Die Shakespeare-Schwestern - Eleanor Brown - E-Book

Die Shakespeare-Schwestern E-Book

Eleanor Brown

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Beschreibung

Rosalind, Bianca und Cordelia: Die drei eigenwilligen Schwestern – von ihrem exzentrischen Vater liebevoll nach Shakespeare-Figuren benannt – verbindet die Liebe zum Lesen. Darüber hinaus könnten sie jedoch unterschiedlicher nicht sein. Eines Sommers kehren die drei nach Hause zurück, in die kleine Universitätsstadt im Mittleren Westen. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen währt nur kurz, denn die temperamentvollen jungen Frauen und ihre gut gehüteten Geheimnisse stellen die familiäre Harmonie auf eine harte Probe … »Die Shakespeare-Schwestern« ist eine ebenso mitreißende wie tiefgründige, spritzige wie humorvolle Geschichte über das Los und den Segen lebenslanger Schwesternbande, die – so sehr man sich bemüht, sie zu lösen – doch allen Stürmen des Lebens standhalten.

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»Wir lieben uns. Wir mögen uns nur nicht besonders.«

Rosalind, Bianca und Cordelia: Die drei Schwestern – von ihrem exzentrischen Vater liebevoll nach Shakespeare-Figuren benannt – verbindet die Liebe zum Lesen. Darüber hinaus könnten sie jedoch unterschiedlicher nicht sein: Rose, die Vernünftige, die den Mann ihrer Träume gefunden hat, aber dem Abenteuer der großen Liebe nicht traut, Bean, die in New York ein Leben in Glanz und Glamour führt, und Cordy, das Nesthäkchen, das nicht erwachsen werden will und ziellos durch Amerika vagabundiert …

 Eines Sommers kehren Rose, Bean und Cordy nach Hause zurück, in die öde Kleinstadt im Mittleren Westen. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen währt nur kurz, denn nicht nur das Temperament der Schwestern, auch deren unterschiedliche Lebensvorstellungen prallen aufeinander. Und als nach und nach die wohlgehüteten Probleme der jungen Frauen ans Tageslicht kommen, wird die familiäre Harmonie auf eine harte Probe gestellt …

Die Shakespeare-Schwestern ist eine ebenso mitreißende wie tiefgründige, spritzige wie humorvolle Geschichte über das Los und den Segen lebenslanger Schwesternbande, die – sosehr man sich bemüht, sie zu lösen – doch allen Stürmen des Lebens standhalten.

Eleanor Brown hat einen M. A.-Abschluss in Literatur und lebt in Denver, Colorado. Ihre Texte und Geschichten wurden in zahlreichen Anthologien, Magazinen und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Die Shakespeare-Schwestern ist ihr erster Roman, der sich auf Anhieb zum New York Times-Bestseller entwickelte. (

Eleanor Brown

Die Shakespeare-Schwestern

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

The Weird Sisters

© 2011 by Eleanor Brown

This edition published by arrangement with Amy Einhorn Books, an imprint of G. P. Putnam's Sons, a member of Penguin Group (USA) Inc.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

eBook Insel Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4300.

© Insel Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: bürosüd, München

Umschlagabbildung: plainpicture / Bildhusel

Für Chris

Für den Frühling,

Aber wir riefen nur die Feuerwehr, und kurz darauf kam das Feuerwehrauto, und drei große behelmte Männer brachten einen Schlauch ins Haus, und Mr. Prothero schaffte es gerade noch rechtzeitig hinaus, ehe sie das Wasser anstellten. Nirgendwo hätte es am Weihnachtsabend lauter sein können. Und als die Feuerwehrmänner das Wasser abstellten und in dem nassen, verqualmten Zimmer standen, kam Jims Tante, Miss Prothero, die Treppe herunter und steckte den Kopf durch die Tür. Jim und ich machten keinen Mucks, um zu verstehen, was sie sagen würde. Sie sagte immer das Richtige. Sie betrachtete die drei großen Feuerwehrmänner mit ihren glänzenden Helmen, die da inmitten von Rauch und Asche und halb geschmolzenen Schneebällen standen, und sagte: »Möchten Sie etwas zu lesen?«

Dylan Thomas, A Child's Christmas in Wales

Prolog

Wir kamen nach Hause, weil wir Versager waren. Das würden wir natürlich nicht zugeben, nicht gleich, nicht vor uns selbst und gewiss nicht vor anderen. Wir sagten, wir seien nach Hause gekommen, weil unsere Mutter krank war, weil wir eine Pause bräuchten, eine kurze Pause, bevor wir zu unserem Nächsten Großen Projekt aufbrächen. Doch in Wahrheit hatten wir versagt, und damit niemand davon erfuhr, ließen wir uns passende Ausreden und Ausflüchte einfallen und hüllten uns darin ein wie in einen Umhang, um die kalte Wahrheit fernzuhalten. Erstes Stadium: Leugnung.

Für Cordelia, die Jüngste, begann es mit den Briefen. Sie kamen beide am selben Tag, waren aber im Inhalt so verschieden, dass sie zunächst auf den Poststempel schauen musste, um festzustellen, welcher zuerst abgeschickt worden war. Sie wirkten so schlicht, einfach Papier in ihren Händen, anfällig gegen Regen oder Feuer oder unvorsichtige Behandlung, doch sie würde sie nicht vernichten. Sie waren von der Art, die man aufbewahrt, sorgfältig zusammengefaltet in ein Kästchen legt, um sie, brüchig vor Alter, Jahre später mit klopfendem Herzen behutsam auseinanderzufalten, beseelt vom krankhaften Wunsch nach Erinnerung.

Wir sollten erzählen, was darin stand, und das werden wir auch, denn ihr Inhalt hatte Auswirkungen auf alles, was später geschah, doch zunächst müssen wir erklären, wie unsere Familie miteinander kommuniziert, und dazu müssen wir unsere Familie erklären.

Mannomann.

Vielleicht erklären wir lieber unseren Vater.

Falls Sie zufällig ein Shakespeare-Seminar belegen, gäbe es den Namen unseres Vaters vielleicht in irgendeinem entlegenen Winkel Ihres Gehirns, begraben unter Schichten unbenutzter Telefonnummern, vergessener Träume und bestimmter Wörter, die es im Bedarfsfall nie ganz bis zu Ihrer Zunge schaffen. Unser Vater ist Dr. James Andreas, Professor für Englische Literatur am Barnwell College, ausschließliches Forschungsgebiet: Der Unsterbliche Barde.

Die Worte, die einem vielleicht zur Beschreibung der Arbeit unseres Vaters einfallen, können kaum vermitteln, was es heißt, mit jemandem zusammenzuleben, der nur ein einziges Thema kennt. Enthusiast, Experte, Besessener – diese Worte haben angesichts des Shakespeare'schen Wirbelsturms, in dem wir aufwuchsen, allesamt einen hohlen Klang. Unsere Kinderreime waren Sonette. Ratschläge und Anweisungen erhielten wir drei in Form von Couplets; einen Spielkameraden, den wir nicht mochten, nannten wir höchstwahrscheinlich »gemästeter Schuft« und nicht Blödmann; wenn wir auf Weihnachtsfesten unter dem Tisch spielten, landeten zusammen mit den Weihnachtsliedern Begriffe wie »Philosophie des Dekonstruktivismus« und »patriarchalischer Übergriff« durch das schwere Tischtuch unten bei uns.

Und das beschreibt es nur annähernd.

Doch für unsere Zwecke genügt es.

Der erste Brief stammte von Rose: gestochene Schrift auf dickem Bütten. Aus »Romeo und Julia«; Cordy erkannte es sofort. Wie und wo und wann wir uns gesehn, erklärt und Schwur um Schwur getan, das alles will ich dir auf unserem Weg erzählen; nur bitt ich, willge drein, noch heut uns zu vermählen!

Jetzt verstehen Sie vielleicht, dass unsere große Schwester uns auf diese Weise mitteilte, sie werde heiraten.

Der zweite stammte von unserem Vater. Er kommuniziert beinahe ausschließlich über fotokopierte Seiten aus dem Riverside-Shakespeare. Diese Seiten enthalten so viele Anmerkungen aus Jahrzehnten des Nachdenkens und Deutens, dass wir die eigentlichen Textzeilen, die er kommentiert, kaum entziffern können. Doch das spielt keine Rolle; wir wurden mit Theaterstücken genährt und gepäppelt, und beim kleinsten Anstoß kommen die Worte wieder.

Kommt, gehn wir; und zu allen Göttern fleht für unsere Mutter, die in Wehen liegt.

Eins

Cordy hatte noch nie etwas gestohlen. Aus persönlichem Stolz hatte sie nie mitgemacht, wenn unsere Freunde als Teenager leichtfingrig die Regale der Geschäfte in Barnwell absuchten, hatte sich sogar geweigert, die billigen Ohrringe und den krümeligen Lippenstift zu tragen oder die geklaute Musik zu hören. Doch da stand sie nun in dieser gottverlassenen Wüstenstadt vor einer Wand voller Schwangerschaftstests und wusste sehr genau, dass sie nicht genug Geld hatte, um einen zu kaufen. Countdown im Wilden Westen: Cordy um zwölf Uhr mittags gegen kleine rosafarbene Stäbchen.

