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Der Marquis von Vale - sehr bei den Damen der Londoner Gesellschaft begehrt - ist nicht nur ein sehr attraktiver und wohlhabender Junggeselle, sondern auch viel bereist und in viele internationale Aktivitäten verwickelt. Da er lange Zeit in Siam verbracht hat, lernte er den König von Siam durch seinen Freund, den Abenteurer Calvin Brook persönlich kennen. Der König bittet den Marquis in einem Telegramm, das an die Siamesische Botschaft geschickt worden war, unverzüglich nach Bangkok zu reisen, da Calvin als tot aufgefunden gemeldet worden ist; er hinterlässt jedoch nicht mehr Informationen. Der Marquis macht sich auf dem Weg, nicht ohne vorher Ankana, Calvins Tochter zu besuchen, deren Vormund er seit dem Verschwinden seines Freundes geworden ist und die bei einer Tante in London wohnt, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Bei diesem ersten Treffen bittet Ankana, bei der Suche nach ihrem Vater dabei zu sein, da sie glaubt, dass er noch am Leben ist. Der Marquis lehnt diese Bitte jedoch strikt ab, da es sich um eine gefährliche und lange Seereise handelt, um Bangkok zu erreichen. Wird es dem Marquis gelingen, das Rätsel um den verschwundenen Calvin Brook zu lösen und wird Anakana den Marquis überzeugen können, ihn auf der Reise begleiten zu dürfen?
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Der Marquis von Vale lag mit geschlossenen Augen auf dem Diwan.
Er langweilte sich.
Alles war ihm zuwider.
Das weiche Lager, auf dem er ruhte, das ungelüftete Zimmer, der Duft des schweren Parfüms, das seine Leidenschaft anfachen sollte.
Vor allem aber die Lady an seiner Seite, die sich wie eine Klette an ihn klammerte.
Langeweile gehörte zum Leben des Marquis. Besonders, wenn Frauen mit im Spiel waren. Und diesmal war es besonders schnell gegangen, denn er war mit Lady Sybil Westlock erst zum zweiten Mal im Bett zusammen.
Das Ärgerliche ist, überlegte der Marquis, dass all diesen Begegnungen die Originalität fehlt.
Bereits zu Beginn des Abends hatte er mit beinahe absoluter Sicherheit voraussagen können, was sie miteinander sprechen und welche Dinge zwischen ihnen geschehen würden.
Die Erinnerung an seine letzten Liebesaffären zeigte ihm mit erschreckender Deutlichkeit, dass sie sich kaum voneinander unterschieden: eine so öde und gleichförmig wie die andere.
Die Uniformität und Eintönigkeit der Begegnungen versetzten ihn in den Zustand des Überdrusses, meist noch, bevor die in Frage kommende Dame etwas davon bemerkte.
Der Marquis erwartete von den Frauen, in die er sich verliebte, das Besondere, suchte das Ursprüngliche in ihnen, die Persönlichkeit und Individualität, die sie von ihren Geschlechtsgenossinnen unterschied.
Das Besondere, Unerwartete waren die Kennzeichen seines bisherigen Lebens. Es strotzte gleichsam vor Überraschungen und ungewöhnlichen Wendungen.
Nach dem Studium in Oxford war er zur Armee gegangen und hatte sich als hervorragender Soldat und ungewöhnlich fähiger Kommandeur besonders auf dem Schlachtfeld erwiesen.
Dann entsandte man ihn aufgrund seiner beeindruckenden Persönlichkeit und wegen seines diplomatischen Geschicks als Aide-de-Camp des Vizekönigs nach Indien.
Und während er als Mitglied des Raj den fernen Osten durchreiste, gelangte er unerwartet in den Genuss eines riesigen Vermögens, das sein Großvater mütterlicherseits ihm hinterließ.
Um dem Pomp und den Konventionen des gesellschaftlichen Lebens und dem Dienst in Indien zu entfliehen, nahm er kurzentschlossen seinen Abschied aus der Armee und segelte in der Welt umher.
Seine weiten Reisen brachten ihn mit allen möglichen Menschen zusammen, mit ausgefallenen Religionen und fremden Kulturen, und oft genug geriet er in beinahe ausweglose Situationen.
