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Clark Ashton Smith (1893-1961) ist H. P. Lovecrafts vergessener literarischer Gefährte aus den Tagen des Weird Tales Magazine. Seine Dark Fantasy ist von halluzinatorischer Intensität. Viele Fans halten Smiths Werk sogar für bedeutsamer als das von H. P. Lovecraft. Es ist ein Rätsel, warum Lovecraft Weltruhm erlangte, doch sein Freund nahezu vergessen ist. H. P. Lovecraft: »Niemand schildert den kosmischen Schrecken so gut wie Clark Ashton Smith. Was echte dämonische Ausstrahlung und Ideenreichtum anbelangt, wird Mr. Smith wohl von keinem lebenden oder toten Schriftsteller übertroffen.« Festa CLASSICS – die wahren Meisterwerke der Dark Fiction. Clark Ashton Smiths halluzinatorische Erzählungen sind geprägt durch eine Faszination des Verfalls und der dunklen Unvermeidbarkeit des Grauens eines Edgar Allan Poe. Inhalt: Über Fantasy Die Stadt der Singenden Flamme Jenseits der Singenden Flamme Das neunte Skelett Der malaiische Kris Die Abscheulichkeiten von Yondo Die Auferweckung der Klapperschlange Die Schrecken der Venus Aus den Grüften der Erinnerung HYPERBOREA Will Murray: Das Hyperborea von Clark Ashton Smith Die Geschichte des Satampra Zeiros Die Muse von Hyperborea Das Tor zum Saturn Das Manuskript des Athammaus Das wunderliche Schicksal des Avoosl Wuthoqquan Ubbo-Sathla Der Eisdämon Die sieben Banngelübde Die Weiße Seherin Die Ankunft des weißen Wurms Der Raub der 39 Keuschheitsgürtel Ray Bradbury: »Unglaubliche Welten, unwahrscheinlich liebliche Städte und noch weitaus fantastischere Lebewesen ...« Joachim Körber: »Ein Klassiker! Die Stadt der singenden Flamme präsentiert eine Auswahl seiner besten Gruselgeschichten, deren bizarre Horror- und Science-Fiction-Szenarien für mich zu den Höhepunkten des Genres zählen.« Ryan Harvey: »Er war ein einzigartiges, nicht einzuordnendes Genie im fantastischen Bereich. Diese Außergewöhnlichkeit ist der Grund, dass Clark Ashton Smiths Werk heute so wenig veröffentlicht und gelesen wird, obwohl sein Name immer wieder im Zusammenhang mit H. P. Lovecraft und Robert E. Howard genannt wird, seinen beiden Gefährten aus dem Horrormagazin Weird Tales. Doch während sie immer berühmter wurden, ist Smith heute nahezu vergessen.«
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Malte S. Sembten u. a.
Impressum
1. Auflage 2025
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Titelbild: Festa Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
eBook 978-3-98676-237-7
www.festa-verlag.de
Inhalt
Impressum
Inhalt
ÜBER FANTASY
DIE STADT DER SINGENDEN FLAMME
JENSEITS DER SINGENDEN FLAMME
DAS NEUNTE SKELETT
DER MALAIISCHE KRIS
DIE ABSCHEULICHKEITEN VON YONDO
DIE AUFERWECKUNG DER KLAPPERSCHLANGE
DIE SCHRECKEN DER VENUS
AUS DEN GRÜFTEN DER ERINNERUNG
HYPERBOREA
Will Murray: DAS HYPERBOREA VON CLARK ASHTON SMITH
DIE GESCHICHTE DES SATAMPRA ZEIROS
DIE MUSE VON HYPERBOREA
DAS TOR ZUM SATURN
DAS MANUSKRIPT DES ATHAMMAUS
DAS WUNDERLICHE SCHICKSAL DES AVOOSL WUTHOQQUAN
UBBO-SATHLA
DER EISDÄMON
DIE SIEBEN BANNGELÜBDE
DIE WEISSE SEHERIN
DIE ANKUNFT DES WEISSEN WURMS
DER RAUB DER 39 KEUSCHHEITSGÜRTEL
Veröffentlichungsnachweise
C. A. Smith
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ÜBER FANTASY
Allenthalben hört man, dass literarische Werke, die sich mit der Imagination und dem Fantastischen beschäftigen, bei Intellektuellen, wer auch immer diese sein mögen, auf wenig Gegenliebe stoßen. Ausschließlich mit dem Realen, was auch immer dies ist oder sein mag, dürfe man sich befassen. Autoren sollten sich auf Themen beschränken, die noch im Bereich von Statistikern, Blitzrechnern und im Vorstellungsvermögen von Psychiatern wie Freud oder Krafft-Ebbing angesiedelt sind oder ihre Entsprechungen in der Sensationspresse eines Hearst oder McFadden finden, in den Verlautbarungen der National Rifle Association oder im Versandkatalog.
Chimären sind nicht mehr en vogue, das Unendliche wurde abgeschafft; Geheimnisse gehören der Vergangenheit an und die Sphinx und eine Medusa können höchstens noch Kinder schrecken. Das Unheimliche und Übersinnliche ist mit einem Bann belegt und alles, was unter irdischen Bedingungen unmöglich scheint (so in etwa lauten die Gemeinplätze der Klageführer), fällt der Häme selbst ernannter Literaturwächter anheim. Es ist gestattet, über Pferde und Nilpferde zu schreiben, nicht jedoch über einen Hippogryph; über Lebensläufe, nicht jedoch über Ghoule; über Bordsteinschwalben in heruntergekommenen Vierteln und Callgirls bei den oberen Zehntausend; Sukkuben hingegen sind verpönt.
Kurz: Jede Fantasie, die nicht durch Freudianismus, Soziologie oder die fünf Sinne autorisiert ist, erntet vonseiten der Kritiker nur wieherndes Gelächter. Stoßen diese Kritiker bei einem Autor, der das Pech hatte, in das Zeitalter eines Jeffers, Hemingway oder Joyce hineingeboren zu werden, auf eine Stelle, die nicht ihrer Ignoranz, ihrer Unverschämtheit oder lediglich ihren Vorlieben standhält, ist es ebenso.
Betrachten wir diese erstaunlichen Grundsätze, die ja wohl von Leuten stammen, deren prosaisches Denken nur noch von dem ihrer vierbeinigen Verwandten übertroffen wird, einmal näher. Es ist allgemein anerkannt, dass sich die Kunst wie auch das Denken nicht mit den Dingen selbst, sondern mit dem Konzept, mit der Vorstellung von den Dingen beschäftigt. Man kann wie Villon über die fette Margot und über die Ratschläge der Witwe des Helmschmieds an die Freudenmädchen schreiben oder wie Sterling Lilith und den blauäugigen Vampir beschwören – in beiden Fällen haben wir es lediglich mit Fantasieprodukten des Dichters zu tun. Dem literarischen Schöpfer, nicht dem Kritiker, ist es vorbehalten, sich für dasjenige Bild oder Symbol zu entscheiden, das ihm zusagt. Wer nicht mal den geringsten Anflug von Fantasie oder bildlicher Sprache ertragen kann, sollte sich beim Lesen auf die Ergebnisse der Volkszählung beschränken. Falls er sich überhaupt irgendwo auf sicherem Boden befindet, dann dort.
