Die Sehnsucht der Tulipane - Lena Klassen - E-Book

Die Sehnsucht der Tulipane E-Book

Lena Klassen

4,9

Beschreibung

Janna verkauft Blumen. Doch seit Jahren nimmt sie die Schönheit um sich herum kaum mehr wahr. Nach einem tragischen Verlust hat sie sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Dann begegnet sie einem seltsamen Fremden, der behauptet, er sei ein Engel. Was ihm Janna natürlich nicht glaubt. Doch nach und nach bringt er ihr das Leben zurück ... "Seine Hand war fest und warm und wirklich. Manuels sanfte braune Augen glitzerten. "Ich will nichts von dir, sondern alles für dich."

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Kann Gott einen Felsblock schaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?Kann er es nicht, ist er nicht allmächtig.Kann er es, ist er auch nicht allmächtig.

Ist Gott allmächtig?

Eine Blume“, sagte Großvater Gerd, denn heute war Samstag. „Ich hätte gern eine Blume.“

Janna wusste nicht, wie der alte Mann hieß, aber da er ihrem längst verstorbenen Opa verblüffend ähnelte, nannte sie ihn insgeheim Großvater Gerd. Manchmal hatte er sogar noch einen winzigen Rest Senf im Mundwinkel, genau wie ihr Opa, der zum Frühstück immer Fleischwurst mit Senf gegessen hatte. Jeden zweiten Tag kaufte sich der fremde Herr in der Bäckerei nebenan ein halbes Brot von gestern und humpelte dann mit langsamen, stockenden Schritten herüber zum Blumenstand. Mit bedächtigem Stirnrunzeln musterte er die langstieligen Rosen in den schwarzen Eimern, die fertig gebundenen Sträuße, die Topfblumen mit den hübschen Steckern und die kleinen Tonkugeln, um sich dann mit einem strahlenden Lächeln an Janna zu wenden.

„Ich brauche eine Blume für meine liebe Flora.“

„Ja“, sagte sie, „ich weiß. Was für eine möchten Sie denn heute? Die Astern sind besonders schön.“

Er kaufte nie Topfblumen oder Gestecke, stets nur eine einzelne Blume, die sie ihm feierlich überreichte. Es war wie ein Ritual, jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag. Im Eingangsbereich des großen Supermarkts herrschte ständig Gedränge und Lärm. Musik dudelte herüber, die kleine Bäckerei und der Stand mit türkischen Spezialitäten versuchten die Kunden mit verführerischen Düften anzulocken. Die Ecke mit den Blumen übersahen die meisten. Manch einer griff hastig nach einem gebundenen Strauß und murmelte etwas von „Geschenk vergessen“. Doch Großvater Gerd nahm sich so viel Zeit, als hätte er Jannas Blumen nie zuvor gesehen. Als hätte er überhaupt noch nie so etwas Wundervolles gesehen. Er zelebrierte die Entscheidung, welche Blume er seiner Flora mitbringen sollte, mit sichtlichem Genuss, und genauso langsam und bedächtig wickelte Janna die Auserwählte in Papier ein.

„Vorsicht, stechen Sie sich nicht an der Nadel“, sagte sie jedes Mal, und Großvater Gerd lächelte erfreut und bedankte sich. Dann verstaute er die Blume umständlich in seiner großen, braunen Tasche, in der er schon das halbe Brot versenkt hatte, und tappte zum Ausgang. Es war wie ein Wunder; sobald er Floras Blume gekauft hatte, hinkte er kaum noch. Er ging aufrechter, selbstbewusster, jünger, und manchmal fragte Janna sich, was Flora wohl für ein Mensch war. Für ihn musste sie wunderschön sein, obwohl sie bestimmt ebenfalls mindestens achtzig war, und gewiss war sie warmherzig und schenkte ihm ein Lächeln, wenn er die Blume in die Vase stellte. Da der Alte immer allein einkaufen ging, war Flora vermutlich nicht mehr gut zu Fuß oder sogar bettlägerig, und vielleicht war die Blume, die sie jeden zweiten Tag bekam, ihre größte Freude.

Beinahe stahl sich ein kleines Lächeln auf Jannas Lippen, während sie beobachtete, wie Großvater Gerd den Laden verließ. Ein ebenso ungewohnter Gedanke schlüpfte in ihren Kopf: Wie schön wäre es, wenn schon Feierabend wäre und sie hinauskönnte, um die herbstliche Luft einzuatmen und die Blätter unter ihren Schuhen rascheln zu hören. Der Gedanke erschreckte sie, so fremd fühlte er sich an.

