte, verrichtete meine Notdurft, hatte Sex, und nahm die Ereignisse mit meinen Augen auf… AUGEN: Hannah erhebt sich von ihrem Pappkartonbett unter ihrem Baum auf dem Tavistock Square… seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis ist der Baum ihr Zuhause… sie gähnt… die 100 toten Dichter von Bloomsbury zerstreuen sich im Tageslicht bis auf einen… sie steht vor E. E.≈Cummings und streckt sich und badet in seinen Affirmationen (ich mag deinen körper. ich mag was er tut, / sein wie und seine weise)… ihr ist heiß… sie wirbelt herum… geht ein paar Schritte… dann… dreht sie sich um… ein paar im Park verstreute Menschen… sie essen lesen weinen denken lachen schauen reden… der Tod ist heute in der Stadt gerade wird in Erinnerung an jemand kürzlich Verstorbenen eine Bank errichtet… aber warum sterben Erinnerungen nicht? fragt Hannah… sie denkt an ihre Familie in Eritrea die ihre Rückkehr als fertig ausgebildete Ingenieurin erwartet… ha… ha… ha… sie lacht bei dem Gedanken… dann weint sie… ihr Atem riecht nach Enttäuschung… der Morgen fühlt sich trostlos an… heute weicht Londons Optimismus ihr aus und Hannah denkt er benimmt sich wie ein schwarzes Taxi das für schwarze Menschen nicht hält… ganz schön anstrengend Hannahs Augen zu sein… unter einem Baum zu leben… aber selbst wenn sie ihr Augenlicht verliert und uns verliert sind wir trotzdem noch da weil wir mit der gleichen Kraft und Intensität fühlen wie wir sehen… wir sitzen fest… kein Entkommen… ha… was solls… jetzt ist es interessanter denn je als Hannahs Augen… (unser stoischer Gesichtsausdruck weicht einem kurzen Grinsen)… O Bina-Balozi. Ich erinnere mich an diesen Abend, als ich dreizehn war, es war das Ende eines weiteren Tages unter Fremdherrschaft. Statt von Briten wurde Eritrea jetzt von Äthiopiern regiert. Meine Mutter war tot, mein Land eine Kolonie, und mein Vater war am Leben, aber nicht mehr lebendig. Sein Geist und sein Herz waren mit meiner Mutter fortgegangen. Mit Kalaschnikows bewaffnete eritreische Freiheitskämpfer belagerten unsere Stadt. Während äthiopische Kampflugzeuge über uns kreisten, war mein Vater an diesem Abend im Garten. Ich war drinnen, in unserem Betonhaus mit der grünen Decke und den Wänden voller Bilder meiner Mutter in unterschiedlichen Posen. Mein Vater hatte mich allein großgezogen, hatte sich geweigert, noch mal zu heiraten, lebte lieber im Andenken an meine Mutter. Er war eine Enzyklopädie ihrer Geschichte: Er brachte mir bei, wie sie gesprochen, gegessen, getrunken, gelacht hatte, und zeigte mir ihre Art, in die Ferne zu schauen, als sammelten sich ihre Gedanken in Schichten in einem unendlichen Raum. Sogar ihre Duschroutine ließ er mich nachahmen. Zweimal am Tag duschte meine Mutter in unserem Bad mit dem offenen Dach, mit dem ersten und dem letzten Sonnenstrahl, damit ihre Haut bereit war, Licht und Dunkelheit zu empfangen. Ich sehe vor mir, wie die Sonne auf- und untergeht, einen Zeitabdruck auf ihrem Körper hinterlässt, der so magisch war wie die Rundungen der Berge von Keren. Meine Mutter war besessen von der Natur, ihrer Schönheit und zerstörerischen Kraft, ihrem Schweigen und Brüllen. Mein Vater nahm mich nachts oft mit in den Stadtgarten und befahl mir, ohne Taschenlampe hindurchzulaufen, und ich tastete mich vorwärts, entlang am wehenden Duft von Blüten und Früchten. So dachte mein Vater