Die Sonne über Berlin - Trugbild - Carla Kalkbrenner - E-Book

Die Sonne über Berlin - Trugbild E-Book

Carla Kalkbrenner

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Beschreibung

Der international erfolgreiche Maler Gernot Reischberger ist an Farbe erstickt, und auch noch an der eigenen. Ein 'malermäßiger Abgang' finden die Ermittler. 'Letzter Pinselstrich, letzter Atemzug, da hat man etwas zu erzählen'. Temporeich, treffsicher und mit satirischem Unterton inszeniert Carla Kalkbrenner in ihrem dritten Krimi "Die Sonne über Berlin – Trugbild" (Martini & Loersch Verlag) einen Jahrmarkt menschlicher Eitelkeiten und Abgründe. Mit der aufgeregten Berliner Kunst- und Galeristen-Szenerie als Kulisse kommen folgenreiche Jugendsünden und betrügerische Verstrickungen des Todesopfers ans Licht, während die mit dem Fall befassten Ermittler wunderbar ungerührt und damit sehr berlinisch agieren. Gernot Reischbergers grelle Bilder hatten ihn in der Kunstwelt ganz nach oben katapultiert. Jetzt, nach dem Mord, legt das Team um den coolen Kriminalhauptkommissar Eberhard Dahlberg peu à peu gravierende Unstimmigkeiten frei. Und nicht nur das: Auch der Kunstkritiker Achim de Rouquette gräbt für seinen Nachruf in der Vergangenheit Reischbergers an der Leipziger Kunsthochschule, als er Teil der 'Phantastischen Drei' war. Sie werden sich für einen zweiten Mord als aufschlussreich erweisen. Und so kommen Lug, Trug und geheime Machenschaften aus den Tiefen der Vorwendezeit ans Licht, die bis ins heutige Berlin reichen. Spannend, rasant geschrieben, in lakonischem Ton und mit dem Sound von Berlin als Hintergrund Rauschen verschafft auch Carla Kalkbrenners dritter Krimi großes Lesevergnügen. Wie die Vorgängerbände 'Mordshitze' und 'Nebelwände' bietet auch 'Trugbild' überraschende Twists und skandalöse Erkenntnisse. Und am Ende sind alle Karten neu gemischt.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Carla Kalkbrenner

Die Sonne über Berlin

Trugbild

Copyright Martini&Loersch Verlag Berlin 2022

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angelika Bohn/Silvia Ottow

Korrektorat: Undine Knaack

Einbandgestaltung: Gilberto Giardini

Herstellungsleitung: Jürgen Knaack

Layout und Satz: Datagrafix GmbH/Berlin

ISBN 978-3-9816107-7-2 (Hardcover)

ISBN 978-3-9816107-8-9 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-9816107-9-6 (eBook)

Diese Geschichte ist fiktiv.

Handlung und Personen sind ein Produkt der Phantasie.

Jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Toten wäre rein zufällig.

Gernot Reischberger starrte auf den verdammten Schriftzug. Was er sah, würde alles zunichte machen. Wenn das herauskam, war er erledigt. Die Medien würden über ihn herfallen, die Bewunderung seiner Bewunderer sich ins Gegenteil kehren. Sein Ruhm, sein Ansehen wären futsch, ganz zu schweigen von den Einkünften. Er wandte den Blick ab und sah hinunter. In diese Augen, die zu ihm hinauf schauten, die er so lange kannte, und die ihm jetzt nur noch hinterhältig erschienen. Bilder schossen wie Blitze durch seinen Kopf. Die hämischen Gesichter seiner Konkurrenten, die scheinheilig-mitleidigen Mienen der sogenannten Freunde, die klammheimliche Freude der Neider.

Er wusste nicht, wie lange er so stand, gefroren in seinen Vorstellungen. Dann überrollte ihn eine ungeheure Welle von Wut. Und Hass. Das wollte er doch erstmal sehen, dass er auf diese Weise unter die Räder kam. Das würde er verhindern, wie auch immer.

Äußerlich ruhig wollte er sich wie schon hunderte Male zuvor an den Abstieg machen. Allerdings fühlten die Beine sich an wie Pudding, und die Hände zitterten. Der Kreislauf machte sich ebenfalls bemerkbar, verstärkt durch das Rauschen der Lüftung, das immer lauter zu werden schien. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte.

Gernot Reischberger bückte sich und griff nach den oberen Holmen der Leiter. Vorsichtig tastete er mit einem Fuß nach der ersten Sprosse. Der andere erreichte die zweite. Ihm wurde schwindelig. Krampfhaft umklammerte er die Seitenstreben und hangelte nach der dritten Stufe. Seine Knie gaben nach. Er schwankte. Er spürte, wie ein Fuß die Leiter mitriss, sah sich wie in Zeitlupe fallen. Dann ein scharfer Schmerz am Hinterkopf. Als er zu sich kam, konnte er die Augen nicht öffnen. Aber vor allem, er konnte nicht atmen.

 

Kriminalhauptkommissar Eberhard Dahlberg, mittelgroß, mittelschwer, mittelblond, genannt Hardy, passierte das Drehkreuz und drückte die schwere Eisentür auf. Sie rumste hinter ihm ins Schloss. Vor dem Kriminalgericht lungerten ein paar Gestalten herum, fest mit ihren Handys verwachsen oder rauchend. Er steckte sich ebenfalls eine an. Als leitender Ermittler hatte er in einem irren Prozess aussagen müssen. Der Angeklagte hatte die Sozialbehörden fünf Jahre lang ausgetrickst, einen auf querschnittsgelähmt gemacht und Abertausende kassiert. Bis eine der Frauen, die er neben einem bestechlichen Arzt eingespannt hatte, nicht mehr mitmachen wollte. Ihre Leiche wurde in der Spree treibend gefunden, Gesicht aufgedunsen und unkenntlich, Etiketten aus der Kleidung geschnitten, Identifizierung anfangs unmöglich. Aber sie hatten den Fall geknackt. Der Kerl würde sitzen, lebenslänglich, ohne Rollstuhl.

Die Kippe in der eisigen Hand trabte Dahlberg die Turmstraße entlang. Es war Anfang Dezember und kälter als erwartet. Zur U-Bahn nahm er die Abkürzung durch den Kleinen Tiergarten, vorbei an der Säufergesellschaft, die auch heute schon versammelt war, über die matschigen Wege, vorbei an gelblichgrauen Rasenflächen, verlassenen Bänken und überquellenden Mülleimern. Zwei Krähen zerrten an einer Burgerpackung, Salatblätter, Brötchenreste und eine halbe Bulette fielen heraus. Eine dritte Krähe stürzte herab und schnappte sich das Fleisch.