Seit jenem Tag vor vier Jahren sehnte sie sich nicht mehr nach der Sonne, die irgendwo hinter den leise zischenden automatischen Glastüren strahlte. Es war ihr gleichgültig, ob es regnete, ob Frühling in der Luft lag oder ob die Wolken Schneeflocken ausspien. Sie wollte es nicht einmal wissen, und wenn die Kunden nicht gewesen wären, die Leute, die braungebrannt und in kurzen Hosen zum Einkaufen kamen oder dick eingepackt mit Schals und Mützen und mit ihren schlammigen Schuhen den Eingangsbereich des Supermarkts in eine Rutschstrecke verwandelten, wäre es ihr vielleicht sogar gelungen auszublenden, wie draußen die Zeit verging. Alles war gefährlich, alles konnte das schlimmste Wort von allen auslösen: Wenn.

Wenn die Blätter fielen, die Drachen stiegen, die Kastanien über die Straße kullerten …

Wenn Schneeflocken auf der Nase schmolzen und die Familien ihre Einkaufswagen mit Schokoladenkalendern und Nikoläusen füllten …

Wenn die Kinder Eis in ihren dicken Händchen hielten, die rosigen Wangen verschmiert und klebrig …

Nein.

Sie zwang den Gedanken dorthin zurück, wo er hergekommen war, hinter die Tür in ihrem Geist, die sie fest geschlossen hielt. Sie drängte ihr Lächeln zurück, dieses verräterische Zucken um die Mundwinkel. Dieses Lächeln, das sie beinahe glauben ließ, dass sie lebendig war. Wenn sie alle Gefühle und Gedanken beherrschte, war sie wie die Statue im Park, diese Statue, an die sie nicht denken mochte. Ein Mädchen aus Bronze unter einem leeren Himmel, inmitten von Rosen und Lavendelbüschen, die sich an ihre Knöchel schmiegten. Und das Mädchen starrte ins Nichts.

Worauf es auch wartete, was es auch fürchtete, nichts konnte es berühren, denn es war aus harter, nahezu unzerstörbarer Bronze, und ihr Herz war wie in einem Tresor eingeschlossen. Sie rührte sich nicht, die Arme hilfesuchend emporgeworfen, und ganz gewiss träumte sie nicht von der Vergangenheit, davon, alle Uhren zu zerschlagen. Die Zeit zurückzudrehen.

Wenn doch nur …

Das war tödlich. Es war so schlimm wie Stille oder ein Farbstreif am Horizont, wenn der Abend seine Symphonie an den Himmel malte.

Janna versuchte, gleichmäßig zu atmen, während sie die Rosen im Eimer neu arrangierte. Zum Glück dufteten sie nicht. Sie waren auf Schönheit und Haltbarkeit gezüchtet, nicht auf etwas so Sinnloses und Verschwenderisches wie Duft. Selbst inmitten von Blumen war es immer noch möglich, nichts zu fühlen.

Einen Moment lang wunderte sich Janna darüber, warum sie sich dann überhaupt freute, wenn der Alte kam. In der endlosen Kette von Tagen, die sie irgendwie überstehen musste, waren die Dienstage, die Donnerstage und Samstage zu Pfeilern in einem Meer des Nicht-Lebens geworden, Pfeiler, die wackelige Hängebrücken trugen, über die Janna sich von einem Tag zum anderen hinüberretten konnte.

Unter sich das tosende Meer des „Wenn“, das nach ihren Füßen schnappte.

Nach dem Feierabend begann die Stille. Es gab keine heilsame Verbindung, die von einem Arbeitstag zum nächsten geführt hätte, keine Abkürzung, um den Abend und die Nacht zu umgehen.

Jannas Nachhauseweg führte von der belebten Straße immer tiefer in die Welt der Reihenhäuser und Mietskasernen hinein. Sie machte einen Umweg, um nicht am Park vorbeizufahren, in der das Bronzemädchen aufgehört hatte zu tanzen und reglos dastand, den schlanken Fuß in der Luft. Irgendwie gelang es Janna stets, um die kleine Skulptur und um den Park herumzudenken, um die Rosen und um Ben. Nach jahrelanger Übung gelang es ihr, mit den Gedanken denselben Umweg zu machen wie mit dem Fahrrad. Sie durfte sowieso nicht träumen, um nicht mit dem Rad gegen eines der Autos zu stoßen, die unvermittelt aus den Seitenstraßen herausgeschossen kamen, und wenn sie die Mülltonnen umkurvte, kam manchmal ein Gefühl in ihr hoch, das nicht zu ihrem Alter passte – beinahe so etwas wie Verspieltheit. Sie ignorierte es nach Kräften.