Sie hatte es an einem anonymen Ort erledigen wollen, in einem Geschäft mit breiten Gängen und leiser, unaufdringlich dahinplätschernder Musik, das einem Unternehmen und keiner Privatperson gehörte, doch solche Geschäfte waren längst clever modernisiert und hatten an ihren Türen Diebstahlsicherungen aufgestellt, die wie rundschultrige Wachmänner aussahen. Deshalb stand sie nun mit rebellierendem Magen und brennenden Wangen in dieser verstaubten kleinen Familiendrogerie.

»So rührt die Trommeln, ruft: wohlauf! Und fort!«, murmelte sie leise und fing an zu kichern, während sie mit ihrer schmalen Hand verstohlen nach einer Packung griff – irgendeiner, es spielte keine Rolle. Sie würden ihr alle sagen, was sie ohnehin wusste, sich aber nicht eingestehen mochte.

Sie ließ die Schachtel aus der Hand in ihre offene Schultertasche gleiten und wühlte mit der freien anderen in deren Tiefen nach den Resten ihres letzten Monatsgehalts, den wenigen losen Münzen, die zwischen verklebten Pfefferminzbonbons für frischen Atem, Fusseln und ausgetrockneten Stiften vergraben waren. Auf dem Weg zum Ausgang nahm sie einen Schokoriegel aus einem Regal, legte ihn der Kassiererin hin und suchte gleichzeitig nach weiteren Pennys, und ihre Finger brannten, wenn sie gegen die in den Untiefen der Tasche versteckte Schachtel stießen.

Draußen vor dem Geschäft schockartige Erleichterung. »Zu einfach«, sagte sie laut zu der menschenleeren Straße; ihr Rock fegte über den Gehsteig, der vom fortschreitenden Frühling bereits heiß und abweisend war, und ihre Sandalen waren so abgelaufen, dass sie die aufdringliche Wärme durch die Sohlen spüren konnte. Die Freude über das Verbotene hielt an, bis sie das baufällige dunkle Haus erreichte, wo sie zur Zeit wohnte und wo auf den schäbigen Möbeln im Wohnzimmer ein paar Leute herumlagen, die die Exzesse der vergangenen Nacht ausschliefen. Sie riss die Packung auf, warf die Gebrauchsanweisung Richtung Mülleimer und schritt zur Tat. Und wie sie da im Badezimmer auf der Toilette hockte, die Füße auf zersprungenen, morschen Kachelscherben, und die rosige Linie anstarrte, die blass war wie verblichene Druckerschwärze, packte sie das schlechte Gewissen.

»Viel tiefer kannst du nicht fallen, Cordy, alte Socke«, hörte sie Bean fröhlich sagen.

»Wie willst du dich um ein Baby kümmern, wenn du dir nicht einmal einen Schwangerschaftstest leisten kannst?« Rose ließ nicht locker.

Cordy wischte unsere imaginären Stimmen beiseite und begrub den Beweis im Mülleimer. Eigentlich spielte es keine Rolle, sagte sie sich. Sie war ohnehin unterwegs nach Hause, ließ sich dabei aber treiben, wo immer der Wind oder die nächste Mitfahrgelegenheit sie hinführten. Sie hatte jetzt einfach die Bestätigung für das, was sie längst wusste – dass es, nach sieben Jahren des Sich-Treibenlassens wie Löwenzahnsamen, an der Zeit war, irgendwo sesshaft zu werden.

Sesshaft werden. Ihr wurde kalt.

Die Worte brachten etwas in Erinnerung. Aus diesem Grund war sie schließlich weggegangen. Unmittelbar vor dem Examen im Frühjahr ihres ersten Jahres am Barnard College hatte sie im Arbeitsraum des Psychologieseminars auf dem Teppichboden gelegen und sich mit verschränkten Armen ein Lehrbuch vors Gesicht gehalten. In der Nähe unterhielten sich zwei Frauen, höhere Semester – die eine würde demnächst heiraten, die andere die Universität besuchen. Cordy ließ das Buch auf ihre Brust sinken, und sein Gewicht wurde schwerer und schwerer, während sie der Litanei KOMMENDEN GLÜCKS lauschte. Hochzeitsplanungen und Studiendarlehen. Hypotheken und Krankenversicherung. Karriere und Steuern. Sie konnte kaum noch atmen, schob das Buch auf den Fußboden und verließ den Raum. Wenn das die Zukunft war, wollte sie nichts davon wissen.

Wahrscheinlich war es unser Fehler, weil wir sie stets so bemuttert hatten. Vielleicht war es aber auch der Fehler unseres Vaters – Cordelia war immer sein Liebling gewesen. Er hatte stets nachgegeben – ihrem atemlosen Babygeschrei ebenso wie ihrem kindlichen Flehen nach Ballettstunden (die sie fallen ließ, noch ehe die vierte Position drankam, obwohl sie danach noch furchtbar lange das Ballettröckchen trug, also war es keine komplette Verschwendung) und den verzweifelten spätnächtlichen Anrufen in späteren Jahren, als sie sich mal hier, mal dort herumtrieb und um Geldspritzen bat, ohne je irgendetwas zustande zu bringen. Sie war Cordelia, er Lear, und ihre Treue war legendär. Er hat immer unsere Schwester am meisten geliebt. Doch wer auch immer Schuld hatte, Cordy weigerte sich einfach, erwachsen zu werden, und wir hatten ihr das genauso nachgesehen, wie wir ihr alles nachgesehen hatten, wonach ihr jemals der Sinn gestanden hatte. Weshalb wir kaum ihr die Schuld geben konnten. Wir waren uns ziemlich sicher, dass, wenn jemand je publik machen würde, auf wie viele Weisen einen das Erwachsensein fertigmachen kann, wahrscheinlich noch mehr Leute aussteigen würden.

Und jetzt? Anscheinend war das Erwachsenwerden inzwischen nicht mehr eine Frage der Wahl. Cordy durchsuchte eines der Schlafzimmer nach einem Kalender und rechnete zurück. Jetzt müsste fast Juni sein, da war sie sich ziemlich sicher. Und sie hatte Oregon, die letzte Station auf dieser langen, seltsamen Reise, wann, im Februar?, verlassen. Sie rieb sich die Stirn und überlegte. Es war schon so lange her, dass Dinge wie Daten eine Rolle gespielt hatten.

Doch sie konnte die Reise bis zu dem Zeitpunkt zurückverfolgen, bevor sie morgens mit diesem Gefühl von Leere und Übelkeit aufgewacht war und ihre Brüste so empfindlich waren, dass sogar ein T-Shirt ihre Haut zu kratzen schien, bevor sie in den unmöglichsten Momenten von einer bodenlosen Müdigkeit übermannt wurde. Bevor sie Bescheid gewusst hatte. Washington, Kalifornien, Arizona. In Arizona hatte sie ihre Periode gehabt; sie erinnerte sich dunkel an den Kampf mit einem unwilligen Tamponautomaten in einer Raststättentoilette. Und dann war sie nach New Mexico gefahren, wo es einen Maler gegeben hatte, wesentlich älter, das Haar von schockierend weißen Strähnen durchzogen, mit sonnenverbrannter, runzliger Haut und großen, schwieligen Händen. Sie hatte dort ein paar Wochen Rast gemacht und ein bisschen gekellnert, um sich das Geld für die restliche Heimreise zu verdienen – gereicht hatte es dann allerdings doch nicht. Er war zum Essen in das Restaurant gekommen, ganz allein, es war so spät gewesen, und seine Augen waren so einsam. Eine Woche hatte sie bei ihm gewohnt, hatte die Tage zusammengekauert auf der Couch in seinem Studio verbracht, gelesen und auf die Schluchten hinausgesehen, während er schweigend gemalt hatte: seltsame, verzerrte Farbwirbel, die von den Leinwänden auf den Fußboden tropften. Doch er war sanft gewesen und wunderbar ruhig, und nach so viel »Sturm und Drang« tat ihr der Abschied fast ein wenig leid. In der letzten Nacht hatte es ein gerissenes Kondom, gedämpften Streit und düstere Träume gegeben, und am folgenden Morgen war sie verschwunden.

Cordy hockte zusammengesunken auf dem Bett und ließ den Kalender aus der Hand fallen. Was sollte sie jetzt tun? Nach New Mexico zurückfahren und es dem Maler sagen? Sie bezweifelte, dass er begeistert wäre. Sie war selbst auch nicht gerade entzückt. Vielleicht würde sie ja eine Fehlgeburt haben. Romanheldinnen hatten immer zufällig zum richtigen Zeitpunkt eine Fehlgeburt, die sie davor bewahrte, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen. Und Cordy war immer ein Glückspilz gewesen.

Bis jetzt.

Cordy stieg über die herumliegenden Haufen dreckiger Wäsche und ging zurück in den Flur. Die Lottertruppe im Wohnzimmer schnarchte noch, als sie auf Zehenspitzen weiter in die Küche schlich, wo sie ihren Rucksack gelassen hatte. Sie hatte mal einen Winter lang hier gewohnt – es kam ihr vor, als wäre es Jahre her, doch das konnte nicht sein, denn die Briefe waren an diese Adresse geschickt worden. War es schon Jahre her? War es tatsächlich schon Jahre her, dass sie sich lange genug an einem Ort aufgehalten hatte, um eine Adresse zu haben?

Mit knirschenden Zähnen begann Cordy, ihre Sachen zu packen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aber das war in Ordnung. Irgendjemand würde es für sie herausfinden. Irgendjemand würde sich um sie kümmern. Irgendjemand kümmerte sich immer um sie.

