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Ein Mord auf hoher See – und ein Netz aus alten Lügen, das bis in die Gegenwart reicht Während einer Kreuzfahrt in der Java-See wird der deutsche Unternehmer Hartmut Siems tot in seiner Kabine aufgefunden. Ein indonesischer Kommissar nimmt die Ermittlungen auf, unterstützt von einer engagierten Übersetzerin und einem deutschen Diplomaten. Bald führen die Spuren in die mysteriöse Vergangenheit des Opfers und ein Netz aus Lügen wird entwirrt. Schnell wird klar: Es war Mord. Hartmut Siems war nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, sondern auch der dement gewordene Kopf des »Kleeblatts«, einer Stasi-Seilschaft, die nach dem Mauerfall mit brisanten Informationen und erheblichem Vermögen nach Asien geflohen war. Dort bauten sich die vier Ex-Agenten unter falschen Identitäten ein luxuriöses Leben auf. Der plötzliche Todesfall zerreißt ihr fragiles Geflecht. Zur gleichen Zeit erfährt der ahnungslose brandenburgische Bibliothekar Till Lehndorff, dass Siems sein seit Langem totgeglaubter Vater war und er dessen millionenschweres Erbe in Hongkong antreten soll. Gemeinsam mit der Übersetzerin Ellen begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse. Doch die Hinterbliebenen des »Kleeblatts« wittern Gefahr: Siems hat Beweise zurückgelassen, die ihre Machenschaften entlarven könnten. Till gerät ins Visier der Alt-Agenten, die einst verschworene Gruppe in einen Strudel aus Verrat und Rache. In rasanten Ortswechseln zwischen Singapur, Hongkong, Jakarta und Brandenburg entfaltet sich ein packender Kriminalroman, der nicht nur einen perfiden Mordfall aufklärt, sondern auch das Nachwirken der Stasi und ihrer internationalen Verflechtungen beleuchtet. Was als harmlose Urlaubsgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer fesselnden Auseinandersetzung mit Macht, Schuld und der Frage, wie weit die Schatten der Vergangenheit reichen.
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1. eBook-Ausgabe 2025
1. Auflage
© 2025 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock: © Naoki Kim, © StockStudio Aerials, © Kwangmoozaa
Layout & Satz: Margarita Maiseyeva
Lektorat: Silwen Randebrock
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN:978-3-95890-653-2
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Ein Vorspann. Zur Erinnerung.
01 Javasee: Freundschaftsdienste
02 Javasee: Der Abend zuvor. Das letzte Mahl
03 Javasee: Demenz
04 Javasee: Nach dem Tod
05 Jakarta: Ein Auftrag für Ellen
06 Zwischen Sembawang und Singapur: Allein
07 Jakarta: Keine Hinweise auf Fremdeinwirkung
08 Singapur: Wieder zu Hause
09 Singapur: Ellen Baarns alte Liebe
10 Tröbitz: Till telefoniert
11 Singapur: Verzweigungen
12 Singapur: Beschattet
13 Singapur: Ellens Blick
14 Singapur: Beobachtet
15 Singapur: Ellen im Bus
16 Singapur: Luftküsse
17 Singapur: Natürlicher Tod
18 Singapur: Beschwingt
19 Singapur: Das Kleeblatt im East Coast Park
20 Singapur: Ellens Verdacht
21 Tröbitz: Besucherinnen bei Till
22 Singapur: About Stan
23 Singapur: Kein schlechtes Gewissen
24 Hongkong: Till und die Testamentseröffnung
25 Hongkong: Staatssicherheit
26 Singapur: Eine Irritation
27 Hongkong: Eine sehr geschmackvolle Wohnung
28 Hongkong: Die zweite Trauerfeier für den Vater
29 Hongkong: Nur noch drei
30 Hongkong: Regenschirme und Madam Li
31 Hongkong: Erinnerungen, Trauer und Wut
32 Hongkong: Lügen, Luxus und viele Fragen
33 Hongkong: Madam Lis Beobachtungen
34 Jakarta: Ellens Verdacht
35 Hongkong: Zu hohes Risiko
36 Jakarta: Martin wacht auf
37 Singapur: Der Mörder deines Vaters
38 Jakarta: Mordverdacht
39 Kuala Lumpur: Im duftenden Garten der Erinnerung
40 Singapur: Ganz bei sich selbst sein
41 Singapur: Neuanfänge
42 Singapur: Abtauchen
43 Kuala Lumpur: Altstätters Plan
44 Singapur: Die Johorfeige
45 Hongkong: Das Endspiel ist eröffnet
46 Singapur: Flughafenabschied
47 Philippinen: Selbstbestimmt
48 Hongkong: New Kowloon, Kai Chi Koh Reception Centre
49 Philippinen: Wechselhaftes Wetter
50 Singapur: Abschiedsbrief
51 Tröbitz: Auf dem See
»Lächeln nie vergessen!« Wie oft seine Mutter ihm das gesagt hatte. Daran konnte er sich in dieser klaren Tropennacht auf ebenso hoher wie ruhiger See irgendwo zwischen Dingsbums und Surabaya erstaunlich klar erinnern. Er blickte auf zum Himmel, sternenübersät. Frei, ganz und gar grenzenlos. Als er die Arme ausbreitete, schienen ihn unsichtbare Kräfte hinauf in die nie gekannte, schwerelose Einheit zu ziehen. Von weit oben sah Hartmut Siems auf sich hinab, sah den kleinen Jungen mit ernster Miene, der am Küchenfenster steht und sich hinaus auf die schmale Dorfstraße vorm Haus träumt. Und er sah Mutters federndes Gesicht. Er fragte sich, warum es ihm federnd schien und was das hieß und wie lange er schon nicht mehr an sie gedacht hatte. Auf dem den Gästen der 1. Klasse vorbehaltenen Deck überlegte er zum wohl ersten Mal in seinem Leben, ob Mutter eigentlich »Lächeln! Nie vergessen!« gemeint hatte. Und da musste Hartmut Siems tatsächlich lächeln.
»Hartmut?« Michael Behr beugte sich vor und sprach ihm direkt ins Ohr. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. »Hartmut?« Er rüttelte an der Schulter, Hartmuts Kopf fiel auf die Brust. Michael fühlte erst am Hals, dann am linken Handgelenk des Freundes nach dem Puls. Der war nicht mehr vorhanden.
Tief einatmend richtete er sich auf. Eine ganze Weile stand er vor dem Toten und betrachtete ihn. Ein alter Mann, der vor dem Fernseher eingeschlafen zu sein schien. Die gepflegte Rechte ruhte noch warm auf der Armlehne des fest mit dem Boden verschraubten und so für jeden Wellengang im Leben wie im Sterben geeigneten Sessels. Er fragte sich, ob er etwas in der nun Hartmut-freien Welt vermissen würde, und wusste noch keine Antwort. Vielleicht seine Gelassenheit. Oder seine Stilsicherheit, dachte Michael. Ein Leben vollendet, eine Lebensgefahr gebannt. Die Angst, die Hartmuts Unberechenbarkeit seit Monaten ausgelöst hatte, wich in dieser ersten Stunde des neuen Tages von ihm. Er empfand keine Scham, nur große Erleichterung. Er hatte sich befreit. Er hatte das Richtige getan. Die Welt würde sich mit Hartmut Siems’ Tod schnell abfinden. Und das Vergessen würde sich wieder ausbreiten und alles befrieden.
Michael fuhr zusammen. Was war das? Und vor allem: Wo? In der Kabine? Auf dem Gang davor? Nur in seinem Kopf? Oder kam es aus Hartmuts leicht geöffnetem Mund? Nach dem letzten Seufzer vor ein paar Minuten noch ein allerletzter? Ruhig bleiben. Ruhig atmen. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Michael versuchte, das Geräusch für sich zu beschreiben. Es gelang ihm nicht. Die sechs Schritte bis zur Tür fielen ihm schwer, als gäbe es ein Gravitationsfeld mit dem Toten als Zentrum. Als wollte Hartmut ihn nicht ziehen lassen. Michael nahm sein Stofftaschentuch aus der Hose, legte es auf die Klinke der Kabinentür zum Gang, lauschte. Er hörte die Hintergrundgeräusche der Seereise, das Rauschen der Kabinenbelüftung, das gedämpfte Brummen der Maschinen weit unter ihm und dem Toten. Auf den spärlich beleuchteten Gang tretend schaute er sich kaum merklich um, verhinderte mit dem Fuß das laute Zufallen der Tür und entfernte sich zügig von Hartmuts Suite in jenem diskreten Winkel des Schiffes, den keines der in kleinen schwarzen Halbkugeln lauernden und an die Decken montierten Kameraaugen erfasste.
Auf dem Deck angekommen, lehnte er sich an die Reling. Die kühlere Nachtluft tat ihm gut. Er genoss den Fahrtwind. Michael Behr hatte nun ein weiteres Geheimnis, das er mit niemandem teilen würde.
Mit seinen fünfundsiebzig Jahren hatte sich Hartmut Siems ein draufgängerisches Flair bewahrt, das ihn jünger erscheinen ließ. Eine freibeuterische Miene, ein kühner Blick, von Ferne eine Erinnerung an amerikanische Spielfilmstars der 1940er-Jahre, seine schlanke Statur in traditionell-elegante Kleidung gehüllt, fügte er sich nahtlos in seine Umgebung ein, derzeit die Blue Shadow, ein luxuriöses Kreuzfahrtschiff, unterwegs in der Javasee. Er wirkte nicht einnehmend in der geschmeidigen Art der Heiratsschwindler, Vorabendserienhelden und längst vergessenen, ehemaligen Prominenten, die wahrscheinlich auch an Bord waren, sondern eher wie ein liebenswürdiger Nachbar, ein wirklich freundlicher älterer Herr mit mal ernster, mal heiterer Ausstrahlung und etwas schwerfällig in seinen Bewegungen. Sein Gesicht gebräunt, Haut und Hemd faltig, aber nicht zu faltig, die Sonnenbrille echt altmodisch. Hartmut Siems gehörte zu der wohlhabenden und rüstigen älteren Klientel, die es sich leisten kann, die Welt mit Stil und ohne Hast zu bereisen. Er schien froh und dankbar, wohl wissend um die befristete Zeit, die blieb, auf sich bedacht, die Sorgen und Probleme der Welt lassend.