Um weitere Überlegungen anzusprechen: Weshalb dieser Hunger nach dem Wortwörtlichen, nach nichts als fassbaren anthropologischen Daten, der uns letztlich die unermesslichen Weiten der Imagination verbieten und uns von allem ausschließen möchte, was uns, und sei es nur in Gedanken, über die Interessen des Individuums oder unserer Spezies erhebt? Setzt dies nicht einen kosmischen Provinzialismus voraus, eine maßlose rassische Egomanie?
Ja, wenn das Fantastische oder Unmögliche nicht Gegenstand eines literarischen Werkes sein darf, wo soll man dann die Grenze ziehen? Zahlreiche Denker vor Freud und auch manche seiner Zeitgenossen behaupten, die Welt sei nichts weiter als eine Vorstellung; oder, wie De Cassere es formuliert: ein »Aberglaube der fünf Sinne«. Gauthier weist darauf hin, dass wir lediglich vermittels der Illusion leben, vermittels eines Prozesses, bei dem wir uns selbst sowie alle Dinge lediglich so sehen, wie sie eben nicht sind. Allein die Tiere vermögen, da sie ja keine Vorstellungskraft besitzen, der Realität nicht zu entfliehen. Vom Demenzkranken bis hin zum Psychoanalytiker, vom Dichter bis zum Lumpensammler befinden wir uns alle auf der Flucht vor der Realität. Wahrheit ist, was wir uns davon wünschen, die Fakten des Lebens sind nichts weiter als ein Mummenschanz, und wir glauben zu wissen, was hinter den Masken steckt. Seit jeher ergötzen sich gerade die größten Denker an dichterischen Erfindungen und philosophischen Paradoxa, wohl wissend, dass das Universum selbst nichts weiter ist als eine vielgestaltige Vorstellung und Paradoxie und dass alles, was wir als Tatsache wahrnehmen beziehungsweise wahrzunehmen glauben, nur ein Zustand von etwas ist, das womöglich zahllose Erscheinungsformen hat. In diesem phantomhaften Wirbel des Unendlichen, hinter diesen siebenmal sieben Schleiern der Maya, der Hindu-Göttin der Illusion, ist nichts zu absurd, zu wunderbar oder zu entsetzlich, um unmöglich zu sein.
DIE STADT DER SINGENDEN FLAMME
Vorwort
Als Giles Angarth vor nunmehr etwa zwei Jahren verschwand, waren wir bereits seit nahezu zehn Jahren, wenn nicht länger, befreundet gewesen, und ich kannte ihn, so gut man jemanden nur kennen kann. Dennoch war mir die ganze Sache damals nicht minder schleierhaft als jedem anderen auch, und bis heute ist sie ein Rätsel geblieben.
Wie all die anderen glaubte auch ich mitunter, er hätte das Ganze gemeinsam mit Ebbonly ausgeheckt, um sich einen grandiosen Scherz zu erlauben; dass die beiden noch irgendwo am Leben wären und sich ins Fäustchen lachten darüber, wie sie uns mit ihrem Verschwinden an der Nase herumführten. Von den beiden vermissten Männern gab es nicht die geringste Spur. Niemand hatte auch nur das leiseste Gerücht über sie vernommen. Schließlich machte ich mich nach Crater Ridge auf, um, so ich es denn vermochte, die beiden in Angarths Bericht erwähnten Felsblöcke zu finden. Die ganze sonderbare Angelegenheit, so schien es damals, würde wohl ewig ein Rätsel bleiben, das einen zur Verzweiflung trieb.
Angarth, der bereits zu einigem Ansehen als Verfasser fantastischer Literatur gelangt war, hatte den Sommer in den Sierras verbracht und allein dort gewohnt, bis er Besuch von dem Künstler Felix Ebbonly bekam. Ebbonly, dem ich nie begegnet war, war wohlbekannt für seine fantastischen Gemälde und Zeichnungen und hatte zahlreiche von Angarths Romanen illustriert.
Als Camper, die in der Nähe zelteten, anfingen, sich wegen des Ausbleibens der beiden Männer Sorgen zu machen, suchte man in ihrem Blockhaus nach Hinweisen auf ihren möglichen Aufenthaltsort und entdeckte dabei auf dem Tisch ein an mich adressiertes Päckchen, das mir nach einem gebührenden Zeitraum zugestellt wurde, nachdem ich bereits zahllose Zeitungsartikel voller Spekulationen über den Verbleib der beiden Vermissten gelesen hatte. Das Päckchen enthielt ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch und auf das erste Blatt hatte Angarth geschrieben:
Lieber Hastane, Sie können dieses Tagebuch gern irgendwann einmal veröffentlichen, wenn Sie möchten. Man dürfte es für die wohl letzte und wildeste Ausgeburt meiner Fantasie halten – es sei denn natürlich, Sie verkaufen es lieber als Ihr Buch. Ganz gleich was Sie tun, eines ist mir so recht wie das andere. Leben Sie wohl.
Ihr ergebener
GILES ANGARTH.
Da ich ahnte, dass die Geschichte so aufgenommen werden würde, wie er es vorhersah, und mir selbst auch nicht sicher sein konnte, ob sie nun der Wahrheit entsprach oder bloß ein Hirngespinst war, nahm ich zunächst Abstand von einer Veröffentlichung. Nun, nachdem ich Gelegenheit hatte, mich mit eigenen Augen von ihrem Wahrheitsgehalt zu überzeugen, gebe ich sie schließlich in Druck, gemeinsam mit einem Bericht über die Abenteuer, die mir selbst in diesem Zusammenhang widerfuhren. Vielleicht kann die Veröffentlichung beider Berichte dazu beitragen, dass Sie der Geschichte als Ganzes glauben schenken und sie nicht als Fantasterei abtun, zumal Angarth wieder in seine alltägliche Umgebung zurückgekehrt ist.
Wenn ich mir jedoch meine eigenen Zweifel in Erinnerung rufe, tja, dann … Doch mag der Leser selbst entscheiden. Als Erstes also Giles Angarths Tagebuch.
Das Tagebuch
31. Juli 1938 – Ich habe nie Tagebuch geführt – in der Hauptsache deswegen, weil mein Leben so ereignislos verläuft, dass es kaum der Mühe wert ist, etwas davon aufzuzeichnen. Doch was heute Morgen geschah, war so überaus seltsam, so fern jeder Alltagserfahrung, dass ich nicht umhin komme, es nach bestem Wissen und Gewissen niederzuschreiben. Und sollte sich das, was mir zustieß, wiederholen oder gar seinen Fortgang nehmen, werde ich ebenfalls Buch darüber führen. Dies kann ich umso gefahrloser tun, als niemand, der diesen Bericht je zu Gesicht bekommt, ihm Glauben schenken dürfte …
Ich war zu einem Spaziergang nach Crater Ridge aufgebrochen. Die Gegend liegt eine Meile, eher weniger, nördlich meiner Blockhütte in der Nähe des Gipfels. Obwohl die Gegend sich deutlich von der Landschaft ringsum unterscheidet, gehe ich sehr gern dort spazieren. Es ist dort außergewöhnlich karg und trostlos, die Vegetation erschöpft sich in Gebirgsblumen, wilden Johannisbeersträuchern, ein paar stämmigen, windgekrümmten Kiefern und elastischen Lärchen.