Sein Vater starb, und er erbte den Marquistitel. Dies geschah wieder völlig überraschend und unerwartet, da sein älterer Bruder, der eigentliche Anwärter auf den Titel, im Krieg sein Leben gelassen hatte.
So fand er sich plötzlich in der exklusiven und vergnügungssüchtigen Atmosphäre der Londoner Gesellschaft wieder, in der der Prinz von Wales den Ton angab.
Es konnte nicht ausbleiben, dass er innerhalb kürzester Zeit zur persona grata auf Marlborough House aufstieg.
Und noch unvermeidlicher war es, dass jede Frau, die ihm begegnete, ein einladendes Leuchten in den Augen hatte.
In der ersten Zeit konnte der Marquis dieser Art von Verlockungen nicht widerstehen, denn die englischen Ladies von Rang unterschieden sich sehr deutlich von den Frauen, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte.
Doch schon bald sollte sich für ihn die Wahrheit des zynischen Sprichworts bestätigen: ‚Nachts sind alle Katzen grau‘. Und mit einem gewissen Widerwillen registrierte er die Eintönigkeit seiner ständig wechselnden Liebschaften, die immer schneller und immer enttäuschender in gähnender Langeweile endeten.
Wenn er ehrlich war, reizte ihn daran nur eins: die vorausgehende Jagd nach der Beute.
Sie vermittelte ihm das gleiche Gefühl von Erregung und Spannung, das er empfunden hatte, wenn er in den Wäldern Ungarns einen Bären oder in den Bergen des Himalaya ein Hochwild gejagt hatte.
Sobald sich eine schöne Frau ihm ergab, hatte er das Interesse an ihr schon so gut wie verloren.
Im Fall von Lady Sybil war die Sache allerdings ein wenig anders verlaufen.
Sie war der Jäger gewesen und er das Wild. Nach zwei Monaten ausdauernder und beharrlicher Verfolgung war er ihr schließlich ins Netz gegangen.
Lady Sybil war eine ungewöhnlich schöne Frau.
Als er sie nach einem ausgiebigen Essen mit dem Prinzen und der Prinzessin von Wales auf Marlborough House im Ballsaal zum ersten Mal gesehen hatte, war er von ihrer Schönheit regelrecht hingerissen gewesen.
Es hatte keiner großen Anstrengungen bedurft, bis Lady Sybils Bemühungen um ihn von Erfolg gekrönt wurden. Der Marquis streckte zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung die Waffen. Aber dann dauerte es nur kurze Zeit, bis er erkannte, dass die bewunderte Jägerin nicht anders war als alle anderen Frauen, die er in den vergangenen Jahren, unzufrieden und gelangweilt, so schnell wie möglich wieder verlassen hatte.
Kein Zweifel, Lady Sybil war außergewöhnlich anziehend.
Sie besaß die Schönheit einer griechischen Göttin, und ihr Haar hatte die Farbe des Himmels, den die untergehende Sonne in glühendes Gold verwandelt.
Doch der Blick ihrer großen Augen wirkte seltsam leer, und nie sagte sie auch nur ein einziges Wort, an das er sich später erinnert hätte.
Sie war eine Meisterin der Liebeskunst, der Marquis konnte es nicht leugnen. Doch er hatte das Gefühl, dass es ihn nach mehr verlangte als nur körperlicher Befriedigung.
Was genau es war, konnte er nicht einmal sich selbst erklären.
Er schlug das spitzengesäumte Seidenlaken zurück, und als er sich anschickte, das Lager zu verlassen, stieß Lady Sybil einen gequälten Laut aus.
»Du lässt mich doch nicht allein, Osmond?« rief sie vorwurfsvoll.
»Es ist Zeit für mich, nach Hause zu gehen.«
»Aber es ist doch noch so früh. Was soll ich denn ohne dich machen?«
Der Marquis gab keine Antwort, und sie sprach weiter, während ihre Hände ihn liebkosten »Niemand ist ein besserer Liebhaber als du. Ich finde es wundervoll, dass wir morgen Abend schon wieder zusammen sein können, jetzt, da Edward nicht da ist.«
Für den Marquis stand fest, dass ein solches Zusammensein für ihn nicht mehr in Frage kam. Aber er war taktvoll genug zu schweigen.
Er war nur mit Mühe imstande aufzustehen, denn Lady Sybil bemühte sich mit aller Kraft, ihn daran zu hindern.
