Die sieben Monde des Maali Almeida - Shehan Karunatilaka - E-Book

Die sieben Monde des Maali Almeida E-Book

Shehan Karunatilaka

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

AUSGEZEICHNET MIT DEM BOOKER PRIZE 2022 Ein funkensprühender, politisch hochaktueller Roman über den Bürgerkrieg in Sri Lanka, den Sinn des Lebens und Sterbens und die Frage, was Menschsein bedeutet. Colombo, Sri Lanka, Anfang der Neunzigerjahre. Maali Almeida, ein verkappt schwuler Kriegsfotograf und Zocker, erwacht eines Morgens im Jenseits, das eine himmlische Einwanderungsbehörde zu sein scheint. Während sein toter Körper gerade im Beira Lake versinkt, hat Maali keinen blassen Schimmer, von wem und warum er umgebracht wurde. Mitten im Bürgerkrieg ist die Liste der Verdächtigen leider bedrückend lang, wovon all die Geister und Dämonen, die ihn ab jetzt begleiten, ebenfalls ein furchterregendes Lied singen können. Doch auch im Leben nach dem Tod ist Zeit ein knappes Gut: Sieben Tage bleiben Maali, um herauszufinden, was geschehen ist. Und noch etwas treibt ihn um: Wie kann er mit den beiden ihm am nächsten Menschen Kontakt aufnehmen, um ihnen mitzuteilen, wo die Negative einiger hochbrisanter Fotos versteckt sind, die Sri Lanka in Aufruhr versetzen und der Welt zeigen sollen, was in seiner Heimat geschieht? «Karunatilaka begegnet einer grausamen Zeit in seinem Land mit großer Kunst.» The Guardian «Brillant und voller Übermut … ein großes Lesevergnügen!» Times Literary Supplement (TLS) «Wie vor ihm Salman Rushdie in Mitternachtskinder, Günter Grass in Die Blechtrommel und Michail Bulgakow in Der Meister und Margarita spielt auch Karunatilaka auf äußerst souveräne Weise mit der literarischen Norm und liefert jenseits von Politik, Geschichte, Religion und Mythologie tiefe Einblicke in das alltägliche Leben Sri Lankas.» The New York Times  «Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen.» Die Booker-Prize-Jury Sunday Times-Bestseller, National Bestseller in den USA; Washington Post, Times (UK), Financial Times und The Guardian Best Fiction Book of 2022, New York Times 100 Notable Books of 2022

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Shehan Karunatilaka

Die sieben Monde des Maali Almeida

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

 

Über dieses Buch

AUSGEZEICHNET MIT DEM BOOKER PRIZE 2022

 

Ein großer, funkensprühender Roman, in dem sich magischer Realismus mit einer Kriminalgeschichte und einer hochpolitischen Erzählung über den Bürgerkrieg in Sri Lanka verbindet, der wie jeder andere Krieg für Millionen von Menschen den sinnlosen Tod bedeutet. Es sind ihre ruhelosen Geister, die in unsere Seelen und Gedanken wollen, allein mit dem Ziel, den Menschen zu retten. Aber ist der Mensch noch zu retten?

Colombo, Sri Lanka, Anfang der Neunzigerjahre. Maali Almeida, ein verkappt schwuler Kriegsfotograf und Zocker, erwacht eines Morgens im Jenseits, das eine himmlische Einwanderungsbehörde zu sein scheint. Während sein toter Körper gerade im Beira Lake versinkt, hat Maali keinen blassen Schimmer, von wem und warum er umgebracht wurde. Mitten im Bürgerkrieg ist die Liste der Verdächtigen leider bedrückend lang, wovon all die Geister und Dämonen, die ihn ab jetzt begleiten, ebenfalls ein furchterregendes Lied singen können. Doch auch im Leben nach dem Tod ist Zeit ein knappes Gut: Sieben Tage bleiben Maali, um herauszufinden, was geschehen ist. Und noch etwas treibt ihn um: Wie kann er mit den beiden ihm am nächsten Menschen Kontakt aufnehmen, um ihnen mitzuteilen, wo die Negative einiger hochbrisanter Fotos versteckt sind, die Sri Lanka in Aufruhr versetzen und der Welt zeigen sollen, was in seiner Heimat geschieht?

 

 

«Karunatilaka begegnet einer grausamen Zeit in seinem Land mit großer Kunst.» The Guardian

 

«Brillant und voller Übermut … ein großes Lesevergnügen!» Times Literary Supplement

 

«Wie vor ihm Salman Rushdie in Mitternachtskinder, Günter Grass in Die Blechtrommel und Michail Bulgakow in Der Meister und Margarita spielt Karunatilaka auf äußerst souveräne Weise mit der literarischen Vorgabe und liefert jenseits von Politik, Geschichte, Religion und Mythologie tiefe Einblicke in das alltägliche Leben Sri Lankas.» The New York Times

 

«Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen.» Die Booker-Prize-Jury

 

Sunday Times-Bestseller, National Bestseller in den USA; Washington Post, Times (UK), Financial Times und The Guardian Best Fiction Book of 2022, New York Times 100 Notable Books of 2022

Vita

Shehan Karunatilaka wurde 1975 in Galle im Süden Sri Lankas geboren. Aufgewachsen in Colombo, wo er heute wieder lebt, studierte er in Neuseeland und lebte und arbeitete in London, Amsterdam und Singapur. 2010 erschien sein Debütroman Chinaman, für den er u. a. mit dem Commonwealth Prize ausgezeichnet wurde. Außerdem schreibt er Rocksongs, Drehbücher und Reiseliteratur und veröffentlichte in verschiedenen internationalen Medien wie The Guardian, Newsweek, Rolling Stone, GQ und National Geographic. Er zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Sri Lankas. Die sieben Monde des Maali Almeida ist sein lang erwarteter zweiter Roman, der 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.

 

Hannes Meyer, geboren 1982, übertrug u. a. Bücher von Tommy Orange, Phil Klay, Chanel Miller und Hernan Diaz ins Deutsche. Für seine Übersetzung von Anuk Arudpragasams Die Geschichte einer kurzen Ehe war er für den Internationalen Literaturpreis nominiert.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Seven Moons of Maali Almeida bei Sort of Books, London.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung seiner Arbeit an diesem Roman.

Die sieben Monde des Maali Almeida ist ein Roman. Die Figuren darin sind frei erfunden. Jedoch treten einige reale Politiker und andere zur Zeit der Handlung (1989/1990) aktive Personen unter ihrem echten Namen auf.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Seven Moons of Maali Almeida» Copyright © 2022 by Shehan Karunatilka

Zeichnungen von Lalith Karunatilaka

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Sort of Books, UK; Peter Dyer

Coverabbildung Geordanna Cordero/iStock

ISBN 978-3-644-01735-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Für Chula,

Eranga

und Luca

Die sieben Monde des Maali Almeida

Nur zwei Götter sind der Verehrung wert.

Der Zufall und die Elektrizität.

Erster Mond

Vater, vergib ihnen,

denn ich werde es niemals tun.

 

Richard de Zoysa

«Good Friday 1975»

Antworten

Du wachst auf mit der Antwort auf die Frage, die sich jeder stellt. Die Antwort lautet: Ja, und die Antwort lautet: Genau wie hier, bloß schlimmer. Mehr ist nicht drin an Erkenntnis. Also schlaf ruhig weiter.

Du wurdest ohne Herzschlag geboren und in einem Brutkasten am Leben erhalten. Und selbst als Fötus auf dem Trockenen wusstest du schon, wofür der Buddha sich erst unter Bäume setzen musste. Am besten wird man nicht wiedergeboren. Das ist die Mühe nicht wert. Hättest lieber auf dein Bauchgefühl hören und in der Kiste verrecken sollen, in die du reingeboren wurdest. Hast du aber nicht.

Also hast du jedes Spiel geschmissen, das sie dich spielen ließen. Zwei Wochen Schach, einen Monat Pfadfinder, drei Minuten Rugby. Als du mit der Schule fertig warst, hast du Mannschaften und Spiele und all die Trottel gehasst, denen so was wichtig war. Du hast Malkurse, Versicherungsvertreterei und Masterstudiengänge geschmissen. Alles Spiele, die dir am Arsch vorbeigingen. Du hast jeden abserviert, der dich jemals nackt gesehen hat. Jede Sache aufgegeben, für die du jemals gekämpft hast. Und viel getan, wovon du niemals jemandem erzählen kannst.

Hättest du eine Visitenkarte, würde darauf stehen:

Maali Almeida

Fotograf. Spieler. Schlampe.

Hättest du einen Grabstein, würde darauf stehen:

MALINDA ALBERT KABALANA

1955–1990

Aber du hast beides nicht. Und du hast an diesem Tisch keine Chips mehr. Und du weißt jetzt, was andere nicht wissen. Du hast die Antworten auf folgende Fragen: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wie ist es so?

Bald wirst du aufwachen

Angefangen hat es vor Ewigkeiten, vor tausend Jahrhunderten, aber lassen wir all das Gestern und fangen wir letzten Dienstag an. Ein Tag, an dem du verkatert und gedankenleer aufwachst wie an den meisten Tagen. Du befindest dich in einem endlosen Wartezimmer. Du siehst dich um, und es ist ein Traum, und endlich mal weißt du, dass es ein Traum ist, und du willst ihn gern aussitzen. Alles geht vorbei, besonders Träume.

Du trägst eine Safarijacke und ausgeblichene Jeans und weißt nicht mehr, wie du hergekommen bist. Du hast nur einen Schuh an und trägst drei Kettchen und eine Kamera um den Hals. Die Kamera ist deine treue Nikon 3ST, aber das Objektiv ist zersprungen und das Gehäuse gebrochen. Du schaust durch den Sucher und siehst nichts als Matsch. Zeit, aufzuwachen, Maali, mein Junge. Du kneifst dich, und es tut weh, aber nicht unbedingt wie ein kurzes Zwicken, sondern eher wie der dumpfe Schmerz einer Beleidigung.