Zwar sprechen die Geologen diesem Grat einen vulkanischen Ursprung ab, doch sehen der zuweilen offen zutage liegende, nackte Fels und die gewaltigen Trümmerhalden – zumindest für mein unwissenschaftliches Auge – alle aus wie Lavagestein. Es wirkt wie die Schlacke eines gigantischen Glutofens, die sich zu einer Zeit, als auf der Erde noch keine Menschen lebten, an die Oberfläche ergoss, abkühlte und zu grenzenlos grotesken Formen erstarrte. Dort finden sich Steine, die wie Bruchstücke urzeitlicher Basreliefs aussehen oder an winzige prähistorische Götzenbilder und Figurinen erinnern; andere wiederum scheinen Inschriften zu tragen, Buchstaben einer längst vergessenen, nicht mehr entzifferbaren Schrift. Völlig unerwartet trifft man am Ende des langen, knochentrockenen Kammes auf einen kleinen Bergsee – einen Bergsee, dessen Tiefe nie ausgelotet wurde. Der Hügel bildet eine eigenartige Unterbrechung zwischen den Granitschichten und Felszacken, zwischen den tannenbestandenen Schluchten und Tälern dieser Region.
Es war ein klarer, windstiller Morgen, und ich hielt oft inne, um die großartige Aussicht auf die abwechslungsreiche Landschaft ringsherum zu genießen – auf die titanischen Felszinnen des Castle Peak; die rauen, von einem mit Schierlingstannen gesäumten Pass durchschnittenen Massive des Donner Peak; auf das ferne, leuchtende Blau der Berge Nevadas und das sanfte Grün der Weiden in dem Tal zu meinen Füßen. Es war eine entrückte, schweigende Welt. Der einzige Laut, den man hörte, war das trockene, knackende Zirpen der Zikaden in den Johannisbeersträuchern.
Ein gutes Stück weit wanderte ich kreuz und quer, und als ich schließlich an eines der Geröllfelder kam, von denen der Kamm hie und da übersät ist, fing ich an, sorgfältig den Boden abzusuchen. Ich hoffte einen Stein zu finden, der eigentümlich und grotesk genug geformt war, um ihn als Kuriosität mitzunehmen. Bei meinen bisherigen Wanderungen hatte ich bereits mehrere solcher Steine gefunden. Unversehens gelangte ich inmitten der Gesteinstrümmer an eine freie Fläche, auf der nichts wuchs – sie war kreisrund, so als hätte jemand sie künstlich angelegt. In ihrer Mitte standen zwei einzelne, etwa eineinhalb Meter voneinander entfernte Felsblöcke, die sich auffallend ähnelten.
Ich blieb stehen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sie waren von einem matten, grünlichen Grau und schienen aus einem völlig anderen Material zu bestehen als das übrige Gestein ringsum. Eigentlich deutete nichts darauf hin, dennoch kam mir sofort der Gedanke, es könne sich nur um den Sockel längst verschwundener Säulen handeln, von Wind und Wetter im Lauf unzähliger Jahre abgetragen, bis nur noch diese im Erdreich versunkenen Stümpfe übrig geblieben waren. Es kam mir jedenfalls sonderbar vor, wie vollkommen rund und gleichförmig die beiden Blöcke waren, und obwohl ich durchaus etwas von Geologie verstehe, vermochte ich die glatte, specksteinartige Substanz nicht einzuordnen.
Meine Fantasie war in Aufruhr und ich erging mich in den kühnsten Vorstellungen, die jedoch bei Weitem nicht an das heranreichen, was passierte, als ich einen Schritt nach vorn machte und auf die freie Fläche unmittelbar zwischen den beiden Blöcken trat. Ich werde mich nach Kräften bemühen, zu beschreiben, was geschah – auch wenn es der menschlichen Sprache naturgemäß an Worten für eine angemessene Schilderung von Ereignissen und Gefühlen mangelt, die den Rahmen des Normalen sprengen.
Es gibt kaum etwas Beunruhigenderes, als sich zu verschätzen, während man einen Fuß vor den anderen setzt. Damit haben Sie vielleicht eine Vorstellung davon, wie es gewesen ist, als ich auf ebenem, völlig freiem Untergrund einen Schritt nach vorn tat, nur um unvermittelt ins Leere zu treten! Mir war, als stürzte ich in einen Abgrund; zugleich wich die Landschaft vor meinen Augen einem Wirbel bruchstückhafter Bilder und dann folgte – nichts mehr. Ich empfand ein Gefühl extremer Kälte, wie im hohen Norden, und eine unbeschreibliche Übelkeit. Schwindel überkam mich, denn mein Gleichgewichtssinn war offenbar zutiefst aus dem Lot geraten. Entweder weil es so schnell abwärts ging oder auch aus einem sonstigen Grund vermochte ich kaum Atem zu holen.
Ich befand mich in einem Zustand unsäglicher Verwirrung, meine Gedanken und Empfindungen wirbelten durcheinander. Fast die ganze Zeit über hatte ich den Eindruck, nach oben zu stürzen anstatt nach unten, dann wieder liegend oder merkwürdig schräg und verdreht dahinzugleiten. Zuletzt hatte ich das Gefühl, dass sich mein ganzer Körper überschlug. Schließlich fand ich mich, ohne die geringste Erschütterung oder gar einen Aufprall zu spüren, aufrecht auf festem Boden stehend wieder. Das Dunkel um mich herum lichtete sich, ich vermochte wieder zu sehen, aber mir war noch immer schummrig. Sekundenlang ergaben die Bilder, die meine Netzhaut empfing, überhaupt keinen Sinn.
Als ich endlich mein Erkenntnisvermögen zurückgewann und wieder in der Lage war, meine Umgebung wenigstens halbwegs wahrzunehmen, war meine Verwirrung komplett, vergleichbar allenfalls mit dem Zustand eines Mannes, der sich ohne jede Vorwarnung an die Gestade eines fremden Planeten geworfen sieht. Ich war aufs Äußerste verblüfft. Mir schwirrte der Kopf, ich fühlte mich gleichermaßen fremd und verloren, entsetzlich allein und abgeschnitten von jeder vertrauten Umgebung, von allem, was unserem Leben Form und Farbe gibt, ja, was es eigentlich ausmacht und sogar noch unsere Persönlichkeit bestimmt.
Ich stand inmitten einer Landschaft, die Crater Ridge auch nicht im Entferntesten ähnelte. Zu meinen Füßen schwang sich ein langer, von violettem Gras bedeckter Hang, auf dem sich hie und da Steine von monolithischem Ausmaß erhoben, sanft zu einer weiten Ebene hin, auf der sich wogende Wiesen und hohe, majestätische Wälder erstreckten, deren überwiegend purpurne und gelbe Pflanzen mir jedoch gänzlich unbekannt waren. Die Ebene schien in einer Wand aus undurchdringlichen, bräunlich-goldenen Dunstschleiern zu enden, die sich wie geisterhafte Bergspitzen in einen leuchtend bernsteinfarbenen Himmel reckten, an dem keine Sonne zu sehen war.