Als ihr dies nicht gelang, ließ sie sich schmollend in die Kissen zurückfallen.
»Ich begreife einfach nicht, weshalb du gehen musst, wo sich doch vor fünf Uhr früh niemand im Haus sehen lässt.«
»Du vergisst, ich muss daheim sein, bevor meine Dienerschaft aufwacht«, erwiderte er.
Lady Sybil lachte.
»Inzwischen dürften sie daran gewöhnt sein, dass ihr Herr immer erst im Morgengrauen nach Hause kommt. Aber ich werde dich gehen lassen, mein Liebling. Du musst mir nur versprechen, dass du morgen Abend mit mir dinierst.«
Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr:
»Ich werde dich zum Luncheon sehen, denn wir sind beide ins Devonshire House eingeladen.«
Der Marquis kleidete sich zügig an und dachte, dass der einzige vernünftige Mensch bei diesem Bankett die Duchess sein würde.
Obwohl sie langsam älter wurde, war sie immer noch äußerst amüsant und reizvoll.
Dem Marquis kam der Gedanke, dass die Duchess zu den wenigen Frauen gehörte, die er bewunderte und verehrte.
Sie verkörperte den Typ der Frau, den er wirklich mochte, ohne ihn jedoch ein zweites Mal gefunden zu haben.
Als Duchess von Manchester hatte sie London mit ihrer Schönheit in Atem gehalten.
Eine Aura der Unschuld und Reinheit umgab sie, von der sein Vater stets gesagt hatte, dass sie alle Männer fasziniert habe.
Später, als sie sich nach dem Tod ihres Mannes in den Marquis von Hartington verliebte, war ihr Verhalten vorbildlich gewesen.
Niemals redete sie den Marquis in der Öffentlichkeit anders als mit seinem Titel an und begegnete ihm stets mit größter Zurückhaltung.
Viele Jahre lang wussten selbst die bestunterrichteten Mitglieder der Londoner Gesellschaft nicht wirklich, ob der Marquis ihr Liebhaber war oder nicht.
Auch als sie ihn schließlich heiratete und die Duchess von Devonshire wurde, behielt sie ihre Würde und Natürlichkeit.
Sie war eine einmalige Frau, und kein Ehemann konnte sich eine liebe- und hingebungsvollere Gefährtin wünschen.
Weshalb gibt es nicht mehr Frauen, die so sind wie sie? dachte der Marquis, während er sich das Hemd zuknöpfte.
Nach seiner Erfahrung neigten Frauen dazu, vor aller Welt mit ihren Verhältnissen zu protzen und sich wichtig zu tun.
Noch vor einer Woche hatte er der augenblicklichen Empfängerin seiner Gunst gesagt:
»Lass dir doch deine Freude nicht immer so anmerken, wenn ich in einen Raum komme, in dem wir nicht allein sind!«
»Aber ich bin doch so glücklich, wenn ich dich sehe, Osmond«, hatte sie geantwortet. »In dem Augenblick, wo du erscheinst, macht mein Herz Freudensprünge. Ich möchte am liebsten auf dich zulaufen und mich in deine Arme werfen.«
Der Marquis gab gereizt zurück, dass dies genau die Art von Benehmen sei, die ihm missfalle, denn sie bringe die Leute nur dazu, sich die Münder zu zerreißen.
Und Gerede war in seinem Fall höchst gefährlich.
Schließlich lag ihm nicht daran, von einem eifersüchtigen Ehemann zum Duell aufgefordert zu werden, weil dieser Satisfaktion für seine verletzte Ehre verlangte.
Duelle waren unter der Herrschaft von Königin Viktoria bei Strafe verboten. Dennoch fanden sie gelegentlich statt.
Der Marquis hatte nicht den leisesten Wunsch, sich in Händel dieser Art einzulassen, zumal er die fragliche Lady für durchaus entbehrlich ansah.
Das ist ja der ganze Ärger! dachte er.
Alle Frauen, mit denen er eine Affäre gehabt hatte, bedeuteten ihm wenig. Sobald er sie im Bett hatte, war er ihrer auch schon überdrüssig.