Du weißt, wie es ist, deinem eigenen Kopf nicht mehr zu trauen. Der LSD-Trip beim Smoking Rock Circus 1973, als du im Viharamahadevi Park drei Stunden lang einen Frangipanibaum umarmt hast. Der Neunzig-Stunden-Pokermarathon, bei dem du siebzehn Lakh gewonnen und dann fünfzehn wieder verloren hast. Dein erstes Bombardement in Mullaitivu 1984, gepfercht in einen Bunker voll panischer Eltern und schreiender Kinder. Das Aufwachen im Krankenhaus mit neunzehn, als du dich weder an das Gesicht deiner Ammaerinnern konntest noch daran, wie sehr du es hasstest.

Du stehst in einer Schlange und brüllst eine Frau mit weißem Sari hinter einem GFK-Tresen an. Wer kann schon von sich sagen, er wäre noch nie wütend auf irgendwelche Frauen hinter Tresen gewesen? Du jedenfalls nicht. Die meisten Sri Lanker schmollen lieber leise vor sich hin, doch du beschwerst dich gern aus voller Brust.

«Ich sage ja nicht, dass es Ihre Schuld ist. Aber meine auch nicht. Fehler kommen eben vor, oder? Besonders in Regierungsbehörden. Da muss doch was zu machen sein.»

«Wir sind hier keine Regierungsbehörde.»

«Das ist mir egal, Aunty. Ich sage nur, ich kann nicht hierbleiben, ich habe Fotos abzugeben. Ich bin in einer festen Beziehung.»

«Ich bin nicht Ihre Aunty.»

Du siehst dich um. Hinter dir windet sich die Schlange um Säulen und an den Wänden entlang. Die Luft ist dunstig, dabei atmet hier augenscheinlich niemand Rauch oder Kohlendioxid aus. Es wirkt wie ein Parkplatz ohne Autos oder wie ein Marktplatz ohne Verkauf. Die Decke ist hoch und wird von Betonpfeilern gestützt, die in unregelmäßigen Abständen auf dem weitläufigen Gelände verteilt stehen. Am anderen Ende sind so etwas wie große Aufzugtüren zu sehen, aus denen menschliche Gestalten hervorquellen, bevor andere sich wieder hineindrängen.

Selbst aus der Nähe sehen die Gestalten wabernd aus, haben Talkumhaut und Augen, die in für braune Menschen unüblichen Farben funkeln. Manche tragen Krankenhaushemden; manche haben trockenes Blut an den Klamotten; manchen fehlen Gliedmaßen. Alle brüllen auf die Frau in Weiß ein. Sie scheint sich mit jedem von euch gleichzeitig zu unterhalten. Vielleicht stellen alle die gleichen Fragen. Wärst du ein Spieler (bist du auch), würdest du 5/8 wetten, dass es sich um eine Halluzination handelt, wahrscheinlich ausgelöst von Jakis Partypillen.

Die Frau schlägt ein wuchtiges Buch auf. Sie mustert dich weder mit Interesse noch Verachtung. «Erst müssen wir Ihre Angaben prüfen. Name?»

«Malinda Albert Kabalana.»

«In einer Silbe, bitte.»

«Maali.»

«Sie wissen, was eine Silbe ist?»

«Maal.»

«Danke. Religion?»

«Keine.»

«Wie albern. Todesursache?»

«Kann mich nicht erinnern.»

«Seit Eintreten des Todes vergangene Zeit?»

«Weiß nicht.»

«Aiyo.»

Der Seelenschwarm drängt näher heran, beschimpft und belatschert die Frau in Weiß. Du siehst in die fahlen Gesichter, die versunkenen Augen in kaputten Schädeln, zusammengekniffen vor Wut, Schmerz und Verwirrung. Die Pupillen in Schattierungen von Bluterguss- und Wundschorffarben. Verquirltes Braun, Blau und Grün – und alle ignorieren sie dich. Du hast schon in Flüchtlingslagern gelebt, warst mittags auf Straßenmärkten und bist in vollen Casinos eingeschlafen. Das menschliche Wogen ist niemals beschaulich. Und dieses rollt auf dich zu und trägt dich vom Tresen fort.

Sri Lanker können nicht Schlange stehen. Außer man definiert eine Schlange als formlose Kurve mit zahlreichen Zugängen. Dieser Ort ist anscheinend ein Sammelpunkt für alle, die Fragen zu ihrem Tod haben. Es gibt mehrere Schalter, und die verärgerten Kunden zetern und pöbeln die wenigen Mitarbeiter hinter den Tresen an. Das Leben nach dem Tod ist eine Steuerbehörde, und jeder will seine Rückzahlung.

Du wirst von einer Amma mit kleinem Kind auf der Hüfte zur Seite geschoben. Das Kind starrt dich an, als hättest du sein Lieblingsspielzeug zerschlagen. Das Haar der Mutter ist verkrustet von dem Blut, mit dem auch ihr Kleid befleckt und ihr Gesicht verschmiert ist. «Und Madura? Was ist mit ihm passiert? Er saß bei uns auf dem Rücksitz. Er hat den Bus noch vor dem Fahrer gesehen.»

«Wie oft soll ich es Ihnen denn sagen? Ihr Sohn lebt noch. Don’t worry, be happy.»

Das kommt von dem Mann an einem anderen Tresen, er trägt weißen Kittel und Afro und sieht aus wie Moses aus dem großen Buch. Seine Stimme grollt wie der Ozean, und seine Augen haben das blasse Gelb geschlagener Eier. Er wiederholt den Titel des nervigsten Songs der letzten Saison und schlägt sein eigenes Buch auf.

Du schießt ein Foto, denn das machst du, wenn dir sonst nichts einfällt. Du willst diesen Parkplatz des Chaos einfangen, bekommst aber nichts als die Sprünge im Objektiv zu sehen.

Man erkennt leicht, wer zur Belegschaft gehört und wer nicht. Erstere haben die dicken Bestandsbücher bei sich und stehen lächelnd herum; Letztere wirken verstört. Sie tigern auf und ab, bleiben plötzlich stehen und starren ins Leere. Manche rollen mit dem Kopf und wehklagen. Die Mitarbeiter sehen nichts und niemanden direkt an, besonders nicht die Seelen, die sie beraten.

Jetzt wäre ein ausgezeichneter Zeitpunkt, aufzuwachen und zu vergessen. Du kannst dich nur selten an deine Träume erinnern, und was auch immer das hier ist, die Chancen, dass es hängenbleibt, sind geringer als die auf einen Flush oder ein Full House. Du wirst dich an das hier genauso wenig erinnern wie an deine ersten Schritte. Du hast Jakis Partypillen eingeworfen, und das hier ist nichts als ein abgefahrener Traum. Was sollte es sonst sein?

Und dann fällt dir eine Gestalt auf, die in der Ecke an einem Schild lehnt und anscheinend in einen schwarzen Müllsack gehüllt ist, denn sie sieht weder nach Personal noch nach Kundschaft aus. Die Gestalt beobachtet die Menge, und ihre grünen Augen leuchten wie die einer Katze im Scheinwerferlicht. Sie erspähen dich und verharren länger, als sie es sollten. Der Kopf nickt, ohne dass der Blickkontakt abbricht.

Auf dem Schild über der Gestalt steht:

MEIDEN SIE FRIEDHÖFE

Darunter hängt ein Hinweis mit einem Pfeil:

-> OHRUNTERSUCHUNGEN AUF EBENE ZWEIUNDVIERZIG

Du wendest dich wieder der Frau hinter dem Tresen zu und versuchst es noch einmal. «Das muss ein Fehler sein. Ich esse kein Fleisch. Ich rauche höchstens fünf am Tag.» Die Frau kommt dir so bekannt vor wie ihr wahrscheinlich deine Lügen. Einen Augenblick lang scheint das Gedränge innezuhalten. Einen Augenblick lang ist es, als gäbe es nur dich.

«Aiyo! Ich habe jede Ausrede schon mal gehört. Keiner will rüber, nicht mal die Selbstmorde. Meinen Sie, ich wollte sterben? Meine Töchter waren acht und zehn, als die mich erschossen haben. Was soll man machen? Beschweren bringt nichts. Haben Sie Geduld und warten Sie, bis Sie dran sind. Verzeihen Sie, was Sie verzeihen können. Wir sind unterbesetzt und immer auf der Suche nach Freiwilligen.»

Sie schaut auf und ruft der Schlange zu.

«Sie alle haben sieben Monde.»

«Was ist ein Mond?», fragt ein Mädchen mit gebrochenem Genick. Sie hält Händchen mit einem Jungen, der Risse im Schädel hat.

«Sieben Monde heißt sieben Nächte. Sieben Sonnenuntergänge. Eine Woche. Mehr als genug Zeit.»

«Ich dachte, ein Mond wäre ein Monat?»

«Der Mond steht immer da oben, auch wenn Sie ihn nicht sehen. Meinen Sie, er hört auf zu kreisen, bloß weil Sie aufhören zu atmen?»

Du verstehst nichts von alledem. Also versuchst du es anders. «Was für ein Auflauf. Wahrscheinlich das Gemetzel im Norden. Tiger und Militär schlachten Zivilisten ab. Indische Friedenstruppen brechen Kriege vom Zaun.»

Du siehst dich um, und niemand hört dir zu. Die Augen ignorieren dich nach wie vor und schimmern in ihren Blau-Grün-Tönen. Du suchst nach der Gestalt in Schwarz, aber sie ist verschwunden. «Und nicht nur im Norden. Auch hier unten. Die Regierung bekämpft die JVP, und die Leichen stapeln sich. Ich weiß, ich weiß. Sie haben viel zu tun heutzutage. Das kann ich verstehen.»

