Die sieben Geheimnisse meiner Schwester - Holly Ringland - E-Book

Die sieben Geheimnisse meiner Schwester E-Book

Holly Ringland

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Beschreibung

Magisch und zutiefst menschlich: »Die sieben Geheimnisse meiner Schwester« ist ein großer, moderner und tief bewegender Frauenroman. In poetischer Sprache erzählt Holly Ringland von Trauer und Verlust, der tiefen Verbindung zwischen Schwestern und der transformierenden Kraft von Mythen und Geschichten. Das letzte Mal, als Esther Wildings geliebte ältere Schwester Aura gesehen wurde, ging sie am Ufer entlang Richtung Meer. Ihr Verschwinden lässt Esther und ihre Eltern entwurzelt und einander entfremdet zurück. Was ist wirklich geschehen, und vor allem: warum? Auras Leben war schon vor ihrem Verschwinden geheimnisvoll, und so lässt Esther sich schließlich vom Tagebuch ihrer Schwester auf die Reise schicken. Von Tasmanien über Kopenhagen auf die Färöer Inseln folgt sie den Spuren, die Aura hinterlassen hat: sieben archaische Märchen, die von Frauen und Verwandlungen erzählen; dazu geheimnisvolle Verse, die Aura geschrieben und sich auf den Rücken hatte tätowieren lassen. Esther findet die Wahrheiten, die sie sucht, und mehr als das: die grenzenlose Liebe zwischen Schwestern und die Kraft, Veränderung und Heilung zuzulassen, indem sie die ganze Fülle von Trauer und Freude spürt. Atmosphärisch und inspirierend: ein Roman über die großen Themen des Lebens Der Umgang mit Trauer, die Suche nach Sinn und die Kraft, die wir einander geben können, sind Themen, die Esther auf ihrer Reise beschäftigen. Wie sie die Stärke in ihrer Verletzlichkeit entdeckt, ist wunderschön zu lesen und erinnert an Vanessa Diffenbaughs »Die verborgene Sprache der Blumen«. "Wie alle guten Romane ist 'Die sieben Geheimnisse meiner Schwester' letztlich eine Geschichte über Liebe. Ringland ist ein Virtuose im Erzählen von Märchen für Erwachsene."  Sydney Morning Herald Holly Ringland ist die australische Bestseller-Autorin von »Die verlorenen Blumen der Alice Hart«, das als TV-Serie mit Signourney Weaver auf Amazon prime läuft.

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Seitenzahl: 795

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Holly Ringland

Die sieben Geheimnisse meiner Schwester

Roman

Aus dem Englischen von Alexandra Baisch

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Das letzte Mal, als Esthers geliebte ältere Schwester Aura gesehen wurde, ging sie am Ufer entlang Richtung Meer. Ihr Verschwinden lässt Esther und ihre Eltern entwurzelt und einander entfremdet zurück. Was ist wirklich geschehen, und vor allem: Warum? Auras Leben war seit jeher geheimnisvoll, und so lässt Esther sich schließlich vom Tagebuch ihrer Schwester auf die Reise schicken. Von Tasmanien über Kopenhagen auf die Färöer Inseln folgt sie den Spuren, die Aura hinterlassen hat: sieben archaische Märchen, die von Robbenfrauen erzählen und von Schwänen und Frauen; und rätselhafte Verse, die Aura geschrieben und sich auf den Rücken hatte tätowieren lassen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Die erste Haut: Tod

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Die zweite Haut: Erkenntnis

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Die dritte Haut: Einladung

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Die vierte Haut: Übertritt

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Die fünfte Haut: Entdeckung

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Die sechste Haut: Widerstand

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Die siebte Haut: Heimkehr

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Motto

Esther fuhr die Küstenstraße [...]

Anmerkungen der Autorin

Danksagung

Dieses Buch ist der Liebe zur Familie gewidmet, insbesondere der Familie, für die wir uns entscheiden

 

Für Myf, Schwester und Bewahrerin des Lichts im dunklen Wald

 

Und natürlich für Sam, meinen persönlichen Weltraum-Club

Für manche ist jede Geschichte über Wasser eine Geschichte über Magie, während für andere alle Geschichten über Liebe immer gleich sind.

 

Heather Rose, The River Wife

Die erste Haut: Tod

Willst du eine Veränderung, so erhebe dein Schwert und erhebe deine Stimme.

Kapitel 1

An dem Nachmittag, als Esther Wilding an der Küste entlang nach Hause fuhr, ein Jahr nachdem ihre Schwester ins Meer gegangen und verschwunden war, hatte das Licht eine schmerzhaft goldene Färbung.

Es war März, diese Übergangszeit auf der Insel, wenn die Gezeiten sich langsam änderten. Vom Meer her wehten kühle Winde durch die Blauen Eukalypten. Herden von Robben verließen ihre im Sommer geborenen Jungen, um jagen zu gehen, und Kolonien von Trauerschwänen machten sich daran, ihre Nester für die Winterbrut zu bauen. Im März stand das Sternbild Schwan tief am Horizont und war im Tageslicht nicht zu sehen.

Esther schaltete einen Gang zurück, nahm den Fuß vom Gas und beobachtete, wie die Sonne das Meer mit einem goldenen Funkeln versah. Das war Auras liebste Jahreszeit gewesen. Sie hatte sie das goldene Dazwischen genannt, mit einer von Staunen erfüllten Stimme. Wir können ins Meer eintauchen und zwischen dem Darüber und dem Darunter schweben, Sternchen. Genau dann ist der Schleier zwischen den Welten durchlässig, und alles, wovon du träumst, ist möglich. Wann immer Aura darüber sprach, lag dieses verschmitzte Funkeln in ihren Augen. Esther wiederum konnte sich nicht verkneifen einzuwenden, dass da gar kein Schleier sei, weil es ja nur diese eine Welt gebe – weshalb Aura das denn nicht verstehe? Meine kleine Wissenschaftlerin, hatte Aura sie dann immer geneckt und wild mit den Händen gestikuliert, was ihre Holzarmreifen klackern ließ. Eines Tages werde ich die Träumerin in dir schon noch finden.

Eine Bö wehte durch Esthers heruntergelassenes Fenster herein und führte diese bunte Duftmischung von zu Hause mit sich: Eukalyptus, Salz und Holzfeuer. Sie wandte den Kopf ab, als könnte sie ihm so entkommen. Neben ihr schimmerte das türkisfarbene Meer, und im Auf und Ab der kleinen Wellen, die sich über den weißen Sand kräuselten, tanzte rhythmisch der Blasentang. Unsere Körper, unsere Körper. Esther umklammerte das Lenkrad, als sie über eine Kuppe und dann um eine Kurve fuhr, hinter der in der Ferne die sieben mit leuchtend orangefarbenen Algen und Flechten bedeckten Granitfelsen vor ihr auftauchten. Aura, wie sie Unsere Körper, unsere Körper singt, während sie durch die Untiefen wirbelt und die Algenfinger sich um ihre Knöchel schlingen. Esthers Knie zuckte nervös auf und ab. Sie kaute ihren Daumennagel ab, bis sie Blut schmeckte. Dann schob sie den Daumen in ihre Faust, presste diese zusammen und seufzte verdrossen. Sie schaltete das Radio erst ein und nach einem Moment blecherner Popmusik wieder aus.

Esthers Aufenthalt an der Westküste der Insel während der letzten zwölf Monate war eine Flucht gewesen. Das Leben in diesem alten, von Flüssen und Regenwald durchzogenen Land entsprach genau dem Vergessen, nach dem sie gesucht hatte. Ein Ort ohne Erinnerungen, mit Ausnahme derjenigen, die sie dort jeden Tag neu erschuf. An diesem westlichen Rand der Insel, am Rand der Welt, hatte Esther einen Ort gefunden, an dem sie atmen konnte. Doch nachdem sie an diesem Morgen losgefahren und an der Kreuzung abgebogen war, wo die Schotterstraße auf den Highway führt und der Regenwald in trockenes Weideland übergeht, entstand ein Engegefühl in ihrer Brust. Selbst dann, als der reine Geruch der Eukalyptusbäume langsam durch die Lüftungsschlitze ihres Pick-ups hereinwehte, konnte sie nicht frei atmen.

Den ganzen Tag über hatte Esther das Gefühl gehabt, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden, als würde sie sich selbst beim Fahren zusehen. Mit fünfzehn hatte sie die Topografie dieser Küstenstraße gelernt, als die damals achtzehnjährige Aura ihr das Fahren beigebracht hatte. Esther beobachtete sich dabei, wie ihre Hand die Gangschaltung bediente, während ihre Füße in den Kurven die Pedale betätigten. Sie sah, wie sie sich in die Kurve lehnte und an der Klippe nach dem Blauen Rieseneukalyptus mit der Schaukel am Ast Ausschau hielt. Wie sie sich nach innen beugte, als es über die niedrige Brücke ging, und bald darauf nach hinten, um die Segelboote zu sehen, die um den Felsenpool mit den pinken Muscheln und den grünen Algen vertäut waren. Schon vor dem nächsten, noch verborgenen Hügel lehnte sie sich nach vorn, und bereits vor der nächsten nicht einsehbaren Senke nahm sie den Fuß vom Gas.

So waren sie immer nach Hause gekommen. Zusammen. Mit heruntergelassenen Fenstern, die salzige Meeresluft im Gesicht. Der Fußraum des Pick-ups übersät mit Chupa-Chups-Papier und Auras Zigarettenblättchen. Auf dem Armaturenbrett Muscheln und Banksiazapfen. Stevie Nicks, Janis Joplin und Melanie Safka aus der laut aufgedrehten Stereoanlage. Esthers Herz hatte vor lauter Sehnsucht und Ehrfurcht für ihre große Schwester schneller geschlagen, obwohl sie doch direkt neben ihr gesessen hatte.