Kein Problem.

Bean glaubte entschieden und absolut an nichts, was auch nur im Entferntesten irgendwie übersinnlich schien. Doch seit ungefähr einer Woche hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass etwas Schlimmes bevorstand. Sie wachte morgens mit einem Klumpen im Magen auf, als hätte sie etwas Bösartiges verschluckt, das langsam wuchs, und dieses Gewicht drückte sie den ganzen Tag, so dass ihre Absätze auf den Stufen zur U-Bahn härter klapperten, ihr Körper nach wenigen Minuten auf dem Laufband schmerzte, edelsteinfarbene Cocktails in ihrem Magen gärten und sie sie auf den Mahagonitresen der angesagtesten Bars der Stadt stehen ließ, wo sie wässrig wurden.

Kein Mittel aus ihrer Trickkiste brachte dieses Gefühl zum Verschwinden – weder die Verführung eines glücklosen Investmentbankers in einem lärmenden Club noch eine selbstquälerische Tretradrunde, nach der sie so aufgelöst und müde war, dass sie sich im Fitnessstudio in die Toilette übergeben musste, noch ein neues Paar Schuhe, das so viel kostete wie die Miete, die sie für das winzige Kabuff von Schlafzimmer in der Wohnung bezahlte, die sie in Manhattan mit anderen teilte. Das Ergebnis dieses letzten Versuchs war nur, dass der Stein in ihrem Innern zu Stahl wurde.

Als der Moment, den sie fürchtete, schließlich kam und der geschäftsführende Partner der Anwaltskanzlei, wo sie arbeitete, an ihren Schreibtisch trat und sie bat, ihn in seinem Büro aufzusuchen, war das fast eine Erleichterung. »Wärs abgetan, so wie's getan, wärs gut, 's wär schnell getan«, zitierte sie im Geiste und folgte seinen schlurfenden Schritten in sein Büro.

»Setzen Sie sich, Bianca«, sagte er.

In New York nannte jeder sie Bianca. Männer, die sie in einem der absolut angesagten Clubs nach ihrer Nummer fragten, baten sie, ihn zu wiederholen, um dann wissend zu lächeln. Etwas an diesem Namen – und ehrlich gesagt verfügten nur wenige von ihnen zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt noch über die nötigen Synapsen, um irgendwelche literarischen Bezüge zu erkennen, also musste es an etwas anderem liegen – machte sie für Männer sogar noch attraktiver.

Für uns jedoch würde sie immer Bean bleiben. Und so sprach sie auch mit sich selbst. »Gut gemacht, Bean«, sagte sie etwa, wenn sie etwas fallen ließ, woraufhin ihre Mitbewohnerinnen sie seltsam anschauten. Doch sie spielte die Bianca-Rolle gut und fragte sich jetzt, ob ein Teil ihres mulmigen Gefühls wohl von dem Wissen herrührte, dass diese Vorstellung ihrem Ende entgegensah. Für immer.

Sie hockte auf der Kante des einen ledernen Ohrensessels in seiner Sitzecke. Er saß im anderen. »Wir haben ein wenig unsere Buchhaltung geprüft«, sagte er ohne weitere Vorrede.

Bean starrte ihn an. Der Knoten in ihrem Magen fing an zu brennen. Sie starrte ihn an – seine buschigen, fühlerartigen Augenbrauen, seine weichen, runzligen Hände – und hätte am liebsten geheult.

»Wir haben eine Anzahl … nun, sagen wir mal, Unstimmigkeiten in den Gehaltsabrechnungen gefunden. Zu Ihren Gunsten. Ich würde gerne glauben, dass es sich um einen Irrtum handelt.« Er wirkte beinahe hoffnungsvoll.

Sie sagte nichts.

»Können Sie mir sagen, was passiert ist, Bianca?«

Bean blickte auf das Armband an ihrem Handgelenk. Sie hatte es vor Monaten bei Tiffany gekauft, und sie konnte sich an das seltsame Ziehen im Magen erinnern, als sie ihre Kreditkarte vorgelegt hatte, dasselbe Gefühl, das sie in letzter Zeit jedes Mal hatte, wenn sie etwas kaufte, seien es Lebensmittel oder eine Handtasche. Das Gefühl, dass ihr Glück sie verließ, dass sie nicht weitermachen sollte und es vielleicht (am erschreckendsten von allem), vielleicht auch gar nicht wollte.

»Das ist kein Irrtum«, sagte sie, doch beim letzten Wort versagte ihre Stimme, und sie räusperte sich und versuchte es noch einmal, lauter. »Das ist kein Irrtum.« Sie faltete ihre Hände im Schoß.

Der geschäftsführende Partner wirkte nicht überrascht, aber enttäuscht. Bean fragte sich, warum sie gerade ihn für diese unangenehme Aufgabe ausgewählt hatten – er war praktisch pensioniert, hielt aber an seinem Eckbüro fest, und zwar aus dem einzigen Grund, weil er so einen Ort hatte, wo er vor seiner Frau sicher war und die Stunden bis zu seinem Tod verbringen konnte. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, mit ihm zu schlafen, doch er sah sie mit solch großväterlicher Besorgnis an, dass Bean diese Idee verwarf, noch ehe sie richtig Gestalt angenommen hatte. In Wahrheit empfand sie so etwas wie Dankbarkeit, dass er es war, nicht einer der anderen Partner, deren verzweifeltes Sich-nach-oben-Boxen ihre Zungen geschärft hatte wie Zähne und deren frustriertes Bellen durch die Flure rollte wie eine anschwellende Flut, sobald irgendetwas nicht in ihrem Sinne lief.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er, und beim freundlichen Klang seiner Stimme krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie biss sich fest auf die Zunge und blinzelte die Tränen weg. Sie würde nicht weinen. Jedenfalls nicht vor ihm. Nicht hier. »Das ist eine Menge Geld, Bianca. Gab es irgendeinen Grund …?« Seine Frage hing hoffnungsvoll in der Luft.

Sie hätte lügen können. Vielleicht hätte sie sich diese Szene längst ausmalen, sie planen sollen. Sie war gut im Theater des Lebens, unsere Bean, sie hätte jede Rolle spielen können, die sie wollte. Doch Lügen kam ihr verzweifelt und schwach vor, sie war plötzlich erschöpft. Sie wollte nichts lieber als sich hinlegen und tagelang schlafen.

»Nein«, sagte sie. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Es gab keinen Grund.«

Da seufzte er, ein langes, langsames Ausatmen, das die Luftbewegung im Raum zu verändern schien. »Wir könnten die Polizei rufen.«

Bean riss die Augen auf. Daran hatte sie nicht gedacht. Warum hatte sie nie daran gedacht? Sie hatte gewusst, dass es falsch war, seinen Arbeitgeber zu bestehlen, aber irgendwie hatte sie nie den Gedanken zugelassen, dass es eigentlich kriminell war (kriminell! Wie war es bloß so weit gekommen?). Gott, sie könnte ins Gefängnis wandern. Sie sah sich in einer Zelle, in einem orangefarbenen Overall, ohne ihr Armband und ihr Make-up und die ganze Panzerung, die das Leben in der Stadt erforderte. Sie war sprachlos.

»Aber ich halte das nicht für unbedingt nötig. Sie haben gute Arbeit für uns geleistet. Und ich weiß, was es heißt, in dieser Stadt jung zu sein. Es ist auch so unerfreulich, die Polizei einzuschalten. Ich würde denken, Ihre Kündigung genügt. Und Ihre Schulden werden Sie natürlich zurückzahlen.«

»Natürlich«, sagte Bean. Sie war immer noch wie versteinert und fragte sich, wie sie sich so hatte verkalkulieren können, fragte sich, ob sie wirklich nur mit einem Klaps aufs Handgelenk davonkommen würde oder ob man sie in Handschellen aus der Lobby zerren und ihren Karton mit persönlichen Habseligkeiten auf dem Marmorfußboden verteilen würde, während alle diesem Spektakel zuschauten.

»Es könnte Ihnen guttun, sich ein wenig Zeit zu lassen. Kehren Sie für eine Weile nach Hause zurück. Sie kommen aus Kentucky, nicht wahr?«

»Ohio«, sagte Bean, und es war nur ein Flüstern.

»Richtig. Gehen Sie zurück in den Buckeye-Staat. Bleiben eine Weile dort. Versuchen Sie herauszufinden, was Ihnen wichtig ist.«

Bean schluckte die Tränen hinunter, die abermals unkontrolliert fließen wollten. »Danke«, sagte sie und sah zu ihm auf. Wundersamerweise lächelte er.

»Wir alle haben große, große Dummheiten gemacht, meine Liebe. Meiner Erfahrung nach bestrafen gute Menschen sich selbst viel härter, als Außenstehende es je fertigbrächten. Und ich glaube, Sie sind ein guter Mensch. Sie haben Ihren Weg möglicherweise mehr als nur ein wenig aus den Augen verloren, aber ich glaube, Sie werden wieder zurückfinden. Darin besteht der Trick. Wieder zurückzufinden.«

»Natürlich«, sagte Bean, und ihre Zunge war ganz schwer vor Scham. Vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn er wütend geworden wäre, wenn er sie so zur Verantwortung gezogen hätte, wie er es eigentlich hätte tun müssen, wenn er die Polizei gerufen, ein gerichtliches Verfahren eingeleitet, jedenfalls irgendetwas getan hätte, das der Niedertracht entsprach, mit der sie Vertrauen missbraucht und alles mit Füßen getreten hatte, was, wie sie wusste, gut und richtig war – für nichts als einen Haufen teurer Kleider und nächtlicher Taxifahrten. Sie wünschte sich, er würde schreien, doch seine Stimme blieb ruhig und leise.