Im Vordergrund dieser erstaunlichen Szenerie, kaum mehr als zwei, drei Meilen entfernt, zeichnete sich drohend eine Stadt ab, deren gewaltige Türme und gebirgsgleich aufragende Mauern aus rotem Stein wirkten, als wären sie von einem vorgeschichtlichen Volk einer bislang noch unentdeckten Welt erbaut worden. Ein Wall höher als der vorhergehende, eine Turmspitze gigantischer als die andere, schwang sie sich in die Höhe, um das Firmament zu erreichen. Nichts unterbrach die strenge, ernste Geradlinigkeit dieses Baustils, dessen bedrückende Düsterkeit den Betrachter überwältigt und erschüttert zurückließ.
Während ich so dastand und schaute, wich mein anfängliches Gefühl äußerster Verlassenheit und Befremdens einer Art von Ehrfurcht, vermischt mit Entsetzen. Zugleich spürte ich, wie ich in einen rätselhaften Bann geriet. Mein Wille wollte mir nicht mehr gehorchen, und ohne zu wissen, weshalb, fühlte ich mich magisch von dieser Stadt angezogen. Doch nach einer Weile wurde mir meine unglaubliche Lage wieder bewusst und ich empfand nur noch das heftige Verlangen, diesen unerträglichen Umständen und dieser absonderlichen Region zu entfliehen und wieder in meine eigene Welt zu gelangen. In dem Bemühen, meiner Erregung Herr zu werden, versuchte ich zu begreifen, was nun eigentlich geschehen war.
Ich hatte bereits Geschichten über Reisen zwischen den Dimensionen gelesen – ja, sogar selbst ein, zwei verfasst – und oftmals darüber nachgedacht, ob es denn möglich wäre, dass andere Welten beziehungsweise Materie-Ebenen unsichtbar und für menschliche Wesen nicht wahrnehmbar parallel zu dem uns bekannten Raum existieren. Selbstverständlich war mir auf Anhieb klar gewesen, dass ich in eine derartige Paralleldimension versetzt worden war. Zweifellos war ich, als ich den Schritt zwischen jene beiden Felsblöcke tat, in eine Art Riss oder vielmehr einen Spalt in der Raum-Zeit gestürzt und in dieser fremdartigen Sphäre – in einem gänzlich anderen Universum – wieder aufgetaucht.
Was so einfach klingt, bereitete mir doch einiges Kopfzerbrechen. Denn wie etwas Derartiges im Einzelnen funktionieren sollte, blieb mir ein Rätsel. Darum nahm ich in einem erneuten Versuch, meine Fassung wiederzugewinnen, meine unmittelbare Umgebung näher in Augenschein. Diesmal verfehlten die bereits erwähnten Monolithen ihren Eindruck auf mich keineswegs. Die meisten waren in ziemlich regelmäßigen Abständen in zwei parallelen, den Hang hinabziehenden Reihen angeordnet, wie um den Verlauf einer prähistorischen, längst unter dem violetten Gras versunkenen Straße zu markieren.
Als ich mich umwandte, um ihren Anstieg zu verfolgen, erblickte ich direkt hinter mir zwei Säulen, die exakt genauso weit auseinanderstanden wie die beiden sonderbaren Felsblöcke auf Crater Ridge. Außerdem bestanden sie aus der gleichen grünlich-grauen, wie Speckstein anmutenden Substanz. Sie waren fast drei Meter hoch, und man sah deutlich, dass sie einst höher gewesen waren, denn ihre Spitzen waren geborsten und abgebrochen. Nicht weit über ihnen verschwand der Hang in einer bräunlich-goldenen Nebelbank ähnlich derjenigen, die die etwas entfernter liegende Ebene einhüllte. Doch ich sah keine weiteren Findlinge mehr; wie es schien, endete die Straße an jenen Pfeilern.
Natürlich machte ich mir Gedanken darüber, ob die Säulen dieser unbekannten Dimension nicht irgendwie in Beziehung zu den beiden Felsblöcken in der Welt standen, aus der ich kam. Eine derartige Ähnlichkeit konnte doch gewiss kein Zufall sein. Wenn ich nun zwischen die beiden Säulen trat, würde mein eben erlebter Sturz dann umgekehrt? Vermochte ich dann ins Reich der Menschen zurückzukehren? Und falls ja, welch unvorstellbare Wesen aus dem fernen Raum, aus welch fernen Zeiten, hatten die Felsblöcke und die Säulen als Portal zwischen den Welten errichtet? Wer mochte das Tor wohl benutzt haben, und zu welchem Zweck?
Mir schwirrte der Kopf von den wilden Vermutungen, die diese Fragen aufwarfen. Was mich jedoch am meisten bewegte, war das Problem, wie ich wieder zurück nach Crater Ridge gelangen sollte. Das Ganze war so unheimlich, die Mauern der nahe gelegenen Stadt so gewaltig, die Farben und Formen dieser absonderlichen Landschaft so widernatürlich, dass ich befürchtete, den Verstand zu verlieren, sollte ich gezwungen sein, mich länger in dieser Umgebung aufzuhalten. Es war einfach zu viel für mich. Überdies hatte ich nicht die geringste Ahnung, welch finsteren Mächten oder Wesenheiten ich noch begegnen würde, wenn ich blieb.
Soweit ich sehen konnte, regte sich weder auf dem Hang noch auf der Ebene irgendetwas; allerdings war die Stadt wohl Beweis genug dafür, dass es hier Leben gab. Im Gegensatz zu den Helden meiner Geschichten, die stets mit kühlem Kopf die Fünfte Dimension oder die Welten von Algol aufsuchten, war ich keineswegs zu Abenteuern aufgelegt. Wie jeder andere normale Mensch auch, schauderte ich instinktiv vor dem Unbekannten. Mit einem furchtsamen Blick auf die drohend aufragende Stadt und die weite Ebene mit ihrer üppigen, prachtvollen Vegetation wandte ich mich ab und trat wieder zwischen die beiden Säulen.
Im selben Augenblick wurde ich erneut in einen finsteren, frostigen Abgrund gestürzt. Ohne zu wissen, wohin, ging es, genau wie bei meiner Ankunft in dieser neuen Dimension, abwärts – und auch in andere Richtungen. Am Ende stand ich, völlig benommen und erschüttert, an derselben Stelle, von der aus ich den Schritt zwischen die beiden grünlich-grauen Findlinge getan hatte. Um mich herum drehte sich alles, der Boden unter meinen Füßen schwankte wie bei einem Erdbeben und ich musste mich ein, zwei Minuten hinsetzen, ehe ich das Gleichgewicht wiedererlangte. Aber ich befand mich in Crater Ridge.
Wie im Traum kehrte ich zur Blockhütte zurück. Mein Erlebnis schien, scheint mir noch immer so unwirklich, dass ich es kaum glauben mag. Und doch überschattet es seither alles andere und geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Mehr als alles, was mir bisher in meinem Leben begegnete, hat es mich aus der Bahn geworfen; die Welt um mich herum erscheint mir nun nicht minder unwahrscheinlich und albtraumhaft als jene andere, in die ich durch Zufall geriet. Vielleicht hilft es mir, damit fertigzuwerden, dass ich darüber schreibe.