Esther drückte aufs Gas und schämte sich für ihr kindliches Unvermögen, zu akzeptieren, dass das Meer, der Wind, die Bäume und die Sterne weiter existierten – auch ohne Aura. Und doch rollten die ungestümen Wellen wie eh und je ans Ufer. Trauerschwäne watschelten an den Sümpfen entlang. Und da standen sie, die sieben Felsen, eng zusammengedrängt hielten sie die angestaute Wärme des Sonnenlichts in ihrer Mitte fest wie ein Geheimnis. Obwohl Esthers Gefühle sich dagegen sträubten, erinnerte sich ihr Körper an den Heimweg. An den Weg zu dem Ort, wo sie immer schon und vor allem Aura Wildings kleine Schwester gewesen war.

Als sie den letzten Anstieg hinauffuhr, erhaschte Esther einen Blick auf eine Skulptur am Straßenrand neben dem Meer, eine Frau im Bikini, die Hände an den Hüften, wehendes Haar, lächelnd. Sie hatte keine Füße, denn die Beine verschwanden auf Kniehöhe in einem mit Wellen versehenen Steinblock mit dem auffallenden Schriftzug Welcome to Binalong Bay. Diese Skulptur begrüßte und verabschiedete die Menschen hier schon, solange Esther zurückdenken konnte. Als Kind mit leichtem Hang zur Klaustrophobie hatte Esther beim Anblick des Binalong-Bay-Mädchens immer schwitzige Hände bekommen und war kurzatmig geworden – dieses erstarrte Lächeln, die Haare, der Bikini, die Beine im steinernen Meer, für immer gefangen. Esther hatte nicht gewusst, wie sie anders auf diese Skulptur reagieren sollte, bis sie älter war und Aura sie im Pick-up zu einer ihrer gemeinsamen Fahrstunden mitgenommen hatte.

»Ich weiß, wie die Skulptur dir Spaß machen könnte«, hatte Aura gesagt, als sie am Steuer saß.

Esther hatte den Kopf geschüttelt und finster dreingeblickt.

Auras Schultern schimmerten im Nachmittagslicht, als sie ihrer Schwester mit hochgezogener Augenbraue einen Seitenblick zuwarf. »Und was, wenn ich es mal ausprobiere? Jetzt gleich?«

Als sie an der Skulptur vorbeikamen, ließ Aura ihr Fenster herunter, streckte den Arm nach draußen und hielt ein imaginäres Schwert in die Höhe. »Schwestern der Robben- und Schwanenhäute! Séala und Eala!«, jauchzte sie. »Erhebt eure Schwerter und eure Stimmen!« Der Wind hatte Auras schallendes Gelächter mit sich fortgetragen. »Komm schon, Sternchen, du bist dran!«

Esther umklammerte das Lenkrad fester. Sie saß jetzt da, wo einst ihre Schwester gesessen hatte. Hatte die Hände da, wo die ihrer Schwester gewesen waren. Im Rückspiegel wurde das Binalong-Bay-Mädchen immer kleiner.

Während die Landspitze und Salt Bay näher rückten, pochte es in Esthers Kopf. Der schreckliche Kater, mit dem sie am Morgen aufgewacht war und den sie mit Paracetamol bekämpft hatte, holte sie wieder ein. Sie war seit knapp sieben Stunden unterwegs, einschließlich der Pausen, die sie machen musste, wenn sie die Übelkeit nicht länger unterdrücken konnte. Sosehr sie diese Fahrt endlich hinter sich bringen wollte, so unangenehm stieß ihr doch jeder zurückgelegte Meter auf, der sie vom bevorstehenden Heimkommen trennte. Ihr Gesichtsfeld wurde an den Rändern unscharf, vor Müdigkeit sah sie dunkle Flecken, und die Angst trübte ihren Blick. Flüchtig sah sie zu den Taschen im Fußraum der Beifahrerseite, versuchte sich daran zu erinnern, in welcher die Papiertüte mit den bunten Lollis steckte, die sie bei ihrem letzten Tankstopp mitgenommen hatte. Ein Zuckerkick würde ihr helfen durchzuhalten. Sie nahm den Fuß vom Gas, sah einen winzigen Moment lang nicht auf die Straße.

Dann passierte alles gleichzeitig.

Etwas knallte gegen die Windschutzscheibe, die zwar zersprang, aber nicht herausfiel. Esther stieß einen entsetzten Schrei aus. Durch den heftigen Aufprall zuckte sie zusammen und kam von der Straße ab, trat auf die Bremse und schlingerte über den Kies. Ein widerlicher Geruch nach Gummi und Verbranntem stieg auf.

In einer Wolke aus Staub und Kies kam Esther schließlich zum Stehen. Ihr Atem ging keuchend, ihr Herz pochte wie wild, und sie zitterte am ganzen Körper. Verwirrt und orientierungslos streckte sie die Hand zur Tür, stieg aus und stand dann auf wackeligen Beinen da. Ihr Verstand begriff nicht, was sie vor sich hatte: die kaputte Windschutzscheibe, die Kuhle im verknautschten Metall, wo noch vor wenigen Momenten die Motorhaube ihres Pick-ups gewesen war, als bestünde sie aus weichem Ton, der sich von sanften Fingerspitzen formen ließ. Sie starrte auf die demolierte Vorderseite ihres Pick-ups. Die Windschutzscheibe barst immer weiter, zersplitterte immer mehr, war aber noch immer nicht herausgesprungen. Mitten auf dem zerborstenen Glas lag eine entsetzlich reglose Trauerschwänin, blutüberströmt, ihr eleganter Hals leblos, schlaff.

Esther schrie erneut auf, presste die Handflächen an die Schläfen und versuchte sich zu orientieren. Allmählich erkannte sie die geschützte Gruppe von Blauen Eukalypten an der Landspitze, wo sie den Großteil ihrer Teenagerjahre verbracht hatte und mit Aura über die sieben silberfarbenen Felsen geklettert war, um in die versteckte Lagune zwischen ihnen einzutauchen. Der Parkplatz war leer. Esther war allein. Sie bemühte sich, ruhig nachzudenken und sich selbst klare Anweisungen zu geben: Schau nach, was mit der Schwänin ist. Ruf die Polizei. Rief man die Polizei, wenn eine Schwänin geradewegs vom Himmel auf einen Pick-up gefallen war? Und wenn man nicht die Polizei anrief, wenn rief man dann an? Aura. Unvermittelt kam ihr der Name ihrer Schwester in den Sinn, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Übelkeit und Galle stiegen in ihr auf. Sie streckte die Hand aus und stützte sich auf ihren Pick-up.

»Esther?«

Sie zuckte zusammen, als eine vertraute Stimme ihren Namen rief und ein Auto schlitternd auf dem Kies hinter ihr zum Stehen kam. Verwirrt blinzelte sie Tina Turner an, die mit wilder Mähne, in schwarzem Kunstleder, Netzstrumpfhose und lauter Blingbling aus dem Auto stieg.

»Esther?« Die Frau hielt Esther sanft an den Armen fest und musterte sie. Dann riss sie alarmiert die Augen auf. »Alles gut? Ja, alles gut.«

Ausdruckslos starrte Esther die Frau unter dem Make-up und der Perücke an.

»Ich habe kylarunya fallen sehen. Ich habe gesehen, wie es passiert ist«, sagte die Frau und deutete zur herabgestürzten Trauerschwänin auf Esthers Pick-up und dann zu ihrem eigenen Auto. Der Motor lief noch, und die Wagentür stand offen.

Unter der toupierten, karamellfarbenen Perücke, dem knallblauen Lidschatten, dem pinkfarbenen Blush und dem korallenroten Lippenstift erkannte Esther auf einmal Auras beste und älteste Freundin.

»Nin?«, sagte sie völlig entgeistert.

»Alles ist gut, Sternchen.« Nins Stimme war ganz sanft. »Du stehst nur etwas unter Schock.«

Esther stieß ein röchelndes Geräusch aus, eine Mischung aus Stöhnen und Gelächter, Angst vermischt mit der Erleichterung über Nins tröstliche, vertraute Gegenwart.

»Komm her. Du bibberst ja wie eine Seeschnecke.« Nin rieb ihr über die Arme.

Erst jetzt wurde Esther bewusst, dass sie zitterte. Die Sonne war hinter dicken Wolken verschwunden, ließ das Meer nicht mehr türkis, sondern schiefergrau erscheinen. Der kalte Wind brannte in ihren Augen.

»Steig in mein Auto, ich schalte die Heizung ein.«

»Was ist mit …« Esther sah hinüber zur Schwänin, ertrug diesen reglosen Anblick jedoch kaum und schlang die Arme um sich.

»Ich sehe gleich nach, aber erst bringen wir dich ins Warme.« Nin packte Esther in ihr Auto und schaltete die Heizung ein. Rasch holte sie noch eine Decke vom Rücksitz und legte sie Esther um die Schultern. Danach machte sie die Tür zu, stöckelte in ihren roten Kunstlederpumps über den Kies zu Esthers Pick-up und nahm die Schwänin etwas genauer in Augenschein.

Esther sah ihr nach, blinzelte heftig gegen die aufsteigenden Tränen an und gegen den Schock darüber, wie gut es sich anfühlte, von Nins sanftem Blick und ihren starken Händen festgehalten und von ihren kräftigen Schultern gestützt zu werden. Genau so war sie aufgewachsen, wohlbehalten zwischen Nin und Aura, ein Welpe, der sich seines Platzes in der Welt sicher war. Eine Zeit lang.