»Ich empfehle Ihnen, Ihre Anstellung hier nicht zu erwähnen, wenn Sie sich nach einer neuen Stelle umsehen.«

»Natürlich nicht«, sagte Bean. Er wollte noch etwas sagen, doch sie strich ihr Haar zurück und fiel ihm ins Wort. »Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid.«

Er hatte seine Hände zu einem Dach zusammengelegt. Er blickte sie an, sah, dass ihr Augenmake-up verschmiert war, trotz ihrer beeindruckenden Fähigkeit, die Tränen zurückzuhalten. »Ich weiß«, sagte er. »Sie haben eine Viertelstunde, um das Gebäude zu verlassen.«

Bean floh.

Sie nahm nichts von ihrem Arbeitsplatz mit. Sie interessierte sich ohnehin für nichts dort, hatte sich nie die Mühe gemacht, den Platz zu ihrem zu machen. Sie ging nach Hause und rief einen Freund an, der sein Auto zu einem Spottpreis verkaufen wollte, wobei selbst der noch fast den letzten Rest ihrer unfein erworbenen Barschaft auffressen würde, und während er unterwegs zu ihr war, packte sie ihre Kleider und fragte sich, wie sie all das Geld hatte ausgeben und dafür nichts als Kleider und Accessoires und eine lange Liste von Männern bekommen hatte, die sie am liebsten niemals wiedersehen wollte, und dieser Gedanke setzte ihr derart zu, dass sie sich im Badezimmer übergeben musste, bis nur noch Blut und Galle kamen; dann hob sie so viel Geld wie möglich von ATM ab, warf alles, was sie besaß, in die Schrottkiste und fuhr auf der Stelle los, ohne der Stadt auch nur auf Wiedersehen zu sagen, die ihr … tja, nichts gegeben hatte.

Weil Cordelia die Letzte war, die es erfuhr, war sie auch die Letzte, die ankam, und wir verstehen, dass dies weder ihre Absicht noch ihr Fehler war. Es war einfach ihre Gewohnheit. Cordy, die Letztgeborene, kam einen Monat später als erwartet, glitt träge aus dem Leib unserer Mutter und strafte die Vorstellung, wonach Wehen mit jedem Mal kürzer dauern, Lügen. Seither kommt sie immer zu spät und sagt gerne, dass sie zu spät zu ihrem eigenen Begräbnis kommen wird, ha ha ha.

Wir verzeihen ihr ihre Unpünktlichkeit, nicht aber diesen Scherz.

Ob wir uns wohl alle entschieden hätten zurückzukommen, wenn wir gewusst hätten, dass wir wieder zu dritt sein würden und all die Geheimnisse, in einem Haus zusammengepfercht, unmöglich bewahrt werden könnten? Die Antwort spielt keine Rolle – es war einfach eine Laune des Schicksals. Wir waren qua Geburt zu Schwestern bestimmt, und offenbar waren wir dazu bestimmt, auch jetzt noch Schwestern zu sein, obwohl wir glaubten, wir hätten all das hinter uns.

Während Bean und Cordy noch ihr Gepäck (buchstäblich und metaphorisch) quer durchs Land schleppten, hatte Rose sich bereits fest im Haus unserer Kindheit eingerichtet. Anders als Bean und Cordy war Rose nie längere Zeit weg gewesen. Seit Jahren aß sie ein- oder zweimal in der Woche mit unseren Eltern zu Abend und kam an den Sonntagen regelmäßig nach Hause. Jemand musste schließlich ein Auge auf sie haben. Sie wurden allmählich älter, erzählte Rose Bean am Telefon mit einem genau bemessenen Seufzen, das vermitteln sollte, sie habe das Gefühl, dass sie Beans und Cordys Pflicht ebenso erfülle wie ihre eigene. Und gewöhnlich kamen ihr die sonntäglichen Besuche zum Abendessen tatsächlich wie eine Pflicht vor, bedeuteten gleichermaßen Frustration und Triumph, wenn sie unseren Vater daran erinnerte, dass er den Rasen mähen musste, bevor sich die Nachbarn beschwerten; wenn sie im Wohnzimmer aufräumte und Lesezeichen in geöffnet herumliegende Bücher legte, deren Rücken unter dem Gewicht brachen; wenn sie unsere Mutter daran erinnerte, dass sie die Post nicht nur ins Haus holen, sondern auch öffnen musste. Es war eine gute Sache, dass sie da war, sagte sich Rose jedes Mal, wenn sie (mit tief zufriedener Miene) wieder ging. Wer weiß, in was für Katastrophen die Eltern ohne sie geraten würden!

Aber wieder zu Hause einziehen? Im fortgeschrittenen Alter von dreiunddreißig? Als wär's für immer, wie Cordy vielleicht sagen würde?

Eigentlich sollte sie mit ihrem Verlobten Jonathan in derselben Stadt leben, nachdem sie gerade ihren ersten Vertrag als ordentliche Professorin unterschrieben hätte, und sollte jedes Mal, wenn sie wieder nach Barnwell käme, wild mit ihrem Verlobungsring herumwedeln, um zu zeigen, dass sie nicht nur die Intelligente und Bean nicht die Einzige war, die sich einen Mann angeln konnte, und dass unser Vater nicht der einzige geniale Professorenkopf der Familie war. So hätte es sein sollen. Und so war es:

AKT I

Bühnenbild: das Innere eines Flughafengebäudes kurz nach den Winterferien

Personen: Jonathan, Rose, Reisende

Rose hatte ihre Haltung ein Dutzend Mal verändert, seit die Passagiere von Jonathans Flug durch das Gate strömten. Er sollte sie in der richtigen Position vorfinden; in der richtigen Mischung aus unbekümmerter Zerstreutheit und beiläufiger Anmut, die beide nicht verraten würden, wie sehr sie ihn vermisst hatte.

Doch als er schließlich oben auf der sanft ansteigenden Rampe auftauchte, die vom Gate wegführte, als sie seinen zerzausten Schopf über den Köpfen der anderen Passagiere auf und ab wippen sah und bemerkte, wie elegant er seine breiten, schlaksigen Schultern vorbeugte, als kämpfte er gegen den Wind, vergaß sie ihre Tricks, stand auf, ließ ihr Buch fallen und strich sich Kleider und Haare glatt. Dann lag sie endlich in seinen Armen, und sein Mund presste sich warm auf ihren.

»Ich habe dich vermisst«, sagte sie und strich ihm mit der Hand über die Wange, voller Staunen, dass er tatsächlich vor ihr stand. Sie spürte seine leicht kratzenden Stoppeln, als er wie eine Katze sein Kinn in ihrer Hand rieb. »Geh nie wieder weg.«

Lachend zog er den Kopf leicht zurück, dann drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und rückte die Tasche auf seiner Schulter zurecht, damit sie nicht herunterrutschte. »Ich bin zurückgekommen«, sagte er.

»Ja, und du darfst nie wieder weggehen«, sagte Rose. Später würde sie sich daran erinnern und überlegen, ob sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte, doch in diesem Moment fiel ihr nicht das Geringste auf. Sie nahm ihr Buch und schob ihre Hand in die seine, und sie gingen, sein Gepäck zu holen.

»War es so schlimm? Sind deine Schwestern denn nach dem Brief deines Vaters nicht nach Hause gekommen?« Er drehte sich so, dass er ihr Gesicht sehen konnte, stand rückwärts auf der Rolltreppe, die ausgestreckten Arme auf dem Geländer.

»Nein, sie sind nicht gekommen, Gott sei Dank, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Wir waren nur zu dritt, Mom, Dad und ich.«

»Einsam?« Er drehte sich wieder um, trat von der Rolltreppe herunter und streckte ihr die Hand hin, um ihr beim letzten Schritt zu helfen. Glatt zum In-Ohnmacht-Fallen, wie Cordy gesagt hätte.

»Ach. Ich will nicht drüber reden. Wie war deine Reise?«

Jonathan war zwei Wochen weg gewesen, fast die ganzen Ferien über, hatte auf einer Konferenz in Deutschland einen Vortrag gehalten und auf der Rückreise einen Stopp eingelegt, um Freunde in England zu besuchen. Rose hatte sorgfältig jeden Tag in ihrem Terminkalender ausgestrichen und sich dabei wie ein lächerlich verliebtes Schulmädchen gefühlt, aber nichts dagegen tun können. Lächerlich, das wusste sie. Sie war es auch gewesen, die, als sie erst ein paar Monate ein Paar waren, das magische Wort mit den fünf Buchstaben zuerst ausgesprochen hatte, lachend und außer Atem, während sie auf seinem Bett lagen und er abwechselnd ihren Hals geküsst und sie gnadenlos durchgekitzelt hatte. Sie hatte schon seit Wochen gedacht, es müsse Liebe sein, doch sie konnte es nicht als Erste sagen, und dann rutschten ihr die Worte im Glückstaumel einfach so heraus. Sie war erstarrt, ganz entsetzt über ihren eigenen Mangel an Selbstbeherrschung, doch dann hatte er zurückgeflüstert, auch er liebe sie, und vor Erleichterung und Glück war sie fast ohnmächtig geworden. Das Leben ohne ihn war wie eine grausame Amputation gewesen, und sie griff nach seiner Hand, um sich zu vergewissern, dass er wahrhaftig da war.