Im Treppenhaus roch es vertraut nach einer Mischung aus Putzmitteln und Frikadellen. Frau Nieder wischte die Fliesen vor ihrer Haustür. Frau Nieder legte großen Wert darauf, dass es im Flur perfekt sauber war; das schien überhaupt ihr einziger Daseinszweck zu sein.

„Sie sehen aber wieder geschafft aus, Frau Steiner“, sagte Frau Nieder. „Schauen Sie, ich hab ein neues Täubchen.“

Janna nickte höflich. „Schön.“ Die bunte Dekoration aus Plastikblumen und künstlichen Vögelchen rund um Frau Nieders Wohnungstür hätte ihr in den Augen geschmerzt, wenn sie ihr nicht so völlig gleichgültig gewesen wäre.

„Ich hab noch ein Stück Streuselkuchen übrig“, sagte Frau Nieder. „Wenn Sie mögen?“

„Nein danke.“

„Sie sollten wirklich mehr essen, so dünn und blass wie Sie sind.“

Was sollte sie darauf entgegnen?

Janna zuckte mit den Schultern und schloss ihre eigene Tür auf, die völlig ohne Dekoration auskam und neben der von Frau Nieder quasi nackt aussah. Es gab nur eine schlichte dunkelgraue Fußmatte, und über der Klingel stand ihr Name auf einem Schild: J. Steiner.

Hinter dieser Tür schien niemand zu wohnen. Die Familie im ersten Stock hatte einen Kinderwagen im Flur stehen und einen Haufen schmutziger Schuhe, über die ständig jemand stolperte, das Rentnerpaar gegenüber hörte zu laut Volkslieder, und oben wohnte ein junges Pärchen, das sich ständig stritt. Nur aus Jannas Wohnung drang nie auch nur das leiseste Geräusch. Manchmal war ihr, als ob nicht sie dort wohnte, sondern nur der Schatten der Frau, die sie einmal gewesen war.

In ihrer Wohnung war es weiß und still. Die Papiervögel bewegten leise die Flügel in der Zugluft, als Janna die Tür öffnete. In den Vasen auf den Fensterbänken raschelten die Orchideen aus Seidenpapier.

Sie hatte kein Haustier; keine Katze strich ihr zur Begrüßung um die Beine, kein Hund sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Nein, sie hatte sich vorgenommen, ihr Herz nie wieder an etwas Lebendiges zu hängen. Nicht einmal eine Topfpflanze ertrug sie in ihrer Wohnung, denn man musste sich darum kümmern, sie gießen, ihr ab und zu ein freundliches Wort zuraunen, und sofort griffen alle anderen Worte an, vor sich wie ein Bannerträger der Feind.

Wenn … Wenn du damals nicht …

Janna zog die Tür sacht hinter sich zu. Alle ihre Handlungen folgten einem festgelegten Muster. In jenen Tagen, als alle Handlungen sinnlos geworden waren und auseinanderfielen wie ein durchgerütteltes Puzzle, war das ihre einzige Rettung gewesen. Die Alternative war nur, im Bett zu bleiben und mit zusammengekniffenen Augen darauf zu warten, dass ein Jahr verging oder ein Jahrzehnt oder ein Leben. Ben hatte nicht verstanden, dass sie wie ein Automat die Tätigkeiten des Alltags abspulen musste, um zu funktionieren.

Immer dieselben Bewegungen, die Schuhe abstreifen, den Mantel an den Haken hängen, ein rascher Blick durchs Zimmer, ein Aufblitzen von Hoffnung – wenn es vielleicht doch bloß ein Albtraum war, wenn Nicki hier ist und losläuft und mir in die Arme springt! – und dann schlucken und in die Küche gehen und den Wasserkocher einschalten. Es war ein Ritual, wie lange sie den Tee ziehen ließ, während sie die Beine auf den zweiten Stuhl legte. Seit sie allein lebte, war es so viel einfacher geworden, sich an die Regeln zu halten. Der Löffel Honig, den sie sich zum Trost gönnte. Das einzige Zugeständnis an das dunkle Meer unter ihren Füßen und die Kälte, die sich um ihre Schultern legte.