«Heutzutage?» Die Frau in Weiß blickt finster und schüttelt den Kopf. «Es gibt jede Sekunde eine neue Leiche. Manchmal zwei. Haben Sie schon Ihre Ohren untersuchen lassen?»

«Ich höre sehr gut. Ich mache Fotos. Ich halte Verbrechen fest, die sonst keiner sieht. Ich werde gebraucht.»

«Die Frau da hat Kinder zu versorgen. Und der Mann dort Krankenhäuser zu leiten. Sie haben Fotos? Ha! Wie beeindruckend.»

«Das sind keine Urlaubsschnappschüsse. Diese Fotos werden Regierungen stürzen. Diese Fotos können Kriege beenden.»

Sie zieht einen Flunsch. Um den Hals trägt sie ein ägyptisches Kreuz, wie es auch ein Junge trug, der dich mehr liebte als du ihn. Sie fummelt daran herum und rümpft die Nase.

Erst jetzt erkennst du die Frau. Ihr Zahnpastalächeln war einen Großteil des Jahres 1989 in allen Zeitungen. Die Uni-Dozentin, die von extremistischen Tamilen getötet wurde, weil sie eine gemäßigte Tamilin war.

«Ich kenne Sie. Sie sind doch Dr. Ranee Sridharan. Ohne Ihre Flüstertüte habe ich Sie gar nicht wiedererkannt. Ihre Artikel über die Tamil Tigers waren brillant. Aber Sie haben damals ohne Erlaubnis meine Fotos verwendet.»

Dich macht nicht hauptsächlich der Nachname deines Vaters zum Sri Lanker, nicht der heilige Ort, an dem du niederkniest, und auch nicht das Lächeln, das du dir ins Gesicht meißelst, um deine Ängste zu verbergen. Sondern vor allem macht dich zum Sri Lanker, dass du andere Sri Lanker kennst und auch deren Sri Lanker. Es gibt Frauen in einem gewissen Alter, denen gibt man einen Nachnamen und eine Schule, und schon können sie jeden beliebigen Sri Lanker bis auf den nächsten Cousin genau zuordnen. Du hast dich in überlappenden Kreisen bewegt und auch in vielen, die geschlossen blieben. Dein Fluch war die Gabe, nie einen Namen, ein Gesicht oder eine Kartenfolge zu vergessen.

«Es tat mir leid, als die Sie erwischt haben. Ehrlich. Wann war das? 87? Ich habe mal einen Tiger von der Mahatiya-Gruppe kennengelernt. Hat erzählt, er hätte Ihren Anschlag organisiert.»

Dr. Ranee sieht von ihrem Buch auf, lächelt müde und zuckt mit den Schultern. Ihre Pupillen sind trübweiß, als wären sie voller milchiger Katarakte.

«Sie müssen Ihre Ohren untersuchen lassen. Ohren haben so individuelle Muster wie Fingerabdrücke. Die Vertiefungen zeigen Traumata aus der Vergangenheit, die Ohrläppchen enthüllen Sünden, der Knorpel birgt Schuld. All die Dinge, die Sie daran hindern, ins Licht zu gehen.»

«Was ist das Licht?»

«Die kurze Antwort lautet: Was immer es für Sie sein soll. Die lange Antwort lautet: Ich habe keine Zeit für die lange Antwort.»

Sie reicht dir ein Olablatt. Ein getrocknetes Palmblatt von der Sorte, auf die vor dreitausend Jahren sieben Rishis das Schicksal jedes Menschen geschrieben haben sollen, der jemals leben würde. Kantige Einschnitte hätten die Textur des Blattes einreißen lassen, deshalb entwickelten die südasiatischen Schreiber sinnliche Rundungen für ihre Buchstaben.

«Haben Sie 1983 auch Fotos aufgenommen?»

«Durchaus. Was ist das hier?»

Auf dem Olablatt stehen in allen drei Sprachen die gleichen Worte. In geschwungenem Singhalesisch, in kantigem Tamil und in krakeligem Englisch, und kein Riss weit und breit.

OHREN   _____________________

TOD   _______________________

SÜNDEN   _____________________

MONDE   _____________________

GESTEMPELT VON   ____________

«Lassen Sie sich auf Ebene zweiundvierzig die Ohren untersuchen, Ihre Tode zählen, Ihre Sünden erfassen und Ihre Monde registrieren. Und lassen Sie sich das Ganze von einem Helfer abstempeln.» Sie schließt das Buch und damit auch das Gespräch. Als Erster in der Schlange löst dich ein zubandagierter Mann ab, der nicht aufhört zu husten.

Du wendest dich den Leuten hinter dir zu. Hebst die Hände wie ein Prophet. Du hast dich schon immer gern aufgespielt. Immer die Klappe aufgerissen, außer wenn dir nicht danach war.

«Keiner von euch Zombies ist echt! Ihr seid Gespinste meines schnarchenden Hirns. Ich habe Jakis Partypillen eingeworfen. Alles reine Halluzination. Es gibt kein verdammtes Leben nach dem Tod. Wenn ich die Augen schließe, verschwindet ihr alle wie Fürze!»

Sie schenken dir so viel Aufmerksamkeit wie Mr. Reagan den Malediven. Weder den Unfallopfern, den Entführten, den Alten in Krankenhaushemden noch der schmerzlich vermissten Dr. Ranee Sridharan fällt dein Ausbruch auf.

Die Chancen, in einer Auster eine Perle zu finden, stehen 1 zu 12000. Die Chancen, von einem Blitz getroffen zu werden, stehen 1 zu 700000. Die Chancen, dass die Seele den Tod des Körpers überlebt, sind null Komma nichts, vergiss es. Du schläfst, da bist du dir todsicher. Bald wirst du aufwachen.

Und dann kommt dir ein schrecklicher Gedanke. Schrecklicher als diese grausame Insel, als dieser gottlose Planet, diese sterbende Sonne und diese schnarchende Galaxis. Was, wenn du die ganze Zeit schon geschlafen hast? Was, wenn du, Malinda Almeida, Fotograf, Spieler, Schlampe, von diesem Moment an nie wieder die Augen wirst schließen können?

Du folgst einem Menschenstrom, der einen Flur entlangstolpert. Ein Mann geht auf gebrochenen Beinen, eine Frau verbirgt ein Gesicht voller Blutergüsse. Viele hier sehen aus wie auf einer Hochzeit, denn so putzen Bestatter die Leichen heraus. Aber viele andere sind gehüllt in Lumpen und Verwirrung. Du schaust nach unten, siehst aber nur zwei Hände, die nicht dir gehören. Du möchtest deine Augenfarbe sehen und das Gesicht, das du aufhast. Du fragst dich, ob die Aufzüge Spiegel haben. Wie sich herausstellt, haben sie kaum Wände. Einer nach der anderen betreten die Seelen den leeren Schacht und gleiten nach oben wie Bläschen im Wasser.

Das ist doch absurd. Nicht mal die Bank of Ceylon hat zweiundvierzig Stockwerke.

«Was ist denn auf den anderen Etagen?», fragst du jeden, der Ohren hat, ob untersucht oder nicht.

«Räume, Flure, Fenster, Türen, das Übliche», sagt ein besonders hilfsbereiter Helfer.

«Finanz- und Rechnungswesen», sagt ein gebrochener Alter, der sich auf einen Stock stützt. «Ein Beschiss wie der hier finanziert sich nicht von selbst.»

«Es ist überall das Gleiche», klagt die tote Frau mit dem toten Baby. «In jedem Universum. In jedem Leben. Immer das Gleiche. Das ewige Einerlei.»

Du träumst selten, hast erst recht keine Albträume. Du schwebst an der Schachtkante entlang, dann schubst dich etwas. Du kreischst wie ein Unschuldsmädel im Horrorfilm, als der Wind dich himmelwärts reißt. Die hinter dir schwebende Gestalt in Schwarz erschreckt dich. Ihr Müllsack-Umhang flattert im wilden Wind. Sie sieht dir bei deinem Aufstieg nach und verneigt sich, als du entschwebst.

Du versuchst es mit einer anderen Frage und erkundigst dich, was das Licht ist. Aber zurück kommen nichts als Schulterzucken und Beleidigungen. Ein verängstigtes Kind nennt dich Ponnaya, eine Beleidigung, die dich sowohl der Homosexualität als auch der Impotenz bezichtigt, und nur zu einem der beiden Vorwürfe würdest du dich schuldig bekennen. Du fragst das Personal nach dem Licht und bekommst jedes Mal eine andere Antwort. Manche sagen Himmel, manche Wiedergeburt, manche Vergessenheit. Manche, wie Dr. Ranee, gehen überhaupt nicht darauf ein. Keine der Optionen reizt dich besonders, außer vielleicht die letzte.

Auf Ebene zweiundvierzig hängt ein Schild mit einem einzigen Wort.

GESCHLOSSEN.

Gestalten schweben durch den weiten Flur und bemerken die Wände erst, wenn sie dagegenstoßen. Es gibt eine Rezeption, aber sie ist unbesetzt. Und eine Reihe roter Türen, die dem Schild Folge leisten und geschlossen bleiben.

In der Mitte des Flurs steht die Gestalt in Schwarz und schert sich nicht um die ziellosen Streuner, die um sie herum zusammenprallen. Die Gestalt starrt dich an und winkt dich her. Ihre Augen folgen dir, während du fortschwebst; diesmal funkeln sie gelb.

Das Universum gähnt in der Zeit, die du zurück zu Dr. Ranees Tresen brauchst. Draußen füllt sich die Nacht mit Wind und Wispern. Hier drinnen gibt es nichts als Tresen und Tohuwabohu.