Er führte ihre Hand an seinen Mund und küsste ihre Fingerspitzen. »Du siehst bezaubernd aus«, sagte er. »Ich hatte vergessen, wie schön du bist.«

Rose wurde rot, schüttelte den Kopf und strich mit der freien Hand wieder ihre Kleidung glatt. »Ich sehe furchtbar aus. Ich hatte kaum Zeit zum Umziehen und –«

Mit einem weiteren Kuss, diesmal in ihre Handfläche, schnitt Jonathan ihr das Wort ab. »Ich wünschte, du könntest dich mit meinen Augen sehen«, sagte er leise. »Meine Augen sind besser.«

Sie fuhr ihn zu seiner Wohnung, und sie schleppten seinen Koffer nach drinnen. Seit seiner Abfahrt war sie nicht mehr dort gewesen – er hatte keine Haustiere und keine Pflanzen, wenn er nicht da war, gab es keinen Grund für einen Besuch –, und in den Räumen war die Luft stickig und abgestanden. Sie öffnete die Fenster und schaltete den Ventilator ein, dann saßen sie mit verschlungenen Fingern auf dem Sofa, bis er sich schließlich unbeholfen räusperte. »Ich habe ein paar Neuigkeiten.«

»Gute oder schlechte?« Rose hörte nicht richtig zu. Sie strich ihm mit ihrer freien Hand eine widerspenstige Locke hinter das Ohr. Seine Haare waren ziemlich lang geworden – sie würde einen Termin beim Friseur für ihn ausmachen müssen.

»Ausgezeichnete. Als ich bei Paul und Shari in Oxford war –«

»Wie geht es ihnen denn?« Paul und Jonathan hatten sich ein Zimmer geteilt, während sie ihre Doktorarbeiten schrieben, und Jonathans beste Geschichten handelten von den Missgeschicken der beiden.

»Großartig – viel zu wenig Schlaf, aber sie sind bis über beide Ohren in das Baby verliebt und machen einen glücklichen Eindruck. Ich habe Fotos mitgebracht. Sie würden dich gerne kennenlernen.«

Rose lachte. »Ziemlich unwahrscheinlich, außer sie denken an einen Atlantikflug mit einem Neugeborenen.«

Jonathan schluckte verlegen. »Genau darum geht es, Liebling. Paul und ich haben drüben einmal mit seinem Dean zu Mittag gegessen.« Er hielt inne und suchte nach Worten, und Rose spürte, wie ihr kalt ums Herz wurde, wie eine dünne Eisschicht es umschloss wie Frost eine Blume.

»Er interessiert sich sehr für meine Forschungen. Er möchte, dass ich Mitglied der dortigen Fakultät werde – mit eigenem Labor und Studenten höherer Semester, die mit mir arbeiten. Es ist ideal. Die absolute Chance.«

Rose griff nach dem Wasserglas, das er für sie auf den Couchtisch gestellt hatte. Ihr Mund war unangenehm trocken, ihre Kehle schmerzte. Wieder allein. Wie es schien, war ihr das Glück beschert worden, endlich ihren Orlando, die perfekte Liebe zu finden, damit sie es gleich wieder verlor. Solche Probleme hatte Shakespeares Rosalind nie gehabt; sie war viel zu sehr damit beschäftigt, in Männerkleidern mit ihrem Diener in den Wäldern herumzutollen. Das Leben war hart. Rose stellte das Glas wieder auf den Tisch und entzog ihm ihre Hand.

»Du gehst also fort«, sagte sie dumpf, als ihre ausgedörrten Lippen wieder Worte hervorbrachten.

»Lust hätte ich schon«, sagte er leise. Er griff erneut nach ihrer Hand, doch Rose rutschte weg und setzte sich anders, schaute jetzt nach vorne, weg von ihm, die Füße adrett gekreuzt, die Hände im Schoß gefaltet, als wartete sie darauf, bei einer besonders steifen Teegesellschaft bedient zu werden.

»Aber wir wollten doch heiraten«, flüsterte sie.

»Das werden wir auch, natürlich werden wir das. Das hat nichts damit zu tun. Aber ich wäre dumm, das Angebot abzulehnen. Das verstehst du doch, oder?« Seine Stimme klang flehentlich, aber sie wandte sich ab.

»Wann gehst du?«

»Ich habe bis jetzt noch nicht zugesagt. Aber ich könnte mit Beginn des dritten Quartals anfangen, kurz nach Ostern.«

»Dein Vertrag hier läuft doch noch bis Ende des Jahres. Du willst also einfach deinen Vertrag brechen?«

»Rose, sei nicht so. Bitte hör mir zu. Ich möchte, dass du mitkommst.«

Rose drehte sich zu ihm und stieß ein kurzes, harsches Lachen aus. »Nach England? Du möchtest, dass ich mit nach England komme? Du machst wohl Witze, Jonathan. Ich habe eine Arbeit. Mein Leben ist hier. Ich bin nicht wie du. Ich fange nicht an, um den Globus zu jetten, sobald mich die Laune packt.«

Ihre Schärfe ließ ihn zurückweichen. »Das ist ein bisschen hart, findest du nicht?«, sagte er. Unsere Rose, von Zunge gift'ger als der Natter Zahn! Er rieb sich hastig die Knie, stand auf und fuhr sich ungeduldig durchs Haar. »Es könnte uns guttun – uns beiden. Mir, natürlich, aber auch dir. Übernächstes Jahr hast du doch keine Stelle mehr, oder?«

»Soll ich mich deswegen jetzt besser fühlen?« Man hatte Rose im Frühling ziemlich unmissverständlich mitgeteilt, dass ihr Vertrag als Assistenzprofessorin nicht über dieses Jahr hinaus verlängert würde. Man habe nichts gegen sie, nichts Persönliches, doch es gebe keine offenen festen Stellen mehr, und außerdem sei es wichtig, die Assistenzprofessoren immer mal wieder zu wechseln, damit der Lehrplan lebendig bleibe, das verstehe sie doch sicher. Ja, hatte Rose säuerlich gedacht, und auch deshalb, damit ihr unablässig die frischgebackenen Promovenden durchschleusen könnt und ihnen keinen Penny mehr als unbedingt nötig bezahlen müsst. Die Vorstellung, sich eine neue Arbeit suchen zu müssen, lähmte sie, die Vorstellung, arbeitslos zu sein, lähmte sie, und sie war stark versucht, sich die Finger in die Ohren zu stecken und laut zu singen, bis sich alles wieder beruhigt hätte.

»Besser vielleicht nicht. Aber ich hatte gehofft, du würdest dich wenigstens ein klein bisschen für mich freuen.«

Sie sah zu ihm auf, sah seinen traurigen, verletzten Blick und wurde ein wenig nachgiebiger. »Das tue ich ja. Es tut mir leid. Aber es ist so groß … Es ist so vollkommen anders als das, was wir geplant hatten.«

»Wir haben immer gewusst, dass wir damit rechnen müssten, Liebes. Meine Anstellung hier ist befristet, das weißt du doch.«

»Aber ich dachte, vielleicht …« Rose wollte nicht sagen, was sie gedacht hatte. Sie hatte einfach angenommen, dass er sein tolles akademisches Jetset-Leben aufgeben und irgendwo in der Nähe etwas finden würde, etwas, das es ihr erlaubte, hierzubleiben. Ohne sich auch nur das kleinste bisschen verändern zu müssen. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal.

»Ach, Rose, mir tut es auch leid. Lass uns nicht mehr darüber reden. Lass uns einfach für eine Weile genießen, dass wir wieder zusammen sind.«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie, was allerdings den Schmerz in ihrem Innern, dort wo ihr verletztes Herz saß, nur unwesentlich milderte. So stand es also. Er würde nicht bleiben, und sie würde – könnte – nicht gehen. Es war einfach lächerlich, auch nur darüber nachzudenken.

Seine Hände waren jetzt in ihrem Haar, zogen langsam die Nadeln heraus und ließen es über ihren Rücken fallen, so wie er es mochte, und streichelten es dabei so, wie sie es mochte, dieses sachte, tröstliche Ziehen an ihrer Kopfhaut. Sie war abgelenkt. Bean und Cordy hockten auf ihren Schultern und flüsterten ihr in die Ohren wie Engel und Teufel aus einer Witzzeichnung. Oder eher wie zwei Teufel. »Du könntest gehen, wenn du wolltest, Rosie«, sagte unsere jüngere Schwester. »Pack deine Sachen und geh. Es ist ganz einfach. Ich mache es die ganze Zeit.«

»Wovor hast du Angst?«, spottete Bean. »Du willst wohl dein glamouröses Leben nicht aufgeben?«

Nun gut, dann war es eben kein glamouröses Leben. Aber es war wichtig. Sie war wichtig. Wir brauchten sie doch. Oder etwa nicht?

Bean und Cordy antworteten nicht. Bean rückte ihre Hörner zurecht, und Cordy jagte ihren eigenen gespaltenen Schwanz. Ihr braucht mich, dachte Rose wütend. Die beiden drehten sich weg.