über das Leben in einem Kriegsgebiet, das hatte er von seiner Familie geerbt, die ähnliche Zerstörungen durchlebt hatte: In einem Land der immer wiederkehrenden Gewalt war das Sehen durch die Berührung von etwas Schönem eine Notwendigkeit. Ich fand Zuneigung und Freundschaft nicht nur bei Menschen. Ich achtete auf die Sprachen der Natur, genau wie meine Mutter. Mein Vater wollte, dass ich auch ihre Liebe zu Büchern erbte. Und obwohl er weder lesen noch schreiben konnte, sammelte er nach ihrem Tod Bücher und wurde bekannt als der analphabetische Büchersammler. Sein Mantra war: ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል – kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. Während also äthiopische Flugzeuge über unsere Stadt flogen, sprach ich an diesem Abend mit den Bildern meiner Mutter an den Wänden im Haus meines Vaters. Ich sagte ihr, dass ich die Derg-Truppen, die sie getötet hatten, genauso sehr hasste wie sie die britischen Kolonisten und ihr Vater die Italiener. Dieser Hass wurde zu einer so verheerenden Erbkrankheit, dass ich Jahre später beschloss, keine Kinder zu bekommen. Mein Vater kam herein. Er zog seine Pistole und legte sie auf den Tisch an seinem Bett neben eine große, leere Kiste, die er mit Büchern zu füllen begann. Ich ging in den Garten und goss gerade die Töpfe mit den Kräutern, als mein Vater mit einer Spitzhacke und den Bücherkisten aus dem Zimmer trat. Er hatte mir erzählt, meine Mutter sei jetzt ein Stern. Wir blickten nach oben, unsere Augen durchkämmten den Himmel. Die Kampfjets der Besatzer flogen paarweise über die Stadt, fügten dem wolkigen Himmel weitere Dunststreifen hinzu. Keine Sterne zu sehen. Mein Vater grub ein grabähnliches Loch. Er sammelte die Bücher von Menschen, die im Krieg gestorben oder geflohen waren und ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten. Instinktiv rettete er Bücher wie andere ausgesetzte Haustiere. Obwohl viele in der Stadt ihn darauf ansprachen, sah er keinen Widerspruch darin, dass ein Analphabet endlos Bücher anhäufte. Er stellte sich vor, er wäre wie unsere von den Italienern erbaute Bibliothek: ein Gebäude, das Tausende Bücher zärtlich empfing. Auch er würde Wörtern, Ideen, Erzählungen und unserer Geschichte ein sicheres Zuhause sein. Aber anders als die italienische Bibliothek, geschaffen von-Weißen-für-Weiße, wäre er so offen wie der Mond. Ich erinnere mich an die Abende, als sich in unserem Garten Erwachsene und Kinder drängten, um in den Feuerpausen die Bücher meines Vaters zu lesen, als Frauen, die weder lesen noch schreiben konnten, mit ihren Bun-Sets ankamen, Kaffee und Popcorn verteilten im Tausch gegen Geschichten, als Dichter gespannt auf die Reaktion des Publikums ihre unfertigen Werke vortrugen und Intellektuelle nach der Lektüre von Büchern meines Vaters in Diskussionen verfielen. An einem dieser Abende, als Öllaternen zwischen unseren Blumen standen, als Kaffeeduft vermischt mit Lachen, Argumenten, Theorien, Meinungen und Poesie durch die Luft wehte, als Popcorn an die Topfdeckel poppte, gab mein Vater mir die Tagebücher meiner Mutter und sagte: ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል –kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. Er hätte sich nie vorstellen können, dass ich sie in London, im Haus einer Engländerin, zum ersten Mal lesen würde. In Eritrea