Dr. Ranee bemerkt dich und schüttelt den Kopf. «Wir brauchen mehr Helfer. Weniger Nörgler. Alle tun, was sie können.»

Sie sieht dich an. «Mit einigen Ausnahmen.»

Du wartest darauf, dass sie ihren Gedanken zu Ende führt, aber anscheinend hat sie das schon. Sie holt unter dem Tresen ein Megaphon hervor. Das ist die Dr. Ranee aus deinen Erinnerungen, die über den Uni-Campus brüllt, wenn Fernsehkameras in der Nähe sind.

«Bitte halten Sie die Abläufe ein. Kommen Sie nicht hierher, bevor Sie Ihre Ohrenuntersuchung hatten. Ebene zweiundvierzig ist morgen wieder geöffnet. Kommen Sie dann zurück. Sie haben sieben Monde Zeit, nicht vergessen. Sie müssen ins Licht, bevor Ihr letzter aufgeht.»

Du willst gerade eine Schimpftirade loslassen, als dir wieder die Gestalt in schwarzen Müllsäcken auffällt, die dich mit beiden Händen herbeiwinkt. Ihre Augen flackern wie Kerzen, und sie hat etwas in den Fingern, das nach deiner fehlenden Sandale aussieht. Dr. Ranee folgt deinem Blick und stellt ihr Lächeln ab.

«Schafft das Aas hier raus. Maal, wo wollen Sie hin?»

Zwei Männer in Weiß springen über ihre Tresen und sprinten auf die Gestalt in Schwarz zu. Der Afroträger, der wie Moses aussieht, hebt die Arme und brüllt in einer Sprache, die du noch nie gehört hast. Neben ihm nähert sich ein Muskelmann mit weißem Umhang.

Du tauchst in der Menge unter, schlüpfst zwischen gebrochenen, Blut röchelnden Menschen hindurch und erreichst die Gestalt, die deine Sandale hält.

Du lässt dich auf diesen Müllsacksensenmann zutreiben, wie du in so vieles hineingeschlittert bist, statt es lieber zu lassen. Casinos, Kriegsgebiete und schöne Männer. Du hörst Dr. Ranee schreien, aber du ignorierst sie, wie du deine Amma ignoriert hast, als Dada weg war.

Die Gestalt grinst mit Zähnen so gelb wie ihre Augen.

«Sir, verschwinden wir von hier. Hier warten nur Gehirnwäsche und Bürokratie. So wie in jedem anderen Gebäude dieses Unterdrückerstaats.»

Jetzt wendet dir die verhüllte Gestalt das Gesicht zu. In den Schatten der Kapuze kannst du die Züge eines Jungen ausmachen, jünger als du es einmal warst. Das eine Auge ist gelb, das andere grünlich, und du weißt nicht, was für Pillen so eine Halluzination auslösen könnten. Die Stimme klingt nach Rachenentzündung.

«Ich weiß, dass Sie Maali sind, Sir. Vergeuden Sie hier nicht Ihre Zeit. Und bitte halten Sie sich vom Licht fern.»

Du folgst ihm in den Aufzugschacht, aber diesmal geht es nach unten. Aus dem schrillen Wutgeschrei von Dr. Ranee und dem Baritondonner von Moses und He-Man werden ferne Echos.

«Selbst das Jenseits ist darauf angelegt, die Massen dumm zu halten», sagt der Junge. «Sie lassen dich dein Leben vergessen und drängen dich in irgendein Licht. Das Handwerkszeug der bourgeoisen Unterdrückung. Sie reden dir ein, die Ungerechtigkeit wäre Teil irgendeines großen Plans. Und deshalb begehrt man nicht dagegen auf.»

Als du unten ankommst und das Gebäude verlässt, stürmt der Wind aus allen Richtungen auf dich ein. Hier draußen ächzen die Bäume, die Müllkippen rülpsen, und die Busse stoßen schwarzen Rauch aus. Schatten kriechen über die Straßen, und Colombo im Morgengrauen wendet sein Gesicht ab.

«Wo hast du meine Sandale gefunden?»

«Bei Ihrer Leiche. Wollen Sie sie zurück?»

«Nicht unbedingt.»

«Ich meinte Ihre Existenz. Nicht die Sandale.»

«Ich weiß.»

Die Worte kommen von selbst, obwohl du keine Bedenkzeit hattest. Willst du deine Leiche sehen? Willst du dein Leben zurück? Oder die eigentliche Frage, die deiner Aufmerksamkeit bedürfte. Wie zum Teufel bist du hierhergekommen?

Du kannst dich an nichts erinnern, an keinen Schmerz, keine Überraschung, nicht an den letzten Atemzug und nicht daran, wo er stattgefunden hat. Und auch wenn du nicht den Wunsch hast, noch einmal verletzt zu werden oder wieder zu atmen, beschließt du, der Gestalt in Schwarz zu folgen.

Der Karton unter dem Bett

Du bist vor Elvis’ erstem Hit zur Welt gekommen. Und gestorben, bevor Freddie seinen letzten hatte. In der Zwischenzeit hast du Tausende abgelichtet. Du hast Fotos von dem Minister, der zusah, während die Bestien von 83 tamilische Häuser anzündeten und deren Bewohner abschlachteten. Du hast Porträts von verschollenen Journalisten und verschwundenen Aktivisten, gefesselt und geknebelt und gestorben in der Haft. Du hast körnige, aber eindeutige Aufnahmen eines Majors der Streitkräfte, eines Tiger-Kommandanten und eines britischen Waffenhändlers, die an einem Tisch sitzen und sich einen Krug Kokoswasser teilen.

Du hast die Mörder von Schauspieler und Frauenschwarm Vijaya ebenso auf Film gebannt wie die Überreste von Upalis Flugzeug. Du bewahrst diese Bilder in einem weißen Schuhkarton auf, der zwischen alten Platten von Elvis und Freddie versteckt ist, King und Queen. Unter einem Bett, das sich die Köchin deiner Amma mit dem Fahrer teilt. Wenn du könntest, würdest du von jedem Bild tausend Abzüge machen und halb Colombo damit tapezieren. Vielleicht kannst du das ja noch.

Gespräch mit totem Atheisten (1986)

Du hast schon mehr als genug Leichen gesehen, und jedes Mal wusstest du, wo die Seelen hin waren. Dahin, wohin die Flamme verschwindet, wenn man sie ausbläst, wohin auch ein Wort verschwindet, wenn man es ausspricht. Die Mutter und Tochter, unter Ziegelsteinen begraben in Kilinochchi, die zehn Studenten, auf Autoreifen verbrannt in Malabe, der Plantagenbesitzer, mit den eigenen Eingeweiden an einen Baum gefesselt. Keiner von ihnen ist irgendwohin gekommen. Sie waren da, und dann waren sie nicht mehr da. So wie wir alle nicht mehr da sein werden, wenn unserer Kerze der Docht ausgeht.

Der Wind trägt dich fort, und die Welt rauscht in Motorrikschageschwindigkeit vorbei, Gesichter und Gestalten flattern vorüber, einige weniger entsetzt als andere, und die Füße der meisten berühren nicht den Boden. Den Leuten, die Colombo für überlaufen halten, hast du eines zu sagen: Wartet, bis ihr die Stadt mit Geistern gesehen habt.

«Folgst du dem da?»

Das fragt ein alter Mann mit Hakennase und Murmelaugen, der sich anscheinend vom selben Wind tragen lässt. Sein Kopf sitzt nicht zwischen den Schultern, wie es Köpfe sonst gern tun. Der Mann hält ihn vor dem Bauch wie einen Rugbyball.

«Das würde ich bleibenlassen, mein Junge. Außer, du möchtest hier steckenbleiben.»

Während ihr an Baumköpfen und Gebäudewangen vorbeikommt, erzählt er dir, dass er sich schon seit über tausend Monden im Dazwischen aufhält.

«Was ist das Dazwischen?», fragst du.

Er sagt, er sei Lehrer am Carey College gewesen und jeden Tag mit dem Rad von Kotahena nach Borella gefahren. Seine Klamotten sind zerfetzt und blutverschmiert.

«Verkehrsunfall?», sagst du.

«Kein Grund, naseweis zu werden.»

Er erklärt, dass alle Geister lieber Kleider aus vergangenen Leben trügen, als nackt zu bleiben.

«In den Prospekten am Schalter steht, man trägt seine Sünden oder Traumata oder seine Schuld. Eines habe ich in meinen tausend Monden gelernt: Wenn es nach Scheiße stinkt, schluck es nicht.»

Er erkennt dich von Kundgebungen wieder, und du sagst, du warst auf keinen, und er nennt dich einen Lügner. Er sagt, du hättest seine kopflose Leiche fotografiert und in der Bildunterschrift seinen Namen nicht genannt. Die Zeitungen hätten es einen politischen Mord genannt, obwohl es nicht stimmte. «Die meisten politischen Morde haben mit Politik nichts zu tun», sagt er.

Das Etwas mit der Kapuze steht auf einem Dach und beobachtet euch. Du siehst es nie in den Wind springen, und doch ist es dir immer ein paar Schritte voraus.

«Du bist ein verdammter Trottel, wenn du dem da folgst.»

Du schaust auf das Blut an seinem Hemd, und ausnahmsweise fällt dir kein Witz ein.

«Er gibt dir Versprechen, die er niemals hält.»

Klingt wie jeder Junge, den ich jemals geküsst habe, denkst du, sagst es aber nicht.

«Er hat mir versprochen, meinen Mörder zur Strecke zu bringen. Der hat sich gerade von meinem Geld ein Haus gekauft. Das ist eine andere Geschichte.»