Es würde ihm nie langweilig werden, von seiner Loggia aus das Glitzern des Sonnenlichts auf den Wellen des Meeres zu betrachten. Eine Verheißung des guten Lebens, des ewigen Lebens. Die Bewegung des Schiffes beruhigte ihn. Sicher geborgen ging es voran, unabhängig und kraftvoll, das Unterwegssein, nicht das Ankommen war das Ziel. Vorsichtig hob er sich ein wenig aus dem Liegestuhl und griff nach seinem Gin Tonic. Er ließ die Eiswürfel klirren, schaute ihnen beim Vergehen zu und stellte das Glas ohne zu trinken zurück aufs Tablett. Tagträumend betrachtete er wieder die ruhige und doch unendlich bewegte See. Weit entfernt von den Menschen und Landschaften seines früheren Lebens fühlte er sich frei. Auf seinem Schoß lag eine Einführung in den Mahayana-Buddhismus, und während der Lektüre hatte er sich den Formen der Meditation und des Loslassens geöffnet. Er schloss die Augen, atmete tief die Seeluft ein, hörte tatsächlich auf zu denken. Und lächelte.
Ein kräftiges Klopfen an die Eingangstür seiner Suite weckte ihn. Er blinzelte ins Licht, rappelte sich mühsam hoch, stand dann langsam auf.
»Ja, ja, ich komme ja schon«, rief er, als es wieder klopfte. Sein Rücken schmerzte ein wenig, während er durchs Zimmer auf die Tür zustapfte und wie immer routiniert durch den Spion schaute. Davor standen die Behrs, die Kleidung bis ins Detail aufeinander abgestimmt. Karins und Michaels farbliche Harmonie sah er selbst durch das alle Formen verzerrende Fischaugenglas in der Tür. Als er sie öffnete, wehte ihm noch vor Michaels Frage »Alles in Ordnung bei dir?« ihr gemeinsamer Duft entgegen. Diese Wolke aus Karins floralem und Michaels holzigem Eau de Toilette umfing Hartmut Siems zärtlich, die Bestandteile für seine Nase nicht mehr zu trennen, Träger und Trägerin nicht mehr eindeutig zuzuweisen. Er wusste, es war richtig, an diesem besonderen Abend genau diese beiden um sich zu haben.
»Klar, kommt rein«, antwortete er und öffnete die Tür weit, begrüßte Michael per Handschlag, als wären sie sich an diesem Tag nicht schon mehrmals begegnet, und gab Karin mit übertriebener Geste einen Handkuss. Sie kannte das Spiel und spielte mit.
»Ich muss draußen auf dem Liegestuhl kurz eingeschlafen sein«, Hartmut strich sich mit beiden Händen durch die wenigen grauen Haare. »Gebt mir eine Minute, dann bin ich bei euch.« Er wiederholte arglos die freundliche Aufforderung: »Kommt doch herein.« Dann ging er ins Badezimmer.
Michael und Karin Behr durchquerten den Wohnraum, traten auf die Loggia hinaus und blickten von der Reling aus auf das fast überirdisch schöne späte Sonnenlicht, das den Himmel in Rosatönen einfärbte, sich in Millionen Wellen millionenfach brach, das Meer in Rotgold zu verwandeln suchte und beider Gesichter unruhig leuchten ließ. Er, siebenundsechzig, schlank, die graublonden Haare mit etwas Gel zurückgekämmt, im hellen Anzug mit offenem Hemdkragen, sie, fünfzig, tief sitzender blonder Haarknoten, grau-weißes Sommerkleid, beide wie Hartmut Deutsche, die seit langen Jahren in Ostasien lebten; die Behrs in Singapur, Hartmut in Hongkong. Man kannte sich schon seit geraumer Zeit und traf sich mehrfach im Jahr. Erst waren nur die Männer geschäftlich verbunden. Vielleicht verstärkt durch ihr gemeinsames Deutschsein in der Fremde hatte sich später eine Männerfreundschaft plus Dame entwickelt. Ein Dreiklang in familiärer Tonlage, ohne die kleinen Unhöflichkeiten und großen Nachlässigkeiten echter Verwandtschaft.
* * *
Karin Behr hatte die gemeinsame Schiffsreise liebevoll vorbereitet, Landgänge und geführte Besichtigungen schon vor dem Ablegen fest vereinbart: Von Singapur aus ging es über Semarang und Surabaya auf Java weiter nach Bali, alles in allem zwei Wochen lang. Die Bewegung auf dem Meer, die Ausflüge zu exotischen Orten, die Gemeinsamkeit an Bord, das war eine Kombination ganz nach ihrem Geschmack. Sie war eine geborene Reisende, offen für die Welt und ohne Heimweh.
Vor Jahren hatte sie ihre Entdeckerlust mit ihrem Beruf verbunden und in verschiedenen Ländern in Ferienhotels gearbeitet. Aufgewachsen in der DDR, verließ sie gleich im Jahr 1990 ihre Heimat, froh, aus der ummauerten Jugend in die weite Welt hineinwachsen zu können. Vier Jahre später dann hatte sie in einem Hotel in Thailand ihren heutigen Ehemann Michael Behr kennengelernt. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick gewesen, und seit einem Vierteljahrhundert hatte die Erinnerung an diese Gewissheit beide auch durch die wenigen weniger schönen Phasen einer ansonsten guten Ehe getragen.
»Eine Minute?«, sagte Michael und zog die Augenbrauen hoch.
»Nun, lass ihn. Er wird halt auch nicht jünger«, Karin schob eine Haarsträhne, die sich im Fahrtwind gelöst hatte, wieder hinter ihr Ohr.
* * *
Michael betrachtete sie und lächelte. Wie schön sie in dem abendlichen Seelicht aussah. Er war glücklich, sie bei sich zu haben und Momente wie diesen zu erleben. Sie waren wie kleine Inseln in der Unruhe, die ihn quälte. Diese Kreuzfahrt belastete ihn, sie bedeutete nichts Gutes, ganz im Gegenteil. Seine Sorgen zeigte er nicht, erwähnte er nicht, schon um Karin nicht um ihr Vergnügen zu bringen. Diese kindliche und unbeschwerte Art, Freude zu empfinden, hatte er von Anfang an bei ihr geliebt. Sie war sein Lichtblick.
»Was für ein schöner Anblick, ihr beiden«, sagte Hartmut auf die Loggia tretend und breitete die Arme aus. »Ein Scherenschnitt des Glücks vor tropischem Abendhimmel.« Er lachte, alle drei lachten. »Gehen wir zum Abendessen?«
Unverwüstlich und unbeirrbar wie die Blue Shadow selbst war auch ihr schönstes Bordrestaurant, das französische »Chez Capitaine«. Es war so sehr im Stil der Ozeanriesen der 1920er-Jahre gehalten, dass die empfindsameren Gäste des Jahres 2019 sich wie aus der Zeit gefallen fühlen mussten. Rotes Mahagoni schimmerte an den Wänden und der hohen kassettierten Decke, geschliffene Glaspaneele unterteilten den Raum und schufen mit ihren Meerjungfrauenmotiven eine fast schon erotische Privatheit. Opalglasleuchter, Beschläge und Türgriffe in Messing, dazu das draußen dunkelnde Meer unter hohem Abendhimmel: So ähnlich muss es damals wohl gewesen sein. Alles wirkte schwer, erprobt und selbstsicher, von den sorgfältig gebügelten, doppelt und dreifach aufgelegten Tischtüchern bis zu den auf Hochglanz polierten Stühlen. Rücken- und Sitzpolster waren mit hellblauer Seide bespannt. Für ein Schiffsrestaurant eine mutige Entscheidung. Das Ganze in voller Fahrt und mit Blick auf die See, war dieses Restaurant eine altmodische, störrische Form von reinem Luxus, selbstverständlich genossen auch in extremen Lagen.
Der Oberkellner, der noch nicht lange genug in der Weltgeschichte herumgereist war, um den schweren polnischen Akzent aus seinem Englisch zu vertreiben, geleitete die drei Reisenden freundlich zu ihrem reservierten Tisch am Fenster. An diesem Juniabend hatten offenbar nur wenige andere Gäste Appetit auf die feine Küche des alten Europa: Zwei Paare, diskret außer Hörweite voneinander platziert, und ganz am anderen Ende des Raumes eine indische Familie am großen runden Achtertisch nahe der doppelflügeligen Tür, die zur benachbarten Bar führte. Die Hintergrundklaviermusik war für südostasiatische Verhältnisse erstaunlich dezent, ein Medley aus der Titelmelodie der »Magnum«-Fernsehserie und »Pour Élise« sowie Instrumentalversionen von »I did it my way« und »Xanadu« in Endlosschleife.
»Mir gefällt dieses Restaurant am besten. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass ich alt werde«, scherzte Hartmut und blinzelte Michael zu: »Inzwischen dürfen uns hier wirklich alle ›Uncle‹ nennen, ohne dass wir uns beschweren, nicht wahr?« Michael wusste genau, welche Anekdote aus der gemeinsamen Vorzeit in Hongkong sein Freund zum Auflockern vor der Vorspeise zum Besten geben wollte. Er fragte sich, ob, wie und wann er Hartmut wohl bremsen könnte, der fortfuhr:
»Ach ja, wir beide in Saft und Kraft. Himmel, was waren wir unbedarft …«
Unbedarft? Unpassender konnte Hartmut die gemeinsamen Hongkonger Anfänge kaum beschreiben. Eingreifen daher nicht erforderlich. Noch nicht.