Um sie zu erobern, wäre er auf den Mont Everest gestiegen oder auf den Grund des Meeres getaucht. Doch solcher Anstrengungen von seiner Seite hatte es nie bedurft. Sobald er sich ihnen auch nur einen Schritt näherte, waren sie bereit, sich ihm bedingungslos an den Hals zu werfen.
Zum Teufel mit ihnen! dachte er, während er vor dem Spiegel stand und seine Krawatte einer letzten Korrektur unterzog. Dann bewegte er die Schultern und gab seinem maßgeschneiderten langschössigen Jackett den endgültigen Sitz.
Lady Sybil räkelte sich indessen mit verführerischer Lässigkeit auf dem zerwühlten Bett.
Der Marquis wandte sich nun zu ihr um und sagte mit seiner tiefen Stimme:
»Danke, Sybil, für den sehr genussvollen Abend.«
Jetzt schien es keinen Zweifel mehr für sie zu geben, dass er entschlossen war, zu gehen. Sie setzte sich auf und entblößte dabei ihre wohlgeformten Brüste.
»Wie kannst du nur so grausam sein, mich zu verlassen, obwohl es mein sehnlichster Wunsch ist, dass du bleibst?«
Der Marquis ergriff ihre ausgestreckte Rechte und hob sie beiläufig an die Lippen.
»Geh schlafen, Sybil«, sagte er. »Ich möchte, dass du morgen die Schönste von allen im Devonshire House bist.«
Ihre Finger schlossen sich um die seinen.
»Und morgen Abend werden wir wieder zusammen sein«, flüsterte sie zärtlich. »Oh Osmond, ich liebe dich so sehr. Mir ist, als würde es niemals morgen werden.«
Er lächelte auf sie nieder, entzog sich ihr mit einiger Mühe und verließ raschen Schrittes den Raum.
Sie blickte ihm sehnsüchtig nach. Als sie hörte, wie er den Gang entlangging und die Treppe hinunterstieg, sprang sie aus dem Bett, als ob sie ihn zurückrufen wollte.
Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und murmelte: »Morgen werde ich ihn länger festhalten! Morgen wird er mir nicht so früh entkommen!«
***
Als der Marquis die Halle erreichte, erhob sich ein verschlafener Diener von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, um ihm die Haustür zu öffnen.
Der Marquis sagte sich, dass er sich unbedingt eine plausible Erklärung einfallen lassen musste, weshalb er dieses Haus nie wieder betreten würde.
Unmöglich, einer Frau zu sagen, dass sie ihn langweilte.
Für gewöhnlich ließ er das Ende einer Liebesaffäre mit einer dringenden Verpflichtung außerhalb Londons zusammenfallen: den Rennen in Newmarket, der Eröffnung der Jagdsaison in Schottland oder ähnlichem.
Obwohl ihm im Augenblick noch kein brauchbarer Verhinderungsgrund einfiel, um das Dinner mit Lady Sybil am folgenden Tag abzusagen, war er sicher, dass seine Fantasie ihn schon nicht im Stich lassen würde.
Die besten Ideen hatte er stets am Morgen.
Die Nachtluft war kalt und scharf, doch da es von Westlock House aus nicht weit bis nach Hause war, hatte er keine Kutsche bestellt, die auf ihn wartete.
Er legte den Weg zu Fuß zurück, und vor seinem inneren Auge tauchte die Vision schneebedeckter Berggipfel und sturmgepeitschter Wasser der Biskaya auf.
»Im Augenblick kann ich nicht aus England fort!« sagte er vor sich hin.
Erleichtert stellte er fest, dass der Frost die drückende Hitze und die schwüle, parfümgeschwängerte Atmosphäre von Sybils Schlafzimmer vertrieben hatte. Und als er Vale House erreichte, war er zwar ein wenig durchgefroren, doch zugleich fühlte er sich belebt und voller Tatendrang.
Er teilte dem Nachtdiener mit, dass er am nächsten Morgen um acht ausreiten würde und erst danach zu frühstücken gedenke.
Dann eilte er die Treppe hinauf zu seinem Schlafzimmer, wo sein Diener auf ihn wartete.
Er zog sich aus, sprach nur das Notwendige und legte sich ins Bett.
Seltsamerweise schlief er nicht sofort ein, wie er das eigentlich gewöhnt war.
Er fragte sich, wie es kam, dass Frauen so auf ihn flogen und er ihrer so schnell überdrüssig wurde.