Da unten sind Leute, die aussehen wie Ameisen, wenn Ameisen ungeschickt und träge wären. Du hältst dich im Wind, während dir die stickige Luft Colombos um die Füße bläst.

Der Kopf grinst dir aus der Armbeuge zu.

«Hast du geglaubt?»

«Nur an dummes Zeug.»

«Wie einen Himmel?»

«Manchmal.»

«Glaube ich dir nicht.»

Du zuckst mit den Schultern.

«Du hast bestimmt gemeint, das Jenseits wäre wie in der Air-Lanka-Werbung, was? Goldene Strände, kostümierte Elefanten und Teepflücker, die brav in die Kamera lächeln.»

Er nennt dich zu Recht einen Lügner:

a) Du warst nicht gläubig.

b) Du erinnerst dich an ihn.

Der Lehrer, der sich fürs Regionalparlament hat aufstellen lassen, woraufhin sein krimineller Bruder ihn erschießen ließ und an seiner Stelle die Wahl gewann. Von seinem Gesicht war nicht viel übrig, als du ihn fotografiert hast, aber du erkennst ihn trotzdem wieder.

«Hast du an ein Jenseits aus Milch und Kithulhonig geglaubt, voller Jungfrauen, die dir einen blasen? Oder an ein Jenseits voller Mysterien und Rätsel und Fragen, die niemand stellen sollte?»

«Warum sind verblendete Männer immer so heiß auf Jungfrauen?», wiederholst du eine von DDs dämlichen Theorien und schiebst die Pointe gleich nach. «Weil eine Jungfrau nicht beurteilen kann, wie schlecht du im Bett bist.»

Der Wind trägt dich in Wirbeln über Brüstungen und Busdächer. Die Welt hat aufgeweichte Kanten, Farben, wo keine sein sollten, und Geister, wo man hinsieht. Vorne gleitet die Gestalt mit der Kapuze über die Oberfläche des Beira Lake und landet wie eine Krähe auf dem Stein am Tempeleingang. Darauf abgebildet sind ein Elefant, eine Kuh und ein Pfau, die einander um den Kreis der Zeit jagen. Die Müllsäcke der Gestalt flattern wie Flügel gegen das Relief. Sie steht mit verschränkten Armen da, dich fest im Blick. Sie macht eine Geste, die du nicht deuten kannst.

Dein Reisegefährte beobachtet dich, wie du die Gestalt ansiehst. Er legt den Kopf aufs Schlüsselbein. Die Gestalt mit der Kapuze dreht dir den Rücken zu und lässt sich zu den Ufern des Beira Lake fallen. Bernsteinfarbene Sonnenaufgangsflecken verwandeln die Oberfläche in einen Spiegel. Äste und Bürogebäude neigen sich, um ihr Abbild in den Riffelwellen zu betrachten.

Der Alte seufzt. «Vielleicht hast du dir das Jenseits auch als Folterkammer vorgestellt? Auf ewig als Zivilist zwischen Regierungsbomben und Tigerminen gefangen? Auf ewig wegen deines Nachnamens aufgegriffen und niedergeknüppelt? Die Hölle umgibt uns und hat gerade Hochsaison.»

Er setzt den Kopf auf die Schulter und lässt ihn schwenken wie ein Periskop. «Ich habe natürlich an das Nichts geglaubt. An ein Nicht-Jenseits, an Kein-Anschluss-unter-dieser-Nummer. Warum sollte da etwas sein? Warum nicht nichts? Das Vergessen ergab mehr Sinn als Himmel oder Wiedergeburt oder immer wieder die gleiche traurige Scheiße zu erleben.» Er neigt dir den Kopf zu. «Dieses verdammte Chaos hier habe ich jedenfalls nicht erwartet.»

«Wer ist der Kapuzentyp?»

«JVP-Kommunistenschwein. Tot und faselt immer noch von der Revolution. Einer von vielen Killern, die es schließlich selbst erwischt hat. Sprich nicht mit ihm. Geh dein Licht suchen und hau hier ab, solange du noch kannst. Das hätte ich auch tun sollen.»

Der tote Atheist blickt hinaus auf den Beira Lake, als sinnierte er über vertane Chancen und das Leben nach dem Tod.

«Was machst du seit tausend Monden?»

«Ich habe jedes Heiligtum besucht und die Betenden beobachtet.»

«Warum?»

«Sie sehen so schön dämlich aus.»

«Klingt doch gar nicht schlecht.»

«Sieben Monde sind kürzer, als man meint», sagt er. «Wenn du ihm nicht mehr folgst, folgt er dir irgendwann auch nicht mehr. Wenn du aber hierbleibst, weißt du irgendwann nicht mehr, was du machen sollst.»

Du richtest die Kamera auf den Kopflosen und machst ein Foto von ihm mit dem See und dem Sonnenaufgang im Hintergrund. Seine Stimme verflüchtigt sich wie gute Vorsätze. Du schaust dich um und kannst weder ihn noch die Gestalt mit der Kapuze finden. Du siehst nur noch drei Leichen am schlammigen Seeufer.

Beira Lake

Am Dienstag, den 4. Dezember 1989, um kurz nach vier Uhr morgens, werfen zwei Männer in Sarongs vier Leichen in den Beira Lake. Sie tun es beide nicht zum ersten Mal, auch nicht zum ersten Mal betrunken und um diese Uhrzeit.

An diesem Tag riecht der Beira Lake, als hätte sich eine mächtige Gottheit darübergehockt, ihre Därme ins Wasser entleert und vergessen zu spülen. Die Männer besaufen sich nicht etwa mit geklautem Arrak, weil das jahrelange Leichenbeseitigen ihnen an die Nerven oder ans Gewissen ginge, sondern weil sie den Pissoirgestank nüchtern nicht ertragen.

Die erste Leiche ist in Müllsäcke gewickelt. Sie trägt eine Safarijacke mit fünf großen Taschen, in die man Ziegelsteine gesteckt hat. Die modischen Accessoires bestehen aus einer Sandale sowie drei Kettchen und einer Spiegelreflexkamera um den Hals. Mit einem Kokosseil binden die Männer weitere Ziegel an den geschundenen Rumpf. Sie meinen, sich mit Knoten auszukennen, auch wenn sie weder Seeleute noch Pfadfinder sind.

Mit Kugelstoßereleganz schleudern sie die Leiche hinein, und nach kaum der Entfernung eines Schulhofhopsers klatscht sie ins Wasser. Die erste Flasche Arrak nimmt ihnen den Ekel; die zweite die motorischen Fähigkeiten. Die Knoten lösen sich, sobald die Leiche im warmen Nass landet, und die Steine versinken in der Schwärze.

Genauso versuchen sie es mit den anderen Leichen. Eine geht unter, die andere nicht. Ohne Interesse oder Besorgnis starrt die Phalanx der Steinbuddhas vom schwimmenden Tempel auf die treibenden Toten hernieder. Warane gleiten bei ihrem Morgenbad an den Leichen vorbei. Die Vögel streiten sich, wer die Augen herauspicken darf.

Der Beira Lake war früher dreimal so groß und birgt Sünden aller Arten. Vieles liegt in den Jahrhunderten begraben, seit der portugiesische Händler Lopo de Brito den Kelani umleitete, um den marodierenden König Vijayabahu aufzuhalten. Der See erstreckte sich einst weit über Colombo hinaus, durch Panadura, wo er sich mit dem Bolgoda Lake vereinte. Die Niederländer bemächtigten sich seiner und quetschten ihn in Kanäle. Die Engländer stahlen ihn und ließen ihn arbeiten. In seinem Bauch verrotten die Leichen von Händlern, Seeleuten, Prostituierten, Gangstern und Unschuldigen. Und einmal im Jahrzehnt macht er ein mächtiges Bäuerchen und überzieht Slave Island mit seinem Pesthauch.

«Idiot», rülpst Balal Ajith. «Kein Tape genommen?»

«Bloß gebunden. Hast gesagt, schnell. Keine Zeit für Tape», sagt Kottu Nihal.

«Die Knoten waren lockerer als die Redda von deiner Amma.»

«Was?»

«Da vorne. An der Nawam Mawatha, in dem Handwerkerladen da gibt’s Kreppband. Hätte keine fünf Minuten gedauert.»

«Ist nicht offen.»

«Dann mach ihn auf.»

«Aiyo, nein. Die Abhithiya würden aufwachen. Ich kann nicht so früh am Morgen schon Priester verprügeln.»

Balal Ajith zieht sein T-Shirt aus und stopft sich den Sarong zwischen den Beinen durch und über die Arschritze. Er rülpst noch einmal. Würziges Kuhpansenaroma steigt seine Speiseröhre hinauf. Er genießt das in altem Arrak marinierte Babath-Curry ein zweites Mal.

«Und deshalb, Kottu-Aiya, müssen wir zwei jetzt baden gehen.»

Auch die Leiche ist oben ohne, die Rippen sind eingeknickt wie bei einer geknackten Kokosnuss. Du willst die gebrochenen Knochen, das klaffende Fleisch zwischen den Barthaaren und die Löcher im Gesicht nicht sehen.

Aber du schaust doch hin. Du kennst diese Bestien. Sie arbeiten im Casino und werden dafür bezahlt, die zu schlagen, die das Haus schlagen, und von denen einzutreiben, die das Haus geschlagen hat. Du wusstest gar nicht, dass sie auch als Müllmänner arbeiten. «Kunu kaaraya» ist ein Euphemismus für Männer, die Leichen entsorgen, für die keine Sterbeurkunde ausgestellt wird. Ein Müllmann ist billiger zu haben als ein korrupter Beamter.

Seit dem Friedensabkommen mit Indien 1987 sind solche Müllmänner sehr gefragt. Die Regierungstruppen, die Separatisten im Osten, die Anarchisten im Süden und die Friedenstruppen im Norden sorgen alle für Leichen in Hülle und Fülle.