Hartmut redete weiter: »Na ja, eigentlich waren wir ja wirklich harmlos. All die Fremdheit um uns eher verschreckend als verlockend. Karin, meine Liebe, das war natürlich alles, bevor dein Mann nur noch Augen für dich hatte.«
Harmlos? Michael musste nervös auflachen, kaschierte den winzigen Kontrollverlust, indem er schnell vorgab, in seine Serviette zu husten. Merkte der alte Mann denn nichts mehr? So entspannt und heiter Hartmut Siems an diesem Abend war, so nervös war Michael Behr. Wie in der letzten Zeit leider immer, wenn er mit seinem Freund, Geschäftspartner und Mentor zusammen war, quälte ihn eine innere Unruhe. Unsicher darüber, welche Anekdote Hartmut zum Besten geben würde, ob er aus der Rolle fallen würde, ob er genügend Selbstbeherrschung aufbringen würde, er selbst zu bleiben, wünschte er sich vor allem für Karin, aber auch für sich selbst, dass der Abend gelingen möge. Er wusste, dass er ungerechtfertigt viel von Hartmut erwartete und dass er sich selbst dadurch unter Druck setzte.
Der Sommelier, ein echter Franzose mit Echthaartoupet, trat an den Tisch, und Michael war höchst dankbar für die ausführliche Beratung in Sachen Weinbegleitung, die Hartmuts Redefluss zwar nur kurz unterbrach, den Gedankengang dafür aber weg vom Hongkong der frühen 1990er-Jahre und – wenn auch mit einer in seinen früheren Jahren undenkbaren Ungenauigkeit – wieder zurück zum Lob fürs »Chez Capitaine« führte.
»Ich bevorzuge das Bequeme und Gediegene vom ›Chez Corporel‹ hier. Das Geklappere, die schreckliche Musik, die unbequemen modischen Stühle in den anderen Bordrestaurants sind meine Sache nicht. Und dann erst all die anderen Alten, die zum Büfett humpeln und sich in Erinnerung an Hungertage, die sie nie hatten, die Teller vollladen! Nein, danke. Lasst uns auf die gute alte Zeit anstoßen«, sagte er und hob seinen Champagnerkelch, der mit dem soeben angepriesenen 2014er-Krug befüllt worden war.
»Ja, ja – es war nicht alles schlecht«, scherzte Michael mit gespielt brüchiger Stimme, sein Glas erhebend.
»Hm, und es ist nicht alles schlecht«, meinte Karin kurz darauf, ihr Glas absetzend. »Gutes und Schlechtes, sag mal, Hartmut, wie war das bisher in deinem Leben verteilt? Was würdest du sagen?«
Michael räusperte sich unwillig. Wieso sekundierte sie ihm nicht? Wieso musste sie jetzt mit so viel Ernst Hartmuts Leichtigkeit aus der Unterhaltung vertreiben?
Mit fester, ruhiger Stimme und klarem Blick antwortete Hartmut: »Nun, spontan würde ich sagen, dass es meist ineinander verwoben war, das Gute und das Schlechte. Im Leben mischt sich immerfort alles mit allem. Von der guten alten Zeit kann man natürlich nur ironisch sprechen. Es war auch früher nie nur gut.«
»Ich finde, das kann nur ein Mann sagen, der ein glückliches Leben geführt hat«, sagte Karin ganz ernsthaft. »Müsste es sonst nicht so sein, dass es mal durchweg schlechte Phasen gegeben hat? Ich hatte durchaus ganz schwarze Zeiten. Da gab es keine eingemischten guten Anteile.«
»Meinst du nicht, dass wir an einem Abend wie diesem, auf einem Schiff wie diesem, über erfreulichere Dinge sprechen sollten als über ganz schwarze Zeiten?«, unterbrach Michael seine Frau. Noch bevor er die Aufmerksamkeit der beiden auf die mit den Vorspeisen nahenden Servicekräfte lenken konnte, hatte sich Hartmut mit der Serviette die Lippen getupft und blieb beim Thema:
»Nein, lass nur, Michael, sie hat ja recht. Es hängt natürlich zunächst davon ab, was man für gut erachtet in einer bestimmten Situation. Erkennt man das Gute sofort oder doch eher später? Dann ist es wichtig, welcher Zeitraum betrachtet wird: In einem beliebig kleinen Zeitraum lässt sich vielleicht wirklich nichts Gutes erkennen. Aber insgesamt, über ein Leben, mein Leben, hinweg betrachtet, ist da doch eine Mischung gegeben. Gerade jetzt zum Beispiel: das Beisammensein, der Champagner, die Seereise. Aber auch: das Nachlassen des Gedächtnisses, die Aussetzer, das Verschwimmen. Und natürlich: die Angst.«
»Es ist aber schon auch die Frage, worauf man sein Augenmerk richtet«, bemerkte Michael, »auf die schlimmen oder die schönen Dinge. Das halb volle oder das halb leere Glas eben«, dabei erhob er lächelnd seinen noch halb gefüllten Champagnerkelch, beiden zuprostend.
Erneut ignorierte Karin seine Signale und fragte: »Wovor hast du Angst, Hartmut?«
»Vor dem nicht mehr sein«, bekannte Hartmut und blickte vom einen zur anderen.
»Ach, das kann doch nicht wahr sein, ihr beiden, was redet ihr denn da? Wo wir so schön zusammensitzen heute Abend«, Michael schüttelte den Kopf.
»Vor dem nicht mehr sein«, wiederholte Karin fragend, »vor dem Sterbenmüssen meinst du?«
»Nein, das nicht. Das Sterben habe ich akzeptiert, so wie das Leben. Dazu bin ich bereit nach so langer Zeit.« Er musterte das Duett von weißem und grünem Spargel an Langustenschaum auf dem Teller mit hauchdünnem Goldrand vor sich. »Meine Angst ist es allerdings, dass ich mir selbst entgleite. Ihr kennt doch meine Aussetzer schon lange.«
Die Behrs schwiegen höflich. Diese Zurückhaltung brauchte Hartmut Siems nicht mehr: »Nun, das ist alles in den vergangenen Monaten so viel schlimmer geworden, dass es mich ängstigt. Mein Arzt nennt es Demenz und gibt mir Pillen dagegen. Aber ich glaube nicht daran, dass die helfen.«
»Aber du nimmst sie?«, fragte Karin besorgt. »Ja. Genau wie all die anderen gegen und für was weiß ich nicht alles. Manchmal vergesse ich es aber auch. Wie so vieles andere. Es ist mir einfach egal. Das ist es, was mir Angst macht, dieses Egal, das dir die Entscheidungen abnimmt. Es fühlt sich nicht mehr wie mein Leben an.«
Karin legte ihre Hand auf Hartmuts, »Mein Lieber, das ist ja schrecklich, so etwas sagen zu müssen. Wie leid mir das tut!«
Sie blickte Michael an. Er wusste, das würde unangenehm. Er musste ruhig bleiben. Für beide. »In schwierigen Lagen zeigt sich der Charakter. Ich finde, dass du die Sache fabelhaft trägst. Mit großer Selbstdisziplin. Wir hatten ja schon mal über die Demenzdiagnose gesprochen, als ich bei dir in Hongkong war. Nun, du lässt dir gar nichts anmerken, ganz im Gegenteil.«
»Ach – das wusstest du?«, fragte Karin ihren Mann. »Ich mag gar nichts mehr essen, jetzt, nach dieser Nachricht«, Karin blickte traurig aus dem riesigen schräg gestellten Fenster auf die inzwischen fast schwarzen Wogen weit unter ihnen. Der Tisch mit ihnen dreien und all den Kerzen, Blumen und Gedecken spiegelte sich undeutlich in der Glasfläche. Im Stillen atmete Michael auf. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie hatte sich im Griff. Szenen nur unter vier Augen.
Hartmut legte seine Linke auf ihre Hand, die sie auf seiner Rechten hatte liegen lassen. »Komm«, sagte er in aufgeräumtem Tonfall, »jetzt ist aber wirklich genug davon. Gesagt ist gesagt. Ändern können wir nichts daran, und ich will uns nicht den ganzen Abend und schon gar nicht die ganze Reise damit verderben. Punkt.« Er zog seine Hände zurück, nahm das Besteck. »Lasst uns diese Köstlichkeiten hier essen! Und lasst uns lieber über unsere Reiseziele sprechen. Hast du uns zu dem Landgang nach Borobudur schon angemeldet?«, fragte er Karin und erntete betretenes Schweigen. Sie überließ es ihrem Mann, die Stille zu beenden:
»Aber natürlich, sie hat sich ja ausführlich damit beschäftigt und alles vorbereitet, nicht wahr, Liebling?« Michael schmunzelte in Hartmuts Richtung und nahm sich sorgfältig etwas Schwertfisch mit Soße auf die Gabel.
* * *
Seit Wochen hatte Karin sich schon besonders darauf gefreut, von Semarang aus die buddhistische Tempelanlage Borobudur wieder zu besuchen. Die uralte Pyramidenarchitektur im javanischen Dschungel war für sie ein Sehnsuchtsort, der das Fremde symbolisierte, geheimnisvoll und schön. Die Faszination für südostasiatische Kulturen verband sie mit Hartmut, der in den vergangenen Jahren mehr und mehr Zeit mit dem Studium von Philosophie, Religion und Kunst verbrachte und immer weniger mit seinen Finanzgeschäften. Wie gerne Karin ihm zuhörte, wenn er sein Wissen teilte.
Sie wunderte sich über die beiden Männer, die so scheinbar mühelos von einer zur anderen Gesprächsebene umschalten konnten und nun wie artige Internatsschüler ihre Teller leerten. Karin atmete tief durch, sie musste sich zusammenreißen. »Ja, natürlich sind wir angemeldet«, sagte sie zu Hartmut, »freust du dich auch schon so?« Als ob sie das jetzt noch genießen könnten. Ihre eigene Stimme hallte ihr unangenehm in den Ohren.