aber las ich die Bücher, die er gefunden hatte und jetzt aus seinem Zimmer trug. Ich verwahrte jedes davon in meinem Inneren, bevor er sie in Kisten packte und in Löchern vergrub und einen Hibiskus, eine Bougainvillea dazu pflanzte. Unser Garten und ich wurden zu spiegelbildlichen Bücherfriedhöfen. Ich war umgeben von Zerstörung, aber tief in mir brodelte das Leben wie in den Mauern von Babylon. Genüsslich verschlang ich in den schlaflosen Nächten meiner Kindheit das Werk von persischen Dichtern. Ich las so viele Texte über arabische Architektur, dass ich, wenn ich nach Bombardements durch unser Viertel schlenderte, zerstörte Häuser und Schulen in meinem Kopf wieder aufrichtete. In meiner Fantasie waren die wiederauferstandenen Gebäude so lichtdurchflutet und farbenprächtig wie die aus der andalusischen Zeit. Ich bewahrte Wörter, Figuren und Sätze aus weit gereisten Büchern in mir auf. Ich fühlte mit Oliver Twist, bevor ich in sein Land kam und unter meinem Baum auf dem Tavistock Square selbst in London Armut litt. Auf verhasste Spielkameraden ließ ich metaphorische Schneelawinen niedergehen, die ich aus dem Geografiebuch eines italienischen Lehrers kannte, das mein Vater aus einem brennenden Haus gerettet hatte. Ich schrie äthiopischen Soldaten die Sprache russischer Schriftsteller entgegen, feuerte revolutionäre Wörter ab, als wäre mein Mund ein Katapult. Literatur konnte eine Waffe sein. Aber hat sie auch meine Vorliebe für Ärsche beeinflusst? Ich weiß es nicht, aber ich war ungefiltert, mein Geist so unzensiert wie manche der Bücher, die ich las, etwa die Gedichte von Abu Nuwas aus der Abbasidenzeit, der über seine Liebe zu Männerpos schrieb, über die in Hosen verborgenen Geheimnisse. Alles ist Liebe, sagte der Dichter. Alles ist Liebe, wiederholte ich. Rückblickend rede ich mir ein, dass mein Vater mir all diese Bücher zu lesen gab, um die Literatur zu meinem Waisenhaus zu machen. Die geschriebenen Worte würden eine menschenähnliche Gestalt annehmen und mich die Liebe der Familie spüren lassen, die ich im Krieg verloren hatte. ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል – kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. Nachdem mein Vater an diesem letzten Abend die Bücher im Garten begraben hatte, ging er zurück in sein Zimmer und trat kurz danach in einem blauen Hemd und dazu passender Hose, das lange Haar zurückgekämmt, wieder heraus. Der Himmel toste. Er sah nach oben und suchte zwischen den Schlieren der Flugzeuge bei den Sternen nach meiner Mutter. Sie war nirgends zu sehen. Als wollte er ihr in ihrem Geruch nahe sein, holte er sich eine ihrer Unterhosen, die er zu einem Quadrat gefaltet hatte, und steckte sie sich in die Brusttasche. Ein Männergesicht schob sich neben einer Öllampe hinter unserer Gartenmauer hervor. Es war der Nachrichtenbringer. Er brachte eine Nachricht: Die eine Straßenlaterne, die der Verwalter der Besatzungstruppen unserer Stadt zugeteilt hatte, war angeschaltet worden. Da die ganze Stadt seit Tagen weder den Mond, die Sterne noch die Sonne gesehen hatte, lockte das Licht die Bewohner nach draußen wie ein Jahrmarkt am Strand. Los, schnell, Vater, sagte ich, als wollte ich sehnlichst sehen und gesehen werden, bevor es wieder dunkel wurde. Ich saß auf seinem Lenker, mein Rücken wölbte sich in den Wind. Er fuhr die staubige Straße