»Pscht«, sagte Jonathan, als könnte er das Rattern von Roses Gedankenmaschine hören, er küsste sie, und wir fielen von ihren Schultern, als hätte man uns leibhaftig weggeschoben.

AKT II

Bühnenbild: Innenraum des Goldenen Drachens, eines kleinen chinesischen Restaurants ein paar Ortschaften weiter, berühmt eher für seine Annehmlichkeit als seine Küche. Außerdem Ort eines unrühmlichen Auftritts von Bean, die als Achtjährige ein ganzes Hauptgericht, Schweinefleisch süß-sauer, verspeist und das Ganze danach sauber in das Maul eines künstlichen Drachens erbrochen hatte, der sich hinter einer Pflanze verbarg, weshalb sie fest überzeugt gewesen war, niemand werde es je entdecken.

Personen: Rose, Jonathan, unser Vater, unsere Mutter

Sie saßen zu viert um den Tisch, teilten sich unter angeregtem Geplauder die verschiedenen Gerichte. Der Tee dampfte in winzigen Tässchen, und Rose fuhrwerkte mit ihren Essstäbchen herum und beneidete Jonathan um seine selbstverständliche Eleganz bei der Handhabung dieser teuflischen Dinger.

»Wir müssen euch etwas mitteilen«, sagte unser Vater und räusperte sich.

Rose sah rasch hoch, argwöhnisch. Das war die Sorte Ankündigung, die den alles verändernden Geburten von Bean und Cordy vorausgegangen war. Wie immer die Neuigkeit auch lautete, gut würde sie wohl nicht sein.

Unser Vater räusperte sich noch einmal, doch es war unsere Mutter, die sprach, die einsprang und Schluss machte mit dem unverbindlichen Plauderton. »Ich habe Brustkrebs«, sagte sie.

Das Eis in Roses Kehle verfestigte sich, sie griff nach ihrer brühend heißen Tasse Tee, nahm einen langen Schluck und ließ die Flüssigkeit den Frost in ihrem Innern wegschmelzen, was eine Blase auf ihrer Zunge produzierte, die sie beim Sprechen noch tagelang spüren sollte. Es herrschte Schweigen. Die spärlichen anderen Gäste im Restaurant aßen nichtsahnend weiter.

»Mom«, sagte Rose endlich. »Bist du sicher?«

Unsere Mutter nickte. »Er ist noch im Frühstadium. Aber ich habe einen Knoten festgestellt – wann, vor einem Monat?« Bestätigung heischend sah sie unseren Vater an, in der ruhigen Gewissheit ihrer Redevertrautheit, die sie im Laufe der Jahre entwickelt hatten. Er nickte.

»Vor einem Monat?« Rose brach die Stimme. Mit zitternder Hand setzte sie ihre Teetasse ab. »Warum habt ihr mich nicht angerufen? Ich hätte …« Sie verstummte, unsicher, was sie hätte tun können. Doch irgendetwas hätte sie bestimmt tun können. Sie hätte sich darum kümmern können. Sie kümmerte sich um alles. Wie hatte ihr das nur entgehen können? Die beiden waren also vor einem Monat zu Ärzten gegangen und hatten gefasst miteinander darüber gesprochen, und ihr war überhaupt nichts aufgefallen?

»Wir waren beim Onkologen, der Knoten ist bösartig. Es sieht nicht so aus, als hätte er bereits gestreut, aber er ist ziemlich groß. Deshalb bekomme ich vor der Operation eine Runde Bestrahlungen. Damit er ein wenig schrumpft. Und dann …« Die Stimme unserer Mutter brach, zitterte kurz, als sei ihr die Bedeutung dieser klinischen Worte eben erst klar geworden, sie schluckte und holte tief Luft. »Und dann eine Brustamputation. Einfach, um das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.« Sie sagte das, als wäre es etwas, das sie beim Aufwachen mal eben kurz beschlossen hatte. Wie auf Kreuzfahrt zu gehen, zum Beispiel, oder Tennis spielen zu lernen.

»Es tut mir so leid«, sagte Jonathan. Er streckte die Hand über den Tisch, legte sie auf die unserer Mutter und drückte sie. Er war so stilvoll in seinem Mitgefühl. »Was können wir tun?«

Rose blickte aufgewühlt im Restaurant umher, registrierte das Gold und das Rot und die papierenen Tischsets. Daran würde sie sich erinnern, das wusste sie, nicht an die Furcht in den Augen ihrer Mutter oder an das Klopfen ihres eigenen Herzens, sondern daran, wie verzweifelt geschmacklos dieser Ort war, wie billig er aussah, wie die Essstäbchen beim Trennen nicht sauber auseinandergebrochen, sondern an den Innenkanten zersplittert waren. Daran würde sie sich erinnern.

Doch als der Schock sich gelegt hatte, stellte sich, man verzeihe ihr, dass sie es dachte, so etwas wie eine gewisse Erleichterung ein. Gott sei Dank, eine Aufgabe. Ein Vorwand, gebraucht zu werden. Ein Grund, Jonathans Weggehen in etwas Bedeutsames zu verwandeln. Und so kündigte sie am nächsten Tag ihre Wohnung, packte ihre Sachen und zog wieder nach Hause, uneingeladen.

Erst nachdem sie schon eine Weile zu Hause war, die kleinen Missstände im Haus beseitigt und unserer Mutter durch die ersten Chemo-Behandlungen geholfen hatte, wurde ihr das Beschämende ihrer Situation bewusst. Wie peinlich, wieder zu Hause zu wohnen. Wenn sie den Leuten erzählen würde, sie sei zurück in ihr Elternhaus gezogen, um ihrer Mutter beizustehen, würden die natürlich nicken und mitfühlend seufzen. Aber dennoch, wo war sie? Lebte bei unseren Eltern? In ihrem Alter? Sie fühlte sich wie eine Schwimmerin, die verbissen gegen die Wellen gekämpft hat und dann feststellen muss, dass sie vollkommen erschöpft ist und noch genauso weit vom Ufer entfernt wie zuvor. Rose fühlte sich einsam und müde.

Schon der Gedanke an ihr so richtungsloses Leben war ihr peinlich, sie errötete und stand ungeduldig von ihrem Platz am Fenster auf, von wo aus sie wütend auf den Wildblumengarten unserer Mutter geschaut hatte. Der Garten war, wie naturnahe Gärten das so an sich haben, außer Kontrolle geraten. Unsere Mutter liebte ihn – liebte die Schmetterlinge und fetten Bienen, die er anlockte, das schwindelerregende Gemisch aus Purpur- und Gelbtönen, wenn die Stängel sich ineinander verhedderten –, doch Rose zog willfährigere Gärten vor.

Sie drehte sich um und betrachtete das Wohnzimmer, wo eine einzige schwache Lampe hinter dem sonnengebleichten orangefarbenen Lieblingsohrensessel unseres Vaters ihr dünnes Licht auf die aufgeschlagenen Bücher warf, die, ungeachtet ihrer Versuche, Ordnung zu schaffen, sämtliche Flächen bedeckten. Die Laster unserer Familie – Unordnung und Literatur – in einem abendlichen Stillleben eingefangen. Wir sind noch nie organisierte Leser gewesen, die ein Buch auch nur irgendwie logisch zu Ende lasen. Wir steigen bei irgendwelchen Wörtern ein und aus, so wie man bei Stadtrundfahrten beliebig ein- und aussteigen kann. Du legst ein Buch in der Küche ab, um auf die Toilette zu gehen, und findest es bei der Rückkehr vielleicht nicht mehr wieder, sondern stattdessen ein anderes, ebenso interessantes. Wir sind nicht wählerisch. Unser Vater beschränkt seine Lektüre selbstverständlich auf Werke von und über Bill, unseren Jungen, aber unsere Mutter brachte Vielfalt in unsere Lektüre und damit auch in unsere Erziehung. Es war für uns nie ein Problem, eine kindgerechte Biographie über Amelia Earhart zu lesen und danach ein Selbsthilfebuch über Alkoholsucht (an der in unserer Familie keiner litt), gefolgt vom dritten Akt von Ende gut, alles gut und schließlich dann einigen Neruda-Sonetten. Cordy behauptet, dies sei der Grund für ihre Unfähigkeit, sich länger als ein paar Minuten auf irgendetwas zu konzentrieren, aber das glauben wir ihr nicht. Wir sind einfach so.

Nicht dass Rose es eigentlich bedauert hätte, wieder zu Hause zu sein. Unser Elternhaus und Barnwell im Allgemeinen waren weit angenehmer als das anonyme Appartement, das sie in Columbus gemietet hatte – dünner Teppich auf Betonboden und Nachbarn, die so flott ein- und auszogen, dass sie aufgehört hatte, sich ihre Namen zu merken –, doch wenn sie die Pillendöschen unserer Eltern gefüllt und das Wohnzimmer aufgeräumt hatte (sie hatte schließlich auch jemanden für den Rasen eingestellt und das Konto ausgeglichen) und wenn sie unsere Eltern zu den Chemo-Behandlungen unserer Mutter begleitet und im Wartezimmer gesessen hatte, weil sie dort eigentlich nicht gebraucht wurde – die Eltern wären sehr gut allein zurechtgekommen, nur sie beide –, dann war ihr Leben beinahe so leer wie zuvor.