Vor dem U-Bahn-Eingang wartete ein Haufen frierender Leute auf den Bus. Aus dem Späti nebenan kam ein Schwall warmer Luft. Dahlberg holte sich einen Kaffee für einen Euro. Die Hände um den Becher gelegt betrachtete er die hiesige Klientel an der Haltestelle, türkische Omas mit Kopftüchern und bodenlangen Mänteln, aufgedonnerte jungen Frauen mit und ohne Kinder, schnieke Jungs mit und ohne Migrationshintergrund, mittelalte Männer in fleckiger Arbeitskleidung, schwere Schuhe an den Füßen, lederne Gürtel mit Werkzeug um die Hüften, und eine sehr junge Mutter mit einem Zwillingskinderwagen. Ein schmutzstarrender Typ wankte vorbei, der letzte Trinker der Nacht oder der erste des Tages. Er roch nach Alkohol, Schweiß und lange nicht gewaschenen Klamotten.

Dahlbergs Handy summte. Es war der Oberste persönlich.

„Wir haben einen prominenten Toten“, sagte er mit spürbarer Nervosität. „Gernot Reischberger, ein berühmter Maler.“

Dahlberg sagte der Name nichts, weltberühmt in Berlin, dachte er. „Nie gehört.“

„Jetzt haben Sie ihn gehört.“ Die Stimme des LKA-Chefs war scharf. „Das ist Stoff für die Medien. Also halten Sie sich ran, die Zeit läuft.“

„Selbstredend, die Zeit, die läuft im Sauseschritt.“

„Dahlberg!!“, bellte es durch die Leitung. „Müssen Sie eigentlich immer …“

 

Ein eisiger Wind fegte über die Prenzlauer Allee. Johannes Julius Eckbert von Gotthaus, Kriminalkommissar im dritten Jahr, genannt Jo, schlurfte Richtung S-Bahn-Station. Ihm war flau und irgendwie hohl zumute. In der Kehle saß ein saurer Geschmack und unter der Schädeldecke hämmerte der Schmerz. Er hatte einen ausgewachsenen Kater. Mit wackligen Knien stieg er die Treppen zur Ringbahn hinauf.

Die Bahn fuhr ein. Ihr Rattern verstärkte das Stechen in den Schläfen. Es war ziemlich voll, Berufsverkehr. Kaum drinnen, zogen die Leute ihre Handys hervor, niemand sagte etwas.

‚Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft.‘ Wieso fiel ihm dieser Nonsens jetzt ein?

Am Gesundbrunnen wurde etwas frei. Schneller als er es seinen Beinen zugetraut hatte, besetzte Jo den Fensterplatz. Er zog die Kapuze über die Augen und lehnte den Kopf an die Scheibe. Mann, Mann, musste er so mitziehen, er wusste doch, dass er keinen Rotwein vertrug.

Jemand Dickes ließ sich mit einem Plumps neben ihn fallen. Er blinzelte in die Richtung, es war ein sehr junges Mädchen mit blauen Haaren, Nasenring und tätowierten Händen. Sie fing umgehend an, laut zu telefonieren. Ohne alle Hemmungen verbreitete sie sich über einen Mike und eine Jessica, und das in einem gehässigen, ordinären Tonfall, widerlich.

In der Hosentasche summte das Handy. Es war Dahlberg, da musste er rangehen.

„Was gibt’s denn?“, fragte er so forsch und wach er konnte. „Ich bin doch gleich im Büro.“

„Nix Büro“, sagte Dahlberg. „Atelier in Luftschutzbunker.“

„Wie?“ Jo hatte ‚Atelier in Luftschutzbunker‘ verstanden. „Nochmal, was war das?“

„Tja, wir haben einen toten Maler, aufgefunden in seinem Atelier, das sich in einem Luftschutzbunker befindet.“

Jo hatte vom Kunsthändlervater seiner Freundin schon einiges über Maler erfahren, auch Verrücktes. Aber nicht so etwas.

„Und du bist doch mit der Tochter eines Kunstfritzen zusammen“, sagte Dahlberg. „Vielleicht siehst du mehr als ich. Also mach dich auf die Socken. Adresse kommt.“

 

Kriminalkommissarin Claudia Gerlinger, gebürtig im Schwabenland, aber seit Jahren in Berlin, saß an ihrem Schreibtisch und ging die Meldungen der Nacht durch. Obwohl es schon zehn Uhr war, ließ Jo auf sich warten. Dahlberg war bei Gericht. Und Alexander hatte heute frei. Er bereitete seine Auferstehungsfeier vor. Aber Jo? Sollte das weitergehen mit seiner Zuspätkommerei?

Ihr Handy summte. Es war Dahlberg.

„Bist du heute nicht bei Gericht wegen dem Rollstuhltypen?“

„War ich schon. Also, wir haben wahrscheinlich einen neuen Fall, direktemang vom Chef. Gernot Reischberger, soll ein berühmter Maler sein, ist in seinem Atelier zu Tode gekommen. Guck mal, was du über ihn findest. Und Konteneinsicht beantragen. Jo fährt übrigens schon zu dem Atelier, falls du dich gerade aufgeregt hast.“

Bevor sie sagen konnte, dass Bescheid sagen nicht schlecht gewesen wäre, legte Dahlberg auf.

Claudia gab den Namen Reischberger in die Suchmaske ein. Als erstes tauchten viele Gemälde auf. Sie waren seltsam quer geteilt. Oben blickten einen fröhliche Menschen an, meist Familien mit Kindern, aber auch junge Paare oder alte Leute beim Kaffeekränzchen. Allerdings in widerwärtigen Farben, schweinchenrosa, giftgrün, grellgelb. Darunter breitete sich Erdreich aus, durchsetzt von vergammeltem Müll, alten Zeitungen oder schrumpligen Stapeln von Briefen, durchzogen von ekligen Würmern und unheimlichen Wurzeln. Puh, oben heile Welt, unten das Unheil. Zwischen den Gemälden gab es Fotografien eines ansehnlichen Mannes mit breiten Schultern, der liebenswürdig in die Kamera lächelte. Und dieser freundliche Mensch hatte sich die unheimlichen Bilder ausgedacht?

Zur Biografie Reischbergers fand sie nicht viel. Er stammte aus Anklam. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, Sohn und Tochter. Und er war Absolvent der Kunsthochschule in Leipzig.

Auf deren Website standen die gleichen Angaben und ein Verzeichnis der Hochschullehrer, bei denen Reischberger studiert hatte. Ein Foto aus dieser Zeit zeigte den Kunststudenten in einer merkwürdigen Aufmachung. Mit schwarzer Schlaghose und Weste sah er aus wie ein Handwerksbursche auf der Walz. Der breitkrempige Hut beschattete ein anziehendes Gesicht, in dem dieses liebenswürdige Lächeln stand. Diesen Menschen musste man mögen. Also war der Tod im Atelier wahrscheinlich ein Unfall.

Die Recherche in Kunstjournalen dauerte. Lange tauchte Reischberger nur in Besprechungen von Gruppenausstellungen auf. Vor fünf Jahren änderte sich das. Da kamen seine Oben-und-unten-Bilder auf den Markt. Es gab haufenweise Einzelausstellungen und euphorische Besprechungen.