»Sehr. Allein, dass die gesamte Anlage über Jahrhunderte dem Vergessen anheimgefallen war und unter einem Erdhügel begraben, macht mir den Ort irgendwie sympathisch«, sagte Hartmut lachend. Ihr Mann stimmte ein. Und Karin Behr bewunderte beide für ihre Stärke. Hartmut lachte, bis ihm die Tränen kamen, er wischte sie sich mit den Händen ab, richtete dann seinen Kragen und sein seidenes Halstuch.
Als die Behrs später am Abend in ihre Suite zurückkehrten, ließ sich Karin erschöpft auf das weiße Sofa mit seinen vielen farbigen Ikatkissen fallen. »Uff! Was für ein Abend!« Sie streifte ihre Ferragamos ab, zog die Beine hoch und stützte sich auf die breite Armlehne. Michael schaltete die indirekte Beleuchtung ein, legte seine Anzugjacke ab und setzte sich in den Sessel gleich neben ihr.
»Willst du noch etwas trinken?«
»Demenz? Demenz?«, fragte sie, statt ihm zu antworten. Ihre Augen sprühten vor Empörung. »Du weißt seit einem knappen Jahr, dass Hartmut Demenz hat, und sagst mir nichts davon? Gar nichts?«
»Du weißt, warum: um dich zu schützen. Wozu wäre es gut gewesen, dich damit zu beschweren? Außerdem hast du ja selbst schon seit Langem gesehen, wie Hartmut abbaut. Wie oft haben wir darüber gesprochen? All die Aussetzer, die Versehen, das Vergessen. Es ist doch kein Geheimnis, dass er alt geworden ist.«
»Ja. Darüber haben wir oft gesprochen. Und uns Sorgen gemacht. Aber eine Demenzdiagnose ist doch etwas ganz anderes. Ich verstehe einfach nicht, warum du nichts gesagt und es einfach für dich behalten hast. Ich verstehe es nicht.«
»Karin, das war ein Versprechen unter Männern. Hartmut hatte mich darum gebeten, die Sache ganz diskret zu behandeln. Das ist doch selbstverständlich. Zumal es wie gesagt an den Gegebenheiten gar nichts geändert hätte, es zu sagen. Wir haben es doch miterlebt, wie er unsere Verabredung in Hongkong, als wir ihn besucht haben, schlichtweg vergessen hatte. Oder als wir bei uns in Singapur zusammen in der National Gallery waren. Erst wollte er nur noch seine Ruhe haben, später schreit er den Kellner im ›Odette‹ an. Und so weiter und so fort. Das Ganze dann immer im radikalen Wechsel: gute Phasen, in denen er vollkommen normal ist, und Phasen mit schrecklichen Aussetzern. Ist doch egal, wie man das dann medizinisch benennt. Ich glaube im Übrigen auch überhaupt nicht, dass die Medikamente, die er bekommt, daran irgendetwas ändern. Diese Krankheit schreitet schnell fort, und verbunden mit seinen übrigen Altersschwächen wird sie ihn letztendlich auch besiegen.«
»Wie kannst du so kalt darüber sprechen? Wir haben eben noch mit ihm zusammengesessen! Er ist unser guter Freund!«
»Ja, er ist unser Freund, zumindest das, was von ihm übrig ist. Wir müssen die Wirklichkeit akzeptieren! Seine Zerstörung wird schnell voranschreiten. Wir werden nicht mehr viel Zeit mit ihm gemeinsam haben.«
Karin richtete sich auf und betrachtete ihren Mann wortlos. Er hielt die Stille aus. Sie dauerte nicht lange.
»Ich finde das wirklich grausam, wie du über deinen Freund sprichst.« Sie hatte Tränen in den Augen.
»Grausam? Was glaubst du, warum ich dich auf die Idee zu dieser Seereise gebracht habe, auf der wir uns jetzt zusammen mit ihm befinden?« Michael war aufgestanden und schaute eine kleine Weile aus dem Fenster ins Dunkle. »Ich glaube, ich muss noch ein paar Schritte tun. Bis gleich.« Er nahm sich seine Anzugjacke, zog sie auf dem Weg zur Tür an, drehte sich kurz zu Karin um und sagte leise: »Glaubst du, für mich ist das alles ganz leicht und selbstverständlich?«
»Ja doch! Ich komme!«, rief Michael und zog sich ein Polohemd über den Kopf, während er am nächsten Vormittag kurz nach elf Uhr auf die Tür seiner Suite zueilte. Er öffnete.
Davor im Gang standen gleich mehrere Personen: ein Offizier der Blue Shadow, den er schon einmal gesehen hatte, ein weiterer Uniformierter, anscheinend ein Polizist, und ein Mann im Blouson, der ihn auf Englisch direkt fragte: »Mister Michael Behr?« und nach dessen Kopfnicken fortfuhr: »Dürfen wir kurz hereinkommen und mit Ihnen sprechen? Mein Name ist Hasyim. Ich bin Inspektor der indonesischen Kriminalpolizei.« Er präsentierte einen Dienstausweis mit Foto und imposantem Wappen, einem goldenen Adler, der die Schwingen in weitem Bogen stolz nach oben reckte.
»Ja, gewiss«, Michael trat zur Seite, öffnete die Tür bis zum Anschlag, machte eine einladende Geste mit dem linken Arm und musterte den schmalen Indonesier mit schnellem Blick. Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, die Stimme weich, fast weiblich, die Gesichtszüge fein gezeichnet mit hohen Jochbögen, die Augen von überraschend heller Bernsteinfarbe.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung«, murmelte der ihm folgende Schiffsoffizier beim Eintreten. Die Sache war ihm sichtlich unangenehm, er nestelte nervös an seinem Gürtel. Karin kam im Sportdress aus dem Schlafzimmer, und statt zum Fitnessraum gehen zu können, musste sie nun zu ihrer Überraschung fremde Menschen mitten in ihrer Suite begrüßen. Sie blickte verwundert auf den Ausweis mit Foto und Adler, den der Mann im Blouson nun auch ihr vorzeigte, las seinen Namen und vergaß ihn sogleich wieder. Dann lief alles ab wie im Fernsehkrimi: In dieser Nacht sei Hartmut Siems gestorben. Sie kannten ihn. Sie haben nach Aussage des Servicepersonals im Bordrestaurant den letzten Abend mit ihm zusammen verbracht. Sie haben für ihn gebucht. Fragen. Noch mehr Fragen. Wie wirkte er auf Sie? Wann haben Sie sich voneinander getrennt? Was sagte er zu Ihnen? Kennen Sie ihn schon lange? Hat er Selbstmordgedanken geäußert? Und so fort.
Sie gaben bereitwillig alle Auskünfte. Michael wollte Hartmut noch einmal sehen. Das war nicht möglich: Er lag bereits verpackt im Zinksarg mit Kühlakkus auf dem Motorboot der indonesischen Polizei.
Offensichtlich war Hartmut Siems von einem Mitarbeiter des Room Service, der um 6.30 Uhr morgens das Frühstück servieren wollte, tot im Sessel aufgefunden worden. Als wäre er dort eingeschlafen. Im Bad waren mehrere Schachteln verschiedener Medikamente auf dem Waschtisch verteilt gewesen. Neben dem Leichnam ein Wasserglas und eine halb leere Evian-Flasche.
Später standen Karin und Michael Behr nebeneinander an der Reling ihres Balkons und schauten hinab auf das Boot der indonesischen Wasserpolizei, sahen den Sarg, am Deck befestigt mit Leinen. Es war sehr windig. Karin weinte, Michael nahm sie in den Arm. Sie stand unter Schock, hatte aber das Beruhigungsmittel des Bordarztes dankend abgelehnt. Das schwankende Boot sah von so weit oben klein aus, der Metallsarg, der an einigen wenigen, vermutlich häufig berührten oder beschädigten Stellen das Sonnenlicht blitzend reflektierte, erschien winzig. Dann wurden Leinen geworfen, indonesische Rufe gingen hin und her zwischen den Männern auf dem Boot und denen auf der Blue Shadow, schließlich setzte sich das Boot ab, wendete in einer großen Kehre und nahm Fahrt auf, unruhig, wie es schien, trotzig gegen die Wellen der Javasee ankämpfend.
»Michael, das ist ein Alptraum. Was ist bloß passiert?«, schluchzte Karin.
»Beruhige dich, Karin, beruhige dich. Das ist ein fürchterlicher Abschied von einem Freund. Ich kümmere mich gleich darum, dass wir heute noch von Bord gehen können und nach Hause fahren.«
»Es passiert leider nicht selten, dass gerade ältere Menschen eine Kreuzfahrt für ihren Freitod wählen. Das ist eine luxuriöse Form der Seebestattung«, sagte Daniel Hawthorne, der australische Kapitän der Blue Shadow, und verzog die Lippen ein wenig, als er am Mittag dieses 17. Juni 2019 mit Karin und Michael Behr zusammen in der Bar saß. »Ich habe das in meinen inzwischen zwölf Jahren als Kapitän von Kreuzfahrtschiffen schon mehrmals erlebt. Offensichtlich gibt es bei manchen das Bedürfnis, dem Schicksal zuvorzukommen, dem eigenen Abschied eine Form zu geben, ihn selbst zu bestimmen und zu inszenieren.« Hawthorne blickte aus dem Fenster. »Die hohe See hat eine enorme Faszination und wird mit der Ewigkeit verbunden. Da liegt die Idee eigentlich nah: der eigene Tod als letzte Reise. Selbst organisiert und vielleicht sogar genossen.« Hawthorne blickte unsicher auf Karin. Er hatte bemerkt, dass er vielleicht zu offen und ehrlich geredet hatte, bedauerte das ebenso ehrlich, er wollte nicht zynisch und verletzend wirken.