Kottu Nihal und Balal Ajith bekamen ihre Spitznamen im Welikada Prison für besondere Verdienste im Bereich der Kochkunst. Kottu Nihal arbeitete in der Küche und war spezialisiert auf das Zerhacken von Roti, wenn Kottu gekocht wurde. Er wurde zum offiziellen Waffenhändler des Gefängnisses, indem er hin und wieder eines seiner Arbeitsutensilien mitgehen ließ. Seine Sporen verdiente er sich, als er einem Knasttyrannen die spitzen Ecken zweier Grillbleche an die Kehle drückte. Balal Ajith wiederum war dafür bekannt, Katzen oder Balalas zuzubereiten und gegen Zigaretten als Curry zu servieren.

Du stehst auf der Leiche wie auf einem Surfbrett. Hast du in deinem alten Leben jemals gesurft? Sieht aus, als wärst du dafür gemacht gewesen. Was warst du für ein phänomenal gutaussehender Mann. Eine furchtbare Verschwendung. Du schluchzt, wie du es nicht mal getan hast, als Dada deine Amma verließ, und dann hörst du auf.

Du siehst es ja eigentlich auch nicht anders als der kopflose Atheist. Vierunddreißig Jahre lang hast du leidenschaftlich an gar nichts geglaubt. Nicht unbedingt die beste Erklärung für das Pandämonium, bloß die einzig plausible. Du hieltest dich für schlauer als all die Schafe, die brav in die Tempel, Moscheen und Kirchen strömten, und jetzt sieht es so aus, als hätten die Schafe klüger gewettet.

Eine kurze, nutzlose Existenz lang hast du die Beweislage betrachtet und deine Schlüsse gezogen. Wir sind ein Lichtflackern zwischen einem langen Schlaf und dem nächsten. Vergiss die Märchen von Göttern, Höllen und vergangenen Geburten. Glaub an Chancen, Fairness und falsches Spiel mit Falschspielern, spiel deine Hand, so gut du kannst, solange du kannst. Man ließ dich glauben, der Tod bedeute süße Vergessenheit, und beides war falsch.

Der einzige Gott, an den du jemals geglaubt hast, war ein niederrangiger Yaka namens Narada. Narada Yakas eigentümliches Berufsbild bestand darin, sich Probleme für die Menschheit auszudenken. Scheiterte er, explodierte sein Kopf. Er bekam das übliche Unsterblichkeitspaket und einen Allwissenheitsbonus obendrauf. Aber du nimmst an, dass seine Hauptmotivation die Erhaltung des eigenen Schädels war.

Nicht das Böse sollten wir fürchten. Sondern Geschöpfe mit Macht, die im eigenen Interesse handeln – bei denen muss es uns kalt den Rücken runterlaufen.

Wie sonst ist der Wahnsinn der Welt zu erklären? Gibt es einen himmlischen Vater, muss er sein wie deiner: abwesend, faul und möglicherweise bösartig. Für Atheisten sind Entscheidungen rein moralisch. Finde dich damit ab, dass wir allein sind, und versuche, den Himmel auf Erden zu erschaffen. Oder finde dich damit ab, dass keiner zuschaut, und mach, wonach dir eben ist. Letzteres ist viel einfacher.

Jetzt schaust du also Männern, die 1983 Tamilenhäuser angezündet haben, dabei zu, wie sie deine Leiche ertränken wollen. Von wegen süße Vergessenheit und traumloser Schlaf. Du bist zum Wachbleiben verdammt. Verdammt zuzusehen, aber nicht anzufassen, beizuwohnen, aber nicht zu dokumentieren. Zu einem Dasein als impotenter Homo, als Ponnaya, wie der tote Junge dich vorhin am Tresen genannt hat.

Die Gestalt mit der Kapuze löst sich aus dem Dunkel. Sie schwebt durch den Wind und lässt sich im Schneidersitz neben den Steinbuddhas nieder. Sie bewegt die Lippen beim Sprechen nicht, sondern sitzt auf einem Schatten und pflanzt dir Worte in den Kopf; die Stimme ist die einer Schlange beim Räuspern. «Mein Beileid, Maali-Sir. Das ist sicher ein gewaltiger Schock. Besinnen Sie sich auf Ihren Körper.»

«Hilft das?»

«Eher weniger.»

Wer hat noch nie ein Foto von sich gesehen und plötzlich gemerkt, wie viel dicker und hässlicher er in Wirklichkeit ist? Spiegel lügen so sehr wie Erinnerungen. Aber bei dir ist das nicht nötig: Du warst ein hinreißendes Geschöpf. Straff, adrett, hübsches Haar und anständige Haut. Und jetzt liegst du als Kadaver ohne Atem und Farbe da. Über dir hebt ein Katzenschlachter sein Hackebeil.

«Bist du mein Helfer?», fragst du und bekommst keine Antwort. Die Gestalt ist verschwunden, und du wartest, bis sie sich wieder heranpirscht.

«Nein, Sir. Vergessen Sie die Helfer. Alles Blödsinn. Die Trottel in Weiß sind nichts als Bürokraten und Gefängniswärter. Sie haben aus dem Dazwischen eine Irrenanstalt gemacht. Armselig.»

Die Weltbank und die niederländische Regierung haben einmal Geld gespendet, um diese Kanäle zu erneuern. Ein Großteil davon landete in maßgeschneiderten Taschen. Eine Machbarkeitsstudie wurde abgelehnt und zu den Plänen nicht gebauter Autobahnen und Wolkenkratzer geheftet. In Sri Lanka wird alles vom billigsten Anbieter gebaut oder überhaupt nicht, das lohnt sich am meisten.

Kottu drückt deinen Körper unter Wasser und hofft, dass es durch die Löcher in den Schädel blubbert. Das Gehirn wird getauft, aber die Leiche schwimmt weiter. Kottu flucht und spuckt aus. Das Hackmesser hoch erhoben, watet Balal auf die Leiche zu wie ein Frosch, der Kellner spielt. Das Messer ist wuchtig und mattbraun vom Blut Tausender Katzen.

Du hast diese Männer studiert, bist ihnen auf Straßen und in Dschungeln ausgewichen, du weißt, wer sie sind und dass niemand sie zählen kann. Auch sie glauben, dass keiner zuschaut, denn sie wissen nicht, dass du ihnen in die Haare spuckst. Die Gorillas arbeiten für den Gorillachef, den die Polizei auf Anweisung der Task Force anheuert, die vom Ministerium finanziert wird, das dem Kabinett Rechenschaft schuldig ist, welches wiederum unter JRs Dach wohnt.

1988 ging es um JVP-Marxisten, die die Nation bei der Gurgel hatten, und im Jahr danach ging es um die Niederschlagung des Ganzen durch die Regierung. Hatte man es mit der Politik, wurde man von den Gorillas mitgenommen, zum Verhör gebracht und, je nach Ausgang dieser Sitzung, gleich weiter zum Scharfrichter. Beide sind üblicherweise Ex-Militär-Sadisten und tragen gern schwarze Kapuzen mit Augenlöchern, ganz wie der Ku-Klux-Klan, bis auf die Farbe natürlich.

Verfolgt man den Weg eines jeden Stücks Scheiße stromaufwärts zurück, kommt man bei einem Parlamentsabgeordneten an. Dr. Ranee Sridharan von der Jaffna University kartographierte bekanntlich das Ökosystem einer Tiger-Terrorzelle und einer Todesschwadron der Regierung. Wer sich die Hände schmutzig macht, hat nie eine direkte Verbindung zu den Mächtigen, also können die Mächtigen die Schuld zuschieben, wem sie wollen. Die liebe Frau Doktor hat in ihrem Buch deine Fotos ohne Genehmigung verwendet. Sie wurde erschossen, als sie gerade zu einer Vorlesung radelte. Wahrscheinlich eher, weil sie ihre Stimme gegen die Tiger erhoben hatte, und weniger wegen der Verletzung deines Urheberrechts.

Und überhaupt geschieht vor deinen Augen gerade Bedeutenderes. Deiner Leiche wurden die Halswirbel durchgehackt, wie auch der anderen, deren Gesicht du nicht sehen kannst. Eigentlich bist du Blut und Eingeweide gewohnt, aber das hier ist zu viel.

Du siehst zu, wie die andere Leiche geköpft und um ihre Hände und Füße erleichtert wird. Balal hackt, während Kottu einen Schlauch von einem Tempelwasserhahn heranrollt. Das Blut verschwindet in der Schwärze des Beira Lake. Die Gestalt mit der Kapuze führt dich fort, als der Gorilla sich deiner zerteilten Leiche nähert. Die Kapuze wird zurückgeschlagen, und du siehst das Gesicht des Jungen. Trotz der Narben und des abgekratzten Wundschorfs schaut man es nicht ungern an.

«Geht es Ihnen gut,Hamu?», fragt er.

«Nein», erwiderst du.

Er zieht die Mundwinkel runter und schüttelt den Kopf.

«Sir kann sich nicht an mich erinnern.»

Du betrachtest die Blutergüsse an seinem Hals und die Verbrennungen an den Schultern.

«Kannst du bitte aufhören, mich ‹Sir› zu nennen?»

Du musst an die Gleise denken, die Dehiwela mit Wellawatte verbinden, an einen Streit bei einer kommunistischen Kundgebung in Wennappuwa, an einen dunklen Strand in Negombo. Aber du erinnerst dich nicht an seine schokoladenfarbene Haut, an seinen feingliedrigen Körper und seine schmalen Lippen; auch seinen Namen weißt du nicht.