Esther tastete ihre Stirn ab und stöhnte auf, als sie eine schmerzende Beule berührte. Dann schloss sie die Augen und lehnte den Kopf nach hinten. Sie erinnerte sich daran, wie sie Nin und Aura beobachtet hatte, am Strand, mit ineinander verschränkten Armen, um den Hals Ketten aus schillernden Muscheln. Esther war ihnen nachgelaufen, immer einen oder zwei Schritte hinterher. Wartet auf mich. Wartet auf mich.

»Das muss dich total erschreckt haben«, sagte Nin, als sie die Fahrertür wieder öffnete und sich auf den Sitz fallen ließ. Der Wind stieß die Tür hinter ihr zu.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, murmelte Esther. »Ich bin gefahren, und dann hat es sich angefühlt, als wäre eine Bombe explodiert, und dann bin ich nicht mehr gefahren. Dann stand ich da, mit meinem demolierten Pick-up und einer Trauerschwänin auf der Windschutzscheibe.« Als Esther sich das sagen hörte, sah sie zu Nin, deren mitfühlender Blick auf ihr ruhte. Ein Schluchzer stieg in ihrer Kehle auf. »Ich habe eine Schwänin umgebracht«, presste Esther hervor.

»Das hat nichts zu bedeuten, das war nur ein dummer Zufall.« Der Kunstlederrock quietschte, als Nin sich zu ihr drehte und Esthers Hand drückte.

Esther sah Nin mit zusammengekniffenen Augen an. »Du hast noch nie geglaubt, dass etwas bedeutungslos ist oder einfach nur ein dummer Zufall sein könnte.«

»Wir müssen jetzt nicht darüber diskutieren, wie das alles zu interpretieren sein könnte, okay? Nicht bei all dem, womit du dich sonst gerade herumschlagen musst.«

Nins Worte waren wie eine kalte Dusche für Esther. Ihr fiel wieder ein, weshalb sie hier war. Was vor ihr lag. Sie betrachtete Nins Tina-Turner-Kostüm, dann wurde ihr klar, wohin Nin unterwegs war.

»Du gehst da hin«, sagte sie ausdruckslos. »Zur Party.« Mit den Fingern malte Esther Anführungszeichen in die Luft. »Tina Turner.« Sie zeigte auf Nins Outfit. »Jetzt habe ich es verstanden.« Nin und Aura, wie sie den Gang des Muschelhauses hinunter- und zur Haustür hinausliefen, auf dem Weg zu ihrer ersten Mottoparty an der Highschool. Tina Turner und Cher, Hand in Hand.

»Mum ist schon da und hilft beim Vorbereiten. Ich habe ihr versprochen, früher zu kommen, um zu helfen.« Nin zupfte ihre Perücke zurecht. »Wir müssen dich zum Arzt bringen.«

»Mir geht’s gut.«

»Das war keine Frage.«

»Es geht mir aber gut«, versicherte Esther. »Es reicht schon, mit dem von heute Abend zurechtzukommen. Und jetzt …« Esther verstummte einen Moment.

»Ja, aber ich bin da, okay? Du musst da nicht allein durch«, sagte Nin.

Esther konnte nur nicken. Der Wind zog und zerrte an der Trauerschwänin. »Wir können sie nicht hierlassen«, sagte sie.

»Das werden wir auch nicht.« Nin legte einen Gang ein.

Panisch packte Esther sie am Arm und sah sie flehentlich an. »Nin. Eine Trauerschwänin ist gerade in meinen Pick-up geflogen. Am Nachmittag der Gedenkfeier für meine Schwester.« Esther schnappte nach Luft. »Ich packe das nicht.«

Nin legte eine Hand auf Esthers Brust, die andere auf ihre eigene und nahm tiefe, ruhige Atemzüge. Ein und wieder aus. Ein und wieder aus. »Ein Atemzug nach dem anderen.« Sie atmete synchron zu Esther, bis diese sich beruhigt hatte. »Einen Schritt nach dem anderen.« Nin legte die Hände wieder ans Lenkrad und fuhr zu Esthers Pick-up.

Esther kämpfte gegen den Drang an, sich zu Nin zu beugen und sie zu umarmen, sich für ihr Wegbleiben zu entschuldigen, Nin zu fragen, wie ihr Leben jetzt war und ob auch sie sich von diesem schwarzen Loch angezogen fühlte. Wie kam sie damit zurecht? Fertigte sie mit den Frauen ihrer Familie immer noch Ketten aus opalfarbenen Muscheln? Mit den gleichen Frauen, die Esther und Aura einst beigebracht hatten, dass sie Schwäne anrufen und mit Robben singen konnten?

Doch alles, was Esther herausbrachte, war: »Danke.«

Nin ließ den Motor laufen, während sie Esthers Sachen aus dem Pick-up holte und einhändig zu ihrem Auto trug, weil sie ihre Perücke wegen des starken Windes mit der anderen festhalten musste. Nachdem sie die Tür zur Rückbank aufgemacht und die Taschen dort abgestellt hatte, reichte Esther ihr die Decke, die von ihrem Körper ganz warm war.

»Aber Sternchen«, wehrte Nin ab.

Esther drängte sie erneut, die Decke zu nehmen. Als Nin damit zurück zum Pick-up lief, wandte Esther den Blick ab. Sie schalt sich für ihre Feigheit. Einen Moment später spürte sie das Gewicht, als Nin die Schwänin in den Kofferraum legte.

»Ist das alles?«, fragte Nin, nachdem sie wieder eingestiegen war. Esther ging ihre Taschen auf dem Rücksitz durch und nickte. »Um deinen Pick-up kümmern wir uns morgen. Solange kann er hier bleiben. Und jetzt«, sagte Nin und löste die Handbremse, »fahren wir dich zum Arzt.«

»Jetzt hat keine Praxis mehr auf«, warf Esther mit pochenden Schläfen ein.

»Du weißt, dass ich dich nicht in eine Praxis bringe.« Nin fuhr zurück auf die Küstenstraße und dann weiter.

Esthers Bauch grummelte vor Nervosität.

Nin sah sie von der Seite an. »Die Schwänin ist kein Zeichen«, sagte sie sanft. »Mach es dir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.«

Kapitel 2

Fast die ganze Fahrt über hatte Esther die Augen geschlossen, linste nur hin und wieder nach draußen, um einen flüchtigen Blick auf den Sonnenuntergang zu erhaschen, der sich im gräulich schimmernden Meer spiegelte.

»Wir sind da«, sagte Nin.

Widerstrebend sah Esther über die geschotterte Auffahrt und den Rasen zum Haus ihrer Eltern, dem Haus mit der austernweißen und grauen Fassade, in dem sie und Aura aufgewachsen waren. Rauch stieg aus dem Kamin empor. Im schwachen Licht schimmerten die Fenster perlmuttfarben. Ein Jahr, das sich anfühlte wie zehn, war es her, dass sie weggegangen war. In ihrem Kopf hatte ein einziges Durcheinander geherrscht bei der Vorstellung, jemals wieder zurückzukommen, ein verdrießliches, erwartungsvolles Flirren. Doch jetzt gerade war alles ganz ruhig und einfach. Nach Hause kommen. An den Ort, der sie gemacht hatte. Zum Muschelhaus.

»Es ist noch genau wie früher«, murmelte Esther.

»Und doch ganz anders«, sagte Nin.

Esther nickte. Nichts war mehr wie früher.

Die mit Vorhängen versehenen Fenster waren alle dunkel, mit Ausnahme des Praxisraums ihres Vaters, wo schwaches Licht brannte. Ein Winternachmittag im Haus, an dem die kahlen Finger des Selkie-Baumes gegen das Fenster klopften. Die Stimme ihres Vaters. Ein schwarzes Loch ist eine Stelle im Weltall, an der die Schwerkraft so stark ist, dass nichts, nicht einmal das Licht, ihr entkommen kann, Sternchen.

»Ich kann so nicht zu ihnen reingehen.« Mit den Fingerspitzen fuhr Esther über ihre angeschwollene Stirn. »Ich will kein Theater.«

»Das trifft sich gut«, sagte Nin.

Fragend sah Esther sie an.

»Freya hat einen Termin in ihrem Studio und überzieht wieder mal, und einer von Jacks Klienten hatte am Nachmittag eine Panikattacke und brauchte eine Notfallsitzung bei sich zu Hause.« Nins Stimme war sanft und sachlich. »Deshalb ist Mum früh hergekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen, damit alles fertig ist, wenn sie so weit sind. Deshalb war auch ich so früh hierher unterwegs.«

Esther senkte den Blick. Trotz ihres Widerwillens, nach Hause zu kommen, hatte sie sich diesen Moment nicht ohne ihre Eltern vorgestellt. »Genau wie früher«, flüsterte sie.

»Komm schon, Sternchen«, sagte Nin und machte die Tür auf. »Ein Schritt nach dem anderen.«

»Kannst du den Kofferraum aufmachen?«, fragte Esther.

»Was?«

»Ich lasse sie nicht im Kofferraum. Im Dunkeln.«

»Sternchen …«

»Scheiße, Mann«, platzte es aus Esther heraus. »Entschuldige. Mach einfach den Kofferraum auf, Nin, bitte.«

Ergeben hielt Nin eine Hand hoch und betätigte mit der anderen den Hebel neben ihrem Sitz. Esther ignorierte die Sorge, die sich auf Nins Gesicht abzeichnete.

Sie stiegen aus, holten Esthers Taschen vom Rücksitz und gingen dann zum Kofferraum. Nin streckte die Hände nach der Schwänin aus, die noch immer in die Decke eingewickelt war, aber Esther kam ihr zuvor. Sie schob die Hände unter das Tier und hob es hoch, spürte die Last seines Totgewichts in ihren Armen. Fedrige Weichheit, Knochen und Kanten. Sie fragte sich, was Nin wohl mit dem Hals angestellt hatte, und befürchtete grundlos, sie könne dem Tier wehtun.