»Wie grässlich«, sagte sie, mühsam beherrscht, »aber was die Todesart angeht: Das werden wir erst nach der Obduktion in Jakarta hören, ob es ein Freitod war.«
»Ja, natürlich, das bleibt erst mal abzuwarten. Es tut mir sehr leid, dass Sie das durchleben müssen und uns schon verlassen wollen«, meinte Hawthorne. »Der Shuttle zum Flughafen Semarang um siebzehn Uhr ist selbstverständlich für Sie organisiert. Sie fliegen zurück nach Singapur, nicht wahr?«
»Ja, wir fliegen nach Hause. Uns steht der Sinn wahrlich nicht mehr nach einer Vergnügungsreise.« Michael atmete tief durch und nahm einen Schluck von dem Whisky, der vor ihm stand. »Von dort aus kümmern wir uns auch um die Bestattung. Mir fällt gerade ein: Was wird eigentlich mit Hartmut Siems’ Sachen? Seine Kleider und so weiter, die sind doch noch in der Kabine, nicht wahr?« »Ja. Aber die Sachen und seine Koffer hat die Polizei ›sichergestellt‹, wie man wohl sagt, also beschlagnahmt. Es wurde alles quittiert und wird den Erben übergeben, wenn sie ermittelt sind. Die Suite wurde versiegelt.«
»Martin ada di telepon. Apakah Anda ingin berbicara dengannya?« Mit breitem Lächeln stand Ayomi da und hielt das Handydisplay vor Ellens Nase. Zu nah. Die so schön sortierten und abgespeicherten Informationen schienen ihr eher ein abstraktes Kunstwerk zu sein, eine 5×9 cm-Miniatur. Statt Profilfoto und Telefonnummer des Anrufers sah Ellen Baarn nur das Weiche des menschlichen Umrisses und das klare Weiß der Namensbuchstaben und Anschlussziffern. Viel schöner waren die Farben von Hand und Unterarm der wunderbaren Ayomi, der Glanz der goldenen Ringe an ihrem Daumen, Zeige- und Mittelfinger, das Glasperlenarmband. Alles oberhalb Ayomis Ellenbogens erschien in Ellens Auge scharf.
Ellen musste auf der Verandaliege kurz eingeschlafen sein, ihre dicke Lieblingspalme stand inzwischen ganz im Schatten. Etwa halb vier Uhr also schon. Wie blöd. In gut zwei Stunden würde die Dunkelheit einen weiteren Tag verschluckt haben. Zwischen dem dritten und vierten Klingeln ihres Handys, auf dem sie den markanten Ruf des Koelvogels als Signalton eingestellt hatte, dämmerte ihr, dass Martins Anruf etwas mit der Abgabefrist zu tun haben könnte. Die hatte sie ganz vergessen. Noch blöder. Dabei waren die Übersetzungen der Firmenprofile, Gesetzestexte und Veranstaltungsberichte für das Jahrbuch der D.I.G., der Deutsch-Indonesischen Gesellschaft, kein Hexenwerk. Das waren sie nie. Und die meisten Texte der 2020er-Ausgabe schienen ihr sowieso erstaunlich nah an denen der vorletzten. So hatte nichts wirklich ihr Interesse geweckt und dazu verlockt, sich früher als sonst dem Jahrbuchauftrag zu widmen. Dann eben wieder auf den letzten Drücker. Sie würde Martin bestimmt vertrösten können, hoffte Ellen Baarn. Nach ihrer Schätzung bräuchte sie vier sehr lange Tage, eine Nachtschicht mit Ayomis Höllenkaffee, dann noch einen halben Tag zum Korrekturlesen – und am Montagnachmittag könnte sie die Texte an die Botschaft schicken.
»Es ist Martin, willst du rangehen?«, wiederholte Ayomi und tippte – vielleicht aus Entscheidungsfreude, vielleicht weil sie Ellens Gedanken wirklich so genau erspürte – ohne die Antwort abzuwarten auf das Symbol mit dem grünen Hörer, reichte der Älteren das Telefon und setzte sich neben sie. Aus dem Gerät klang beiden ein melodisches Summen entgegen.
»Martin?«, vergewisserte sich Ellen, während sie mit der Linken durch ihr Haar fuhr im nur mäßig erfolgreichen Versuch, die vom Nickerchen in der Nachmittagshitze plattgelegenen Strähnen mit Rütteln und Schütteln wieder aufzurichten. Das lange Baumwollkleid klebte an ihrem verschwitzten Körper, sein wildes Muster überspielte äußerst gnädig Ellens über die Jahre etwas zu üppig gewordene Rundungen.
»Jaha, ich bin’s, erkenne mich, du Holde, es ist der Ruf unserer schönen Bundesrepublik, die dich gar eilig, eilig braucht.«
Er sang wirklich. So war es immer mit ihm. Immer humorig, immer freundlich. Ellen wusste, Martin Troeltsch würde ihr kein schlechtes Gewissen bereiten. In Gedanken umarmte sie ihn.
»Ich bin heilfroh, dass du zu Hause bist. Störe ich dich gerade, oder hast du ein paar Minuten? Ich hätte da …«, fuhr der Botschaftsrat ohne Gesang fort. Auch im Sprechen war seine Stimme melodisch und warm. Den typischen rheinischen Singsang, der seine Herkunft verriet, pflegte er mehr als Hobby und schaltete ihn nach Laune und Anlass aus und ein. Dialektwitze waren seit Jahren zu fortgeschrittener Stunde höchst beliebt bei den regelmäßigen Treffen der D.I.G., und Martin war in dieser Disziplin der Kronprinz, gleich hinter dem ungekrönten König, dem dicken Bayern mit der Metallfabrik außerhalb von Jakarta.
»Mein Lieber, für dich und das Vaterland habe ich jetzt wieder Zeit.« Ellen unterbrach Martin mit der Leichtigkeit, zu der er sie mit seinem Gesang eingeladen zu haben schien. »Ich war in den Fängen eines javanischen Höhlengeistes. Bin gerade erst zurück und kann mich jetzt endlich den Texten widmen«, scherzte sie.
Er lachte wie erhofft. Sie hob den Bananenblattfächer auf, der ihr im Schlaf vom Schoß auf den Verandaboden gerutscht sein musste, wedelte sich im geübten Takt Luftwirbel Richtung Gesicht und Dekolleté. Mit ernsthafter Stimme, einer dankbaren Auftragnehmerin angemessener, ergänzte Ellen Baarn die fällige Entschuldigung:
»Ach Martin, was soll ich sagen. Ich hab’s verpennt. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, du wartest auf die Dateien. Ich setze mich gleich nach unserem Telefonat hin, und du hast die Texte am Montag, spätestens Dienstag. Ja?«
Sie hörte sein Luftholen, hörte sein »Aber Ellen, ich …«, ließ ihn jedoch nicht zu Wort kommen, sondern fuhr schnell fort: »Dass du immer so geduldig mit mir bist! Wenn ich dich nicht hätte … na ja, du weißt schon …«
* * *
In der Tat. Er wusste schon. Seit Jahren verschaffte Martin Troeltsch ihrem Einfraubetrieb, der »Document Translation and Certification Agency«, über die deutsche Botschaft diverse Aufträge – Übersetzungen von Broschüren, Redetexten, Festschriften, seltener auch mal Beglaubigungen, Zeugnisse und die damit verbundenen Recherchen. Und da sie noch nie strukturiert zu arbeiten vermochte und es nie mehr lernen würde, erfand er grundsätzlich ein dem tatsächlichen weit vorgezogenes Abgabedatum speziell für Ellen. E-Day hieß das in seinem Kalender, F-Day war das Fristdatum der Druckerei und D-Day der Tag, an dem es wirklich losging und sich nichts mehr ändern ließ. Für Spezialaufträge hatte er keine Kürzel. Und so rührte ihn Ellens Entschuldigung. Sie bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, noch bevor er den eigentlichen, eher unappetitlichen Grund seines Anrufs hatte nennen können.
»Ach Ellen, nun entspann dich mal wegen der Texte. Das Abgabedatum …«, er musste sich kurz räuspern, denn auch die höflichsten kleinen Alltagslügen fielen ihm schwer, »… das kann ich bestimmt nach hinten schieben. Deswegen rufe ich doch gar nicht an.«
»Nicht?«, fragte Ellen verblüfft. »Nein. Ich hätte einen gänzlich anderen Auftrag für dich.« Martin hielt nur kurz inne. Gerade lang genug, um Ellens Neugierde zu wecken, und kurz genug, um sich nicht unterbrechen zu lassen. Solche Pausen hatte er im Umgang mit Ellen zur Kunst entwickelt. Er unterwanderte so ihre Neigung, den Redefluss anderer mit Fragen oder Einwürfen zu stören. Martin Troeltsch hatte Jahre gebraucht, ihr Muster zu durchschauen: Diese Frau interessierte sich für alles und jeden, konnte ein und dieselbe Situation glasklar als nüchterne Beobachterin einordnen und sich zugleich hineinfallen lassen, sich dabei als Beteiligte fühlend, selbst wenn sie es eigentlich gar nicht war. Wer spannend, intelligent, gewitzt genug sprach, der wurde von ihr mit geradezu hypnotischer Aufmerksamkeit belohnt. Wer aber seinen Redefluss und -inhalt ihrer gedanklichen Schnelligkeit nicht anzupassen vermochte, musste etliche Zwischenfragen erdulden und beantworten. Das führte die Unterhaltung, die zu erzählende Geschichte dann insgesamt zwar nicht schneller zu einem Ende, aber doch lenkte Ellen Baarn so die Lesart des Ganzen deutlich in ihre Bahnen. Und da Ellen die seltene Gabe besaß, selbst in der langweiligsten Geschichte etwas Fesselndes, gar Grundsätzliches zu entdecken, schienen sich die Gesprächspartner dann sogar besser statt unhöflich unterbrochen zu fühlen. Martin rätselte oft, ob Ellen überhaupt wusste, dass ihr Muster im Grunde manipulativ war, ein subtiles Machtmittel. Denn niemand würde sich von dieser Frau mit ihrer kleinen Übersetzungsagentur im Komplek Auri Besakih in Jakartas Botschaftsviertel Menteng manipuliert fühlen, dachte Martin.