Der Gang zum Kühlschrank, sichten, entscheiden. Eine Kleinigkeit essen. Nach wie vor zögerte sie kurz vor dem ersten Bissen – kam jetzt nicht das Tischgebet? In ihrem Elternhaus war es eine Selbstverständlichkeit gewesen. Auch das hatte Ben nicht begreifen können: Warum sie Gott niemals wieder Danke sagen wollte.

Aber wie hätte sie einem Gott dankbar sein können, der sich angeblich um Kleinigkeiten kümmerte, darüber jedoch offenbar die wirklich wichtigen Dinge vergaß? Schon lange fragte sie nicht mehr, warum er Unglück zuließ. Auch das gehörte zu den Ungeheuern, die in dem dunklen Meer lauerten. Für jetzt und heute hatte sie eine Antwort gefunden: weil Gott nicht existierte.

Es war die einzige einigermaßen logische Antwort, auf die sie sich mit Gott, der nicht existierte, geeinigt hatte. Seltsamerweise fühlte sie sich dennoch jedes Mal, wenn sie sich an den Esstisch setzte und das Messer in die Butter tauchte, ohne die Hände zu falten und „Segne, Vater, diese Speise“ zu murmeln, bewusst trotzig.

Dabei verweigerte sie bloß einem Gott, der nicht existierte, den Dank, den er nicht verdiente.

Später saß sie am Esstisch, die schimmernd weißen Papierblätter vor sich ausgebreitet, und vertiefte sich in die exakte Abfolge von Bergfalten, Talfalten, Zickzackfaltung und Gegenbruchfalten.

Seit jenem Tag, an den zu denken sie sich verbot, ertrug sie weder den Fernseher noch das Radio. Beides war schlimmer als das Rauschen der Stille.

Wenn, flüsterte die Stille.

Wenn er nicht …

Und du, wenn du nicht …

Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest …

Sie zog die Lampe näher heran. Sie faltete schneller. Es sollte eine Blume werden, aber sie hatte geträumt, sich in Gedanken verloren, und es war wieder ein Kranich geworden, der wild mit den Flügeln schlug, und unter ihr brausten das dunkle Meer und die tausend Fragen, und Janna sprang auf, warf dabei den Stuhl um und hetzte ins Bad.

Wenn die Dusche heiß genug war, wenn jeder Wassertropfen wie ein Nadelstich schmerzte, gelang es ihr manchmal, beinahe, die Fragen zum Schweigen zu bringen.

Später im Bett wickelte sie sich in die kühlen Schichten der Decke. Sie weinte nicht. Schon lange nicht mehr. Irgendwann waren keine Tränen mehr übrig gewesen.

Der kleine Engel aus Kunststein schien weit davon entfernt fortzufliegen. Er wirkte zu pummelig, als dass seine kleinen Flügel ihn hätten tragen können. Früher hätte Janna ihn hässlich und kitschig gefunden, doch als sie ihn auf dem Grab platziert hatte, war er genau richtig gewesen. Nun saß er inmitten der Chrysanthemen und lugte mit seinen Pausbäckchen zwischen ihren dünnfaserigen Blütenblättern hervor. Früher hatte Janna ihre Hände täglich in Erde getaucht. Sie hatte ihren Beruf als Gärtnerin geliebt, sie hatte es genossen, wenn alles grünte und blühte. Staudenbeete nach Farbe zu komponieren – nichts lieber als das! So hatte sie Ben kennengelernt, bei einem städtischen Projekt. Er arbeitete in dem Landschaftsarchitekturbüro, das den neuen Stadtpark entworfen hatte, und Janna für die Gärtnerei, die den Zuschlag für die Umsetzung bekommen hatte. Manchmal kamen die Erinnerungen zu ihr wie Filmszenen, in denen jemand anders die Hauptrolle spielte. Die blonde Gärtnerin mit dem Pferdeschwanz, fröhlich und energisch, und der dunkelhaarige Landschaftsarchitekt, der die Augen nicht von ihr lassen konnte. Wenn der Film im Kino gelaufen wäre, hätte er vielleicht den Titel „Das Glück der Gärtnerin“ getragen und sie hätte ihn zusammen mit ihren Freundinnen angeschaut und herrlich sentimental gefunden.

Den zweiten Teil, „Wie das Glück der Gärtnerin endet“, hätte sie sich auf jeden Fall erspart.