Die winzige Uhr auf dem Kaminsims schlug zehn, und Rose seufzte vor Erleichterung. Zehn war eine absolut annehmbare Zeit, um ins Bett zu gehen, ohne sich wie ein totaler Faulenzer zu fühlen. Sie ging Richtung Treppe und blieb vor dem Spiegel stehen, der, halb blind und verzogen, dort hing, solange wir denken können. Rose betrachtete ihr Spiegelbild und sagte sechs Worte, die keine von uns je zuvor geäußert hatte.

»Ich wünschte, meine Schwestern wären hier.«

Der Fuchs, der Affe, die Biene klein, Weil's drei sind, mußten sie ungleich sein

Unser Vater schrieb einmal einen Aufsatz über die Bedeutung der Zahl Drei im Werk Shakespeares. Ein kleines Nichts, sagte er, eine Bagatelle, aber dieser Aufsatz war uns immer der liebste. Der Vater, der Sohn, der Heilige Geist. Drei Ziegenböcke namens Gruff, Drei blinde Mäuse, Drei Männer im Boot (ganz zu schweigen vom Hund). König Lear – Goneril, Regan, Cordelia. Der Kaufmann von Venedig – Portia, Nerissa, Jessica.

Und wir – Rosalind, Bianca, Cordelia.

Die Shakespeare'schen Zauberschwestern.

Eingesperrt im Auto, mit unserem Vater am Steuer, wurden wir gern extensiven Deutungen der Wortgeschichte von Shakespeares »Zauberschwestern« in Macbeth ausgesetzt, mit speziellen Zugaben aus nordischen und schottischen Quellen, auf die Shakespeare zurückgegriffen hatte, als er diesesbedeutende Werk schuf. Diese Demütigungen möchten wir Ihnen ersparen.

Die Macbeth'schen Hexen, diese Zauberschwestern, sind nun stets mit einer Aura des Schicksalhaften umgeben. Dagegen könnten wir argumentieren, uns sei es eben nicht vom Schicksal bestimmt, Dinge zu tun, wir hätten vielmehr alles in unserem Leben selbst bestimmt, und es gebe so etwas wie Schicksal ohnehin nicht. Damit würden wir aber lügen.

Rose immer die Erste, Bean nie die Erste, Cordy immer die Letzte. Und wenn wir das nicht akzeptieren, nicht begreifen, wie Shakespeares Schwestern es taten, dass wir uns nicht gegen unsere Familie und unser Schicksal stemmen können, nun, wer hat dann versagt, wenn nicht wir selber! Unser Schicksal gründet auf der Art und Weise, wie wir geboren wurden, auf der Art und Weise, wie wir erzogen wurden, auf der Summe von uns dreien.

Die Geschichte dieser Trinität ist unzuverlässig – mit stets sich verschiebenden Parteiungen, niemals ausgeglichen, niemals gleich. Zwei gegen eine oder alle drei gegeneinander, aber nie alle gemeinsam. Als Cordy geboren wurde, nahm Rose Bean unter ihre Fittiche, zwei gegen eine. Und als Bean rebellierte, sich weigerte, noch länger Roses Spielchen zu spielen, fanden Rose und Cordy zueinander, und Cordy wurde zum willigen Anhängsel. Zwei gegen eine.

Bis Rose fortging und wir drei zu Einzelwesen wurden.

Und dann fanden Bean und Cordy zueinander, als sie in einer heißen Sommernacht heimlich aus ihren jeweiligen Fenstern auf die ausladenden Eichen kletterten, und wieder waren wir zwei gegen eine.

Und jetzt sind wir hier, können die Entfernung zwischen uns in Armlängen messen, bleiben distanziert und kalt. Warum? Um die anderen in Schach zu halten? Um uns selbst zu schützen?

In Zeitschriften und Zeitungen werden uns manchmal wundersame Schwesterngeschichten präsentiert, oder wir lesen Romane über die tiefe, innige Beziehung zwischen Schwestern. Von Schwestern wird erwartet, dass sie einander eng verbunden sind, dass sie Familiengeschichte und -geschichten teilen, über ihre Missgeschicke lachen. Doch wir sind nicht so. Eigentlich waren wir das nie, denn selbst unsere Bündnisse kamen eher aus Bosheit denn aus Liebe zustande. Wer sind diese Schwestern, die sich so verhalten, die sich gegenseitig wie beste Freundinnen behandeln? Wir sind ihnen nie begegnet. Wir kennen viele Schwestern, die gut miteinander auskommen, sicher, doch wozu der Mythos?

Wir glauben nicht, dass es Cordy wirklich etwas ausmacht, dass es so ist, denn sie neigt dazu, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen. Rose macht es sicherlich etwas aus, denn für sie sollen die Dinge gern in Einklang mit ihrer inneren Vorstellung sein. Und Bean? Nun, bei Bean ist es mal so, mal so, wie alles bei ihr. Eine so unnatürliche Freundschaft zu knüpfen fände sie viel zu anstrengend.

Zwei

Die Sommer in Barnwell sind immer gleich – drückende, bleiern schwüle Tage, gelegentlich von grollenden Gewittern verdunkelt, die Wiesen und Felder grün und saftig halten. Wir erinnern uns an diese Hitze wie an einen ungebetenen Gast. Als wir klein waren, war es nicht so schlimm; wir rannten durch den Sprinkler, bedrängten unsere Eltern so lange, bis sie uns in den College-Pool ließen, und die Haare klebten uns in der Stirn, wenn wir uns mit selbstgemachter Limonade Kühlung verschafften. Doch mit zunehmendem Alter wurde der Sommer zu unserem Feind. Wir saßen in unseren Zimmern, den größten Ventilator, den wir auftreiben konnten, nur Zentimeter entfernt, der dann die stickige Luft zu einem wütenden Wirbel aufpeitschte und gegen die Hitze nicht das Geringste auszurichten vermochte. Schlafen war unmöglich, und häufig sah man uns in unseren weißen, in der Dunkelheit schimmernden Nachthemden durch das Haus wandern, ein Trio von Lady Macbeth, von der Quecksilbersäule in den Wahnsinn getrieben.

Nachdem wir alle ausgezogen waren, ließen unsere Eltern eine zentrale Klimaanlage einbauen, zu spät, um noch zu verhindern, dass sich die Türen verzogen und lästiger Schimmel entstand, der alle Bücher befiel, die länger als ein paar Wochen irgendwo herumlagen, aber immerhin wurde das Leben im August hier zumindest erträglich. Im Winter waren wir weiter den knackenden, zischenden Radiatoren ausgesetzt, mussten weiter freizügig Gebrauch von Heizgeräten machen und, in einem verhängnisvollen Experiment seitens Cordys, die Verwendung einer antiken kolonialen Wärmepfanne erdulden, deren Fähigkeit, die Kohlen so zu isolieren, dass sie nicht die Laken versengten, ihr offenbar abhanden gekommen war.

Bean kam nachmittags an, in einem Designerkostüm, das für Barnwell völlig unpassend war; sie war durchgeschwitzt und fluchte heftig. Rose hörte ein Auto in die Einfahrt einbiegen, klappte mit Hilfe eines Lesezeichens sorgfältig ihr Buch zu und spähte aus dem Fenster. Bean schälte sich aus dem Fahrersitz eines billigen weißen Kleinwagens, der auf der Fahrerseite einen bösen Kratzer aufwies. Sie beugte sich über den Rücksitz, und Rose erkannte eine Laufmasche in einem ihrer fraglos todschicken Strümpfe. Beans Haare hatten sich aus dem strengen französischen Knoten gelöst, den sie in stundenlangen Sitzungen vor ihrem Schlafzimmerspiegel perfektioniert hatte. Sie sah aus, als hätte sie in ihren Kleidern geschlafen (was den Tatsachen entsprach; als sie zu müde zum Weiterfahren wurde, hatte sie auf einem Rastplatz gehalten, ihre Beine über den Schalthebel gelegt und in der Wärme ihr Kostüm zerknittert). Rose schwang sich vom Fenstersitz ihres Zimmers und ging die Treppe hinunter.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie, nachdem sie Bean die Tür geöffnet hatte. Ein Hitzeschwall drang ins Haus, drückte gegen die Kühle im Innern, und Rose hatte Mühe zu atmen.

Bean starrte sie wütend an. »Danke«, sagte sie. »Jetzt fühle ich mich gleich viel besser.«

Auf der Stelle zerknirscht, griff Rose nach einer der Taschen, die unsere Schwester mit sich schleppte. »Was ist passiert?«

»Nichts. Mir ist nur heiß, und ich habe eine Ewigkeit im Auto gesessen. Gehst du mal zur Seite?«

Rose gehorchte, und Bean trat in die Diele, ihr Blick wanderte hierhin und dahin, suchte nach Veränderungen in den heimischen vier Wänden. Sie schob sich an Rose vorbei, ließ ihre Tasche neben die Treppe fallen und machte sich auf den Weg in die Küche. Rose folgte ihr lustlos und in dem Gefühl, nicht gut genug angezogen zu sein, etwas, das ihr neben Bean regelmäßig passierte. Selbst nach einem allem Anschein nach unglückseligen Zusammentreffen mit einer Horde wütender Katzen wirkte Bean immer noch chic und elegant. Rose sah aus wie unsere Mutter – beide trugen am liebsten weite Leinenröcke, Hosen mit weitgeschnittenen Beinen und Batik-Tuniken. Normalerweise fühlte Rose sich darin auf exotische Weise wohl, doch jetzt kam sie sich plötzlich schäbig vor. Sie zupfte hinten an ihrer Hose, fühlte den Abdruck ihres seriösen Baumwollslips und schluckte ihren aufwallenden Ärger hinunter, ob über Bean oder über sich selbst, wusste sie nicht.