»Zum Wäscheraum?«, fragte Nin. Wohl um zu vermeiden, dass sie an Freyas Tattoo-Studio vorbeimussten, mutmaßte Esther. Sie nickte und folgte ihr mit der Schwänin in den Armen.

Sie liefen an der vorderen Veranda vorbei, dann am Haus entlang. Esther zitterte unter dem Gewicht der Schwänin und unter der Last der Erinnerung an ein Leben, das nicht länger im Inneren des Hauses auf sie wartete: Aura, wie sie den Gang heruntergesaust kam. Sternchen, bist du das?

Sie presste die Kiefer aufeinander. Atmete tief durch. »Alles ist gut.« Nin hielt ihr die Tür zum Wäscheraum auf.

Esther blieb kurz stehen. Verteilte das Gewicht der Schwänin gleichmäßig auf ihren schmerzenden Armen und trat ein.

 

Ein Jahr zuvor. Esther sitzt an einem Herbstnachmittag im Wohnzimmer des Muschelhauses, die Nägel bis aufs Blut heruntergekaut. Sie wartet. Unabhängig voneinander hat sie ihre Eltern um die Familiensitzung gebeten, da sie sich, nachdem die Suche eingestellt worden war, nicht mehr zu dritt in einem Raum aufgehalten haben. Seit der Termin für ihre Sitzung steht, versucht Esther, all ihren Mut zusammenzunehmen, um ihnen davon zu erzählen. Von der Nachricht.

Der Psychologe, ein Kollege von Jack, sitzt bei ihr. Er ist von Anfang an sehr höflich, zeichnet sich durch einen entspannten Gesichtsausdruck aus. Auf dem Couchtisch werden die vier Tassen Tee kalt, die Esther für alle aufgegossen hat, und der Teller mit den Kingston-Cream-Keksen steht noch unberührt da. Zur vollen Stunde tickt und ruckelt die Küchenuhr weiter. Goldenes Licht streift über die Wände. Esther entschuldigt sich, sagt, dass sie auf die Toilette muss, holt die bereits gepackten Taschen unter dem Bett hervor und geht durch die Seitentür zu ihrem Pick-up, ohne sich ein einziges Mal umzuschauen.

 

Nin öffnete die Tür zu Esthers altem Zimmer.

»Ich hole Mum«, sagte sie und ließ Esther allein. »Mum? Bist du da?« Nin ging den Gang hinunter.

Überwältigt sah Esther sich in ihrem Zimmer um. Hier herrschte noch dasselbe Chaos wie damals, als sie weggegangen war. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte, vielleicht, dass ihr Vater es als neuen Therapieraum nutzte oder dass es zu einem Vorratsraum für die Tattoo-Farben ihrer Mutter geworden war. Doch ihr Zimmer war auf unheimliche Weise unberührt. Noch immer quoll Kleidung aus den offen stehenden Türen des Schranks, aus dem sie irgendwelche sauberen Sachen herausgerissen und in ihre Tasche gestopft hatte. Ihre Lichterkette mit den Planeten. Die Maria-Mitchell-Poster an den Wänden. Ihr Bücherregal, übervoll mit alten naturwissenschaftlichen Schulbüchern, und in den Schubladen ihres Schreibtisches die unvollständig ausgefüllten Bewerbungen für einen Studiengang in Astronomie. Auf ihrem Schreibtisch der Stapel leerer Tagebücher, die sie mit Anfang zwanzig immer wieder von Jack geschenkt bekommen hatte – das war ein regelrechter Tick von ihm gewesen –, gefüllt mit ungeschriebenen Träumen. Dann sah sie es. Auf dem Fenstersims. Das Veilchen im Topf, das sie als »Willkommen zurück von Dänemark«-Geschenk für Aura gekauft hatte. Es gedieh prächtig, war gepflegt.

Durch das Gewicht der Schwänin, die sie noch immer festhielt, zitterten ihre Beine. Sie sah sich um, überlegte, welche Möglichkeiten sie hatte. Unter dem Bett war Platz. Sie kauerte sich hin, legte die tote Schwänin auf den Boden und schob sie vorsichtig unters Bett, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann setzte sie sich und schüttelte die Arme aus. In der Stille bemerkte sie zum ersten Mal, dass ihr Zimmer mit kleinen leuchtenden Quadraten erfüllt war, die sich über die Wände und den Boden ergossen. Esther betrachtete sie einen Moment lang, dann stand sie auf und folgte ihnen zum Fenster.

Der Wind hatte nachgelassen, der Garten lag still und strahlend da, verwandelt in ein neonbeleuchtetes Wunderland. Dort war ein Partyzelt aufgestellt worden, in dem sich langsam eine Discokugel drehte und ihr glitzerndes Licht über ein großes Foto von Aura warf, das auf einer Staffelei stand. Esther starrte ins Gesicht ihrer Schwester. Ihr Puls pochte unter der dicker werdenden Beule an ihrer Stirn.

»Wie geht’s ihr?«

Esther spitzte die Ohren, als Nin und Queenie näher kamen, tief in eine Unterhaltung versunken.

»Vielleicht steht sie unter Schock? Ganz schön heftig, die Beule an ihrer Stirn. Sie wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus.«

»Ya, Sternchen? Nina nayri?«

Esther drehte sich um, als Evonne Goolagong mit einer Arzttasche in der Hand ihr Zimmer betrat. Ein von Hand gezeichneter Tennisschläger aus Karton war vorne auf ihr legendäres weißes Tennisoutfit mit dem blauen Blümchenrand geheftet, und eine übergroße Replik der Trophäe vom Wimbledon-Turnier des Fraueneinzels von 1980 befand sich auf ihrem Rücken. Queenie war tennisverrückt, solange Esther denken konnte. Häufig machte sie Witze, dass das Anschauen der Wiederholungen von Evonnes Spielen im Fernsehen ihr das Leben gerettet habe – was hatte die Chemo schon damit zu tun? Sie betrachtete Esther jetzt mit demselben Ausdruck, den sie immer dann aufgesetzt hatte, wenn die Mädchen voller Salz, Algenarmbändern und Banksiablätter-Halsketten durch die Tür getrampelt kamen, die Taschen gefüllt mit Eukalyptusfrüchten, Strandglas und Muscheln. Eine Mischung aus Argwohn und Zärtlichkeit.

»Hallo, Queenie«, sagte Esther. »Mir geht’s gut.«

»Was bin ich froh, dass ich die hier nicht zu Hause gelassen habe.« Queenie stellte ihre Arzttasche ab. »Was ist passiert?« Mit gerunzelter Stirn musterte sie Esther.

Nin erzählte Queenie, wie sie hinter Esther hergefahren war und den Unfall mitangesehen hatte und dass sie Esther hinter der nächsten Kurve verletzt und verwirrt vorgefunden hatte. Der Blick, den Queenie und Nin bei der Erwähnung der toten Trauerschwänin tauschten, entging Esther nicht. Eala, so hatten Zeugen der Polizei mitgeteilt, sei der Ausdruck gewesen, den Aura bei der Sternguckerhütte in Richtung Meer gerufen habe. Eala. Eala.

Alles hier war von einer nicht zu greifenden, absurden Beschaffenheit. Esther hätte sich selbst gern wachgerüttelt, wäre gern wieder zurück in ihrem Mitarbeiterhaus an der Westküste, umgeben von den alten Baumfarnen und den Prachtstaffelschwänzen, die auf ihrer Veranda zwischen den gesammelten Muscheln und Flusssteinen herumtrillerten. Wo ihre Vergangenheit nicht in den Himmel, das Meer und das Land eingeschrieben war.

»Ninny, ich wollte mir gerade eine Tasse Tee machen, während der französische Zwiebeldip durchzieht. Würdest du das bitte für mich machen, Schätzchen?«

Nin verließ das Zimmer, und wenig später hörte Esther das Knarzen der Rohre in der Küche, als Nin den Teekessel füllte. Das Quietschen des Geschirrschranks beim Öffnen der Türen. Das Klappern von Tassen und Untertassen.

Queenie holte die Taschenlampe und das Stethoskop aus ihrer Arzttasche und bedeutete Esther, sich zu ihr zu drehen.

»Ich untersuche dich, um herauszufinden, ob du eine Gehirnerschütterung hast. Erzähl mir, wie und woher du diese Verletzung hast.«

»Ich bin gefahren … nach Hause gefahren.« Esther stolperte über ihre Worte. »Und dann ist es einfach passiert. Also ich meine, ganz ohne Vorwarnung ist einfach was auf meinen Pick-up geknallt, regelrecht in ihn hineingekracht. Es hat sich angehört, als würde eine Bombe explodieren, und ich habe versucht zu bremsen, hatte aber das Gefühl, als würde ich einfach von der Straße abkommen und in das Wäldchen bei den sieben Felsen fahren. Ich kann mich nicht daran erinnern, mir den Kopf angeschlagen zu haben. Ich bin ausgestiegen und habe die Schwänin gesehen. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist Nin, wie sie meinen Namen rief.«

Queenie leuchtete ihr mit der Lampe zwischen die Augen. »Schwindel? Übelkeit?«

»Nein.«

»Plötzliche Müdigkeit?«

»Nein.«

»Stimmungsschwankungen?«

»Ich würde sagen, meine Stimmung passt ganz gut dazu, dass ich am Tag der Gedenkfeier für meine Schwester eine Trauerschwänin getötet habe.«

Queenie unterdrückte ein trauriges Lächeln. »Schön zu sehen, dass dein Sinn für Humor noch intakt ist.« Sie nahm das Stethoskop, das sie um den Hals trug, und stellte sich hinter Esther, die sich aufrecht hinsetzte, damit Queenie sie abhören konnte. »Sag mir deinen vollen Namen.«

»Esther Svane Wilding.«

»Wo bist du, und warum bist du hier?«

»Ich bin zu Hause, im Muschelhaus, in Salt Bay, Lutruwita, und werde gerade von Dr. Queenie Robertson auf eine Gehirnerschütterung hin untersucht.«

»Und warum bist du in Salt Bay?« Queenie nahm vor Esther Platz.