Von allem, was sie besessen hatte, war nichts geblieben. Keine Liebe, kein Mann, kein Kind. Weder die gemütlich eingerichtete Wohnung noch ihren Job hatte sie danach ertragen können, und so war sie irgendwie als Verkäuferin am Blumenstand gelandet und fristete ihr Dasein in den stillen Zimmern neben Frau Nieders Plüschrehen.

Dies hier war der einzige Garten, der ihr geblieben war, ein Meter mal ein halber. Eine winzige Fläche in der prallen Sonne. Es gab nur genug Platz für ein paar verstört wirkende Blumen, den Engel, ein kleines Licht und den Stein mit dem Namen und den Daten. Jeder, der vorbeiging, konnte lesen, dass dieses Kind nur drei Jahre alt geworden war.

Nick.

Jannas erdverschmierte Finger fuhren die Buchstaben nach. Der Stein war noch so neu, dass sie sich nicht an ihn gewöhnt hatte. Und daran, dass es dieses Grab gab, würde sie sich nie gewöhnen. Es war nicht richtig. Es war unmöglich, sich vorzustellen, dass er tatsächlich hier lag, ein paar Meter unter ihr. Sein kleiner Körper. Auch jetzt noch, vier Jahre später, wussten ihre Arme genau, wie es war, ihn zu halten. Seine Haare zu streicheln, seine Finger in ihrer Hand zu spüren.

Sie hockte da, aber ihre Gedanken wanderten davon. Dass ihr die Beine einschliefen, merkte sie nicht. Es wurde dunkel, doch auch davon bekam sie nichts mit. Überall auf den Gräbern leuchteten die roten Grablichter auf wie Glühwürmchen, und in der Luft lag ein Hauch Kälte, den die Nacht mitbrachte. Das dunkle Meer öffnete sich wie ein Schlund.

„Gott“, flüsterte sie. „Wo bist du?“

Unzählige Male hatte sie Gott das gefragt. Sie hatte ihn angeschrien, ihn verurteilt, ihm ihren Glauben vor die unsichtbaren Füße geworfen.

Und er hatte nicht geantwortet. Natürlich nicht. Ihr kleiner Sohn war tot, und dieses Unglück hatte ihr ganzes Leben in Stücke gerissen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Ein Geräusch ließ Janna herumfahren. War da nicht etwas gewesen, eine Bewegung, ein Schatten?

Sie empfand keine Angst, nur der Ärger wallte in ihr hoch. Wann würde dieser Mann es endlich begreifen?

Janna stand auf. „Ben?“, fragte sie mit schneidender Stimme.

Er wusste genau, dass sie ihn nicht auf dem Friedhof treffen wollte. Das hier gehörte ihr, ihr und Nick. Dies war der Ort, an dem sie zueinanderfinden konnten, an dem sie ihrem kleinen Sohn erzählen konnte, was heute und gestern vorgefallen war, was er verpasst hatte. Ben hatte hier nichts zu suchen.

Da war es wieder. Schritte auf dem Kies, kaum hörbar. Ein Rascheln, während der Wind durch die Sträucher fuhr. Im Brunnenbecken, wo man die Gießkannen füllen konnte, kräuselten sich die Wellen.

Erschrocken keuchte sie auf. Auf dem gemauerten Brunnenrand saß ein Mann, ein Fremder. Eben noch hatte sie gedacht, es sei Ben, aber natürlich war er es gar nicht. „Keine Angst“, sagte er.

„Entschuldigung“, stammelte sie hastig. „Ich dachte, es sei jemand anders.“ Sie wandte sich ab und las ihre Sachen auf. Die Plastiktöpfchen, in denen sie die Blumen hergebracht hatte, die kleine Kelle, die Handschuhe, die sie anzog, um nicht die kalte Erde auf der Haut spüren zu müssen.

Der Mann sprang von der Mauer auf die Füße. Trotz der Kälte trug er derbe Sandalen, und er hatte ein Kleid an. Nein, berichtigte sie sich, ein Gewand.

Es sah aber aus wie ein Kleid.

„Findest du?“, meinte der Mann amüsiert und sah an sich herunter. „Ein Kleid?“

Hatte er gerade ihre Gedanken gelesen? Janna musste sie laut ausgesprochen haben, eine andere Erklärung gab es nicht.

„Ich muss los, ist schon viel zu spät“, sagte sie rasch, obwohl es absolut keinen Grund gab, mit diesem seltsamen Kerl auch nur ein einziges Wort zu wechseln.