entlang, die Nacht hüllte uns ein, ihre Hitze drang unter meine Haut. Ich dachte über meinen Vater nach, während er durch dunkle leere Straßen lenkte. Jedes Mal, wenn er ein Buch unter toten Körpern hervorzog, aus brennenden Gebäuden oder verlassenen Wohnungen herausholte, bekam sein Leben einen neuen Sinn, als wäre er frisch verliebt. Liebe steckt in so vielen Dingen: Ich sah sie in der Art, wie er jedes Mal, wenn er ein Buch fand, in sich hineinlächelte. Manchmal lag er nachts mit einem Buch in der Hand wach und inhalierte Wörter, die er nicht verstand, wie um neue Gefühle in sich aufzunehmen. Als wir vor dem Tor eines geschlossenen Cafés ankamen, das hinter türkis gestrichenen Mauern zwischen unzähligen Obstbäumen lag, nahmen die Flieger den Horizont wieder ein. Mein Vater bremste, und wir stiegen ab. Ich stand neben ihm, die Strahlen seiner Taschenlampe küssten die Guaven, Mango- und Orangenbäume. Blätter änderten im vorübergleitenden Licht die Farbe, Schatten hellten sich auf und verdunkelten sich wieder. Die Dunkelheit tat sich auf und empfing das Licht wie bei einer Wiedergeburt. Mein Vater weinte. Alles in Ordnung, Vater? Er antwortete nicht. Wir machten uns wieder auf den Weg zur Straßenlaterne. Tieffliegende Kampfjets zogen über uns hinweg. Unter uns bebte der Boden, als über den nah gelegenen Bergen Bomben fielen. Mein Vater strampelte schneller die löchrige Straße entlang, und ich versuchte seine Gedanken zu erhaschen, als wären sie die Partikel, die im Licht seines Scheinwerfers funkelten. Aber wie alles um uns herum waren auch unsere Gedanken zersplittert. Mein Vater fuhr langsamer und leuchtete mit seiner Taschenlampe umher, als könnte sich jeden Moment ein Feind auf uns stürzen. Noch mehr Flugzeuge, noch mehr Bomben. Der Horizont ging in Flammen auf, Flammen wie die, die das Leben meiner Mutter gefordert hatten. Unser Land wurde zu einer Räucherschale für unser Fleisch. Unsere Lieben wehten mit den Rauchschwaden in die Wolken, und noch heute machen Wolken mich melancholisch. ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል – kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. Mein Vater fuhr um ein Auto herum, das neben einem einsturzgefährdeten Schrotthaufen auf dem Dach lag, Kaninchen steckten die Köpfe aus dem Bauch des Wagens. Am Anfang einer Reihe Häuser mit verbrannten Dächern empfing uns ein Lastwagen, dem Bäume aus der Motorhaube wuchsen. Mein Blick kletterte aus der menschenleeren Straße in den geschäftigen Horizont. Beunruhigt von der Gewalt hielten der Mond und die Sterne sich versteckt. Wie mein Vater stellte ich mir vor, dass meine Mutter über den Wolken, über dem Regen, über den Fliegern mit den Sternbildern durch den Himmel wanderte. Er würgte. Ich drehte mich zu ihm um. Vater, alles in Ordnung? Er antwortete nicht. Sein langes Haar wehte im Wind, verströmte den Geruch von Verlassenheit. Ein Blöken riss mich aus meinen Gedanken. Eine Ziegenkolonne marschierte auf uns zu, ihr Hüter döste auf seinem Eselkarren vor sich hin, während von seinem knochigen Hals eine Öllampe über einer verwundeten Ziege baumelte, die zusammengekauert auf seinem Schoß lag. Ein Vogelschwarm flog über ihn hinweg. Auch die Natur war dabei, uns zu verlassen. Vielleicht zog mein Vater deshalb seine Pistole und schoss auf die Vögel am Himmel, störte ihre Wanderschaft und meine