»Gehört das immer noch zur Untersuchung wegen der Gehirnerschütterung?«

Abwartend saß Queenie da.

Esther seufzte. »Weil meine Schwester vor zwölf Monaten verschwunden ist und meine Eltern beschlossen haben, dass es an der Zeit ist, eine Beerdigung, Gedenkfeier oder was auch immer für Aura abzuhalten. Mit den Achtzigerjahren als Motto, weil das Auras Lieblingsding war.« Esthers Stimme wurde brüchig.

»Koordination und Reflexe sind okay. Erinnerung und Konzentrationsvermögen scheinen auch gut zu sein.« Queenie griff nach Esthers Hand. »Du hast das Richtige gemacht, du bist nach Hause gekommen.« Sie rieb mit dem Daumen über Esthers Knöchel. »Für uns alle ist es gut, dich wiederzusehen.« Queenie nickte in Richtung Küche, in der man Nin rumoren hörte.

Esther drückte Queenies Hand.

»Und kylarunya ist einfach so in deine Windschutzscheibe geflogen?« Queenie erhob sich und räumte das Stethoskop und die Taschenlampe weg.

Esther zuckte mit den Schultern. »Das ging alles ganz schnell. Es klingt dämlich, aber sie schien geradewegs vom Himmel zu fallen.«

»Das klingt kein bisschen dämlich. Die Kommune versucht mit neuen Maßnahmen, die Trauerschwäne wieder auszuwildern, indem sie das Füttern verbietet. Während der letzten Wochen sind einige Tiere hier tot aufgefunden worden. Das kam sogar in den Nachrichten. Es ist gut möglich, dass deine Schwänin verhungert und tatsächlich erschöpft vom Himmel gestürzt ist.« Queenie schüttelte den Kopf. »Sie lassen unsere Ahnen verhungern.«

Esther verzog das Gesicht bei der Vorstellung, wie dieser majestätische Vogel, einer von Nins und Queenies Ahnen, aufgab, mitten im Flug, und in den Tod stürzte.

»Ich werde sie begraben«, sagte sie leise, auch wenn Queenie sie nicht gehört zu haben schien, da ihre Aufmerksamkeit Nin galt, die mit drei Tassen Tee ins Zimmer kam.

»Der französische Zwiebeldip ist fertig, Mum. Ich habe mit den Käse-Wurst-Crackern angefangen. Der Meeresfrüchte-Cocktail im Kühlschrank sieht toll aus. Außerdem habe ich einen Blick auf die Schinken-Ananas-Pizzen und die Miniwürstchen in Blätterteig im Ofen geworfen, die sind auch fast fertig.«

»Danke, Ninny. Könntest du mir noch beim Feenbrot helfen? Das macht am meisten Arbeit, davon muss ich nämlich ein Dutzend Tabletts herrichten.«

»Ich kann helfen«, bot Esther an.

Queenie streckte eine Hand aus und strich Esther über die Schulter. »Wieso ruhst du dich nicht ein bisschen aus? Wir behalten deine Schwellung heute Abend im Auge. Du gibst mir sofort Bescheid, wenn dir schwindlig oder übel wird. Aber bis dahin kümmern Nin und ich uns um das Essen. Trink deinen Tee. Und nimm eine warme Dusche. Ich habe deine Alkoholfahne schon im Gang gerochen. Also hältst du dich heute Abend besser vom Alkohol fern, ja?«

Esthers Gesicht brannte. Nin und Queenie wandten sich zum Gehen. »Kann ich euch noch um was bitten?«, fragte Esther hastig.

Sie drehten sich um.

»Sagt Mom und Dad nichts davon, okay? Ich möchte nicht, dass sie sich heute Abend deswegen Sorgen machen.«

Queenie und Nin nickten.

»Ich helfe dir nach dem Duschen, dich fertig zu machen«, bot Nin ihr noch an, ehe sie Queenie folgte und die Tür hinter sich schloss.

Esther ließ sich schwer auf das Bett fallen und presste die Fingerspitzen auf ihre geschlossenen Lider, um das Bild der Schwänin wegzudrücken, die eingepackt in der Dunkelheit unter ihrem Bett lag. Wir können ins Meer eintauchen und zwischen dem Darüber und dem Darunter schweben, Sternchen. Genau dann ist der Schleier zwischen den Welten durchlässig, und alles, wovon du träumst, ist möglich.

Etwa zu dieser Zeit vor vier Jahren war Aura wenige Monate vor ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag mit Ziel Kopenhagen von Salt Bay abgereist, ganz aufgeregt darüber, in Dänemark zu studieren und einen Master in Geisteswissenschaften mit dem Schwerpunkt in skandinavischen Mythen und Märchen zu machen. Aura hatte Salt Bay und Esther hinter sich gelassen. Je länger sie weg war, desto seltener wurden ihre E-Mails, Nachrichten und Anrufe. Als sie dann unvermittelt zurückkam, drei Jahre nachdem sie gegangen war, war Aura nicht mehr dieselbe gewesen. Eingefallen, leer, verschlossen. Irgendwo zwischen den Inseln, dem Darüber und dem Darunter, war Esthers verträumte, wunderschöne Schwester vom Weg abgekommen.

Esther zog die Knie an die Brust und machte sich ganz klein. Dann öffnete sie die Augen und sah zu, wie das Funkeln der Discokugel durchs Zimmer glitt.

Kapitel 3

Das Stimmengewirr lockte Esther zum Fenster, von wo aus sie beobachtete, wie die Leute langsam eintrafen und sich im Garten verteilten. Entlang der Straße abgestellte Autos, so weit das Auge reichte.

Sie wandte sich vom Fenster ab, nahm einen tiefen Atemzug, durchquerte ihr Zimmer und sah erneut zu dem in die Decke eingewickelten Haufen unter ihrem Bett. Schloss die Augen angesichts der aufsteigenden Vision dieser schwarzen Flügel, die leblos vom Himmel fielen. Und fielen.

Esther betrachtete sich im Spiegel, musterte ihr Erscheinungsbild. Schwarze Jeans, Stiefel, Pulli. Sollte jemand sie fragen, würde sie einen Witz über die Addams Familie oder Ähnliches machen. Nach Hause zu kommen hatte sie bereits alle Kraft gekostet. Außerdem hatte sie sehr wohl einen ganzen Abend vor dem Computer verbracht, eine Flasche Wodka in der Hand, und das Internet nach Ideen abgesucht. Doch der Anblick von Stulpen und Lockenwicklern, von Netzstrümpfen und Glitzer hatte eine so starke Panik in ihr aufsteigen lassen, dass sie eine halbe Flasche Smirnoff gebraucht hatte, um die Erinnerung zu vertreiben, wie sie als Zwölfjährige die fünfzehnjährige Aura betrachtet hatte, während diese sich für ihre erste Schulparty zurechtmachte. Aura und Nin gingen damals in die zehnte Klasse und waren auf eine Party aus der zwölften Klasse eingeladen. Aura hatte drei verschiedene Cher-Kostüme ausprobiert, ehe Freya und Jack mit einem einverstanden waren, in dem sie das Haus verlassen durfte.

Vor dem Spiegel betrachtete Esther ihr Gesicht aus verschiedenen Winkeln. Zupfte unsichtbare Fusseln von ihrer schwarzen Kleidung. Es hatte ein paar Versuche gebraucht, aber schließlich war es ihr doch gelungen, die Beule an ihrer Stirn mit Make-up zu kaschieren. Wenn sie nicht direkt im Licht stand, würden ihre zur Seite gescheitelten Haare und die Dunkelheit ihr lädiertes Gesicht verbergen.

Ein leises Klopfen an ihrer Tür.

»Ja?«

»Wie geht’s dir?« Nin kam ins Zimmer, blieb dann aber stehen. Eine Wolke von duftendem Haarspray umgab sie. Ihre Perücke war frisch toupiert, das Make-up aufgefrischt, überall strahlendes Blau und korallenroter Glitzer, aber sie wirkte perplex. »Wie siehst du denn aus? Warum trägst du kein Kostüm?«

Esther zog die Ärmel über die Hände nach unten. Ihre vorherige Selbstsicherheit, als Morticia oder Wednesday durchzugehen, hielt Nins kritischem Blick nicht stand. »Es gibt nicht gerade viele Kostümläden an der Westküste«, sagte Esther. Sie versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen, war innerlich jedoch erschüttert darüber, wie schwach sie klang.

»Verdammt«, flüsterte Nin.

»Ich konnte einfach nicht …«

»Sternchen, hör zu.« Nin atmete tief durch, ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Ich weiß, dass das für dich nicht einfach ist. Aber das gilt heute Abend für alle, die hier sind. Du warst weg. Und du hattest deine Gründe, weshalb du gegangen bist. Aber für alle hier, die nicht jedem Ort oder Teil ihrer selbst entrinnen konnten, die Aura zurückgelassen hatte …« Nins Stimme brach. Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte. Tränen rannen über ihre Schläfen, dünne, blau glitzernde Rinnsale, die im Haaransatz der Perücke verschwanden.

Esther hätte sie gern getröstet, war jedoch so erschrocken über Nins Tränen, dass sie wie erstarrt dastand und nicht wusste, was sie tun sollte.