Mal sehen, wie es mit Verkäufen und Preisen aussah. Sie googelte die Galerie, die Reischberger vertrat. Die Summen hauten sie um, dafür musste eine alte Frau lange stricken.

 

Die Fahrt nach Grünau, quer durch die Stadt, über das Adlergestell und die Wassersportallee dauerte ewig. Das Taxi hielt hinter einem Streifenwagen in der Walchenseestraße, irgendwo hier sollte sich der Bunker befinden, er hatte keine eigene Adresse. Dahlberg stieg aus, zahlte und sah sich um. Inmitten eines Wäldchens auf einem Hügel entdeckte er zwei Polizeiuniformen. Daneben die bunte Pudelmütze von Jo, der durch den bodenlangen Militärmantel noch länger als sonst wirkte. Dahlberg ging darauf zu, durch blattloses, aber dichtes Gestrüpp, über einen federnden Nadelteppich, vorbei an schief gewachsenen Kiefern. Ein schwarzes aufrechtes Rechteck, gerahmt von schmutzigen steinernen Stützen, kam näher. Das musste der Zugang zu dem Bunker sein.

Jo hatte die Arme um sich geschlungen, seine Schultern hingen, er machte einen übermüdeten Eindruck. Die Uniformierten standen da wie Wachsfiguren, Langeweile im Gesicht. Vor dem düsteren Bunkereingang wartete ein älterer Mann mit einem Klemmbrett unterm Arm, der verfroren aussah. Er stellte sich als Vertreter der Senatsverwaltung vor. Er hatte Gernot Reischberger bei seiner turnusmäßigen Inspektion entdeckt, die an diesem ersten Dezember-Mittwoch fällig gewesen war.

„Und wann war das?“, fragte Dahlberg.

„Vor zwei Stunden“, antwortete er.

„Und seit wann hatte Reischberger hier drin sein Atelier?“

„Seit zwei Jahren.“

„Und warum? Gabs nichts Besseres?“

Der Senatsmensch zuckte mit den Achseln.

„Keine Ahnung. Wollen wir?“

Aus der Dunkelheit hinter einer Stahltür drang ein muffiger Geruch. Sie folgten dem Mann durch einen schmalen Gang. An den Wänden blinzelten eingestaubte Lampen, wie man sie früher in Kellern hatte, dickes Glas, überwölbt von einem Drahtgitter. Je tiefer sie vordrangen, umso feuchter wurde es.

„Versteh ich nicht,“ sagte Dahlberg. „Vergammelt die Kunst nicht in dieser Luft? Und wo kommt eigentlich das Licht her?“

„Werden Sie schon sehen“, kam es von vorn.

„Wahrscheinlich von Tageslichtlampen“, murmelte Jo matt, aber mit kennerischem Unterton. Plötzlich wurde es hell, sehr hell. Der Inspekteur hielt eine Tür auf, durch die grelles Licht fiel.

„Sag ich doch“, sagte Jo. „Tageslichtlampen.“

Der starke Schein aus zwei quadratischen Flutern, die auf stabilen Dreibeinen standen und gegen die Decke gerichtet waren, erhellte einen ziemlich großen Raum, der bis in Schulterhöhe grün gefliest war. Der Beton darüber schien trocken zu sein. Irgendwo röchelte eine Lüftungsklappe. Ihr Begleiter deutete nach oben.

„Die Lüftungsanlage. Deswegen ist es hier ziemlich trocken.“

An einer Wand stand ein riesiges Bild, ungefähr zwei Meter breit und drei Meter hoch, höher hätte es auch nicht sein dürfen, es passte gerade so unter die Decke. Davor lag eine umgestürzte Leiter, ein Stück weiter auf dem Rücken der Tote. Um seinen Kopf hatte sich eine giftiggelbe Lache ausgebreitet. Es sah aus wie Farbe, es roch wie Farbe, es war Farbe, wie der Beamte mit einem Fingerzeig auf einen Plastikeimer bestätigte, der umgekippt neben dem Kopf lag. Er war bis auf ein paar Schlieren leer. Das Gesicht des Toten war von Farbe bedeckt. Nur die beträchtliche Nase ragte hervor, es sah aus, als sei ein Riesenfurunkel geplatzt. Der Mund stand offen und war voller Farbe, auch die Augenmulden waren gelb gefüllt. Dahlberg kniete sich hin. An der eigenen Farbe erstickt, dachte er, wenn das kein malermäßiger Abgang war.

„Wahrscheinlich ist ihm schwindlig geworden“, sagte der Senatsmitarbeiter. „Er hat im Fallen die Leiter umgerissen und ist mit dem Kopf auf der Eimerkante gelandet. Er war ohnmächtig und hat nicht gemerkt, wie der Inhalt über sein Gesicht schwappte.“

„Da hat er aber gut gezielt“, sagte Dahlberg. Er sah auf die staubige Uhr über der Tür, sie schien immer noch zu gehen.

„Wo bleibt eigentlich die Spurensicherung?“

 

Jo trat an das Gemälde. Es war quergeteilt. Es gab einen oberen und einen unteren Teil. Oben eine Familie im Garten, die Frau steht mit einem Kaffeebecher in der Hand auf dem Rasen und sieht den beiden Kindern beim Ballspielen zu. Der Mann gräbt ein Beet um, der Hund buddelt in der Nähe eines hohen Baumes. Alle sind total fröhlich. Aber die Farben waren unnatürlich, irgendwie krank, wie aus einem Chemiebaukasten stammend oder von der Palette eines Herstellers billiger Kunstblumen. Das Gras und die Baumkronen neongelbgrün strahlend, das Dach in Pink, die Blumen dunkelviolett oder türkisblau, eine giftige Atmosphäre. Im unteren Streifen breitet sich diffuses Erdreich aus. Der Schnitt durch die Grasnarbe zeigte Wurzeln, die feinen des Rasens und die dicken der Bäume. Dazwischen ein Nest mit ekligen weißen Eiern, ein fast zerfallenes Kistchen, der matschige Fetzen einer Zeitung. Dabei schien der obere fröhliche Teil den unteren Dunklen zu erdrücken. Jo drehte sich zu Dahlberg um, der die Szenerie ebenfalls betrachtete, etwas wie Widerwillen im Gesicht.

„Man kann jedenfalls eine Menge reinlesen“, sagte Jo.

„Du meinst, sichtbar ist sonst nur der obere Teil. Und der ist so falsch wie nur was, eine Lebenslüge, denke ich mal. Und darunter das Vergessene und Unterdrückte. Aber der Selbstbetrug lastet weiter auf dem Verdrängten und lässt die Wahrheit nicht hochkommen. Das seh’ sogar ich.“

„Genau. Und jeder kann sich seinen Reim drauf machen. Auf die eigenen Leichen im Keller.“

Dahlberg grinste sein schiefes Grinsen.