Gedanken. Nachdem wir einen steilen, von den Stimmen der Toten bevölkerten Hügel hochgestapft waren, vorbei an einem Mann in Schwarz, der sich hin- und herwiegte, trabte eine Gruppe streunender Hunde unterschiedlicher Rassen an uns vorbei. Ein Verwundeter im Kampfanzug lehnte an einem Baum, Blut rann aus seinem Arm und nährte die Wurzeln, als verkörperte er die Metapher aus dem Gesang der Rebellen: Für unser Land geben wir unser Blut. Mein Vater wollte gerade anhalten und dem Mann helfen, da umringten die Hunde den verwundeten Soldaten und knurrten meinen Vater an. Wir setzten unseren Weg fort. Mein Vater keuchte. Ich drehte mich zu ihm um: Vater, alles in Ordnung? Keine Antwort. Eine alte Frau in einer traditionellen weißen Zuria mit blau bestickten Säumen saß allein zwischen einer Öllampe und einem Kaffeeset auf den Schuttresten eines zerstörten Gebäudes. Während sie über einem kleinen, mit glühenden Kohlen gefüllten Ofen in dem langstieligen Kännchen die Kaffeebohnen röstete, drehte sie den Kopf von links nach rechts, redete, kicherte, als plaudere sie mit denen, die gestorben waren, deren Seelen aber mit den Funken in der Dunkelheit aufleuchteten. Es roch nach Kaffee. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören. Mein Vater zog seine Pistole und zielte in den Himmel, auf die Wolken und die Sterne dahinter. Schieß nicht, Vater, sagte ich. Sonst triffst du noch meine Mutter. Er steckte die Pistole zurück in seine Tasche, und wir fuhren weiter. Die Rauchwolken, die die Kampfflugzeuge kreuz und quer über die Stadt zogen, wurden dichter. Unter der Veranda einer alten Schneiderwerkstatt suchten wir Zuflucht vor einer erneuten Angriffswelle, als säßen wir einen tropischen Regenschauer aus. Eine kahlköpfige Frau in einem weißen Kleid trat mit einer Gitarre aus einem Haus in einen von Öllampen beleuchteten Vorgarten. Nubiennachtschwalben kamen herabgeflogen und sangen, während sie spielte. Mein Vater schluchzte. Ich folgte der Richtung seines Blicks: der Himmel, schwer vom Rauch, von der Liebe, die in seinen Augen schwelte. Los, komm, sagte ich, und zog ihn am Arm. Ich saß auf dem Lenker und summte, während wir durch eine leere Straße rollten, dann strampelte er im Stehen einen Hügel hoch. Oben angekommen setzte er sich wieder. Die Nacht roch nach feuchtem Gras und seinem Schweiß. Er gluckste, als hätte er geweint. Als wir bei der Asphaltstraße ankamen, sprangen wir vom Fahrrad und schlossen uns der Menge an, die auf die Straßenlaterne zumarschierte. Die ganze Stadt war wie neugeboren, in Sentimentalität gehüllt, als wollten diejenigen, die nicht aus dem Land fliehen konnten, sich zumindest ineinander flüchten, in die Welt der Erinnerungen, die in den Augen der anderen ruhte und im Licht der Straßenlaterne sichtbar wurde. Viele schlossen sich in die Arme, wie zu einem letzten Tanz, wie bei einem Wiedersehen nach langer Trennung. Ein junger Mann kippte einer Frau Kaugummis in den Mund und beugte sich zu ihr, als wollte er von ihrem warmen, mintfrischen Atem trinken. Manche brachten ein Buch zum Lesen mit, Kinder ihre Hausaufgaben, ein Schneider, der seine Brille verloren hatte, schob blinzelnd seinen Faden durch ein Nadelöhr, um eine Wunde zu vernähen. Eine Gruppe Jugendlicher hatte eine Flasche Tej-Wein und Karten dabei. Ich erinnere mich, wie ich beim Anblick der Laterne genauso strahlte