2. August – In den zurückliegenden Tagen habe ich viel nachgedacht, und je länger ich grüble und mir den Kopf darüber zerbreche, desto rätselhafter wird das Ganze. Gesetzt den Fall, es gibt tatsächlich einen Riss in der Raum-Zeit – dann muss es sich um ein absolutes Vakuum handeln, das weder Luft noch Äther, weder Licht noch Materie durchdringen kann. Doch wie war es mir dann möglich, hineinzustürzen? Und später, nachdem ich hineingestürzt war, auch wieder hinauszugelangen – überdies noch in eine Sphäre, die keine nachvollziehbare Verbindung mit der unseren hat? Theoretisch ist das eine so einfach wie das andere. Der Haupteinwand aber bleibt: Wie soll jemand sich in einem Vakuum bewegen können, sei es nun auf- oder abwärts, vor- oder rückwärts? Selbst ein Einstein stünde vor einem Rätsel, und ich glaube nicht, dass ich der wirklichen Lösung damit auch nur nahe komme.
Ständig muss ich der Versuchung widerstehen, dorthin zurückzukehren, und sei es auch nur, um mich zu vergewissern, dass das Ganze wirklich geschehen ist. Aber warum eigentlich nicht? Schließlich wurde mir eine Chance gewährt wie wahrscheinlich noch keinem Menschen zuvor, und was ich an Wunderbarem erfahren, was mir an Unerforschtem offenbart werden könnte, ist unvorstellbar. Unter diesen Umständen ist meine nervöse Beklommenheit ein unentschuldbar kindisches Empfinden.
3. August – Heute Morgen lief ich, mit einem Revolver bewaffnet, wieder dorthin. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund trat ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass dies womöglich einen Unterschied bedeutete, nicht genau in die Mitte zwischen den beiden Findlingen. Zweifellos deshalb ging es nun länger und auch holpriger abwärts als beim ersten Mal – mir schien, in einer Spirale, wobei ich mich ständig überschlug. Ich brauchte wohl mehrere Minuten, um mich von dem daraus resultierenden Schwindelgefühl zu erholen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem violetten Gras.
Diesmal huschte ich kühn den Hang hinab und stahl mich so gut ich konnte im Schutz der bizarren, purpurn-gelben Vegetation auf die sich düster abzeichnende Stadt zu. Alles war ruhig; nicht der leiseste Windhauch regte sich in jenen exotischen Bäumen, deren hoch aufragende Stämme und weit ausladendes Laubwerk wirkten, als wollten sie die strenge Linienführung der zyklopischen Bauten nachahmen.
Ich war noch nicht weit gegangen, da gelangte ich an eine Straße, die den Wald durchschnitt. Sie war mit gewaltigen Steinplatten gepflastert, von denen eine jede mindestens sechs Meter im Quadrat maß, und führte geradewegs auf die Stadt zu. Eine Zeit lang hatte ich den Eindruck, die Straße wäre völlig verlassen, vielleicht nicht mehr in Gebrauch, und wagte es sogar, darauf entlangzumarschieren, bis ich hinter mir ein Geräusch vernahm. Als ich mich umwandte, gewahrte ich eine ganze Anzahl sonderbarer Wesen. Entsetzt sprang ich zurück und verbarg mich in einem Dickicht, von dem aus ich beobachtete, wie diese Kreaturen vorüberzogen. Voller Furcht fragte ich mich, ob sie mich wohl gesehen hatten. Doch anscheinend war meine Angst unbegründet, denn sie würdigten mein Versteck keines einzigen Blickes.
Jetzt, im Nachhinein, fällt es mir schwer, diese Geschöpfe zu beschreiben oder sie mir auch nur vor Augen zu rufen, denn sie waren gänzlich anders geartet als alles, was man für gewöhnlich als Mensch oder Tier erachtet. Jedes von ihnen war gut und gern drei Meter groß und sie schritten ungeheuer aus, sodass sie innerhalb weniger Augenblicke hinter einer Biegung außer Sicht gerieten. Sie hatten glänzend helle Körper, als trügen sie eine Rüstung, und über ihren Häuptern wippten gleich sonderbaren Federbüschen hohe, gebogene, in allen Farben schillernde Gliedmaßen, die ebenso gut Fühler oder ein sonstiges Sinnesorgan sein mochten. Vor Staunen und Aufregung am ganzen Leib bebend, setzte ich meinen Weg durch das vielfarbige Gestrüpp fort. Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass es hier keine Schatten gab. Das Licht strömte aus allen Teilen des sonnenlosen Bernsteinhimmels zugleich und tränkte alles mit seinem sanften, gleichförmigen Glanz. Nichts rührte sich, alles war still wie zuvor; weder Vögel noch Insekten noch sonstige Tiere regten sich in dieser widernatürlichen Landschaft.
Doch als ich mich der Stadt auf eine Entfernung von etwa anderthalb Kilometern genähert hatte – sofern ich dies beurteilen konnte, schließlich waren mir in dieser Umgebung die Proportionen der Dinge fremd –, nahm ich etwas wahr, das ich zunächst eher als Vibration einordnete denn als Geräusch. Eine seltsame Erregung bemächtigte sich meiner, das beunruhigende Gefühl, dass eine unbekannte Kraft oder vielmehr Emanation meinen Körper durchströmte. Dies hielt eine Zeit lang an, ehe ich die Musik vernahm, doch kaum hörte ich sie, identifizierte mein Gehör sie sofort als jene Vibration.
Sie war leise und kam von weit her, schien direkt aus dem Herzen der Titanenstadt zu dringen. Die Melodie war so süß, dass sie einem durch und durch ging; stellenweise erinnerte sie an eine sinnliche Frauenstimme. Allerdings vermochte keine menschliche Stimme sich jemals in solch überirdische Höhen emporzuschwingen noch die hohen Töne so lange zu halten. Es waren Töne, die den Gedanken an den Glanz fremder Welten weckten – Sternenlicht, übersetzt in Klang.
Normalerweise berührt Musik mich nicht allzu sehr; ich musste mir sogar schon Vorwürfe gefallen lassen, nicht sensibel genug darauf zu reagieren. Doch ich war noch nicht weit gegangen, als ich bemerkte, wie die fernen Klänge mich in einen sonderbaren Bann schlugen. Angezogen von ihrem sirenenhaften Zauber vergaß ich, in welch einer merkwürdigen Lage ich mich befand. Ich dachte nicht länger an die Gefahren, die auf mich warten mochten, und spürte, wie ich in einen rauschhaften Zustand geriet, so als wäre mein Gehirn von Drogen benebelt.
Nach und nach, schleichend, gaukelte mir die Melodie einen unendlichen Raum vor; unendliche Distanzen, und doch erreichbar, in denen eine überirdische Freude und Freiheit herrschte. Sie schien die herrlichsten Dinge zu versprechen, die mir in meinen kühnsten Träumen vorzustellen ich nicht gewagt hätte …
Der Wald reichte bis beinahe an die Stadtmauer heran. Als ich hinter den letzten Sträuchern hervorspähte, gewahrte ich hoch über mir ihre gewaltigen Zinnen und stellte fest, dass die ungeheuren Blöcke makellos aneinandergefügt waren. Ich befand mich in der Nähe der großen Straße, die durch ein offen stehendes Tor führte, breit genug, um auch die gigantischsten Ungetüme hindurchzulassen. Nirgendwo waren Wachen in Sicht, und noch während ich schaute, näherten sich mehrere hochgewachsene, strahlende Wesen mit weit ausgreifenden Schritten und gingen hindurch.