„Da muss ich doch glatt mal nachsehen.“

Jo beugte sich vor. Durch die Farbe war die Webstruktur zu sehen, also Leinwand. So konnte man das Bild rollen.

„Übrigens, ist auf Leinwand gemalt. Falls du dich gefragt hast, wie der Riesenschinken durch die Tür und den Gang gepasst hätte.“

„Hab ich“, sagte Dahlberg. „Aber jetzt weiß ich ja Bescheid.“

Die Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen tauchte auf.

„Prima Licht“, sagte der Fotograf und packte seinen Apparat aus. „Irre Szene, by the way.“

Das Klicken des Verschlusses erfüllte das Bunkeratelier, begleitet vom asthmatischen Atmen der Lüftung. Dahlberg und Jo lehnten sich an die grünschillernd geflieste Wand und verfolgten die Arbeit der Spusis, die lautlos herum geisterten und Flächen und Gegenstände einstaubten. Die Leiter, die Palette, den Rolltisch voller Tuben und Pinsel, ein Regal mit weiteren Farbeimern, einen rissigen Ledersessel, der zwischen den Lampen stand, in fünf Metern Abstand zu dem Bild.

„Hier ist nichts“, sagte einer der Verhüllten. „Gar nichts. Alles sorgfältig abgewischt.“

Das sah nun gar nicht mehr nach einem Unfall aus, sondern nach Mord.

Der Rechtsmediziner Dr. Saalbach erschien. Er betrachtete den Toten mit dem gelben Gesicht.

“Was für ein Stillleben.“

„Nicht du auch noch,“ sagte Dahlberg.

 

Ingrid Reischberger saß schon eine Stunde auf der Couch und starrte ins Leere. Sie stemmte sich hoch, trat an den Wagen mit Hochprozentigem aus aller Welt und goss sich einen Cognac ein. Mit der freien Hand fummelte sie eine Zigarette aus einer der Schachteln, die herumlagen und zündete sie mit dem Tischfeuerzeug an. Es hatte die Form einer Ananas und war aus Gold, ein Geschenk Gernots zu ihrem Sechzigsten. Teure Geschenke gegen In-Ruhe-lassen und Klappe-halten. Gernot finanzierte ihren aufwendigen Lebensstil. Im Gegenzug hielt sie still, was einige Vorkommnisse anging, besonders, was das letzte Jahr betraf. Er überwies ihr monatlich ein auskömmliches Salär. Und seit zwei Jahren, angesichts der besonderen Situation, einen Extrabonus. Wie es genau auf seinem Konto aussah, wusste sie nicht, das hatte er unter Verschluss gehalten.

Den Schwenker in der Linken, die Kippe in der Rechten betrat sie die Dachterrasse. Die Stadt zu ihren Füßen strahlte und glimmerte, die Lichterschlangen der Autos wälzten sich durch die Straßen. Über dem Westend ging rot die Sonne unter. Auf der Siegessäule glänzte matt die Goldelse. Sie nahm einen Zug und einen Schluck. Auch in letzter Zeit hatte sie Gernot kaum zu Gesicht bekommen. Wie immer, wenn etwas fertig werden musste. Meist war noch nicht einmal die Farbe trocken und das Bild schon schon auf dem Weg zum Käufer. Das aktuelle sollte nach Übersee gehen, für dreihunderttausend Dollar. Vierzig Prozent nahm der Galerist. Sechzig wären bei Gernot hängen geblieben.

Ingrid hob den Blick zum Himmel, der vom Abendrot und den Lichtern der Stadt erhellt war, und senkte ihn wieder auf das leuchtende Gewimmel. Ihr wurde langsam kalt. Sie drückte die Zigarette aus, trank den Rest Cognac und ging wieder rein.

Der Herr Sohn lümmelte sich gerade vor dem Fernseher zurecht.

„Was ist denn los?“, fragte er. „Hat Vater dich wieder mal auflaufen lassen?“

Die Arme verschränkt baute Ingrid sich vor ihm auf.

„Dein Vater ist tot.“

Lars kicherte. „Das hast du geträumt.“

Sie sah auf ihn hinunter, den Sohn, in den sie so viel Hoffnung gesetzt hatte, der ein verzogener Lümmel geworden war und sie nicht respektierte. Der allerdings gehorchte, wenn Gernot befahl, denn der hatte das Geld. Gehabt.

„Er ist von der Leiter gefallen.“

Mit erschrockenem Ausdruck sprang Lars auf. „Du machst Spaß.“

„Seh’ ich aus, als ob ich Spaß machen würde?“

Lars setzte sich wieder, die Stirn über dem feisten Gesicht angestrengt gerunzelt, die Mundwinkel nach unten gezogen. Angewidert wandte sie sich ab und den Alkoholika auf dem Barwagen zu.

„Versuch gar nicht erst, den Trauernden zu mimen.“

Sie goss sich Nachschub ein und begann, durchs Zimmer zu wandern. Lars gab keinen Mucks mehr von sich. Starr und steif saß er da, überschlug wahrscheinlich sein Erbe.

An den Panoramafenstern machte sie halt. Im Osten war der Himmel schon stockschwarz, nur im Westen hielt sich noch ein schmaler Lichtstreif. Ingrid Reischberger stand ihrem Spiegelbild, ihrer breitschultrigen Gestalt gegenüber.

Sie nahm ihre Wanderung wieder auf, vorbei an Fernseher, Couch und Hausbar. Hinein in ihren Trakt, durch ihr Arbeitszimmer, das Schlafzimmer mit der Ankleide und das große Bad, hinüber in Gernots Abteil, sein Arbeitszimmer, sein Schlafzimmer, sein Bad. So waren sie sich nie in die Quere gekommen, so konnte jeder machen, was er wollte.

Hin und wieder hielt sie inne und nahm einen Schluck. Um danach weiterzugehen, Runde um Runde um Runde. Obwohl der Alkohol zu wirken begann, konnte sie nicht aufhören. Sie musste sich bewegen, und wenn es nur Gehen war, der Unruhe entgehen, die sich in ihr breit machte.

 

Die Eröffnungsreden im üblichen Kauderwelsch waren gehalten, nun bemühte man sich zur Tränke. Nach andächtiger Ruhe jetzt Geschnatter und spitze Begrüßungsschreie. Küsschen rechts, Küsschen links, du auch hier? Na aber! Tolle Ausstellung, was? Achim de Rouquette nickte dem Kunstkritiker vom Konkurrenzblatt zu, der auch schon ganz euphorisch war. Der Chef hinter der Schau, ein gelackter Typ mit tiefschwarzer Tolle über eingeweihter Miene, der steifbeinig seine Hüften vor sich herschob, genoss den Zuspruch. Eine Korona weiblicher Jünger umschwirrte ihn. In seiner Rede hatte er von installationsbasierter Kunstpraxis und Codierung geschwafelt. Zum Beispiel sei das Wischen über Handy und Tablet ein Zeichen des touchbasierten Kapitalismus und zugleich indexikalischer Marker gewaltförmiger Macht. Und so weiter und so fort. Zwischen vollkommen banal und ordentlich verschraubt. Damit nur ja niemand dahinter kam, dass hier heiße Luft durch die Gegend gepustet wurde.