wie die Glühbirne, und meine Gedanken sich aufhellten. Mein Kopf platzte vor Tagträumen so bunt wie die Motten, die um uns herumflatterten. Optimismus erfüllte mich, als würde die Zukunft bei Nacht geboren. O Bina-B. O. B. B. Ich sah das Licht am Ende deines O durch deinen Tunnel scheinen. Das Gedränge um die Straßenlaterne wurde so groß, dass eine Schlägerei ausbrach. Im anschließenden Chaos wurde gestohlen, Grüppchen wurden auseinandergerissen, und die Worte von Liebenden verloren in der hitzigen Atmosphäre ihre Bedeutung. Murmeln, Schreien, Keuchen, Lachen, Weinen, Stöhnen und Schluchzen hallte zwischen den Mündern wider. Als in der Nähe eine Bombe einschlug und die Menge auseinandertrieb, war die kurze Rückkehr zur Normalität vorbei. Ich verlor meinen Vater. Die Menschen kreischten. Ich schloss die Augen und hielt mir die Ohren zu, und als ich sie wieder öffnete, war die Straße leer und ich allein im grellen Licht. In einiger Entfernung standen drei Soldaten. Ihr Blick war auf mich gerichtet. Ich flüsterte den Namen meines Vaters. Die Soldaten schauten sich an und lächelten. Blutend brachten sie mich meinem Vater zurück. Mein Vater wusch mich und brachte mich ins Bett. Als ich in dieser Nacht mit einem Stechen im Bauch aufwachte, war er im Garten, saß neben einer Öllampe unter dem Zitronenbaum, hielt ein Bild von meiner Mutter in der Hand. Ich wollte ihn nicht stören. Ich stand in der Tür und beobachtete ihn. Er sah auf. Der dichte Rauch, der tage- und nächtelang über der Stadt gehangen hatte, riss auf und verzog sich wie dicke Regenwolken. Der Mond schien. Die Sterne, sagte mein Vater. Ich kann die Sterne sehen. Ich kann sie sehen. Ich kann meine Liebste sehen. Er sank auf die Knie und brach zusammen. Vater. Vater, alles in Ordnung? Vater? ኵሉ ይሓልፍ ፍቕሪ ትቕጽል – kullu yihalif, fiqri yiterif – alles vergeht, die Liebe bleibt. O Bina-B lass mich in dich eintauchen und in deinem Frieden ertrinken. O.B.B. Bina-B tanzte über meinen Schoß, tanzte zum Klang meiner Geschichte und der Trauer, die fest in meiner Kehle steckte. Erzähl weiter, sagte er, während seine Hüften sich auf meinen Schenkeln wiegten. Er hielt inne, unterbrach seinen Tanz, wie man sich mitten im Satz unterbricht. In Gedanken versunken sind Menschen am anziehendsten, dachte ich. Ich drehte ihn mit dem Rücken auf die Bank, und als ich seine Beine hob, um tiefer in ihn vorzudringen, blühte die pinke Haut zwischen seinen Backen auf. Ich brachte Frühling in seine Tiefen. O B.B., ich nehme dich mit zurück zum Anfang meiner Reise nach London, zu Diana und zu dir. Nach dem Tod meines Vaters wurden das Tagebuch meiner Mutter und ich in der Familie herumgereicht, angefangen bei einer älteren Verwandten, die erblindet war, aber trotzdem noch in die Menschen hineinschauen konnte, bis zurück nach Keren zum Geburtsort meiner Mutter, wo ich bei dem Hausmädchen lebte, das seit der Geburt meiner Mutter für meine Großeltern gearbeitet hatte. Ich sagte Tante zu ihr. Sie hatte einen Sohn in meinem Alter, der Alem hieß. Meine Tante band sich ein Tuch um die Taille und sang von dem Tag, an dem ich zu ihr kam, bis zu dem Tag, als ich siebzehn wurde und wieder abreiste, immerzu dasselbe Lied. Eines Tages platzte Alem ins Bad, als ich gerade unter der Dusche stand. Von da an wurde das Badezimmer zu einer Oase, in der wir gegenseitig unsere Körper