Er wusste, dass keiner seiner Altersgenossen ihm glauben würde, wenn er ihnen klarzumachen versuchte, dass er nicht die geringste Lust verspürte, Sybil auch nur noch einmal anzurühren.
Sie galt als absolute Schönheit und eine der begehrenswertesten Frauen Londons.
Aber damit war sie nicht allein.
Die Londoner Gesellschaft besaß eine Fülle schöner Frauen, und sie alle waren ständige Gäste auf Marlborough House, denn der Prinz von Wales besaß auch im Alter immer noch jene verhängnisvolle Schwäche, der er schon als junger Mann verfallen gewesen war.
Seine Schwäche für das schöne Geschlecht war allgemein bekannt, und die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass er die Freuden der Liebe genoss, wo immer sie sich ihm boten.
Der Marquis sah keinen Grund, warum er dem Beispiel Seiner Königlichen Hoheit nicht hätte nacheifern sollen.
Dabei ging er jedoch jedem Gedanken an eine Eheschließung aus dem Weg trotz der Bitten und Vorhaltungen seiner Familie, die anfing, sich wegen eines Stammhalters und Erben Sorgen zu machen.
Bei seinen Liebschaften achtete der Marquis allerdings auf Niveau und suchte sich seine Geliebten ausschließlich in der Gesellschaftsschicht, der auch er angehörte.
Er hatte es nicht nötig, sich seine Mätressen zu kaufen, denn er konnte sich der Damen von Adel, die um seine Gunst buhlten, kaum erwehren.
Ruhelos wälzte sich der Marquis in seinem Bett hin und her, und immer wieder stieß er die Worte aus:
»Ich langweile mich, ich langweile mich. Und wenn nicht irgendetwas passiert, langweile ich mich noch zu Tode.«
Seine Worte schienen in seinen Ohren widerzuhallen, bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen stellte der Marquis fest, dass es in der vergangenen Nacht nicht nur kräftig gefroren hatte, sondern dass auch ein schneidender Wind durch die Bäume des Hyde Park blies.
Außer ihm waren nur wenige Reiter unterwegs.
Da er Bewegung und Körpertraining liebte, empfand er den scharfen Wind als angenehm belebend, und als er sich eine Stunde später am Frühstückstisch niederließ, verspürte er einen herzhaften Hunger.
Wie üblich war das Büffet im Speisezimmer beladen mit Schüsseln und Schalen der verführerischsten Speisen. Die Versuchung zuzulangen war groß.
Auf dem Tisch stand eine Schale mit goldgelber Butter von seinen Kühen auf Vale Park und ein Topf Honig von den gutseigenen Bienenstöcken.
Außerdem gab es ofenwarme Brötchen und einen kleinen, frischgebackenen Laib Brot, für die sein Chefkoch an diesem Morgen eigens früher aufgestanden war.
Doch der Marquis war ein bescheidener Esser, denn er war sehr auf sein Gewicht bedacht.
Wenn er einmal so alt sein würde wie der Prinz von Wales, wollte er auf keinen Fall so aussehen wie dieser, und deshalb aß er mit großer Zurückhaltung und betrieb eifrig Sport.
Während seiner Aufenthalte auf dem Land ritt er bei jedem Wetter auf seinem Gut umher. Jeden Weg, den er zu machen hatte, legte er im Sattel zurück. Einen Wagen benutzte er nur, wenn er zu einer Dinner Gesellschaft eingeladen war.
Demzufolge wies er kein Gramm überflüssiges Fett an seinem durchtrainierten Körper auf.
Als er sich vom Frühstückstisch erhob, war er sich der Tatsache bewusst, dass es wenigstens ein halbes Dutzend Platten und Schüssel gab, deren Inhalt er nicht einmal angerührt hatte.
Er dachte, dass viele Männer von seinem Rang dies als eine Verschwendung von Speisen ansehen würden. Aber ihn kümmerte das nicht, war er doch sicher, dass man im Gesinderaum nichts davon verderben lassen würde.
Auf seinen zahlreichen Reisen hatte er gelernt, mit kleinsten Lebensmittelrationen auszukommen, und deshalb wusste er den Wert dessen, was er aß, immer zu schätzen.