De Rouquette begann seinen Rundgang. In einem Raum hing eine riesige Kugel aus Papier und Bauschaum von der Decke, zusammen gehalten von groben Stricken. Bestimmt eine Kritik an der Unterhaltungsgesellschaft, verkörpert von der ausbeuterischen Diskokugel. Oder sollte es die geknebelte Erde sein?

An der riesigen rohen Wand gegenüber befand sich ein winziger Bildschirm, auf dem ein Mann wieder und wieder die Zähne fletschte. Echt bedeutend. Und sicher anstrengend, wenn man bedachte, dass die Aufnahme eine Stunde lang war. So stand es jedenfalls auf dem Kärtchen darunter.

Der nächste Raum war dunkel, nur erhellt vom Licht eines weiteren Videofilms, der Luftaufnahme einer Kreuzung. Inmitten unbelebten Grünlands begegneten sich vier Wege aus roter Erde. Irgendwo in Afrika, dachte Achim De Rouquette. Hier wollte er doch mal warten, was passierte. Kaum merklich fuhr die Kamera näher heran, es dauerte. Von links und rechts, oben und unten ertönte ein Durcheinander von Blasmusik, das immer lauter wurde. An dem Bild änderte sich nichts, es wirkte fast wie ein Foto. Nach endlos scheinenden Minuten marschierten vier Kapellen ins Bild und aufeinander zu. Die schwarzen Musikanten trugen blitzende Phantasieuniformen, jede Gruppe eine andere. Die Miniorchester strengten sich an, einander zu übertönen. Der Lärm nahm Ausmaße an. Dann standen sie sich an der Kreuzung gegenüber und spielten weiter gegeneinander an. Sehr schön, lieber Musikwettbewerbe veranstalten als Krieg führen, dem konnte man nur zustimmen.

De Rouquette hatte genug. Er schritt durch das Foyer, vorbei am Tresen, vorbei an den Stapeln von Katalogen, die auf ehrfürchtiges Publikum warteten. Er jedenfalls hatte das Übliche erwartet, Schaumschlägerei, Schwachsinn, Bedeutungshuberei. Und er war nicht enttäuscht worden.

Sein Telefon summte. Er kramte es umständlich aus der Manteltasche. Es war der Chefredakteur. Schon seine Begrüßung deutete auf Alarmstimmung. Es musste etwas Wichtiges sein. Und richtig, Gernot Reischberger war tot.

„Wir müssen einen großen Nachruf bringen“, beschwor ihn sein Chef. „Sie kennen doch seine alten Kumpels, wie hießen die nochmal?“

„Attila Lührmann und Dieter Scherzer.“

„Richtig, genau die. Quetschen Sie die mal aus.“

„Jawohl“, sagte Achim. Er spürte das pikierte Zögern am anderen Ende. Aber in ein paar Wochen war er Rentner, und dann ging ihn die Stimmung seines Brötchengebers nichts mehr an.

„Das wird ein würdiger Abschluss für Sie“, sagte der Chefredakteur betont schmeichelnd. „Wenn auch aus traurigem Anlass.“

 

Beim Betreten der Gerichtsmedizin kniff Claudia die Nasenflügel zusammen und atmete durch den Mund. Trotzdem drang der Geruch nach Verwesung durch. Sie holte das Döschen mit Pfefferminzpaste aus der Hosentasche und rieb sich etwas unter die Nase. Im Sektionssaal wurde gerade ein Leichnam gewaschen. Ein dunkelgrün bekittelter Mitarbeiter führte den Wasserstrahl in kreisenden Bewegungen über den Körper. Langsam näherte er sich dem Kopf und langsam traten Reischbergers Züge hervor. Sie betrachtete das Gesicht.

So freundlich und zugewandt Reischberger auf den Fotos aussah, so herrisch und gallig wirkte er jetzt. Spiegelte das am Ende sein wirklicher Charakter? War er gar nicht der einnehmende Typ gewesen?

Friedbert Saalbach war nicht zu sehen. Claudia fand ihn rauchend in seinem Amtszimmer. Er hatte eine Sondererlaubnis, angeblich wegen des Leichengeruchs. In Wahrheit hatte er sich mit charmanter Sturheit dieses Gewohnheitsrecht erarbeitet.

Die historischen Präparate im Regal hinter ihm, Missbildungen, Tumore, Gehirne jagten Claudia einen Schauer über den Rücken. Sie deutete auf die Glasgefäße mit den vergilbten Etiketten.

„Sie wissen, dass Ihre Lunge da landet.“

„Hoffentlich.“ Saalbach klopfte auf den Schreibtisch. „Da ist die irdische Hülle noch zu was nütze.“

Er stand auf, richtete die Fliege über dem grünen Kittel und ging voran in den Sektionssaal. Dort stützte er sich neben Reischbergers nacktem Körper auf die Kante des Stahltischs.

„Maler an Farbe erstickt?“, murmelte er. „Das wäre eine ziemliche Ironie des Schicksals.“

„Was du nichts sagst“, sagte Claudia.

Er grinste, griff nach einem Skalpell und setzte den Längsschnitt an. Sie wandte sich ab, das würde sie sich nicht ansehen. Sie zog ihr Handy hervor und wählte die Nummer des Büros. Das Telefon am Ohr schlenderte sie Richtung Schwingtür, verfolgt von dem feinen fiesen Geräusch des vordringenden Skalpells und dem Flutschen der inneren Organe in die Metallschüsseln. Mit einem elektrischen Summen sprang die Flurbeleuchtung an.

Am anderen Ende meldete sich Jo.

„Ist die Kriminaltechnik schon dazu gekommen?“, fragte sie.

„Ja, der Oberste hat angewiesen, die Sache vorzuziehen“, kam es aus der Leitung.

„Und?“

„Sie sagen, wenn der Eimer durch den Leitersturz umgeworfen worden wäre, hätte sich die Farbe auf dem Boden ausbreiten müssen. Sie hätte nie das ganze Gesicht bedecken können. Da hat jemand nachgeholfen. Naja, und Fingerabdrücke sind ja auch keine vorhanden.“

„Wissen Dahlberg und Alexander Bescheid?“

„Klar, die sind schon auf dem Weg zur Familie.“

„Und du besorgst die Verbindungsnachweise, im Atelier war ein Festnetztelefon.“

Claudia drückte das Gespräch weg, straffte sich und betrat den Ort des Geschehens erneut. Friedbert machte sich gerade in Kopfhöhe zu schaffen. Er trat beiseite und zeigte mit triumphierender Geste Reischbergers freigelegten Hals.