Nin tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab und fuhr dann fort: »Damit will ich sagen, dass keiner da draußen heute Abend hergekommen ist, ohne sich zu verkleiden – obwohl es niemandem leichtfällt, das kann ich dir garantieren. Also lass in Zeiten dieses berühmt-berüchtigten Dings namens Internetshopping keinen außer mir hören, welche Entschuldigung du dafür hast, wie du auf der Gedenkfeier für deine Schwester auftauchen wolltest.«

Alles, was Esther sagen wollte, blieb ihr im Hals stecken. Sterne der Discokugel tanzten über ihre Körper und zwischen ihnen herum. Die gedämpften Unterhaltungen derjenigen, die sich draußen im Garten versammelt hatten, drangen zu ihnen hinauf. Ab und an war Queenies Stimme zu hören, wenn sie jemanden begrüßte.

Nin ging zum Fenster. Esther stellte sich neben sie. Sie hatte herauszufinden versucht, ob sie die Stimmen ihrer Eltern heraushörte, aber die waren noch nicht unter den Gästen. Vom angestrahlten Foto auf der Staffelei lächelte Aura ihr zu. Es war an dem Morgen entstanden, ehe sie alle zum Flughafen gefahren waren. Für Auras lange Reise, die sie schließlich nach Kopenhagen geführt hatte. Sie zum Abschied zu umarmen hatte sich angefühlt, als würde Esther Wasser durch die Finger rinnen lassen.

Plötzlich bemerkte Esther, dass Nin nicht mehr neben ihr stand, sondern im Halbkreis um sie herumlief und sie aus verschiedenen Winkeln betrachtete. Dann blieb sie direkt vor ihr stehen und tippte sich mit einem rot lackierten Fingernagel ans Kinn.

»Was machst du da?«, fragte Esther.

»Herausfinden, womit ich hier arbeiten kann. Wie ich das hier …« Sie gestikulierte in Esthers Richtung. »… mit den Sachen kombinieren kann, die ich dir mitgebracht habe.« Sie zog das Handy aus ihrer Jeansjacke und fing an, darauf herumzutippen.

»Du hast ein Kostüm für mich dabei?« Esther spürte, wie ihre Brust eng wurde. Nin hatte gewusst, dass sie mit nichts als Ausreden nach Hause gekommen war. »Nin …« Esther startete einen neuen Versuch, um sich zu erklären.

»Sei still, Sternchen.« Mit gerunzelter Stirn wedelte Nin mit der Hand in der Luft herum. »Ich ertrinke gerade in Suchergebnissen für Kostüme weißes Mädchen Achtzigerjahre.«

 

Zwanzig Minuten später trug Esther noch immer ihre schwarzen Klamotten, hatte aber eine schmerzhafte, die Kopfhaut malträtierende Prozedur des Kreppens und Toupierens ihrer Haare über sich ergehen lassen, bis diese zu einem Büschel flauschiger Locken geworden waren. Sie trug einen schwarzen Sonnenschild, unter dem Nin ihre Haare herausgezogen und auf ihrem Kopf aufgetürmt hatte, wo sie von einer ganzen Dose Haarspray und unzähligen Haarklammern an Ort und Stelle gehalten wurden. Esther erhaschte einen Blick auf ihr inzwischen einen Kopf größeres Spiegelbild. Sie stöhnte auf.

»Ich will nichts hören«, ermahnte Nin von hinten, die noch immer Locken herauszog und in Form brachte. »Schau mich an. Und halte mein Handy hoch, damit ich das Foto sehen kann.«

Esther tat wie geheißen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Nin das Foto auf dem Display, dann drehte sie sich um und durchwühlte ihre Tasche, bis sie zwei identische Broschen fand. Sie klippte sie an Esthers schwarzes Oberteil, oberhalb des Herzens. Griff wieder in ihre Tasche. Zog den Deckel von einem pinkfarbenen Lippenstift.

»Nein.« Widerspenstig presste Esther die Lippen zusammen.

Nin wartete. Und wartete.

Esther rollte mit den Augen und schnaufte schließlich ergeben.

Nin schminkte Esther, dann trat sie etwas zurück und legte den Kopf schief.

»Ich glaube, wir haben es geschafft.« Sie musterte Esther mit einem prüfenden Blick. »Jetzt darfst du dich ansehen.«

Esther drehte sich zum Spiegel um und fand sich geradewegs auf dem Cover von Kylie Minogues Debütalbum von 1988 wieder. Als hätte sie den Kopf durch das Loch einer Comic-Fotowand gesteckt, die immer an Fasching aufgestellt wurden, und wäre auf der anderen Seite als die australische Pop-Prinzessin aufgetaucht. Sie und Aura waren Kinder gewesen, als »The Loco-Motion« herauskam. Sie waren durchs Muschelhaus getanzt und hatten den Song so lange gesungen, bis ihr Dad sie gebeten hatte, damit aufzuhören. Esther befühlte ihre mit Haarspray fixierten Locken, die kein bisschen nachgaben, und fuhr über ihre beiden identischen Sonnenbrillen-Broschen, die an ihrem Pulli festgesteckt waren.

Dann ging sie einen Schritt auf den Spiegel zu. »Ich sehe genauso aus wie sie«, sagte sie erstaunt.

»You should be so lucky«, trällerte Nin und zwinkerte ihr zu. Fast hätte Esther gelacht.

Ein lauter Schwall Musik unterbrach sie, das Ende von Bowies Song »Ashes to Ashes«. Nin und Esther stellten sich ans Fenster. Die Grüppchen machten Platz für jemanden, der durch die Menge lief und auf Auras Foto zuging. Bowie war fertig. Im Zelt wurde es still. Esthers Gesicht kribbelte, als sie die ersten leisen Takte von Fleetwood Mac’s »Everywhere« erkannte. Dann setzte das Schlagzeug ein.

 

Esther sitzt auf der Rückbank des alten Kingswood und hat die Arme schmollend verschränkt. Ungerechterweise hat Aura den Beifahrersitz für sich beansprucht, der bei längeren Fahrten wegen der Nähe zu Freya so begehrt ist. Sie sind auf dem Rückweg von Nipaluna/Hobart. Aura hat schon auf der Hinfahrt auf dem Beifahrersitz gesessen, also wäre Esther auf der Heimfahrt an der Reihe gewesen. Aber trotz Esthers Protest hat Freya es Aura durchgehen lassen. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb es keine lustige Fahrt ist: Freya hat den Job in einem Tattoo-Studio in der Stadt, wo sie zum Bewerbungsgespräch war, wieder einmal nicht bekommen. »Aber warum?«,hat Aura verärgert und mit zusammengeballten Fäusten vor dem Studio The Drunken Sailor gefragt und die Tätowierer im Inneren angestarrt. Freya hat die beiden Mädchen an den Händen geschnappt und zurück zum Kingswood geschleppt. »Weil diese Welt ein Jungsclub ist«, hat sie seufzend geantwortet. »Steigt ein, Mädchen. Wir holen uns Fish und Chips. Mit Chicken Salt.«Freya hat das Auto geöffnet, und Aura ist auf den Beifahrersitz gesprungen, ehe Esther die Gelegenheit dazu hatte. Sie hat geheult und sich beschwert, und Freya hat sie angebrüllt, was so selten vorkommt, dass es einem Stachel gleicht, der in Esthers Haut stecken bleibt.

Während der zweiten Stunde der schweigsamen Rückfahrt knistert das Radio und wechselt von Störgeräuschen zu einem Song, als sie wieder Empfang haben. Der letzte Hit von Freyas Lieblingsband erfüllt das Auto mit seinem Klingeln und seinem Schlagzeug. Freya dreht die Lautstärke hoch und legt den Kopf in die Nackenstütze, die Anspannung fällt sichtlich von ihren Schultern ab. Esther und Aura sagen nichts, sie haben schon als Kinder gelernt, wie sinnlos es ist, mit Freya reden zu wollen, wenn Fleetwood Mac läuft. Insbesondere dann, wenn Freya in ihrem Studio beim Zeichnen ist. Während die Musik anschwillt und den Kingswood erfüllt, sieht Aura zu Freya und über den Sitz nach hinten zu Esther, der sie ein kleines Lächeln schenkt. Esther schmollt gegen das Lächeln an, das in ihr aufsteigt, doch letztlich siegt die Freude, strahlend und leuchtend. Es ist wie Tauwetter. Knie hüpfen. Köpfe wippen. Und Freya singt, immer lauter, greift nach Auras Hand. Doch als dann der Refrain anfängt, sucht sie beim Singen im Rückspiegel nach Esthers Blick. Aura dreht den Lautstärkeregler bis zum Anschlag und singt mit Freya, dreht sich dabei zu ihrer kleinen Schwester um. Jahre später, als Esther sich zum ersten Mal betrinkt, erkennt sie das leichte, schwerelose Gefühl von jenem Nachmittag im Kingswood wieder, als Fleetwood Mac laut lief und sie von ihrer Mutter und ihrer großen Schwester angesungen und angeheult wurde, als wäre sie der Mond.

Im Zelt hatte jemand die Lautstärke aufgedreht. Eine Gestalt hob sich von der Menge ab, lief durch sie hindurch. Eine Gruppe, die neben Auras Foto stand, trat zur Seite, machte Platz. Esther erkannte sie aus den frühen Teenagerjahren, die sie im Tattoo-Studio ihrer Mutter verbracht hatte. Ein paar von ihnen hatte Freya tätowiert, anderen hatte sie das Tätowieren beigebracht. Ihre Gesichter waren von Kummer gezeichnet, aber sie breiteten die Arme aus, schafften Platz für die Person, die näher kam. Der Arm einer Frau, der in Frischhaltefolie eingewickelt war, spiegelte das Licht. Freya ist in ihrem Studio und überzieht mal wieder. Während Esther ans Fenster gepresst dastand und die Gäste beobachtete, rauschte der klingelnde Riff durch ihre Adern. Schmerzhaft pochte das Schlagzeug in ihrer Brust. Sie beobachtete. Wartete ab.