Dennoch ließ er die Gewohnheit, dass ihm ein ausgiebiges Frühstück aufgetischt wurde, unangetastet. Sollte die Dienerschaft sich damit vergnügen; und außerdem liebte er es nicht, den Haushalt durcheinanderzubringen.
Also blieb alles beim Alten und wurde so gehandhabt wie zu der Zeit, da sein Vater noch lebte.
Der Marquis ging in sein Arbeitszimmer, wo sein Sekretär, Mr. Bowes, ihm die Post auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Alle Briefe geschäftlicher Natur und die Einladungen waren bereits geöffnet worden.
Die anderen dagegen, deren feiner Duft und zarter Handschrift den weiblichen Absender verrieten, lagen ungeöffnet auf einem gesonderten Stapel.
Der Marquis ließ sich in seinem Sessel nieder und begann mit dem Lesen der Geschäftsbriefe, als die Tür aufschwang und der Butler mit Stentorstimme meldete:
»Seine Exzellenz, der Botschafter von Siam, M’lord!«
Überrascht blickte der Marquis auf.
Er war dem siamesischen Botschafter einige Male bei Gesellschaften begegnet, vermochte jedoch keinen Grund dafür zu erkennen, warum ihn dieser zu so früher Stunde aufsuchte.
Der Botschafter war ein kleiner, zierlicher Mann mit an den Schläfen ergrauendem Haar.
Nach seinem Eintreten verbeugte er sich respektvoll vor dem Marquis, der sich hinter seinem Schreibtisch erhoben hatte, um ihn zu begrüßen.
Der kleine Mann sagte in hervorragendem Englisch:
»Verzeihen Sie, Mylord, wenn ich Sie schon in aller Frühe aufsuche. Doch ich erhielt dringende Nachrichten aus Bangkok, die ich Ihnen, so glaube ich, ohne Versäumnis zuleiten sollte.«
»Nehmen Sie doch Platz, Exzellenz!« forderte der Marquis den Besucher auf und fragte sich, welcher Art die Nachrichten sein könnten.
Der Botschafter ließ sich in einem hochlehnigen Sessel nieder. Erst nachdem der Marquis sich zu ihm gesetzt hatte, sagte er:
»Ich wurde von Seiner Majestät König Chulalongkorn angewiesen, Sie vom Tod Minister Calvin Brooks in Kenntnis zu setzen.«
Der Marquis hob den Kopf.
»Calvin Brook tot? Sind Sie sicher?«
»Ich fürchtete, Mylord, dass die Nachricht Sie schockieren würde. Aber Seine Majestät bestand darauf, dass Sie als erster von Mister Brooks Hinscheiden erfahren sollten.«
Er machte eine Pause, damit der Marquis die Bedeutung seiner Worte in sich aufnehmen konnte.
Dann fuhr er fort:
»Außerdem wäre Seine Majestät Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, wenn Sie es ermöglichen könnten, ihn unverzüglich in Bangkok aufzusuchen.«
Erstaunt sah der Marquis den Botschafter an.
Die Nachricht vom Tod seines Freundes bestürzte ihn, und es erschien ihm sonderbar, dass König Chulalongkorn ihn persönlich zu sprechen wünschte.
Doch ein kurzes Nachdenken über das Gehörte genügte, um den Grund für das Ansinnen des Königs zu erkennen.
Etwas war seltsam an Calvin Brooks Tod.
Mehr noch: Das jähe, unerwartete Ableben des Mannes ließ auf ein Verbrechen schließen, und offensichtlich rechnete man am Hof von Bangkok mit diplomatischen und politischen Verwicklungen.
Der Marquis hatte Calvin Brook vor einigen Jahren in Indien kennengelernt.
Schon vorher hatte er gehört, dass es sich bei Brook um eine ungewöhnliche, ja geheimnisumwitterte Persönlichkeit handelte.
Der Marquis vermutete, obwohl ihm das niemand gesagt hatte, dass Calvin Brook ein Mann war, der tief in das verwickelt war, was man überall in der Welt ‚das große Spiel‘ nannte.
In irgendeiner Form musste er mit den westlichen Geheimdiensten zu tun haben, die in Asien eine fieberhafte Tätigkeit entfachten, um Russlands Eroberungsabsichten gegenüber Indien kennenzulernen. Seit geraumer Zeit versuchten die Agenten des Zaren verstärkt, unter den Grenzvölkern Unruhe zu stiften und sie zur Rebellion aufzuwiegeln.