Währenddessen schimpfen die Gorillas über den Sonnenaufgang, über das hartnäckige Blut und über die Leichenteile, die nicht untergehen wollen. Du siehst, wie ein Kopf, der einst dir gehörte, in eine Plastiktüte gesteckt und weit auf den See hinausgeschleudert wird. Du siehst, wie deine alten Gliedmaßen in Pappkartons gepackt werden. Du fragst dich, warum dein Kopf anders als der des toten Atheisten auf den Schultern bleibt.

«Ich war Sena Pathirana. Ich war Chefkoordinator der JVP für Gampaha. Meine Leiche wurde vor vielen Monden in diesen verdreckten See geworfen. Wir kennen uns.»

Du gleitest weiter dorthin, wo andere Leichenteile eingewickelt werden. Gliedmaßen und Köpfe in Plastikbeuteln, portioniert wie für die Gefriertruhe.

«Ich …»

«Sie wollten mich bei einer Kundgebung in Wennappuwa küssen. Ich erwarte nicht, dass Sir das noch weiß, Sir.»

Du betrachtest die Leichenteile, die am Rande des Beira Lake treiben, du hörst die Müllmänner fluchen und wartest mit schwindender Hoffnung ab, ob noch Erinnerungen zurückkehren.

Abkürzungen

Du hast mal einen Spickzettel für Andrew McGowan angelegt, einen jungen amerikanischen Journalisten, der sich die sri-lankischen Abkürzungen nicht merken konnte. Diese Liste hast du über die Jahre noch zahlreichen Besuchern gegeben.

Lieber Andy,

 

auf einen Außenstehenden mag die Tragödie Sri Lankas verworren und aussichtslos wirken. Sie muss weder das eine noch das andere sein. Hier die Hauptakteure.

 

LTTE – Die Liberation Tigers of Tamil Eelam

*Wollen einen eigenen tamilischen Staat.

*Schlachten zu diesem Zweck zuweilen auch tamilische Zivilisten und Gemäßigte ab.

 

JVP – Die Janatha Vimukthi Peramuna

*Wollen den kapitalistischen Staat stürzen.

*Ermorden schon mal Teile der Arbeiterklasse zu deren Befreiung.

 

UNP – Die United National Party

*Auch bekannt als die Uncle Nephew Party.

*Seit Ende der 70er an der Macht und in Kriege mit den beiden Obigen verwickelt.

 

STF – Die Special Task Force

*Entführt und foltert im Auftrag der Regierung jeden, dem Mitgliedschaft oder Unterstützung der LTTE oder JVP nachgesagt wird.

 

Die Nation ist in Ethnien aufgeteilt, die Ethnien in Lager, und die Lager gehen einander an die Gurgel. Wer gerade in der Opposition ist, predigt Multikulturalismus, setzt im Austausch für die Macht aber singhalesisch-buddhistische Dominanz durch, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

Du bist hier nicht der einzige Außenseiter, Andy. Es gibt viele andere, die genauso verwirrt sind wie du.

 

IPKF – Die Indian Peace Keeping Force

*Von unseren Nachbarn geschickt, um den Frieden zu sichern.

*Brennt hin und wieder zwecks Erfüllung dieser Mission ganze Dörfer nieder.

 

UN – United Nations

*Haben eine Niederlassung in Colombo.

*Ganz beschissene Auftraggeber.

 

RAW – Research and Analysis Wing

*Indischer Geheimdienst. Hier, um krumme Deals auszuhandeln.

*Meiden.

 

CIA – Central Intelligence Agency

*Hockt mit Hochleistungsferngläsern an den Ufern der Diego Garcia Islands.

*Stimmt das, Andy? Wie könnt ihr nur?

 

So kompliziert ist es gar nicht, mein Freund. Und such gar nicht erst nach den Guten, denn die gibt’s nicht. Jeder ist stolz und gierig, und keiner kann irgendetwas lösen, bevor Geld geflossen ist oder Fäuste erhoben wurden.

 

Die Lage ist in einem Ausmaß eskaliert, das jedes Vorstellungsvermögen übersteigt, und sie wird immer schlimmer. Pass auf dich auf, Andy. In diesen Kriegen zu sterben wäre genauso sinnlos wie in allen anderen.

 

Malin

Gespräch mit totem Revoluzzer (1989)

Du wusstest schon früh, dass du Jungs mochtest. Als dein Dada dir sagte, dass man alle Schwuchteln fesseln und mit Messern vergewaltigen müsste, schautest du runter auf deine Slipper und sahst ihm seither nie wieder ins Gesicht.

Vielleicht kommt einmal die Zeit, wenn Schwule sich auf der Straße küssen, zusammen ein Haus kaufen und in den Armen des anderen sterben können. Aber nicht zu deinen Lebzeiten. Zu deinen Lebzeiten trifft man sich an einem dunklen Ort mit einem Fremden und sieht sich danach nie wieder. Oder man hat heimliche Beziehungen, die für den großen Kummer zu schnell enden. Oder man macht etwas Radikales, man sucht sich eine Freundin, wohnt mit ihr zusammen und schläft im Gästezimmer mit dem Sohn des Vermieters.

«Du warst bei einer JVP-Kundgebung. Du hast mich aufgefordert, ein Spruchband hochzuhalten. Dann wolltest du mich küssen. Eine Woche später ließ man die ersten meiner Genossen verschwinden. Einen Monat später auch mich.»

Die Einzelheiten kehren in Jucken und Schmerzen zurück. Im Sri Lanka der Achtziger konnten Regierungsleute, JVP-Anarchisten, Tiger-Separatisten oder indische Friedenstruppen einen nach Belieben «verschwinden lassen», je nachdem, in welcher Provinz man sich aufhielt und wonach man aussah.

«Folgen wir diesen Ratten.» Sena nimmt dich mit aufs Dach des weißen Vans. Die schwarzen Müllsäcke seiner Kapuze und seines Gewandes werden mit Klebeband zusammengehalten, anders als die, in die seine physische Leiche gewickelt ist, die zum Teil im Beira Lake treibt und zum Teil im Wagen liegt. Du weißt nicht mit Sicherheit, woher die Spuren an seinen Knöcheln kommen, aber du kannst es dir vorstellen. Du schaust nach unten und siehst deine einzelne Sandale, eine aus Madras importierte und in Jaffna gekaufte Chappal.

Der Mitsubishi Delica setzt sich in Bewegung. Hinten sitzen Kottu und Balal, die sich mit dem Wasserschlauch abgeduscht und Unterhemden angezogen haben. Im Kofferraum liegen Kartons mit Fleisch, das anfängt zu stinken. Steaks, Koteletts und Reststücke, die einmal dir und zwei anderen gehört haben. Manche davon kommen anscheinend aus der Gefriertruhe.

Der Fahrer ist ein junger Soldat, der über das Lenkrad gebeugt dasitzt und vor sich hinbrummelt.

«Irgendwer redet mit mir, aber nicht die beiden und nicht ich. Wer dann?»

Er trägt die Uniform eines Corporal, wirkt aber verdattert wie ein aufgeregter Student. Er hat seine Beinprothese auf dem Beifahrersitz liegen, und seine Hand schweift nie weit vom Kupplungshebel am Lenkrad. Sena flüstert dem Jungen ins Ohr und wendet sich dir mit einem Lächeln zu. «Wenn du mir hilfst, kann ich dir zeigen, wie man den Lebenden zuflüstert», sagt er, setzt die Kapuze auf und lehnt sich zurück.

«Ich dachte, du erzählst mir, wie ich gestorben bin», sagst du, auch wenn du dir immer noch nicht sicher bist, ob du es wirklich wissen willst. Der Fahrer sieht sich nervös um, als ob er etwas hört, was du nicht hörst. Er greift nach der Kupplung, und der Wagen ruckt zweimal.

«Sir wurde aus dem Arts Centre Club abgeholt, oder wo auch immer reiche Ponnayas sich herumtreiben. Sir wurde in den Van gesteckt, mit einem Rohr verprügelt. In einem Raum voller Totenscheiße angekettet.»

Er hält die Hand hoch, und du siehst nichts als Wundschorf, wo einmal Fingernägel waren. «Vielleicht wurdest du von einem maskierten Mann geweckt, der dir Fragen stellte. ‹Bist du von der JVP?› oder ‹Bist du ein indischer Spion?› Wahrscheinlich kam auch die Frage auf, warum du so viel fotografierst und wem du die Bilder verkaufst.»

Der Fahrer ruft seinen Fahrgästen zu.

«Die anderen Leichen, wo kommen die her?»

«Drivermalli! Schnauze und fahren!» Balal begutachtet die Flecken an seinen Händen.

«Mr. Balal, diese Drecksarbeit gefällt mir nicht.»

«Vielen Dank für die Rückmeldung. Sie wird in meinem Bericht berücksichtigt. Und jetzt fahr!»

Kottu tippt Balal auf die Schulter und spricht halblaut. Dabei fährt er sich mit dem Finger über den Hufeisenbart. «Balal-Malli, ich beschwere mich beim Boss.»

«Welchem Boss?»

«Beim großen Boss.»

«Beim großen großen Boss?»

«Auch bei dem. Ich hab keine Angst. Absolut unprofessionell, wie wir hier arbeiten müssen.»

Sena schwebt jetzt vor dir und brüllt dir ins Gesicht. Du hebst deine kaputte Kamera vors Auge und knipst ihn vor den vorüberziehenden Bäumen.

«Wahrscheinlich wolltest du ihnen ins Gesicht spucken und ihre Kinder verfluchen. Doch du hast nur gewimmert und gezittert und gebettelt. Vielleicht haben sie dir Nägel unter die Fingernägel getrieben. Vielleicht hast du ihnen gesagt, was sie hören wollten. Vielleicht haben sie dir eine Pistole ins Maul gesteckt.»

Er hat Tränen in den Augen und wischt sie nicht weg.

«So haben sie es bei dir gemacht?»