Im glänzenden Licht der Discokugel, das lange zottelig-blonde Haar offen über den Schultern und eingehüllt in ein mehrlagiges Seidenkleid, wiegte sich Freya Wilding auf das Foto ihrer verschwundenen Tochter zu. Sie hatte die Arme ausgestreckt und sang »Everywhere«.

Esther spürte, wie Nin ihre Hand ergriff. Ihr Gesicht verströmte, abgesehen von der Ähnlichkeit zu Tina Turner, eine gewisse Traurigkeit. Esther versuchte, sich aufzuraffen, obwohl sie zitterte. Sie folgte Nin aus ihrem Zimmer und durch den Gang mit den Familienfotos.

Hinaus aus dem Muschelhaus. Zu Auras letzter Party.

Kapitel 4

Das schwach beleuchtete Zelt hob sich vom Nachthimmel ab. An den tiefen Ästen der umstehenden Eukalyptusbäume hingen jede Menge Leuchtstäbe in Neonfarben – Pink, Grün, Orange und Gelb. Dazwischen waren Regenbogenspiralen befestigt. Luftschlangen wirbelten über das Gras, blieben an taubenetzten Halmen hängen. Überall im Garten baumelten übergroße, aufblasbare Achtzigerjahre-Symbole: ein Ghettoblaster, Discoroller, drei Schallplatten. Sie schaukelten im schwachen Wind, der den Duft von Freyas nachtblühenden Iris herbeiwehte, ein zarter Duft, den Esther einst geliebt hatte. Doch an diesem Abend ballte er sich zu einem widerlich süßen Klumpen in ihrem Rachen zusammen.

Esther schleppte sich hinter Nin her. Sie sah ihre Mutter nicht mehr, hatte ihren Dad noch nicht entdeckt. Die Musik war zu einem Hintergrundgeräusch verklungen. Esther hielt den Kopf gesenkt und war Nin auch hier dankbar, denn die Sonnenblende und das toupierte Haar verdeckten ihr Gesicht ausreichend, damit sie zu niemandem Blickkontakt herstellen musste. Damit sie nicht die kleine Schwester sein musste. Die überlebende Tochter.

Als sie näher kamen, wurden Esther und Nin von der allgemeinen Dynamik mitgezogen und ins Zelt getrieben. Esther hatte schweißnasse Hände. Sie drückte Nins Hand. Nin drückte ihre ebenfalls und ließ sie auch weiterhin nicht los.

Im Zelt hing ein Kronleuchter mit schwarzen Kassettenbändern über den Tischen, die mit lila leuchtendem Punsch, Etageren mit Feenbrot und dem Rest von Queenies Achtzigerjahre-Smörgåsbord beladen waren. Gegenüber war eine kleine Bühne aufgebaut, die nach einem DJ-Pult aussah, obwohl da niemand stand. Stattdessen leuchtete das Display eines Handys auf, das mit den Lautsprechern zu beiden Seiten der Bühne verbunden war. Eine Nebelmaschine stieß immer wieder fruchtig duftende Wolken aus, über denen die unablässig glitzernde Discokugel schwebte.

Auch hier lächelte Auras Foto Esther von einer Staffelei an. Sie starrte in das Gesicht ihrer Schwester, das vor vier Jahren in der Zeit festgehalten worden war. Der Moment nach dem Foto, die Hoffnung in Auras Augen, als sie Esther zum Abschied umarmte. Ich werde Agnete für dich finden, Sternchen. Das Versprechen, der Skulptur einen Besuch abzustatten, die in dem dänischen Märchen beschrieben wurde, mit dem sie aufgewachsen waren, und dann war Aura auch schon unterwegs zum Abfluggate für ihren Flug nach Kopenhagen. Beim nächsten Zusammentreffen, als Aura drei Jahre später ohne Vorankündigung von Dänemark zurückgekommen war, lag kein Funken Hoffnung mehr in ihrem Blick.

Esthers Blick schweifte über die Menge, durch das Zelt und hinaus zum Nachthimmel, suchte nach einer Konstellation, mit der sie sich verbinden konnte. Die fernen Sterne waren durch die Partybeleuchtung schwächer zu sehen als sonst.

Da brach die Musik ab. Alle verstummten.

Freya, ebenso strahlend wie ihre geliebte Stevie Nicks, löste sich aus der kollektiven Umarmung der tätowierten Frauen, unter denen auch Queenie war, und kam auf die Bühne. Einen Moment später folgte ihr Doc Brown in seinem Strahlenschutzanzug aus Zurück in die Zukunft.

Beim Anblick ihres Vaters füllten sich Esthers Augen mit Tränen. Eine Woge der Trauer und der Liebe erfasste sie angesichts seiner Kostümwahl. Freya räusperte sich. Esther wappnete sich für das, was kommen würde.

»Liebe Freunde«, sagte Freya mit lauter, klarer Stimme, »der heutige Abend hat lange auf sich warten lassen.«

Ein Murmeln der Anteilnahme ging durch die Menge.

»Ein Jahr ist es her, dass unser Kind, unsere älteste Tochter, Aurora Sæl Wilding, zuletzt gesehen wurde. Wie sie zum Meer ging.« Freya schluckte. »Wir alle wissen, wo wir an diesem Tag waren. Diese Frage wurde uns oft genug gestellt. Larry …« Freya nickte Larry Thompson in der Menge zu, dem örtlichen Polizeibeamten, der die Ermittlungen zu Auras Verschwinden geleitet hatte. Er hatte ihnen damals mitgeteilt, dass man Auras Kleidung und Schuhe am Strand gefunden hatte. Und später war er es, der ihnen erklärt hatte, dass die Suche eingestellt worden sei. Auras Fall wurde nicht weiterverfolgt, sondern dem Coroner übergeben, der ihn für abgeschlossen und die Verschwundene für tot erklärte. Larry musste ihrer aller Qual und Wut über die Unklarheit, über das Ausbleiben von Antworten über sich ergehen lassen. Der Sergeant fing Freyas Blick auf und nickte ihr ebenfalls zu. Sein betrübter Gesichtsausdruck bildete einen heftigen Kontrast zu seiner Knight-Rider-Tolle und der schwarzen Lederjacke.

Freya hielt seinen Blick noch einen Moment lang fest, ehe sie sich wieder den anderen Gästen zuwandte. Esther hielt die Luft an, erwartete, von ihrer Mutter erkannt zu werden. Aber Freyas Blick war nicht fokussiert, sondern verlor sich in Erinnerungen.

»Als sie noch ein Baby war und ich ihr beibrachte, ihren Namen zu sagen, beschloss sie irgendwann, dass Aurora zu schwer sei. Am Ende hat Aura uns darüber informiert, wie ihr Name lautete. Als hätten wir ihren Namen fast richtig hinbekommen, bräuchten aber ihre Hilfe, damit es ganz passte.«

Esther spürte, wie Nin neben ihr tief Luft holte. Freya machte eine Pause und sah hinüber zu Jack, dessen Gesicht von Schmerz gezeichnet war. Seine Augen wirkten durch die Doc-Brown-Brille viel größer.

»Wir wollten sie nach dem Licht benennen, das unsere Vorfahren über ihrer Insel im Norden tanzen sahen, und nach den Schwesterlichtern, die wir hier in unserem Zuhause im Süden sehen«, fuhr Freya fort. »Doch letztlich hat Aura sich selbst, ob nun wegen einer falschen Aussprache oder nicht, einen besseren Namen gegeben, als wir ihn ihr hätten geben können. Sie war nicht der Himmel. Sie war alles, was dazwischen lag. Wir können uns glücklich schätzen, sie dreißig wunderbare Jahre bei uns gehabt zu haben. Sie ist die Energie, die uns alle heute Abend hier umgibt. Seht uns nur an«, sagte Freya und beschrieb eine ausladende Geste, die alle verkleideten Gäste einschloss. »Nachdem wir sie verloren hatten …« Freya holte tief Atem. »Nachdem wir …«, setzte sie erneut an. »Dann seid ihr aufgetaucht. Ihr alle. Und habt uns geholfen, nach Aura zu suchen. Ihr habt versucht, sie zu finden. Mein Mädchen. Dafür danke ich euch. Dass ihr gekommen seid. Heute Abend. Das …« Ihre Stimme brach, und sie schüttelte den Kopf.

Die ersten Anrufe und Mails wegen der Gedenkfeier waren vor drei Monaten gekommen. Aber Esther hatte sich einfach nicht mit dieser Vorstellung anfreunden können, egal, wie sehr ihre Mutter über die Kraft des Trauerns sprach. Und auch dann nicht, als ihr Vater einmal am Telefon geweint und von ihrem uneindeutigen Verlust gesprochen hatte und darüber, wie wichtig es sei, ein Ritual zu haben, auch ohne Leiche. Bei diesem Satz hatte Esther schließlich völlig zugemacht, was eine Gedenkfeier anging. So konnte sie nicht über ihre Schwester denken. Irgendwann hatte Freya aufgehört, ihr E-Mails zu schicken, um ihr mitzuteilen, wie sie einen passenden Abend zu Auras Gedenken gestalten könnten, und Jack hatte aufgehört, ihr irgendwelche Nachrichten dazu auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Wochen waren vergangen. Eines Tages traf dann ein an Esther adressierter Umschlag in Calliope ein, der eine Einladung zu einer Zurück-in-die-Achtziger-Party enthielt:

Findet euch bitte bei uns im Muschelhaus ein, um die Gedenkfeier zu Ehren unserer Tochter Aura Wilding, die Achtzigerjahre-Verkleidungen geliebt hat, mit Freude zu erfüllen.