Zum ersten Mal traf der Marquis Calvin Brook dann in Nepal und stellte fest, dass die Gerüchte über ihn der Wahrheit entsprachen. Brook schien in tausend verschiedene nationale Konflikte verwickelt, Konflikte, die nicht nur Indien, sondern auch zahlreiche andere Länder des Fernen Ostens betrafen. Der Marquis hatte sich damals dem rätselhaften Mann angeschlossen und in seiner Gesellschaft halb Asien bereist.
Zurückblickend konnte er nicht umhin, zuzugeben, dass es die aufregendste, aber auch gefährlichste Zeit seines Lebens gewesen war.
Auf See, im Dschungel und in der Wildnis der Berge hatten sie immer wieder dem Tod ins Auge geschaut.
Zusammen mit Calvin hatte er Aufstände niedergeschlagen, Rebellionen verhindert und lebensgefährliche Husarenstücke vollbracht. Gemeinsam hatten sie Kopf und Kragen riskiert, einander das Leben gerettet, und ihre Freundschaft war hundertfach auf die Probe gestellt worden. Es war eine Zeit gewesen, die der Marquis nie vergessen würde. Zu Ende gegangen war sie nur, weil die Nachricht vom Tod seines Vaters ihn nach England zurückgerufen hatte.
Nun war Calvin also tot.
Für den Marquis bedeutete dies einen unersetzlichen Verlust und wie er glaubte nicht nur für ihn, sondern auch für die Welt.
Bei seiner Rückkehr nach England erfuhr er durch den Außenminister, dass man Calvin Brook bereits mehrmals die Peerswürde und verschiedene andere Würden und Auszeichnungen angetragen hatte.
Er hatte sie alle zurückgewiesen.
Ein solches Verhalten war typisch für den wagemutigen Mann, der unter allen Umständen anonym bleiben wollte.
Er legte keinen Wert darauf, sich zu exponieren oder mit einem bestimmten Land identifiziert zu werden.
Für ihn gab es nur eins: dabei sein, mitten im Kampfgetümmel stehen, dort, wo etwas los war und die Würfel fielen. Er wollte Rätsel lösen, gefährliche Situationen entschärfen, Wagnisse eingehen und alles auf eine Karte setzen.
Er war ein Abenteurer, ein Mann, tollkühn, verwegen und verliebt in das Spiel mit dem Feuer.
All dies ging dem Marquis durch den Kopf, bevor er sagte:
»Es kann nicht wahr sein. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Calvin Brook tot sein soll!«
»Auch ich bin der Meinung, dass irgendetwas an der Sache rätselhaft ist«, sagte der Botschafter ruhig. »Und dies ist wohl auch der Grund, weshalb Seine Majestät nach Ihnen verlangt, Mylord.«
Weil der Marquis die asiatische Mentalität kannte, war er überzeugt, dass der Botschafter mehr wusste, als er sagte. Zumindest las er zwischen den Zeilen und war der Meinung, dass die Botschaft des Königs mehr enthielt, als die Worte ausdrückten.
Nach einer langen Pause sagte der Marquis:
»Ich werde unverzüglich nach Bangkok aufbrechen. Würden Sie Seiner Majestät telegraphieren, dass er mit meinem Kommen rechnen kann?«
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Botschafters aus, das von einem Ohr bis zum anderen zu reichen schien.
»Das ist sehr liebenswürdig von Eurer Lordschaft«, sagte er dann. »Ich weiß, wie entzückt Seine Majestät sein wird, Sie in seinem Palast zu empfangen.«
Als der Marquis sich erheben wollte, fügte der kleine Mann hinzu:
»Da ist noch etwas, Mylord. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie als Calvin Brooks Freund die Nachricht von seinem Tod seiner Tochter überbringen würden.«
Die Haltung des Marquis’ spannte sich.
»Ich hatte völlig vergessen, dass er eine Tochter hat.«
»Sie lebt im Augenblick in London unter der Obhut ihrer Tante, Lady Brook, der Gemahlin von Calvin Brooks Bruder.«
»Gut, ich werde sie aufsuchen«, versprach der Marquis.
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich fürchte, der Verlust ihres Vaters wird sie aufs Tiefste treffen.«
Dieser Meinung war auch der Marquis.