Von meinem Standpunkt aus vermochte ich nicht in die Stadt hineinzublicken, denn die Mauern waren von enormer Höhe. Aus jenem geheimnisvollen Durchgang ergoss sich die Musik in einer anschwellenden Flut und versuchte, mich, begierig nach Unvorstellbarem, anzulocken. Es fiel mir schwer, dieser Melodie zu widerstehen. Ich musste all meine Willenskraft zusammennehmen, um mich abzuwenden. Ich versuchte, mich auf die mir bevorstehende Gefahr zu konzentrieren – doch der Gedanke blieb schwach und dürftig.
Schließlich riss ich mich los und ging langsam und stockend zurück, bis ich außer Reichweite der Musik gelangte. Doch selbst dann hielt ihr Zauber noch an, ähnlich den Nachwirkungen einer Droge. Während des gesamten Rückwegs war ich ständig versucht, umzukehren und jenen schimmernden Giganten in die Stadt zu folgen.
5. August – Ich habe die neue Dimension erneut aufgesucht. Ich glaubte der verlockenden Melodie widerstehen zu können und nahm sogar Watte mit, um sie mir in die Ohren zu stopfen, sollte die Versuchung zu groß werden. Wie zuvor vernahm ich aus einiger Entfernung wieder die himmlische Musik und wurde von ihr angezogen. Diesmal jedoch trat ich durch das offene Tor!
Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, die Stadt zu beschreiben. Auf den ungeheuren Gehsteigen, inmitten des Gewirrs aus Gebäuden, Straßen und Arkaden von unermesslichen Ausmaßen, kam ich mir vor wie eine Ameise. Überall standen Säulen, Obelisken und die lotrechten, freitragenden Pfeiler von Bauwerken, neben denen die Tempel von Theben oder Heliopolis sich wie winzige Hütten ausgenommen hätten. Und erst die Bewohner dieser Stadt! Wie soll ich sie schildern, wie benennen?
Ich halte die strahlenden Geschöpfe, die ich als Erstes sah, nicht für die eigentlichen Stadtbewohner, sondern lediglich für Besucher, die wie ich selbst möglicherweise aus einer anderen Welt oder Dimension stammen. Die wirklichen Bewohner sind gleichfalls Riesen; aber sie bewegen sich langsam und feierlichen, gemessenen Schritts. Ihre Körper sind nackt und dunkelhäutig, ihre Gliedmaßen gemahnen an Karyatiden – allem Anschein nach kräftig genug, die Stürze und Dächer ihrer eigenen Bauten zu tragen. Es widerstrebt mir, sie ausführlich bis in alle Einzelheiten zu beschreiben. Menschenworte würden nur die Vorstellung von etwas Ungeheurem, Monströsem vermitteln, und monströs sind diese Wesen mitnichten. Sie haben sich lediglich gemäß den Gesetzen einer anderen Evolution als der unseren, gemäß den Umweltbedingungen und -zwängen einer uns fremden Umgebung entwickelt.
Aus einem unerfindlichen Grund empfand ich keine Angst, als ich sie erblickte – vielleicht war ich den melodischen Klängen schon so weit verfallen, dass ich keine Furcht mehr verspürte. Im Innern der Stadt, direkt hinter dem Tor, standen einige von ihnen beisammen und schienen mich überhaupt nicht zu beachten, als ich an ihnen vorüberging. Der Blick ihrer riesigen pechschwarzen Augen war ebenso unbeteiligt wie der Blick aus Stein gehauener Sphingen und nicht ein einziger Laut entrang sich ihren gerade geschnittenen, vollen, ausdruckslosen Lippen. Vielleicht fehlt ihnen der Gehörsinn, denn an ihren merkwürdigen, nahezu rechteckigen Köpfen findet sich nichts, was nach Ohren aussieht.
Ich folgte der Musik, die immer noch entfernt klang und kaum an Lautstärke zunahm. Schon bald überholten mich einige jener Geschöpfe, denen ich zuvor auf der Straße außerhalb der Mauern begegnet war; rasch schritten sie an mir vorüber und verschwanden im Gewirr der Bauten. Ihnen folgten andere Wesen, nicht ganz so gigantisch und ohne glänzende Schuppen oder Panzerung, wie ihre Vorgänger sie trugen. Anschließend erschienen über mir zwei Kreaturen mit langen, durchsichtigen, von einem feinen Adernetz und Knochengerüst durchzogenen, blutfarbenen Schwingen. Sie flogen Seite an Seite und entschwanden im Gefolge von anderen. Ihre Gesichter wiesen Organe auf, deren Zweck mir nicht klar wurde, doch sie wirkten keineswegs tierhaft und ich war mir sicher, dass es sich um Wesen einer höheren Entwicklungsstufe handelte.
Ich sah Hunderte jener gemessen einherschreitenden, ernsten Wesen, die ich bereits als die eigentlichen Bewohner der Stadt ausgemacht hatte, doch keinem von ihnen schien ich aufzufallen. Zweifellos waren sie den Anblick weit seltsamerer und ungewöhnlicherer Lebensformen als der menschlichen gewöhnt. Während ich meinen Weg fortsetzte, zogen Dutzende kurios aussehender Kreaturen an mir vorüber. Alle gingen in dieselbe Richtung wie ich, so als würden auch sie von dem Sirenengesang angezogen.
Der fernen, ätherischen, berauschenden Melodie folgend, begab ich mich tiefer und tiefer in den Dschungel jener monumentalen Bauten. Schon bald bemerkte ich, über einen Zeitraum von zehn Minuten hinweg, vielleicht auch länger, ein allmähliches Auf- und Abschwellen der Melodie. Fast unmerklich klang sie mit einem Mal lieblicher und näher, und ich fragte mich, wie es wohl angehen mochte, dass sie das vielfältige Gewirr steinerner Gebäude durchdringen konnte und noch außerhalb der Stadtmauern zu hören war …
In der nicht enden wollenden Düsternis der sich Etage um Etage schier unendlich in den bernsteinfarbenen Himmel über mir türmenden rechtwinkligen Konstruktionen muss ich kilometerweit gelaufen sein. Schließlich kam ich zum geheimsten Zentrum des Ganzen. Mir voran ging eine ganze Reihe jener chimärenhaften Wesen und etliche folgten mir, als ich auf einen großen Platz gelangte, in dessen Mitte sich ein tempelartiges Bauwerk erhob, das noch gewaltiger war als die übrigen. Aus seinem von unzähligen Säulen gesäumten Eingang ergoss sich überwältigend laut und schrill die Musik.
Als ich die Vorhalle dieses Bauwerks betrat, verspürte ich eine Erregung, wie man sie wohl nur empfindet, wenn man sich dem Allerheiligsten eines priesterlichen Mysteriums nähert. Neben und vor mir schritten andere, allem Anschein nach aus zahllosen unterschiedlichen Welten beziehungsweise Dimensionen stammende Besucher, die titanischen Kolonnaden entlang, in deren Säulen unlesbare Runen und rätselhafte Basreliefs eingemeißelt waren. Die riesenhaften, dunkelhäutigen Bewohner der Stadt standen umher oder gingen, wie alle anderen auch, mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt ihrer Wege. Keines dieser Wesen sprach auch nur ein Wort, weder zu mir noch untereinander, und obwohl einige mir flüchtige Blicke zuwarfen, hielten sie meine Anwesenheit offenbar für selbstverständlich.