„Kehlkopf und Luftröhre voller Farbe“, sagte er. „Das hat die Welt noch nicht gesehen.“

Staatsanwalt Thurau kam herein geweht. Die zerknitterten Schöße seines Trenchcoats umschlackerten die langen Beine, der rote Schal schleifte auf dem Boden. Er hatte etwas von einem riesigen braunen Storch. Viele hielten ihn sowieso für einen komischen Vogel beziehungsweise zerstreuten Professor. Aber seine Erscheinung täuschte, die Zerfahrenheit war rein äußerlich, er war ein scharfer Denker mit Neigung zum Sarkasmus.

„Sorry“, sagte Thurau. „Krankes Kind.“ Er schob die Brille hoch und warf den Schal über die Schulter. Er wirkte überarbeitet. Mit den Augen deutete er auf den Körper auf dem Obduktionstisch.

„Ist er das?“

Claudia nickte.

„Das war Mord“, sagte Saalbach, wieder einmal die Schlussfolgerungen der Ermittler vorwegnehmend.

Mord mit symbolischem Anstrich, Claudia freute sich schon auf die Kommentare.

 

Alexander Taub, Kriminaloberkommissar mit Undercovererfahrung und einigen Narben aus diesen Zeiten, eilte die Spree entlang. Reischberger hatte hier in Moabit ein Penthouse, direkt über dem Flussarm.

Er hatte Reischbergers Kontoauszüge dabei. Die Erben würden sich wundern. Einmal im Jahr hatte der Mann in Monte Carlo Unsummen verballert. Am Spieltisch und für Escortdamen.

Dahlberg wartete schon, die Lider auf Halbmast lehnte er an der Wand neben der Haustür. Mit einem ‚Moin‘ stieß er sich ab und drückte den Klingelknopf. Der Summer ertönte. Sie betraten den Hausflur, eher ein Foyer, Marmor an den Wänden, riesige Spiegel, die den Raum noch größer machten, auf den Türen der beiden Fahrstühle Muster aus verschlungenen Bändern.

Alexander drückte die Ruftaste. Mit einem sanften Laut landete der Lift und öffnete sich geräuschlos. Sie stiegen ein und fuhren ins Dachgeschoss.

Frau Reischberger stand in der Wohnungstür. Sie trug einen gestreiften Kaftan, der sie allerdings nicht schlanker machte, sondern aussehen ließ wie eine mächtige Säule. Sie war größer als Alexander. Aus dunklen Augen sah sie auf ihn und Dahlberg hinunter, ein willensstarkes Gesicht unter einer lockigen Kurzhaarfrisur.

„Kriminalhauptkommissar Dahlberg, Mordkommission“, sagte Dahlberg. Er deutete auf Alexander. „Mein Kollege, Kriminaloberkommissar Taub.“

„Wieso das denn?“, fragte sie spitz. „Das war doch ein Unfall.“

Mit einer ungehaltenen Geste bat Frau Reischberger sie in eine kahle Diele. Nach rechts und links erstreckte sich jeweils ein Flur, der kein Ende zu nehmen schien.

„Sie haben das Atelier hoffentlich schon freigegeben“, sagte sie über die Schulter. „Der Käufer wartet auf sein Bild.“

Ohne eine Antwort abzuwarten betrat sie einen großen Raum mit einer Glasfront über die gesamte Breite. An den geschwungenen weißen Wänden hingen keine Bilder von Reischberger, sondern riesige einzeln gerahmte Buchstaben. Auf der einen Seite die Lettern A L L E und S, auf der anderen N I C H T S. Zusammen gedacht ergab das ‚Alles oder Nichts‘ oder ‚Alles nichts‘. Alexander musste an Russisch Roulette denken.

In der Mitte des Zimmers, das bis auf eine Sitzgruppe und einen Riesenfernseher leer war, standen sich ein stämmiger junger Mann um die zwanzig und eine hübsch verwelkende Frau um die vierzig gegenüber. Ihre Augen waren gerötet, genau wie die Spitzen der Ohren. Sie sah aus wie eine traurige kleine Elfe. Er guckte verdrossen und gelangweilt.

„Mein Sohn Lars“, sagte Frau Reischberger und legte einen Arm um seine Schultern. „Und das ist Victoria, Gernots Tochter, meine Stieftochter.“

Anderer Arm um die schmale Taille der schmalen Person. Irgendwie mechanisch, fand Alexander. Und Victoria schien das gar nicht zu mögen, ihr Körper war eine einzige Abwehr.

Frau Reischberger wies auf zwei Sessel und ließ sich im dritten nieder. Sie setzten sich. Sohn und Stieftochter nahmen die Couch. Er mit verschränkten Armen und weit von sich gestreckten Füßen. Er schien der verwöhnte Typ zu sein, der sich nichts sagen lässt, aber das Sagen haben will. Neben ihm die Halbschwester, die Schultern hochgezogen, die Hände zwischen die Knie geklemmt, verschüchtert und verhuscht.

„Es war Mord“, sagte Dahlberg.

Sohn Lars zog in Zeitlupe die Beine an, richtete sich genauso langsam auf auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Kopf in die Hände sinken. Es wirkte, als wenn er überlegte, was er jetzt machen soll oder sagen. Victoria sah nur ins Leere. Frau Reischberger erstarrte. Die Hände auf den mächtigen Oberschenkeln sah sie Dahlberg ungläubig an.

„Das glaub ich nicht“, sagte sie. „Sie müssen sich irren. Das war doch ein Unfall.“

„Leider nicht.“

Die Hinterbliebenen sahen zwischen ihnen hin und her. Langsam schienen sie zu begreifen. Lars fuhr sich übers Gesicht. Ingrid Reischberger schloss die Augen. Victoria regte sich nicht. Eine Weile herrschte Stille.

„War Ihr Mann in letzter Zeit verändert?“, fragte Dahlberg.

„Nervös, aufgeregt, ängstlich?“

Die drei schwiegen weiter.

„Was? Ist das so eine schwierige Frage?“

Frau Reischberger ruckelte sich zurecht und kniff die Lippen zusammen. Sie wandte sich ab und sah in eine imaginäre Ferne.

„Nun sag schon“, maulte der Sohn, „dass du ihn nicht oft zu Gesicht bekommen hast.“

Mit einer, wie sie sicher meinte, abschließenden Geste verschränkte sie die Arme. „Er hat eben nur viel gearbeitet.“

„In Ihrer Ehe stand also alles zum Besten,“ konstatierte Alexander.

Ihre Wimpern erzitterten kurz, Sohn und Stieftochter sahen unter sich. „Dann haben wir eine Überraschung für Sie.“

Er schlug den Schnellhefter auf.

„Das ist ein Kontoausdruck Ihres Mannes. Läuft übrigens allein auf ihn.“

Alexander sah Ingrid in die Augen. Sie wich aus. Ihr musste es hochnotpeinlich sein, dass ihr Mann sie auf diese Weise außen vor gehalten hatte.