Er musste zum unappetitlichen Teil kommen. »Ich will jetzt nicht behaupten, dass es bei dem Auftrag um Leben und Tod geht. Also zumindest nicht für dich. Geht mehr um Leben und Tod eines gewissen Hartmut Siems. So wie die Sache damals mit den Doppelgängerinnen der Kessler-Zwillinge, du erinnerst dich bestimmt.«
»Ja. Igitt«, warf Ellen trocken ein. Diese »Sache« war nichts, was man so leicht vergessen konnte. Die damals fällige Dokumentenübersetzung ging einher mit dem sehr unschönen Anblick von ebenso elegant wie deutlich in die Jahre gekommenen deutschen eineiigen Zwillingen, die sich gegenseitig und zeitgleich erschossen hatten. Mitten ins Gesicht, mitten in ihrer Tanznummer à la »Moulin Rouge« vor internationalem Kreuzfahrttouristenpublikum, das bis zum großen Doppelknall die Darbietung der nicht mehr ganz so gelenkigen Damen eigentlich sehr gnädig beurteilt hatte. Von den Zuschauern bekam keiner mehr die Beine so hoch. Leider hatte das die Tänzerinnen nicht darüber hinwegtrösten können, dass der Schenkelschwung jugendlichere Höhen längst nicht mehr erreichte. Dann eben Peng. Und Peng. Nein, das hatte Ellen nicht vergessen und lauschte Martins knappen Hinweisen: »Die indonesische Polizei bittet uns mal wieder um Amtshilfe. Soweit ich das verstanden habe, müssen wir uns erst mal nur mit der Übersetzung und Beglaubigung des Totenscheins ranhalten. Kommst du mit?«
Ellen zögerte, ohne so recht zu wissen, warum; ohne zu diesem Zeitpunkt schon wissen zu können, dass dieser Auftrag die Wende in ihr Leben bringen würde.
»Du hattest mit Kapitän Hawthorne über die Bestattung gesprochen?«, sagte Karin und wendete sich ihrem neben ihr im Flugzeug sitzenden Mann zu. Er blickte von seinem iPad auf und sie etwas abwesend an. »Willst du das tatsächlich übernehmen? Wie ist denn das mit Verwandten? Ist da jemand zu benachrichtigen? In Deutschland?«
Michael warf einen Blick aus dem Flugzeugfenster. Endloses strahlendes Himmelblau bis zum milchigen Horizont.
»Nun, was ich sicher weiß, ist, dass Hartmut keine Angehörigen in Hongkong oder überhaupt in Asien hat. Seit ich ihn kenne, lebt er allein. Lebte. Er kannte sehr viele Leute, hatte auch etliche Freunde und Freundinnen, aber war mit niemandem verwandt. Manche hast du ja auch in Hongkong kennengelernt. Seine Nachbarin etwa, Frau Li, mit der war er ja recht eng. Die sollten wir auf jeden Fall benachrichtigen und auch bei ihr nachfragen: Vielleicht hat sie ja Informationen über Verwandte oder weiß sonst etwas Wichtiges.«
»Aber er muss doch in Deutschland noch Familie haben, oder? Hat er auch mit dir nie darüber gesprochen? Wenn ich dabei war, war das kein Thema. Ich dachte irgendwie immer, dass er so persönliche Themen für Weiberkram hält.«
»Er war froh, ganz weit von Deutschland entfernt zu sein. Mir gegenüber hat er nie erwähnt, dass er Kontakte nach Deutschland pflegt. Vielleicht war es ähnlich wie bei mir: Eltern verstorben und keine Geschwister, keine Verwandten. Zumindest keine, zu denen man irgendeine Beziehung aufgebaut hätte. Was ich weiß, ist, dass er wohl als kleiner Junge gleich nach dem Krieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Schlesien, glaube ich, nach Westdeutschland kam und in der Gegend von München aufgewachsen ist. In München an der Technischen Universität hat er auch studiert und später hat er in München gearbeitet. Aber das weißt du ja auch alles.«
»Zur Sicherheit sollte man trotzdem über die Botschaft versuchen, ganz offiziell nachzuforschen, ob es jemanden gibt.«
»Wenn ich das richtig weiß, wird die deutsche Botschaft in Jakarta das sowieso tun, weil es sich um den Tod eines deutschen Staatsbürgers in Indonesien handelt. Aber das erfragen wir von zu Hause aus.« Michael umfasste Karins Hand, er sah, dass sie wieder mit den Tränen kämpfte. »Es war sehr anstrengend heute. Wir kümmern uns später um all die praktischen Dinge, die zu tun sind.«
Der Botschaftsrat kannte sie gut genug. Sie hatte ihm noch nie eine Bitte abschlagen können. Und weil sie keine Sonderaufträge von unaufschiebbarer Dringlichkeit hatte, wäre ein Nein keine nachvollziehbare Antwort gewesen. So war Martin Troeltsch während des Telefonats längst auf dem Weg zu Ellen Baarn, um sie abzuholen. Vor Einbruch der Dunkelheit sollten sie im Kühlhaus am alten Hafen von Jakarta sein. Das könnte knapp werden. Seit fast einer Stunde quälte sich sein Fahrer schon durch den Nachmittagsverkehr der Hauptstadt, um ihn vom Botschaftsbüro an der Jalan M.H. Thamrin bis zum fünf Kilometer entfernten Haus der Übersetzerin zu bringen. Als er das Gespräch mit einem »Bis gleich!« beendete, hatte er die Stichstraße, die zu ihrem Haus führte, immerhin im Blick. Abdul wies mit seinem Daumen wortlos auf die Linie, die die breite H.R.-Rasuna-Said-Straße auf dem großen Bildschirm des Navigationsgeräts markierte. Nur wenige Abschnitte waren gelb, die meisten dunkelrot hervorgehoben. Für die verbleibenden fünfhundert Meter bis zum Ziel kalkulierte das Programm zehn Minuten. Acht Minuten später bog Abdul endlich ab. Nach dem Baustellenstaub, dem hundertfachen Hupen der Busse, Autos, Motorroller, dem endlosen Betongrau links und rechts der Hauptstraße wirkte die Besakih-Straße grün, ruhig und schön. Vom Rücksitz aus betrachtete Martin den Umriss der indischen Botschaft, die in den frühen 1990er-Jahren mitten auf das große Eckgrundstück mit Garten gebaut worden war. Die dreieckigen, weiß getünchten Formbetonteile hatten ihr einstiges Strahlen im ewig feuchten Tropenklima längst eingebüßt, Moos und Schimmel überzogen die beiden unteren Stockwerke des Gebäudes, sodass die eigenwillige Pyramidenform im Dickicht der Palmen und Mangrovenbäume kaum noch auszumachen war. Er freute sich auf das Wiedersehen mit Ellen und beschloss, die Zeichen von Vergänglichkeit und Vernachlässigung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu ignorieren.
Ellen wartete nicht auf sein Klopfen. Schon während er seine Schuhe auszog und zu den ordentlich neben dem Hauseingang platzierten Flip-Flop-Paaren und Sandalen stellte, hörte er ihr »Ich eile, ich eile!« durch die geschlossene Tür, eher gesungen als gesprochen. Martin Troeltsch wusste: Sie freute sich auch. Die Tür flog auf, und dann stand sie da und lächelte ihn an, schritt ihm entgegen auf die das Haus umlaufende Veranda, umarmte ihn fest mit einem »Ach, wie schön«, küsste erst seine rechte, dann die linke Wange, nicht gehaucht, sondern ebenfalls fest, hakte ihn unter und zog ihn hinein ins Haus. Nach der künstlich gekühlten Autofahrt schien ihm das großzügige Wohnzimmer wärmer als die üblichen knapp dreißig Grad Celsius zu sein. In wenigen Minuten würde er anfangen zu schwitzen, dennoch genoss er die Wärme des Raumes, der Ellen umgab. Ihre Wärme. Liebenswürdig wie immer hatte sie bereits die hausgemachte Zitronengras-Ingwer-Limonade für ihn bereitgestellt. Er mochte den würzig-süßlichen Geschmack und wusste um Ellens langwierige Versuche, Ayomi dazu zu bringen, den üblichen Rohrzuckersirup durch etwas weniger hüftgefährlichen Honig zu ersetzen. Die Minuten zwischen dem Telefonat und seiner Ankunft hatte sie offensichtlich mit dem Versuch verbracht, die dunkelblonden Haare zu ordnen, die Augen mit mattgrauem Lidschatten, dünnem schwarzem Lidstrich und Wimperntusche zu betonen und die Haut mit Rouge aufzufrischen. Anders als ihre etwas zu große und vor allem großgemusterte bunte Bluse war die weite Leinenhose dem morbiden Charakter ihres anstehenden Termins angemessen schwarz und saß tadellos.