Dresscode: Verkleidet euch als eure Lieblingserinnerung, die ihr mit Aura und den Achtzigern verbindet, oder als das, was euren persönlichen Lieblingsmoment in den Achtzigern darstellt.

Auf der Rückseite eine handschriftliche Notiz.

Wir lieben dich so sehr, Sternchen. In Liebe, Dad.

Sie war versucht gewesen, die Einladung zu zerreißen und in den Müll zu werfen, aber das brachte sie dann doch nicht über sich. Stattdessen klemmte sie die Einladung unter einen Kühlschrankmagneten, von wo sie sie verfolgte wie die Augen eines Gemäldes – bis zu diesem Morgen, als sie in aller Frühe aufgewacht war, sich krankgemeldet hatte und Richtung Osten losgefahren war.

»Wir wollen euch auf ganz verschiedenen Wegen dazu einladen, euch heute Abend an Aura zu erinnern und sie zu feiern.« Freyas Stimme klang wieder fester. »Sie hat den View-Master geliebt, und dank meiner Schwester Erin haben wir ein paar ganz besondere Scheiben mit Dias machen lassen, die ihr auf den Tischen da hinten findet.«

Bei der Erwähnung von Erin spähte Esther unter ihrer schwarzen Sonnenblende hervor, konnte das Gesicht ihrer geliebten Tante in der Menge aber nicht entdecken.

»Die Musik von heute Abend stammt von Auras Playlist, also tanzt bitte. Lasst uns heute Abend erfüllt von der Freude und Liebe zu unserem geliebten Mädchen feiern.« Freya hielt einen Moment inne. »Und dann haben wir, wie ihr beim Ankommen vielleicht gesehen habt, hinten im Garten, wo die Lichterkette in der Silberbirke hängt, einen kleinen Tisch mit einem Gedenkbuch aufgestellt. Schreibt hinein, was ihr aufschreiben und mit uns teilen wollt. Ohne euch wäre das alles gar nicht möglich. Danke, dass ihr euch heute in so ausgelassener Stimmung zu uns gesellt. Ein ganz besonderer Dank geht an Queenie für ihr beeindruckendes Achtzigerjahre-Büfett. Also bitte, esst, trinkt …«

Freyas Rede wurde mit lautem Applaus bedacht. Die Menge drängte nach vorn, umfing Freya und Jack, als sie von der Bühne kamen. Ein kurzes Störgeräusch ertönte aus den Lautsprechern, dann lief wieder Auras Achtzigerjahre-Playlist. The Church, »Almost With You«. Esther duckte sich weg, verließ den Platz an Nins Seite und verzog sich nach hinten ins Zelt. Dort schöpfte sie lilafarbenen Punsch in einen knallgelben Plastikbecher und kippte ihn hinunter, verzog das Gesicht angesichts des undefinierbaren Geschmacks, den er in ihrem Mund hinterließ. Dann schöpfte sie sich einen weiteren Becher voll, wappnete sich gegen die widerliche Süße und trank auch diesen Becher leer. Die Leute umarmten sich und unterhielten sich miteinander. Manche schafften etwas Raum und fingen an zu tanzen. Esther sah zu, wie sich Pärchen bildeten, und musterte eines davon: Auras Englischlehrer von der Highschool, Mr Verona, verkleidet als Madonna während ihrer Susan … verzweifelt gesucht-Netzstrumpf-Phase, hatte die Arme um seinen Mann Marco geschlungen, eine perfekte Kopie der leinenbekleideten und perlenbehangenen Rosanna Arquette als Roberta. Aura hatte die beiden sehr gemocht. Nach ihrem Highschool-Abschluss waren Mr Verona und Marco zum Abendessen ins Muschelhaus gekommen, um zu feiern, dass Aura einen Studienplatz an der Universität in Nipaluna/Hobart bekommen hatte. Wenn ich mit Mr Verona über Geschichten spreche, habe ich das Gefühl, dass noch immer alles möglich ist, hatte Aura zu Esther gesagt, als sie sich für das Festessen fertig gemacht hatten. Esther hatte gelächelt, war jedoch mit ihren vierzehn Jahren erst in der neunten Klasse und verwirrt gewesen. Was hatte Aura mit immer noch gemeint? War das Ende der Highschool wirklich so dramatisch? Als Aura dann nach dem ersten Jahr die Uni hingeworfen hatte und nach Hause zurückgekommen war, hatte Mr Verona ihr geholfen, einen Job in Marcos Restaurant zu bekommen. Die Uni war einfach nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte, okay, Sternchen? Lass es gut sein, hatte sie mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck zu Esther gesagt und ihre Kellnerinnenuniform zugeknöpft. Diesen Job behielt sie, bis sie mit fast siebenundzwanzig nach Dänemark aufbrach.

Neuer Song: »I Should Be So Lucky«.

Eine winkende, mit Netzhandschuhen versehene Hand erregte Esthers Aufmerksamkeit. Mr Verona und Marco bedeuteten ihr, sich zu ihnen auf die Tanzfläche zu gesellen. Esther hob etwas linkisch die Hand und lehnte höflich ab. Als Mr Verona sein Kopftuch neu ausrichtete und sich quer durch die Menge zu ihr aufmachte, wobei die Ketten mit dem Kreuz und den glänzenden Plastikperlen hin und her schwangen, wurde Esther bei der Aussicht, gleich Small Talk machen zu müssen, von einer gewissen Panik erfasst. Sie ging etwas zur Seite und duckte sich weg, versteckte sich im schwachen Licht am Rand der Menge, bis sie sah, dass die Netzhandschuhe kehrtmachten und zu den Pumps und der gebügelten Stoffhose von Marco zurückgingen.

Als Esther sich dann aufrichtete, fand sie sich hinter den Flügeln und dem Schwanz von Fuchur aus Die unendliche Geschichte wieder. Er trank zusammen mit Bastian, Atréju und Tina Turner Punsch. Nin plauderte mit ein paar von Auras Freunden, mit denen sie gekellnert hatte, nachdem es mit der Uni nicht geklappt hatte. Dieselben aus Die unendliche Geschichte inspirierten Kostüme hatten sie bei Auras Mottoparty zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag getragen, wo sie sich zu Auras Füßen versammelten, als diese mit einer Hand zum Karaoke-Mikrofon, mit der anderen zur Bierflasche im Weinkühler gegriffen hatte. Alkohol hatte Aura unglaublich anziehend gemacht. An jenem Abend war sie in einem elfenbeinfarbenen Pailletten- und Tüllkleid erstrahlt, mit einem Kopfschmuck aus vierreihigen Perlensträngen, den sie über ihren hellen, nach hinten gekämmten Haaren trug. »Sag meinen Namen«, rief sie ihren Freunden laut zu, ahmte die kindliche Kaiserin aus dem Film nach, statt Limahls Songtext laut mitzusingen. »Rette Phantásien«, dann hatte sie die Arme hochgerissen, was ihr einen stürmischen Jubel der Partygäste eingebracht hatte. Das ganze Licht im Garten schien auf sie ausgerichtet gewesen zu sein und hatte sich in ihrer Freude gespiegelt. Esther, die ihren achtzehnten Geburtstag erst ein paar Monate später feiern würde, hatte Auras Party vom Rand verfolgt, wo sie versprechen musste zu bleiben. »Sag meinen Namen«, hatte Aura ihren Freunden wieder zugerufen. Aus dem Schatten heraus hatte Esther dabei zugesehen, wie Auras Freunde als Erwiderung »Mondenkind« riefen, und ihre Haut hatte vor Ehrfurcht und Eifersucht gekribbelt. Als Aura sich den Film erneut ansah, um ihr Kostüm zusammenzustellen, hatte sie diesen Moment des Films ein Dutzend Mal zurückgespult, um sich anzusehen, wie Bastian seine Trauer laut hinausrief und dadurch sich und alle, die er liebte, rettete.

»Alles gut bei dir?«, fragte Nin, die sich gerade zu Esther stellte.

»Alles bestens.«

»Schon mit ihnen geredet?«

Esther betrachtete die Menge, die noch immer um Freya und Jack versammelt war, und rollte mit den Augen.

»Du könntest einfach zu ihnen rübergehen«, drängte Nin.

Gerade lief »Hounds of Love«.

»Wer macht eigentlich so was?« Esther beschrieb eine Geste, die die ganze Gedenkfeier umfasste. »Wer, verdammt noch mal, macht so was?« Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem verrückten Grinsen. »Du auch noch Punsch, Nin?« Sie hielt ihren leeren Becher hoch und wandte sich zum Gehen. Im Zelt ertönte nun Kate Bush.

»Nein, danke«, sagte Nin argwöhnisch. »Sternchen …«

Esther wischte Nins Bedenken vom Tisch. Rasch nacheinander trank sie noch zwei weitere Becher Punsch und schlenderte mit dem dritten langsam zum Tisch mit den roten View-Mastern und dem Album mit den Diascheiben, von denen Freya in ihrer Ansprache gesprochen hatte. Die donnergleichen Schlagzeugvibes von John Farnhams »You’re the Voice« hallten durch ihren Körper. »Sing es, Farnsy.«Sie musste an Aura denken, wie sie durch ihr Zimmer hüpfte, dabei beide Arme hochriss und in Rockermanier zwei Finger abspreizte.

Esther nahm sich einen der View-Master und wählte eine Diascheibe aus dem Album, das mit Kindheit