„Also, was haben wir?“ Er blätterte in den Unterlagen. „Ach ja. Monatlich ein hübsches Sümmchen an Sie.“

Sie nickte bestätigend und gelangweilt tuend. Aber ihre Schultern waren verkrampft und die Miene steinern.

„Und eine kleinere“, er sah zu Lars und Victoria hinüber, „bedeutend kleinere an Sie.“

Alexander senkte die Augen wieder auf das Papier.

„Die Eingänge sind wirklich beachtlich, durchschnittlich dreihunderttausend für jedes Gemälde. Und es waren viele, besonders in den letzten zwei Jahren.“

Er sah zu Dahlberg hinüber, der, die Oberlippe verzogen, die Restfamilie musterte. Jetzt kam nämlich der Knaller. „Und wissen Sie, wieviel übrig ist?“

Reischbergers Erben rührten sich nicht. Ingrid sah verbissen drein. Lars’ Babyface rötete sich, Victoria sah aus wie Braunbier mit Spucke.

„Ganze fünfhunderttausend. Den riesigen Rest hat er in Monte Carlo ausgegeben, einmal im Jahr für einen Monat fast alles verspielt, verprasst, mit vollen Händen ausgegeben.“

Ingrid begann heftig zu atmen. Alexander musste an wogende Busen denken, hier stimmte der Ausdruck wirklich. Lars ließ sich mit geschocktem Ausdruck nach hinten fallen. Victoria riss erschrocken die Augen auf. Er hätte aber nicht sagen können, welche Reaktion die verdächtigste war.

„Da ist jetzt nicht soooo viel übrig“, beschloss er die Eröffnung. „Und geteilt durch drei schon gar nicht.“

„Und jetzt“, sagte Dahlberg, „kommen wir zu Ihren Alibis.“

Erwartungsgemäß machten die drei empörte Gesichter, wieso wir, wir haben damit doch gar nichts zu tun. Frau Reischberger verwies auf einen Buchautor, für den sie das Cover gestaltete. Mit ihm hätte sie die betreffende Nacht hindurch daran gearbeitet. Sohn Lars gab an, in einem Club gewesen zu sein. Victoria war zu Hause und hatte geschlafen.

„Wo sind die Räume Ihres Mannes?“, fragte Dahlberg und stand auf. Frau Reischberger ging voran, vorbei an den riesigen Buchstaben. Gernot Reischberger hatte einen eigenen, abgeschiedenen Bereich. Das bestätigte den Eindruck, dass die Eheleute nicht mehr viel miteinander zu tun hatten. Das Reich des Hausherren wirkte kalt und unbewohnt, nur das Bett war zerwühlt. Sie durchsuchten die Wandschränke, fanden aber nur Kleidung, Bettwäsche und Handtücher. Ein Regal enthielt Bildbände und Ausstellungskataloge mit Reischbergers Werk, ein winziger Schreibtisch persönliche Unterlagen wie Abiturzeugnis, Diplom, einen alten DDR-Sozialversicherungsausweis. Keine Fotos, keine persönlichen Gegenstände, keine Erinnerungsstücke.

Komischer Zeitgenosse, dachte Alexander, als wenn er die Vergangenheit ausradiert hat.

 

Ingrid Reischberger war auf hundertachtzig.

„Schweinehund“, schrie sie und warf das Glas an die Wand. Es zersplitterte zwischen A L L E S und N I C H T S.

„Schweinehund, Schweinehund.“

Sie hatte immer geahnt, dass Gernot sich in seinem Monat Auszeit ein schönes Leben machte. Aber doch nicht so, nicht in diesem Ausmaß, nicht mit dieser Rücksichtslosigkeit. Erschöpft starrte sie auf den nassen Fleck. Was jetzt?

Sie ließ sich auf das Sofa fallen und raffte den Morgenmantel vor dem Bauch und der Brust zusammen. In sich zusammen gesunken betrachtete sie im Flachbildschirm ihr unförmiges Spiegelbild. Zweihundertfünfzigtausend. Wie lange reichte das? Auch im Hinblick auf den aktuellen Schatz, einem attraktiven Soziologen.

Ingrid stemmte sich hoch und ging in ihr Bad. Dort ließ sie kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und tupfte den verschwitzten Nacken mit einem nassen Waschlappen ab. Dabei sah sie sich in die kajalbetonten Augen. Groß und dunkel waren sie das Beste an ihr, das Beste, das übrig geblieben war von der schönen Jugend.

In ihrem Arbeitszimmer zwang sie sich an den Zeichentisch. Hin und wieder machte sie noch etwas, diesmal für den Schatz, immerhin hatte sie Typografie und Grafik studiert. Es ging um ein Cover für sein Buch ‚Selbstoptimierung als Zwang und Wahn‘.Abgesehen von der Tatsache, dass der Schatz kaum Geld hatte, war es auchein Dankeschön für das Alibi. Er hatte nichts gefragt, sondern ihre Angabe bestätigt, dass sie zur Zeit von Gernots Tod gemeinsam über den Entwürfen gebrütet hatten. Berechnendes Luder, dachte sie, denn damit hatte er sich auch die weitere Finanzierung seines Buchprojektes gesichert. Bis vor einem Jahr hatte er in einem ‚Institut für Identität und Positionierung‘ gearbeitet. Bis er wegen erwiesener Faulheit rausflog. Jetzt rächte er sich mit Innenansichten der Branche und Sticheleien, verpackt in Soziologendeutsch.

Ingrid Reischberger legte die beiden Cover-Entwürfe nebeneinander. Der eine zeigte einen abstrahierten Körper, der mit Klemmen übersät war. Er sah aus wie ein menschlicher Seeigel. An den Klemmen wiederum waren straff gespannte Strippen befestigt, die über den Rand des Covers hinaus ins Nichts führten. Man sah also nicht, wer an ihnen zog. Der andere Entwurf bestand aus einer Marionette, deren Fäden sich in der Hand einer zweiten Marionette befanden, deren Fäden sich … und so weiter, bis nicht mehr zu erkennen war, wer letztlich welche Fäden zog. Ingrid fand beide Entwürfe gut. Und beide entsprachen ihrem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Ausgeliefert dem zu erwartenden Bohren der Kripo, der Neugier Achim de Rouquettes, der sie kontaktiert hatte, den sie aber abwimmeln konnte, dem Wissen von Attila Lührmann, den Fragen von Lars und Victoria. Und dem Geldmangel, der sich irgendwann einstellen würde.

Der Schatz tauchte auf. Nach einem Kuss auf ihren Hinterkopf stützte er sich auf die Tischkante und betrachtete die Entwürfe.

„Ich bin für die Marionetten.“

Ingrid sah zu ihm hoch. Würde er bleiben, wenn sie blank war?

 

Alexander gab seiner Mutter einen Kuss. Sie reichte ihm zwei Papiertaschen mit den Resten von Chanukka, Rugelach, Halvaschnecken und Hamantaschen. Seit einiger Zeit backte sie nach jüdischen Rezepten und jedesmal zu viel. Hoffentlich mochten seine Leute das süße Zeug, wenn sie morgen zu seiner Auferstehungsfeier vorbei kamen.