Als sie die Küche betrat, stand Bean an der Spüle, eine Hand am silbrigen Wasserhahn, und trank gierig Wasser aus einem Marmeladenglas. Sie leerte es mit einem übertriebenen Schmatzen, beugte sich vor, um es neu zu füllen, und lehnte sich dabei gegen die Arbeitsplatte. Mit einer gewissen Erleichterung bemerkte Rose den Riss in Beans leicht derangierter Vollkommenheit, einen nassen Fleck, der sich auf ihrem roten Kostüm an der Stelle ausbreitete, wo sie sich an die Arbeitsplatte gelehnt hatte. »Was machst du hier?«, fragte Rose. »Mom und Dad haben nicht gesagt, dass du kommst.«

Bean, die gerade ein zweites Glas halb leergetrunken hatte, sah mit hochgezogenen Augenbrauen über den Glasrand. »Ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich komme.« Und um das Thema zu wechseln und keine weiteren Informationen preiszugeben, sagte sie: »Oh, und ich habe von euch gehört. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke«, sagte Rose, dabei zuckte ihr Finger zu ihrem Ring. Nicht, dass wir dir das alles nicht schon vor Monaten erzählt hätten, Beany. Bloß keine Eile unseretwegen. Es ist ja nicht so, dass Mom nicht vielleicht sterben könnte.

»Ah, der Ring«, sagte Bean, der Roses Bewegung nicht entgangen war. »Ich schenkte meinem Liebsten einen Ring, und hieß ihn schwören, nie ihn wegzugeben. Lass mal sehen.«

Rose machte einen unbeholfenen Schritt und hielt Bean steif ihre Hand hin. Bean packte die dicken Finger unserer großen Schwester mit ihren manikürten Krallen und besah sich den Ring. Ein glänzender Saphir in einer antik gearbeiteten Fassung aus Weißgold. Rose hatte das Romantische und Besondere an diesem Ring gefallen, als sie ihn zusammen mit Jonathan ausgesucht hatte. In Beans Augen, da war sie sich sicher, würde er jedoch billig wirken.

»Hübsch«, verkündete Bean. »Mal was anderes. Finde ich besser. Diamanten sind so langweilig.« Als sie ihre Hand losließ, fiel Roses Blick kurz auf Beans kleinen Finger, dessen künstlicher Nagel abgerissen war und einen schartigen Rand hinterlassen hatte. Roses Hand schwebte einen Augenblick unsicher in der Luft, ehe sie sie zurückzog und auf ihre Hüfte stützte.

»Danke«, sagte Rose. »Mir gefällt er.«

»Wie geht es Mom?«

»Gut. Den Umständen entsprechend eben. Sie hat die Chemo-Behandlungen fast hinter sich. Derzeit hat sie eine freie Woche – nächste Woche bringen wir sie zu ihren nächsten Behandlungen. Sie ist müde, und sie isst nicht viel, aber es ist nicht so schlimm, wie es hätte sein können.« Sie hätte noch mehr sagen können – dass unsere Mutter nach ihrer ersten Behandlung so erschöpft gewesen war, dass sie beinahe drei Tage lang geschlafen hatte; dass ihr etwas später von der Chemotherapie die Haare ausfielen und Rose unsere Mutter weinend auf dem Fußboden des Badezimmers gefunden hatte, nahezu kahl, mit nassen Haarsträhnen, die sich wie Seegras um ihre Glieder gewickelt hatten; dass es selbst nachdem das Schlimmste vorüber war, den Anschein hatte, der Kampf werde niemals enden, aber Bean würde noch schnell genug begreifen, wie die Dinge standen. »Da müssen wir durch.«

»Uff«, sagte Bean. Sie hätte weitere Fragen zum Gesundheitszustand unserer Mutter stellen können, aber sie interessierte sich mehr dafür, dass Roses Darstellung so klang, als wäre sie ein wichtiger Teil dieses Unternehmens, dabei hatten unsere Eltern doch so lange als ein Zweier-Universum überlebt.

Rose straffte die Schultern. »Wir kommen hier zurecht. Du hättest nicht zu kommen brauchen.«

Bean grinste leicht spöttisch, hob die Hände und brachte halbherzig ihr aufgelöstes Haar wieder in Ordnung. »Ja, ich hätte mir denken können, dass du dich bei meinem Anblick nicht gerade freuen würdest.«

»Das stimmt nicht«, sagte Rose, und ihr defensiver Ton überraschte sie selbst. »Gerade vor ein paar Tagen habe ich mir noch gewünscht, wir wären alle hier.«

»Na bitte, dein Wunsch geht in Erfüllung«, sagte Bean und streckte mit einer Geste des Was-willst-du-noch-alles-von-mir ihre weit geöffneten Hände aus. »Cordy ist nicht da, oder?«

»Nein«, sagte Rose. »Ich bin mir nicht einmal sicher, wo sie steckt. Dad hat einen Brief an die letzte Adresse geschrieben, die Mom in ihrem Buch hatte, aber du kennst ja Cordy.«

»Gut. Ich kann sie im Moment ohnehin nicht ertragen.«

»Wie lange willst du denn bleiben?«, erkundigte sich Rose vorsichtig.

Bean zuckte die Schultern. »Eine Weile. Ich weiß nicht. Ich habe meinen Job aufgegeben.«

Wenn das keine Neuigkeit war. Bean hatte in der Personalabteilung gearbeitet – genau gesagt, war Bean die Personalabteilung einer winzigen Anwaltskanzlei in Manhattan, doch wenn man sich mal mit ihr in einer Bar traf, erzählte sie einem nur, dass sie in einer Kanzlei arbeite, und überließ es einem, das Beste zu vermuten. Oder das Schlimmste. Das erste, was wir tun müssen, ist, daß wir alle Rechtsgelehrten umbringen.

»Oh«, sagte Rose. »Warum denn?«

»Warum gibt jemand seinen Job auf? Ich wollte nicht mehr dort arbeiten.« Bean stieß sich von der Arbeitsplatte ab und schlenderte zur Tür. »Ich gehe nach oben und ziehe mich um. Wo sind Mom und Dad?«

»Dad ist im College, und Mom ist irgendwo unterwegs. Sie kommen erst später zurück.«

»Prima. Dann gehe ich jetzt duschen«, sagte Bean und polterte den Flur entlang. Da die Aufregung sich gelegt hatte, folgte Rose Bean die nackten Holzstufen hinauf und widmete sich wieder ihrem Buch. Wären wir eine andere Sorte Schwestern, dann hätte Beans Schweigsamkeit Anlass zur Neugier sein können. Doch wie die Dinge standen, handelte es sich einfach um ein weiteres Privatgeheimnis, das wir Schwestern mit Sicherheit niemals teilen würden.

Unsere Eltern hatten, wohl aus Nachlässigkeit und nicht absichtlich, unsere Zimmer seit unserem offiziellen Auszug in keiner Weise verändert. Das führte häufig zu den seltsamsten Entdeckungen, da allerlei Gegenstände und Erinnerungsstücke noch vorhanden waren, die wir in unserem neuen Leben zwar nicht mehr haben wollten, die uns aber immer noch so wertvoll erschienen, dass wir es nicht übers Herz brachten, sie wegzuwerfen.

Bean schleuderte ihre Taschen aufs Bett – das massive, tüllgekrönte Baldachinbett, das sie vor Jahren mit Cordy getauscht hatte. Cordy hatte stattdessen das schwere weiße, schmiedeeiserne Bettgestell, das Bean nicht vornehm genug erschienen war. Mit fünfzehn hatte sie die soliden hölzernen Eckpfosten dieses Betts für den Gipfel an Eleganz gehalten. Jetzt wirkte es traurig, der Tüll war grau vor Staub, das Holz matt und unpoliert, der Bettüberwurf verblichen, wo die Sonne hingeschienen und die Farbe herausgesogen hatte. Sie kickte ihre Schuhe von den Füßen, trat ans Fenster und trommelte sich dabei die ganze Zeit mit den Fingern auf den Bauch. Das angespannte, zittrige Gefühl im Magen wollte nicht weichen, nicht einmal jetzt, fünfhundert Kilometer von der Stadt entfernt.

Bean zog den Vorhang vor das Gaubenfenster, ging wieder zum Bett und zog sich aus. Die zerrissenen, klebrigen Nylonstrümpfe wanderten in den Abfallkorb, ihr Kostüm legte sie aufs Bett. Auf dem Rock war ein Fettfleck von einem Hamburger, den sie unterwegs gegessen hatte. Sie würde sehen müssen, ob Barney es während ihrer Abwesenheit zu einer Reinigung gebracht hatte. Als sie ihren Schmuck abnahm, eine silberne Spangenuhr und winzige Diamantohrringe, krampfte sich ihr erneut der Magen zusammen.

Sie zog ihre Unterwäsche aus und schlang ein Handtuch um die Brust, ehe sie über den Flur zu dem Badezimmer ging, das wir drei uns immer geteilt hatten. Die schwere Badewanne mit den Klauenfüßen stand noch immer dort, doch darum hing ein kreisrunder