Er schaute sich um. Wie vertraut ihm alles war. Dabei hatte Martin Troeltsch sie schon länger nicht mehr zu Hause besucht. Meist trafen sie sich in der deutschen Botschaft, auch mal in der niederländischen oder zum Essen entweder bei ihm oder in einem der unzähligen Hotels der Stadt. Er fühlte sich bei Ellen wohler als in seiner eigenen Wohnung. Seine Frau und er hatten sich vor dem kürzlichen Umzug zwar zahllosen Einrichtungsbeispielen aus Hochglanzzeitschriften ausgesetzt, besaßen allerdings nicht das Talent, das Gesehene mit etwas persönlichem Flair ins eigene Leben zu übertragen. Ellen hingegen hatte nach ihrem Neustart vor Jahren einem javanischen Schreiner Entwurfszeichnungen, eher Kritzeleien, einfach zur freien Interpretation anvertraut. Daraus hatte der Mann Möbel von schlichter Schönheit geschaffen, mit dem bunt gemaserten Holz eines einzigen Makassarbaums den Auftrag in klare Formen übersetzt. Dessen Farben ließ er von Ellens freiem Geist erzählen. In langen Linien zogen sich dunkles Braun, fast schwarz an den Rändern, und rötliche Töne, die in flammendes Orange und sogar Gold übergingen, über jedes einzelne Stück: Zwei Regale begrenzten links und rechts das riesige, bodentiefe Schiebefenster zur Terrasse und bildeten den dunklen Rahmen für das üppige Grün des Gartens. Eine breite Kommode mit zehn unterschiedlich großen Schüben dominierte die Wand rechts, die Mitte ein großer runder Couchtisch. Um diesen gruppierten sich vier kleinere, ebenfalls runde Beistelltische sowie vier Sessel und zwei Sofas mit glatten, hölzernen Armstützen und geflochtenen Rückenlehnen. Die Sitzpolster waren mit traditionellen Stoffen aus Borneo bezogen. Leuchtendes Indigo, Gelb, Grün in mutigen Mustern. Martins Blick wanderte über den Lackparavent links des Eingangs, den sie von einer ihrer Vietnamreisen mitgebracht hatte, wieder zur Kommode an der Wand gegenüber. Und bevor er nach dem darüber hängenden Kunstwerk fragen konnte, antwortete Ellen:
»Ja, richtig, das kennst du noch nicht. Sind das nicht irre Farben? Ayomi hat das Foto mit der großen Canon gemacht und verfremdet. Du errätst nie, wer das ist und wo sie das aufgenommen hat!« Ellen blinzelte Ayomi zu, die still an der geöffneten Terrassentür lehnte und die beiden Europäer beobachtete, und fuhr lachend fort: »Das verraten wir dir auch nicht, sonst landen wir alle drei noch im Gefängnis.«
Martin hörte kaum mehr zu, blickte nervös auf die Uhr, mit jeder weiteren Minute würde Jakartas Verkehr noch schrecklicher: »Ich muss drängeln, nehmt es mir bitte nicht übel, aber wir müssten uns jetzt wirklich auf den Weg machen.«
Ellen wechselte in einen gespielten Managerton: »Recht hast du. Der Ruf der Republik erfordert echt ein shifting von priorities. Ich müsste zwar dringend das Wuchern der Orchideen im Garten observieren. Aber das konnte ich mit einiger Überredungskunst bereits an Ayomi delegieren. Warten muss nun bedauerlicherweise die Übersetzung des wirklich hochinteressanten Jahrbuchartikels zur Erweiterung des Einkaufszentrums«, schloss Ellen mit Ironie in Grabesstimme, fasste Martin dabei an die Schultern und drückte sie im Takt der Silben: »Ich bin bereit: Lebenswichtig ist hier und heute nur der Schein für einen Toten.«
Typisch Ellen. Manchmal redete sie einfach zu viel. Zeitraubend. Warum dann keusch? Es schien ihm nicht nur irgendwie, sondern gänzlich unpassend, aber doch war es das Wort, das Martin Troeltsch in diesem Moment einfiel, als er ihrer tiefen Stimme lauschte. Von dieser Stimme würde er sich auch das Telefonbuch von Jakarta vorlesen lassen. Vielleicht hätte man im 19. Jahrhundert ihre innige Freundschaft als keusche Liebe bezeichnet? Das ist Quatsch, korrigierte er sich in Gedanken, dazu waren beide inzwischen zu alt und waren es auch schon, als sie sich vor fast dreißig Jahren mit Mitte Zwanzig in Jakarta kennengelernt hatten.
Der Fahrer öffnete ihnen die Türen des Dienstwagens, Martin ging um den weißen Audi A4 herum und stieg hinten links ein, Ellen setzte sich hinter Abdul, einen Meister seines Fachs. Jakartas ständig wechselnde Baustellen forderten die vielen Berufsfahrer in der 30-Millionen-Einwohner-Stadt täglich aufs Neue heraus. Denn die aktuelle Abkürzung könnte morgen schon gesperrt sein. Abdul schlug einige Haken durch die wenig befahrenen schmaleren Straßen hinter dem Botschaftsviertel, allesamt ohne Bürgersteige, der Asphalt endete zuweilen im Sand. Staub hing in der Luft und verlieh dem goldenen Nachmittagslicht einen zusätzlichen weichen Schleier. Hohe Mauern mit Stacheldraht umgaben die Grundstücke links und rechts. Der Blick durch blitzsaubere schmiedeeiserne Ein- und Ausfahrtstore ließ nur etwas von der Größe der Häuser am Ende der Vorfahrten erahnen, nichts von ihrer Bedeutung, nichts von ihren Bewohnern, nichts von deren Bedeutung. An fast jeder Einfahrt saß ein uniformierter Mann eines privaten Sicherheitsdiensts. Frangipanibäume, Jasmin, Bougainvilleabüsche und Bananenstauden überragten die Mauern. Riesige Blätter neigten sich hinaus auf die Straßen, um gnädig auch dem Leben außerhalb der Schutzzonen etwas Schatten zu spenden.
Mehrere hundert Meter Stau hatte Abdul umfahren. Hinter dem Sudirman Square und dem eingerüsteten Gebäude des mächtigen Singapore Asia Trust musste er sich dann aber doch in den Verkehr auf der Prof.-Dr.-Satrio-Hauptstraße einfädeln, um die Autobahnauffahrt gen Norden zu erreichen. Bis zum Horizont reichten die faradayschen Käfige, und jeder Wageninsasse erduldete den Straßenalltag auf seine Weise. Einige Fahrer blickten nach vorne, die anderen hatten die Köpfe über ihre Smartphones gesenkt. Das G4-Netz trug sie alle aus ihrer Gefangenschaft in Zeit und Raum hinter verdunkelten Scheiben.
»Also, was muss ich über den neuen Toten wissen?« Ellen hatte ihr winziges Notizbuch aufgeschlagen und suchte vergeblich nach ihren Stichworten ähnlicher, längst vergangener Aufträge.
Martin Troeltsch starrte auf den Tabletbildschirm auf seinen Knien, überflog die E-Mail seiner Assistentin, öffnete den Anhang mit der Vorgangsmappe. »Hm, das habe ich alles schon am Telefon gesagt … Amtshilfeersuchen der Polizei der Republik Indonesien, Einheit Jakarta XXI/03 vom 17. Juni 2019, 15 Uhr. Klärung der Formalitäten und Beglaubigung Totenschein erbeten. Name des Verstorbenen: Hartmut Siems, fünfundsiebzig Jahre alt, deutscher Staatsbürger, zuletzt wohnhaft in Hongkong.«
»Hongkong. Das ist neu«, warf Ellen ein, ohne Martin oder die Unterlagen anzuschauen. Sie beobachtete die am Fenster vorbeirollenden Bäuche, Rücken, Taschen, Rucksäcke, Hände der Motorrad- und Motorrollerfahrer, die sich ohne Unterlass und mit teilweise halsbrecherischer Geschwindigkeit zwischen den dicht an dicht im Schritttempo Richtung Schnellstraße schleichenden Autos hindurchschlängelten.
»Lass mich doch einfach mal ausreden. Also: Unser Konsulat in Hongkong hatte in der ELEFAND-Datenbank gleich eine Kontaktnummer und mich an so eine große Anwaltskanzlei verwiesen. Laurie, Barnes & Hamilton. Die sind riesig, ich habe bei Nummer 15 ihrer Büroadressen in der Welt aufgehört zu zählen. Das Head Office in Hongkong ist jedenfalls beauftragt, im Todesfall alle praktischen Dinge abzuwickeln. Man fragte mich, ob ich jemanden empfehlen könnte, der in dieser Sache übersetzt, dokumentiert und recherchiert. Ich habe natürlich deinen Namen fallenlassen.«
Ellen warf ihm einen Luftkuss zu.
»Tja, mehr Informationen gibt es noch nicht. Allerdings ein Bonbon zum Leichenschmaus: Du wirst Hasyim mal wiedersehen.«
Ellen strahlte ihn an: »Ach, warum hast du mir das eben nicht schon gesagt? Dann hätte ich doch noch drei Kilo abnehmen können.«
Beide lachten. Mit dem indonesischen Kommissar hatten sie schon häufiger bei früheren Fällen zu tun gehabt, und Ellen Baarn war jedes Mal kurz vorm Backfischverhalten, so attraktiv fand sie den jungen Mann. Martin amüsierte das, und zugleich bedauerte er den muslimischen Beamten, den Ellens europäische Direktheit jedes Mal in Verlegenheit brachte.
Abdul hatte mittlerweile Stau, Auffahrt und Mautstation hinter sich gelassen, die Jenderal-Gatot-Subroto-Stadtautobahn war längst nicht so überfüllt, auf der Hochstraße konnte er endlich Gas geben. Immer mehr riesige Betonpfeiler waren in den letzten fünfundzwanzig Jahren in die Armenviertel der Stadt gerammt worden, um immer mehr neue Fahrbahnen zu tragen. Die aufstrebende Mittelschicht des Landes konnte so mit ihren neuen Mittelklassewagen über die Habenichtse desselben Landes ungebremst hinwegrollen.
Die gläsernen Türme des modernen Indonesien glitzerten bald nur noch in der Ferne. Je näher sie dem Sunda-Kelapa-Hafen kamen, umso flacher wurde die Bebauung der Stadt und ihre Armut offensichtlicher. Ohne erkennbare Straßenstruktur drängten sich zwei- bis dreigeschossige Häuser aneinander, jedes aus einfachsten Materialien errichtet. Viele Außenwände der Wohnkartons waren in einem einheitlichen, satten Grau getüncht, das die Schimmelschlieren überdeckte. Hingen Regenwolken tief über der Stadt, löste ihr Grau die eckigen Silhouetten auf, und die Baracken wurden eins mit dem Himmel, und das hatte nichts Tröstliches, sondern prophezeite vielleicht schon das Vergehen: Ganze Viertel waren wild und ungeregelt entstanden, und genauso könnten sie auch wieder verschwinden, ohne Interesse an den Spuren ihrer Bewohner. Manche der Armenhütten fanden Halt an den hoch aufragenden Stelzen der Werbeschilder entlang der Autobahn. An einem sonnigen Tag wie diesem überstrahlten die Plakate mit ihren riesigen Lettern, lachenden Frauen und glänzenden Autos bizarr-bunt das Slumgrau. Verheißung nur für die Vorbeifahrenden.