«So haben sie es bei uns allen gemacht. Zwanzigtausend letztes Jahr. Hauptsächlich unschuldige Trottel. So viele waren wir in der ganzen JVP nicht.»

«Ich war nicht in der JVP.»

«Minister Cyril Wijeratne hat gesagt: ‹Zwölf von euch für einen von uns.› Das war kein Witz. Das Arschloch hat sich bloß verrechnet.»

«Zwanzigtausend verschwinden lassen? Da hast du dich aber verrechnet.»

«Ich habe die Leichen gesehen.»

«Ich auch. Fünftausend, höchstens.»

«Die JVP hat keine dreihundert umgebracht. Um uns zu vernichten, hat die Regierung über zwanzigtausend getötet. Vielleicht sogar das Doppelte. Das sind die Tatsachen, Sir.»

«Die Regierung hat schon über zwanzigtausend getötet», sagt Drivermalli, der ein Gespräch jenseits seiner Ohren mithört. «Warum noch weiter töten? Die JVP ist vernichtet. Die LTTE geben Ruhe.»

«Schnauze und fahren», sagt Balal.

«Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann sind wir alle dran», sagt Drivermalli.

«Idiot. Das gibt’s nicht», sagt Kottu. «Nur die Scheiße hier.»

«Wo geht’s hin?», fragt Drivermalli.

«An der Kreuzung links», sagt Balal. «Und Schnauze jetzt.»

«Gar keine schlechte Idee. Sich eine Pistole ins Maul zu stecken», murmelt Drivermalli, während er am Lenkrad kurbelt.

••

«Wie sind denn nun die Regeln, Genosse Pathirana?», fragst du Sena auf dem Dach des weißen Vans.

«Es gibt keine, Sir. Genauso wenig wie da unten. Man macht sich seine eigenen.»

«Ich meine in Sachen Fortbewegung. Kann ich überall hin, wohin der Wind weht?»

«Nicht ganz, Hamu. Sir kann dahin, wo sein Körper schon mal gewesen ist.»

«Das ist alles?»

«Du kannst dahin, wo dein Name gesprochen wird. Aber nicht nach Paris oder auf die Malediven fliegen. Außer man bringt deine Leiche dahin.»

«Warum die Malediven?»

«Die halten Geister aus irgendeinem Grund für das Paradies. Da wimmeln im seichten Wasser mehr Seelen herum als Stachelrochen.»

«Aber man kann doch mit den Winden fliegen?»

«Wie Nahverkehr für Tote, Sir. Ich demonstriere.»

Und damit verschwindet er durch das Dach des Wagens nach unten. Er ruft dich, und du siehst dich um. Es ist Morgen geworden, und die Busse haben sich mit Bürosklaven gefüllt und mit Schulkindern, die einmal welche werden sollen. An jedem Fahrzeug hängt ein Wesen wie du. Du spähst an der Autoschlange entlang und siehst auf jedem Dach einen Geist hocken.

«Maali-Sir. Komm. Spring rein.»

Du kneifst dich und spürst nichts. Was bedeuten könnte, dass du träumst. Oder dass du keinen Körper mehr hast. Oder dass du träumst, dass du keinen Körper mehr hast. Möglicherweise bedeutet es auch, dass du gefahrlos durch das Blechdach eines fahrenden Vans hechten kannst. Und hopp. Es ist wie ein Sprung in den Pool, bloß dass das Wasser nach Rost schmeckt und nicht nass ist.

«Wie können wir mit einem Wagen fahren und nicht durch den Boden fallen?»

«Sir hört nicht zu. Wir hängen an unserem Körper. Können jeden Wind nehmen, der da hinweht, wo unsere Leiche mal war.»

«Ja?»

«Verreckt man in Kandana und wird zur Bestattung nach Kadugannawa gefahren, kann man überall an der Kandy Road aussteigen.»

«Okay, aber wenn man in seiner Küche in Kurunegala erstochen und direkt im Garten verscharrt wird, dann sind die Möglichkeiten eher begrenzt, was?»

Er schubst dich nach hinten ins Fleisch und in den Gestank. Er bleibt zwischen Balal und Kottu und wartet. Es ist nicht ganz und gar ausgeschlossen, dass du es bei dem schmalen Burschen hast drauf ankommen lassen. Im Lauf des letzten Jahrzehnts hast du alles gevögelt, was sich bewegt hat, und auch alles, was lieber stillgehalten hat. Den Spruch hat dein Mitbewohner DD mal bei einem Martini gebracht. Eine Stichelei, als harmloser Witz getarnt.

Beim Bishop’s College rumpelt der Wagen durch ein Schlagloch. Sena holt tief so etwas wie Luft und gibt Balal und Kottu gleichzeitig eine Ohrfeige. Im Gewackel des Wagens knallen sie mit den Köpfen zusammen. Sena lacht, und du auch. Selbst die Toten sind sich nicht zu fein für ein bisschen Slapstick.

«Mann!», brüllt Kottu und hält sich den Schädel.

«Sorry, Boss», murmelt Drivermalli. «Nur ein kleines Loch.»

«Ich mach dir gleich ein kleines Loch!»

«Die Straßen sind im Arsch. Diese Regierung muss endlich weg.»

«Hau mir ab mit deiner Politik, Drivermalli», bellt Kottu und massiert sich die Birne.

Du fragst Sena, wie er das gemacht hat, und er sagt, körperlosen Geistern stünden so manche Fähigkeiten offen. Doch erst, wenn man sich entschieden habe.

«Wofür entschieden?», fragst du.

«Ob man sich uns anschließt.»

«Uns?»

«Seelen wie dir und mir.»

«Die Müllsäcke anziehen?»

«Die den Getöteten zu ihrem Recht verhelfen. Damit jene, die ohne Grab bleiben, Vergeltung finden.»

«Wie?»

«Indem wir diese Arschlöcher vernichten. Ihre Bosse. Und deren Bosse. Die Schweine, die uns ermordet haben. Wir kriegen sie alle, Hamu. Sir glaubt mir nicht? Das ist Sirs erster Fehler.»

«Aiyo, Putha. Ich hab mehr Fehler gemacht, als du Nummern geschoben hast.»

«Meine Leiche wurde mit siebzehn anderen in einem Kühlraum aufbewahrt. Bevor sie endlich Gelegenheit fanden, mich in den See zu schmeißen», sagt Sena und zieht die Müllsäcke um sich fest.

Der Wagen ruckt, und die Gorillas grollen. Drivermalli hat sich wohl beim Einnicken an der Bremse festgehalten. Da bemerkst du die Falten in seinem Gesicht und die Schatten, die auf seine Ohren fallen. In seinen Augen liegt eine Verzweiflung, die nicht ungewöhnlich ist für jemanden, der Menschenfleisch durch den Verkehr in Colombo kutschieren muss. Als die Fahrt weitergeht, flüstert Sena dem Jungen ins Ohr.

«Ich kann dir helfen zu finden, was du verloren hast», sagt er.

Bis auf ein Zucken der Augenbrauen gibt es kein Anzeichen, dass Drivermalli ihn hören kann.

«Die Missetäter werden bestraft. Die Opfer werden Gerechtigkeit erfahren.»

«Kann er dich hören?»

«O ja.»

«Wir können zu den Lebenden sprechen?»

«Diese Fähigkeit kann man erlernen.»

Der Van löst sich aus einem Kreisel in Mirihana und fährt durch die Vororte ins Fabrikland.

«Wo geht es hin, Sena?»

«Interessieren dich die beiden anderen Leichen hinten nicht?»

Du schaust nach den Fliegen, die um die Fleischsäcke kreisen. Du fragst dich, ob Fliegen als wir wiedergeboren werden.

«Wer sind sie?»

«Das findest du bald heraus.»

«Jetzt bin ich neugierig. Wohin geht die Fahrt, Genosse Sena?»

«Ich weiß es nicht, Boss. Vielleicht bekommen wir nun Gräber.»

«Ist denn noch viel zu begraben übrig?»

«Es ist nur Fleisch, Hamu. Das Schöne an dir ist noch hier.»

Nicht viele haben dich je schön genannt, doch das warst du. Du stellst dir vor, wie dein schöner Körper zerhackt wurde. Wie hässlich wir alle sind, wenn nichts als Fleisch bleibt. Wie hässlich dieses wunderschöne Land ist, und wie hässlich du zu deiner Amma und zu Jaki und DD warst.

Auberginen

DD nannte sie die hässlichste Sache im Universum, und du hast ihm gesagt, bei all der Hässlichkeit auf der Welt würde sie es nicht mal in die Top Ten schaffen. In dem Karton unter dem Bett lagen fünf Umschläge, von denen jeder seinen eigenen Teil an Hässlichkeit enthielt. In jedem steckten Schwarzweißfotos, und auf jeden war mit Filzer der Name einer Spielkarte gekritzelt. Du hast in einem Zimmer ohne Möbel gewohnt und alles in deinem Leben weggeschmissen, außer deinen Fotos und deinen Kartons.

DD sagte, er habe in seinem Leben nur drei Auberginen gesehen: deine, die von seinem Vater und seine eigene.

«So eine behütete Existenz», hast du erwidert. «Sie sehen gar nicht alle aus wie Auberginen. Die meisten eher wie Hühnerhälse, manche wie Pilze und einige wie kleine Babyfäustchen.»

«Du hast schon viele gesehen, oder?», fragte DD, eine Fangfrage, gefährlicher als der mit Kindern bemannte Panzerwagen, der dich in Kilinochchi einmal mitgenommen hat.

«Ein paar», sagtest du. «Sie waren alle schön.»

«Du würdest doch alles und jeden küssen», erwiderte DD. «Alles, was sich bewegt. Oder lieber stillhält.»

«Auberginen bewegen sich oft im ungünstigsten Augenblick.»