Er erinnerte sich daran, dass Calvin Brook ihm einmal erzählt hatte, dass seine Frau schon einige Jahre tot sei und dass ihr einziges Kind, ein Mädchen, augenblicklich in Kairo weile.
»Ich ließ sie dort, als ich vor sechs Monaten nach Asien reiste«, sagte er. »Sie wohnt bei Freunden, die sie mit nach England nehmen werden, wo sie zur Schule gehen soll.«
Er seufzte, bevor er fortfuhr:
»Bisher habe ich sie auf meinen Reisen immer bei mir gehabt. Doch jetzt ist die Zeit gekommen, wo sie eine ordentliche Erziehung und Ausbildung erhalten sollte. Für mich ist die Trennung von ihr nicht einfach. Sie fehlt mir sehr!«
Der Marquis hatte kaum zugehört. Er war der Meinung gewesen, dass seine Gesellschaft für Calvin Brook bei weitem befriedigender sein musste als die eines Kindes. Nun erinnerte er sich an Calvin Brooks Sorge vor dem Aufbruch zu ihrer letzten gemeinsamen Expedition, die sie unter großen Strapazen und Gefahren durch Burma nach Siam geführt hatte.
Calvin Brook hatte ihm das Versprechen abgenommen, die Stelle eines Vormunds seiner Tochter anzunehmen, falls ihm unterwegs etwas zustieße.
»Ich werde alles tun, was du von mir verlangst«, hatte der Marquis unbekümmert geantwortet. »Aber, um Himmels willen, pass auf dich auf!«
Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu:
»Du bist zu wichtig, um an einem vergifteten Dolchstich oder im Dschungel, wo weit und breit kein Arzt zu finden ist, an Fieber zu sterben.«
Calvin Brook hatte gelacht.
»Ich werde mein Bestes tun, damit es nicht dazu kommt. Obwohl die Gefahr groß ist, dass uns jemand ein Messer in den Rücken jagt oder eine Kugel zwischen die Augen setzt, ohne dass wir auch nur die geringste Ahnung haben, wem wir unseren Tod verdanken.«
»Na, da bin ich doch froh, dass du mich warnst!«
Der Marquis lachte ebenfalls.
Er erinnerte sich daran, dass Calvin Brook kurz vor dem Aufbruch einen Brief nach England gesandt hatte, in dem er seinen Anwälten mitteilte, dass er Lord Osmond Skelton-Vale für den Fall seines Ablebens zum Vormund seiner Tochter Ankana ernannt habe.
»Ja, das ist ihr Name«, sagte der Marquis nun laut. »Ankana.«
»Auf siamesisch bedeutet das ‚Schöne Frau‘«, erklärte der Botschafter.
»Dann wollen wir hoffen, dass sie ihrem Namen gerecht wird«, antwortete der Marquis nachdenklich.
Kurz nach seinem Gespräch mit dem Botschafter verließ der Marquis das Haus, um nach Belgravia zu fahren, wo Miss Ankana Brook im Haus ihrer Tante lebte.
Er fragte sich, ob sie wohl in irgendeiner Form ihrem Vater glich, der ein außerordentlich gutaussehender Mann gewesen war, oder ob sie plump und schüchtern war wie die meisten englischen Mädchen, die bei einem Vergleich mit den Mädchen anderer Völker nie sonderlich gut abschnitten.
Es waren vor allem die indischen Frauen, deren Anmut und Schönheit den Marquis immer wieder fasziniert hatten. Und die indischen Kinder mit ihren großen dunklen Augen waren ihm erschienen wie Wesen aus einer Bilderbuchwelt.
Das gleiche konnte er von den Frauen und Mädchen in Ceylon sagen.
Auch beim Anblick der balinesischen und siamesischen Frauen hatte er immer wieder gedacht, dass man solche Geschöpfe im Westen vergeblich suchte.
»Zu groß, zu dick, zu derb«, murmelte er vor sich hin, während die Kutsche anhielt und sein Diener ausstieg, um die Hausglocke zu betätigen.
Nachdem der Marquis nach Miss Ankana Brook gefragt hatte, führte man ihn in einen mit teuren Möbeln ausgestatteten Raum, der jedoch einen steifen und biederen Eindruck machte.