Er fuhr vom achten Stock ins Erdgeschoss des Plattenbaus, in dem seine Eltern seit ihrer Rückkehr aus Moskau wohnten. Seit dem Ende ihrer Diplomatenlaufbahn, seit das diplomatische Korps der DDR abgewickelt worden war. Sie waren damals erst vierzig, aber keiner wurde übernommen.

Auf dem Weg zur U-Bahn-Station kam er am Bärenschaufenster vorbei. Die Bewohner waren allerdings nicht zu sehen, war ihnen bestimmt zu feucht, denn es nieselte seit Stunden. Auch der Eingang zum Tierpark Friedrichsfelde lag verlassen da. Die U5 war leer, er hatte ein ganzes Abteil für sich. Doch schon eine Station weiter, in Lichtenberg, wurde es voll. Er nahm die Gebäcktüten auf den Schoß und schloss die Augen.

Das starke Gesicht von Ingrid Reischberger tauchte auf, das bräsige von Lars und das verletzliche von Victoria. Was für eine Familie! Und was für ein Vater! Der hatte seine Giftigkeit nicht nur in die Kunst gesteckt. Und in der Öffentlichkeit den Netten und Charmanten gespielt, jedenfalls wenn man nach den Fotos ging. Ganz zu schweigen von dem Widerspruch zwischen dem Eremitendasein als Künstler und den Wochen als Spieler und Frauenheld.

Halbundhalb empfing Alexander in Habachtstellung hinter der Wohnungstür. Er hatte sein Kommen gerochen, gehört, gespürt oder was auch immer der Hund drauf hatte. Alexander kniete sich hin und nahm den schwarz-weiß geteilten Kopf, dem Halbundhalb seinen Namen verdankte, in die Hände. Das Tier schien traurig zu sein, es war den ganzen Tag allein gewesen. Alexander ließ ihn los und betrat die Küche, der Fressnapf war unberührt. Das ging so nicht weiter. Er entsorgte das gammlig gewordene Hundefutter, öffnete eine neue Büchse und füllte den Inhalt in eine andere Schüssel.

Alexander betrat das Wohnzimmer. Es war spartanisch eingerichtet. Ein einfacher Tisch mit vier Stühlen, auf dem sein Laptop lag, ein kleiner Flachbildfernseher, der Drehsessel, den er sich nach seinem letzten Undercovereinsatz gekauft hatte, ein Regal, an dem Klemmleuchten klemmten. Es widerstrebte ihm, sich endgültig niederzulassen. Wer wusste schon, was das Leben noch bereithielt.

Er trat an das Regal und nahm das Kästchen in die Hand, das die Überreste seiner Berliner Undercoverzeit enthielt: Die dicken Goldringe, die er damals trug, die Brücke mit den unechten Goldzähnen, der falsche Pass, der ihn als russischen Bürger auswies, und ein paar Fotos, die ihn im Kreise seiner kriminellen Kumpane zeigten. Er klappte es auf und nahm die Fotos heraus. Wie jedesmal staunte er über die damalige Verwandlung. Er konnte sich in dem Kerl mit den langen fettigen Haaren und dem Gold im Mund kaum erkennen. Am Anfang war alles glatt gelaufen. Seine Legende war wasserdicht und sein Moskauer Slang echt, er war ja dort aufgewachsen. Und das Leben unter den hart gesottenen Typen war aufregend. Aufregender als sein jetziges, wo vor allem logisches Denken gefragt war, mühseliges Sammeln von Fakten und zähe, natürlich gewaltfreie Verhöre.

Nach einem halben Jahr in dem Clan hatte er genug beisammen. Er kannte die Herkunft der Ikonen, meist aus kleinen russischen Kirchen, kannte ihre Wege nach Deutschland, die Preise und die Käufer. Doch einen Tag, bevor das SEK aufmarschieren sollte, passierte es. Er wurde zusammengeschlagen und wachte in einem Keller wieder auf. Seine Deckung war aufgeflogen, und niemand wusste, wieso. Zwei seiner Kumpels auf Zeit hatten ihn bearbeitet, mit Fäusten und einem Baseballschläger. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre, doch Dahlberg tauchte rechtzeitig auf. Zurück blieben zertrümmerte Kniescheiben, zugeschwollene Augen, eine dicke Nase und aufgeplatzte Lippen. Aber Alexanders Arbeit, seine Informationen führten zur Zerschlagung des Schmuggelrings und später, als er wieder gehen konnte, zu einem aufsehenerregende Prozess und dank seiner Aussagen vielen Verurteilungen.

Dass die Ikonenmafia Jahre später einen Rächer vorbei schicken, dass er dem Tod wieder von der Schippe springen würde, hatte niemand erwartet. Aber so war es. Nach zwei Wochen im künstlichen Koma war er schwach und hungrig erwacht, seine Stimme ein Hauch, der Magen rebellisch. Nackt und bloß hatte er vor der schönen Schwester gesessen, ein erschrecktes Gemächt vor Augen und Schmerzen in der Oberschenkelbeuge und in der Brust.

 

Dahlberg passierte den Privatpuff, den Eisladen, das Bäckereicafé Datoglu und das Hanfgeschäft. Der Anstrich um das Schaufenster erinnerte an das unangenehme Grün auf dem Gemälde Gernot Reischbergers. Der Mann war tatsächlich eine große Nummer gewesen, jedenfalls wenn man nach den Preisen ging. Dafür gab es nicht viel über sein Leben. Es hatte die Aura des Geheimnisvollen, was sicher Absicht war. Und sich wie ein Einsiedler in dem seltsamen Atelier einzubunkern dürfte dazu beigetragen haben.

Das blaue Haus strahlte trotz einsetzender Dämmerung. Mittlerweile sparten sich Postboten, Taxifahrer und Nachbarn Bemerkungen wie Augenkrebs oder Da-wird-man-ja-blind-von. Sie hatten sich an die auffällige Fassade gewöhnt. Er selbst fand sie von Anfang an gut.

Der Architekt, dem sie die Farbe verdankten, kam gerade aus der Tür, er hatte das Rennrad geschultert. Der Mann war über sechzig, aber er fuhr bei jedem Wetter, auch bei diesem Schneeregen, ein echt harter Knochen. Dahlberg nickte dem Sportsmann zu. Der nickte zurück und schwang sich aufs Rad.

Als Dahlberg die Wohnung betrat, kam Marthe aus dem Schlafzimmer. „Du hast vergessen, dass ich heute verabredet bin“, sagte sie und ging zurück.

Er ging ihr nach, Karlchen schlief schon. Sie zog ihre schwarzen Stiefel an. Dann stand sie auf und strich das schwarze Minikleid glatt, öffnete den Kleiderschrank, nahm den langen, ebenfalls schwarzen Mantel heraus. Sie warf ihm eine Kusshand zu und verschwand im Flur.