Mir fehlen schlichtweg die Worte, das Unbegreifliche zu schildern. Und die Melodie? Sie zu beschreiben, will mir ebenfalls nicht gelingen. Es war, als hätte jemand ein wundersames Elixier in Schallwellen verwandelt – einen Zaubertrank, der übermenschliches Leben verleiht und einem die hochfliegenden, großartigen Träume der Unsterblichen schenkt. Während ich mich der verborgenen Quelle der Musik näherte, steigerte sie sich in meinem Hirn zu einer göttlichen Trunkenheit. Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasste, mir nun die Ohren mit Watte zu verstopfen, ehe ich weiterging. Zwar konnte ich die Musik noch immer hören und spürte ihre sonderbare, alles durchdringende Vibration, allerdings nur noch gedämpft, und ihr Einfluss war nicht mehr so stark. Zweifellos verdanke ich dieser schlichten Vorsichtsmaßnahme mein Leben.
Eine Zeit lang wurde es zwischen den endlosen Säulenreihen düster wie in einer lang gestreckten Höhle aus Vulkangestein. Dann nahm ich ein Stück vor mir einen schwachen Lichtschimmer auf dem Fußboden und an den Pfeilern wahr. Schon bald wuchs das Licht zu einem alles überstrahlenden Glanz an, so als hätte jemand im Innern des Tempels gigantische Lampen entzündet; zugleich pulsierte das Vibrieren der verborgenen Musik stärker in meinen Nerven.
Der Gang endete in einer Kammer ungewissen, aber immensen Ausmaßes, deren Decke und Wände sich in reglosen, nicht weichen wollenden Schatten verloren. In ihrem Zentrum, inmitten der riesenhaften Bodenplatten aus Stein, befand sich ein kreisrunder Schacht, über dem wie eine Fontäne ein Feuer zu schweben schien – eine unablässige, hoch lodernde, allmählich anwachsende Stichflamme. Die Flamme war der einzige Lichtquell, und ihr entsprang auch jene unbändige, überirdische Musik. Selbst mit Watte in den Ohren empfand ich noch die Verlockung, die von dem hohen, verzückten Singsang ausging, seine sinnliche Anziehungskraft und die damit einhergehende, schwindelerregende Wonne.
Augenblicklich war mir klar, dass dieser Ort ein Heiligtum darstellte und die zwischen den Dimensionen reisenden Wesen, die neben mir gingen, Pilger waren, die es besuchten. Es waren Dutzende, wenn nicht Hunderte von ihnen, doch angesichts der kosmischen Ausmaße des Saals wirkten sie allesamt wie Zwerge. In den unterschiedlichsten Gebetshaltungen versammelten sie sich vor der Flamme, beugten ihre exotisch anmutenden Häupter oder vollführten mit nicht menschlichen Händen und Körperteilen rätselhafte, Anbetung und Verehrung ausdrückende Gebärden. Und über das Singen des Feuerbrunnens hinweg vernahm man ihre Stimmen, manche tief wie dröhnende Trommeln, andere schrill wie das Zirpen riesenhafter Insekten.
Wie gebannt ging ich weiter und gesellte mich zu ihnen. Fasziniert von der Musik und dem Anblick der lodernden Flamme schenkte ich meinen absonderlichen Gefährten ebenso wenig Beachtung wie sie mir. Höher und höher stieg der Feuerschwall, bis sein Schein über die Züge und Gliedmaßen hinter dem Brunnen thronender, monumentaler Statuen flackerte – Helden, Götter, vielleicht auch Dämonen längst vergangener, unbekannter Zeiten, die mir in Stein gehauen aus einer unendlich rätselhaften Düsternis entgegenstarrten.
Die Flamme war gleißend grün, rein wie das Feuer im Herzen eines Sterns; ich war geblendet, und als ich die Augen abwandte, war die Luft von verschlungenen Mustern erfüllt, rasch sich verändernden Arabesken, deren unzählige Farbtöne keines Menschen Auge je erblickt hatte. Und ich spürte eine erregende Wärme, die mich bis ins Mark durchdrang …
Die Melodie schwoll gleichzeitig mit der Flamme an und mit einem Mal verstand ich das ständig wiederkehrende Auf und Ab. Während ich so dastand und lauschte, kam mir ein verrückter Gedanke – nämlich wie wundervoll, welches Entzücken es sein müsste, einfach loszulaufen und sich kopfüber in das singende Feuer zu stürzen. Die Musik schien mir zu sagen, dass ich in dem Moment, da die lodernde Flamme mich verzehrte, all die Pracht und Herrlichkeit, jenes begeisternde Hochgefühl entdecken würde, das sie aus der Ferne verheißen hatte. Sie flehte mich geradezu an, bat mich in den himmlischsten Tönen, und obwohl ich mir die Ohren verstopft hatte, war ihr Lockruf nahezu unwiderstehlich.
Sie hatte mir jedoch nicht völlig den Verstand geraubt. Mit plötzlichem Entsetzen wie jemand, dem der Versucher einflüstert, er solle sich in einen tiefen Abgrund stürzen, wich ich zurück. Dann sah ich, dass einige meiner Gefährten ebenfalls diesen entsetzlichen Drang verspürten. Die beiden bereits erwähnten Wesen mit den scharlachroten Schwingen standen etwas abseits von uns Übrigen. Nun erhoben sie sich mit lautem Flügelschlag in die Luft und segelten wie Motten ins Licht einer Kerze auf die Flamme zu. Einen kurzen Augenblick lang schien das Feuer rötlich durch die fast durchsichtigen Schwingen, ehe sie in der hochschießenden Glut vergingen, die kurz aufloderte und danach weiterbrannte, als wäre nichts geschehen.
Anschließend eilte in rascher Folge eine ganze Reihe weiterer, die unterschiedlichsten Spielarten der Biologie repräsentierender Wesen nach vorn, um sich der Flamme zu opfern. Manche der Kreaturen hatten durchscheinende Körper, andere schimmerten in opalisierenden Farben; unter ihnen waren geflügelte Giganten und Titanen, die ausschritten, als trügen sie Siebenmeilenstiefel; ein Wesen hatte misslungene, verkümmerte Schwingen und kroch eher, als dass es rannte, um sich demselben glorreichen Schicksal zu überantworten wie die anderen. Doch befand sich unter ihnen nicht ein einziger Bewohner der Stadt; diese standen lediglich dabei und schauten unbewegt, Statuen gleich, zu.
Die Fontäne hatte ihre äußerste Höhe erreicht und begann nun allmählich wieder in sich zusammenzusinken, langsam, aber stetig, bis sie nur noch halb so hoch war wie zuvor. Während dieser Zeitspanne brachte sich niemand mehr selbst als Opfer dar, und mehrere der Geschöpfe neben mir wandten sich abrupt ab und gingen davon, so als wäre der tödliche Bann gebrochen.