erkundeten. Während der Krieg die Welt zerstörte, in die wir geboren worden waren, erschufen wir uns in unseren Körpern eine neue, und wenn wir unsere Finger in den anderen steckten, floss Lust zwischen uns wie Strom, in beide Richtungen. An Alem dachte ich an dem Abend, als ich mich für mein Date mit Bina-Balozi fertig machte. Ich war eine Geflüchtete, das Home Office musste mich erst noch anerkennen, aber das O auf Bina-Bs Rücken war die Heimat, nach der ich gesucht hatte. Man könnte mich für verrückt erklären, weil ich diesen Gedanken ausspreche, aber ich will es sagen und bin mir ganz sicher: Mein Geist ist unversehrt, trotz der Tragödien meines Lebens. Tatsächlich war bei klarem Verstand zu bleiben meine größte Leistung in einem ansonsten glanzlosen Leben, und Großes war, was meine Familie von mir erwartet hatte, als sie mich vor all den Jahren nach Europa geschickt hatte. Sogar mein Sexleben ist fragwürdig, ich stolpere von einer Beziehung in die nächste. In einer Zeit, in der es auf Klarheit und Definitionen ankommt, werden die Leute nicht schlau aus mir, wie auch, wenn ich selbst nicht weiß, wer ich bin. Wie ein Geliebter mir einmal gesagt hat: Hannah, du hast keine Form, dein Ursprung ist uneindeutig. Kann man ein Mysterium ficken, sich in ein Rätsel verlieben? Aber auch wenn ich mir selbst und anderen Herzschmerz bereite, möchte ich an der Fluidität, mit der ich lebe, nichts ändern. Und aus diesem »Hannah fickt lieber Männerärsche, als zu studieren« wollte ich hier gar keine große Sache machen. Aber da ein anderer eritreischer Geflüchteter meiner Familie genau diese Worte geschrieben hat, muss ich sie erklären und mich den Gerüchten stellen. Ich habe meine Familie nicht im Stich gelassen, ich habe nur mein Begehren gesteigert. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Einzimmerwohnung in der Great Portland Street nackt vor meinen Kleiderschrank trat, um mich für mein Date mit Bina-Balozi fertig zu machen. Ich hatte in einem italienischen Restaurant in der Nähe der Tottenham Court Road einen Tisch reserviert. Mein Kleiderschrank war wie eine Erinnerungskiste. Alles darin erinnerte mich an einen bestimmten Moment meiner Geschichte: Migration, Liebe, Herzschmerz, Sex, Wein, Streit, Obdachlosigkeit, in den Straßen Londons hinfallen und wieder aufstehen. Ich wähle meine Kleidung immer sorgfältig aus, und kann mich dadurch noch nach Jahren an Momente des Scheiterns und des Erfolgs erinnern. Ein Kleiderwechsel ändert meine Stimmung genauso wie das Londoner Wetter. Darüber dachte ich nach, bevor ich mich für ein Outfit für mein Dinner mit Bina-Balozi entschied. Da waren mein brauner Tweed-Anzug, ein Ledermantel, ein Schaltuch und Lederschuhe, die ich trug, wenn ich so vielschichtig sein wollte wie James Baldwin. Ich besaß einen kurzärmligen Vintage-Jumpsuit, gekauft für meine Abendspaziergänge, nachdem ich von Londons industrieller Vergangenheit erfahren hatte, als müsste ich mich in der Geschichte der Stadt verwurzeln, um in ihrer Gegenwart Platz zu finden. Aber in dieser Nacht trug ich für mein Date mit Bina-B meinen zweireihigen Trenchcoat und Springerstiefel. Mit sexuellen Bedürfnissen wie meinen muss man für den ständigen Kampf gegen innere und äußere Kräfte gewappnet sein. Als ich meinen Strap-On umschnallte, lief das Chanson »La Vie en rose« und ich pfiff mit. Mein