»Hier bin ich schon länger nicht mehr langgefahren. Wie schön bequem man das alles im Alltag zwischen Menteng und Rasuna Said und den langen Baliwochenenden doch ausblenden kann«, seufzte Ellen.
»Oh. Dafür habe ich das B-Wort schon länger nicht mehr gehört«, entfuhr es Martin. Überrascht versuchte er an Ellens Miene abzulesen, ob er nun seinerseits das S-Wort in den Mund nehmen dürfte. Durfte er nicht. Ellen rollte mit den Augen und schnitt ihm das Wort ab: »Lass gut sein. Ich wollte jetzt wirklich nicht von Stan anfangen.«
Martin Troeltsch beeilte sich, sie von den wohl eher düsteren Gedanken an Bali und Stan abzulenken: »Dein Weg zum Inlandsflughafen ist ja auch anders. Wenn wir unsere Gäste vom internationalen Flughafen abholen, bleibt nur die Strecke hier. Gerade vergangene Woche, da war die maritime Mittelstandsdelegation hier. Du weißt schon, diese Hafenvereinigung aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Sei bloß froh, dass der Auftrag fürs Dolmetschen nicht an dich ging. Die hätten dich schon bei der Begrüßung auf hundertachzig gebracht. Reine Männertruppe. Nach neunzehn Stunden in der Businessclass von Hamburg über München und Singapur kommen die hier bis auf zwei Ausnahmen besoffen an, lallen beim Warten auf den Shuttlebus über die ach so überraschend feuchte Tropenhitze, die ach so müde macht, und schnarchen sich durch die klimatisierte Fahrt zum Kempinski. Und wir Botschaftstrottel bleiben auf all unseren brav zusammengetragenen Informationen sitzen. Dabei hatten wir alles so schön zur Route passend vorbereitet. Warum Jakarta so wächst, wie es wächst. Dass die Megastadt Zentimeter um Zentimeter im Meer versinkt. Dass das ganze Migrationsthema in Deutschland eher klein anmutet im Vergleich zur Binnenmigration hier. Und was der Wahlausgang für 270 Millionen Indonesier heißt, wie viele Hoffnungen auf Joko Widodo ruhen und warum sie ihn so liebevoll Jokowi nennen. Dass hier die wohl größte Sozialreform der Welt läuft. Und so weiter und so fort. Und als Höhepunkt, genau wenn der Bus den imposanten Brunnen vorm Hotel Indonesia umkreist hat und die Vorfahrt erreicht, wollte ich auf unser gegenüberliegendes Botschaftsgebäude zeigen und das unseren werten Gästen doch so wichtige Freihandelsabkommen erwähnen und wie sehr sich der Herr Botschafter jetzt schon darauf freut, die Delegation für vertiefende Gespräche dazu am Abend zum Dinner zu empfangen. Tja, stattdessen höre ich nur: Schnarch, schnarch.« Martin zuckte enttäuscht mit den Schultern.
Ellen blickte ihn halb amüsiert, halb mitleidig an. »Information overkill. Du und deine pflichtbewusste Beamtenseele … meinst du nicht, dass solch waches Interesse gleich nach einem Interkontinentalflug selbst für einen stocknüchternen Kopf ein bisschen viel verlangt ist? Es kommt doch aufs Timing an!«
»Jaja, ich weiß. Beim nächsten Mal spare ich mir meinen brillanten Vortrag«, erwiderte Martin lachend und verstaute das Tablet in seiner Aktentasche.
Abdul hatte endlich die abgesperrte Hafenzufahrt erreicht und den beiden Wachen die nötigen Ausweispapiere nebst Bestätigungsschreiben der indonesischen Polizei überreicht. Durch das geöffnete Fenster wehte ein Schwall heißer Luft ins Auto, es roch nach verbrannten Abfällen, Gummi und Gewürzen. Die Überprüfung ging schnell, die beiden Männer hatten den Wagen mit dem Diplomatenkennzeichen schon erwartet, informierten offenbar Inspektor Hasyim per Funk, und nach kurzem, unverständlichem Wortwechsel öffnete sich die Schranke, und im Schritttempo rollte Abdul auf das Gelände. In der Abenddämmerung lagen dicht an dicht die alten, breitbäuchigen Holzschiffe, die meisten schon so schwer beladen, dass sich Reling und Wasserkante erschreckend nah kamen. Dürre Arbeiter balancierten von der Kaimauer über schmale Holzstege auf die Schiffe und zurück, brachten barfuß Zementsäcke, Autoreifen und Kisten an Bord. In der Nacht würden sie ablegen und ihre Fracht zu den anderen großen Inseln der Pazifikrepublik transportieren: nach Papua, Sulawesi, Borneo.
Martin wandte sich Ellen zu: »Ich darf eine weise Frau zitieren: Es kommt auf das richtige Timing an.« Dabei beobachtete er schmunzelnd, wie sie sich mit ihrem orangeroten Lippenstift die Lippen hastig nachzog und mit einem kleinen runden Schwamm den Glanz von Stirn und Wangen tupfte. »Hier ist momentan viel in Bewegung. Nach Jokowis Wahlsieg werden bestimmt wieder einige Ministerien und Behörden umgekrempelt, und wer weiß, wo Hasyims Einheit dann landet. Darf ich dich also bitten: Sei nicht wieder so direkt. Du hast ihn beim letzten Treffen vor der Wahl so gelöchert! Der Arme wusste gar nicht mehr, wie er deinen Fragen ausweichen sollte.«
Ellen grinste wortlos und fixierte durch die Frontscheibe den schlanken Mann, der gleich neben dem Eingang zur fensterlosen Lagerhalle mit einem Uniformierten am grauen, kastigen Suzuki APV des Gerichtsmediziners lehnte und auf die Deutschen wartete. Die Begrüßung war kurz, aber freundlich. Wie spielerisch leicht Ellen sich zwischen Deutsch, Englisch und Bahasa Indonesia hin- und herbewegt, dachte Martin und bewunderte sie für ihren Tanz mit den Sprachen und Kulturen. Die Unterschriften und Stempel sollten noch vor Dienstschluss auf dem Totenschein sein, sobald als möglich die nötigen Dokumente ausgefertigt und beglaubigt, dann würde der Leichnam nach Hongkong überführt werden. Hasyim führte die drei eilig durch die langen, schlecht beleuchteten Gänge zum Kühlraum, und mit jedem Schritt, der sie dem unbekannten Toten näher brachte, stieg das Unbehagen.
Am Zinksarg im Kühlraum erwartete sie Dr. Sakai, der einen Kittel über Anzug und Krawatte trug. Die einzige Bahre im Raum diente als Tisch für seine Unterlagen, und so hatte man den toten Deutschen einfach im Sarg liegen lassen. Der Gerichtsmediziner zog das Tuch weg und gab den Blick auf das Gesicht von Hartmut Siems frei. »Seolah dia sedang tersenyum«, flüsterte Hasyim Ellen zu, sie nickte. Ja, wirklich. Als würde er lächeln.
Martin beobachtete die beiden, wie sie im Angesicht des Toten zwischen ihnen die Köpfe ganz eng beieinander hielten, sodass sich die Haare berührten.
Dr. Sakai stellte sich hinter den Sarg, dicht neben den Kopf der Leiche. Gewohnt, mit Autorität zu sprechen, führte er ohne weitere Umschweife aus: »Das ist der Tote von der Blue Shadow. Keinerlei Zeichen von Gewaltanwendung. Er litt an mehreren Krankheiten, teils schwere wie Demenz. Es ist davon auszugehen, dass er zu viele Medikamente gleichzeitig eingenommen hat, was dann zum Tode führte; entweder absichtlich oder unabsichtlich. Eines der Medikamente ist immerhin ein rezeptpflichtiges Antidementivum. Durchaus möglich, dass er in einer Phase der Verwirrung zu viel eingenommen hat. Laut Schnelltest hatte er außerdem einiges an Alkohol im Blut. Der Tod trat gegen ein Uhr in der Nacht ein.«
Hasyim hatte seinen Blick auf die manikürten Hände von Hartmut Siems geheftet: »Dieser Fall erinnert mich an die Häufung von Todesfällen, die wir seit einigen Jahren beobachten: Senioren aus Europa, die auf Kreuzfahrtschiffen versterben. Es besteht der Verdacht, dass die Reisen der alten Herrschaften von vornherein als Törn ins Himmelreich geplant waren. Wir hatten vor ungefähr zwei Jahren mal eine Recherche angefangen und sogar drei Reiseagenturen im Visier. Eine gleich vor den Toren Singapurs auf Batam, eine in Hamburg, eine in Rostock. Die Sache ist dann im Sande verlaufen. Allerdings passt dieser Fall hier gar nicht zu diesem Muster. Das Ehepaar Behr hatte ja die Reise von Anfang an privat geplant. Auf mich wirkten die beiden auch absolut glaubwürdig. In jedem Fall denke ich, dass ich für die Polizeibehörde den Toten freigeben und den Fall abschließen kann. Es gibt keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung. Einen Abschiedsbrief haben wir auch nicht gefunden. Die Menschen, die mit ihm gestern Abend zusammen waren, sind unbescholtene deutsche Staatsbürger aus Singapur. Unsere Befragungen auf dem Schiff haben keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen ergeben. Ich habe keine weiteren Fragen.«