Eines der hochgewachsenen gepanzerten Wesen sprach mich, bereits im Gehen begriffen, an. Seine Worte klangen wie ein Fanfarenstoß, und der warnende Unterton war unmissverständlich. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung folgte ich ihm in einem Aufruhr widerstreitender Gefühle. Bei jedem Schritt kämpfte mein Selbsterhaltungstrieb gegen die rasende, irrsinnige Melodie an. Mehr als einmal machte ich Anstalten, wieder umzukehren.
Den Weg zurück nach Hause habe ich nur undeutlich und verschwommen in Erinnerung wie jemand, der im Opiumrausch umherstreift; hinter mir sang die Melodie von den Herrlichkeiten, die mir entgangen waren, von dem kurzen Augenblick flammenden Vergehens, den zu erfahren besser sei, als äonenlang als Sterblicher zu leben.
9. August – Versuchte, an einer neuen Geschichte weiterzuschreiben, kam aber nicht voran. Angesichts einer Welt voll unergründlicher Geheimnisse, zu der ich Zugang gefunden habe, erscheint mir alles, was ich mir vorstellen oder in Worte fassen kann, nur noch banal und kindisch. Die Versuchung, zurückzukehren, ist stärker denn je, der Lockruf der Melodie, an die ich mich erinnere, süßer als die Stimme einer Geliebten. Und unentwegt quält mich das Ganze, peinigt mich die Frage, wie wenig ich überhaupt wahrgenommen und begriffen habe.
Was für Kräfte sind hier am Werk, von deren Existenz und Wirken ich lediglich eine Kostprobe erhalten habe? Wer sind die Bewohner der Stadt? Und wer die Geschöpfe, die zu dem Tempel mit der Flamme pilgern? Welche Gerüchte oder Legenden veranlassen sie dazu, jenen Ort aufzusuchen und sich jener nicht zu beschreibenden tödlichen Gefahr auszusetzen? Und erst der Feuerbrunnen selbst – was ist das Geheimnis seiner Verlockung, was steckt hinter seinem todbringenden Gesang? Über diese Fragen könnte man zahllose Mutmaßungen anstellen, ohne je zu einer Lösung des Rätsels zu gelangen.
Ich habe vor, noch einmal zurückzukehren … allerdings nicht allein. Diesmal muss mich jemand begleiten als Zeuge für das Wunderbare und all die Gefahren. Das alles ist viel zu sonderbar, als dass man es mir glauben würde. Ich brauche einen Menschen, der bestätigt, was ich gesehen, was ich empfunden und gemutmaßt habe. Außerdem ist jemand anderes vielleicht eher in der Lage, zu begreifen, was ich höchstens erahne.
Doch wen soll ich mitnehmen? Es dürfte notwendig sein, jemanden von hier, von der äußeren Welt zum Mitkommen aufzufordern – jemanden, der sowohl von seinem intellektuellen als auch von seinem ästhetischen Vermögen her dazu in der Lage ist. Soll ich Philip Hastane fragen? Er ist ein Kollege, ebenfalls Schriftsteller. Aber ich fürchte, er hat zu viel zu tun. Dann wäre da noch dieser Künstler aus Kalifornien, Felix Ebbonly. Er hat einige meiner fantastischen Romane illustriert …
Ebbonly wäre genau der Richtige, und sollte er kommen können, würde er diese neue Dimension auch zu schätzen wissen. Mit seinem Hang zum Bizarren und Überirdischen dürfte er schlichtweg fasziniert sein vom Anblick jener Ebene und der Stadt mit ihren Arkaden, ihren hoch in den Himmel ragenden Bauwerken und dem Feuertempel. Er wohnt in San Francisco. Ich werde ihm umgehend schreiben.
12. August – Ebbonly ist eingetroffen. Den mysteriösen Andeutungen in meinem Brief bezüglich neuer abzubildender Objekte, die seinen Geschmack treffen dürften, konnte er nicht widerstehen. Mittlerweile habe ich ihm alles erklärt und ihm eingehend geschildert, was mir widerfahren ist. Es ist ihm anzusehen, dass er mir nicht so recht glaubt, und das kann ich ihm wohl kaum zum Vorwurf machen. Aber nicht mehr lange, dann wird er mir Glauben schenken, denn morgen werden wir gemeinsam zur Stadt der singenden Flamme aufbrechen.
13. August – Ich muss mich konzentrieren, bin völlig durcheinander, muss meine Worte sorgsam wählen und mit äußerster Vorsicht niederschreiben. Dies wird der letzte Eintrag in meinem Tagebuch sein und das Allerletzte, was ich je schreiben werde. Wenn ich damit fertig bin, werde ich das Tagebuch einpacken und an Philip Hastane schicken. Er mag dann damit anstellen, was er für richtig hält.
Heute nahm ich Ebbonly mit in die jenseitige Dimension. Von den beiden Findlingen auf Crater Ridge zeigte er sich ebenso beeindruckt, wie ich selbst es beim ersten Mal war.
»Sie sehen aus wie die Stümpfe eingestürzter Säulen«, meinte er, »von irgendwelchen Göttern in grauer Vorzeit errichtet. So langsam fange ich an, Ihnen zu glauben.«
Ich sagte ihm, er solle als Erster gehen, und zeigte ihm die Stelle, auf die er zulaufen musste. Er tat es, ohne zu zögern, und ich machte die einzigartige Erfahrung, einen Menschen einfach so wegschmelzen zu sehen. Es war die Sache eines Augenblicks, nichts blieb zurück. Im einen Moment war Ebbonly noch da – und im nächsten sah ich nur noch den kahlen Boden und in der Ferne ein paar Lärchen, deren Anblick sein Körper bislang verdeckt hatte. Ich folgte ihm und fand ihn sprachlos, voller Ehrfurcht auf dem violetten Gras stehend wieder.
»Dies«, sagte er schließlich, »ist etwas, das ich bislang nur vermuten konnte, aber selbst in meinen fantasievollsten Entwürfen noch nicht einmal anzudeuten vermochte.«
Wir sprachen wenig, während wir der Allee aus Findlingen zur Ebene hin folgten. In der Ferne, weit hinter den hohen, majestätischen Bäumen mit ihrem üppigen Blätterdach, hatten sich die goldbraunen Nebelschwaden gelichtet, um den Ausblick auf einen unermesslichen Horizont freizugeben. Jenseits dieses Horizonts erstreckten sich Ansammlungen funkelnder Himmelskörper, die sich als winzige, feurige Punkte am bernsteinfarbenen Firmament verloren. Es war, als hätte jemand den Schleier vor einem unbekannten Universum zurückgezogen.
Wir überquerten die Ebene und schließlich gelangten wir in Hörweite des Sirenengesangs. Ich ermahnte Ebbonly, sich die Ohren mit Watte zu verstopfen, doch er lehnte das ab und meinte nur: »Eine neue Empfindung, die mir zuteilwird, möchte ich nicht irgendwie abschwächen.«
Als wir die Stadt betraten, war mein Gefährte außer sich. Als Künstler geriet er ins Schwärmen, als er die gewaltigen Bauwerke und deren Bewohner erblickte. Außerdem wurde mir klar, dass er dem Zauber der Musik erlegen war. Es dauerte nicht lange, und sein Blick wurde starr und verträumt, so als hätte er Opium genossen.
Anfangs machte er ständig Bemerkungen über die Architektur und die diversen Wesen, die an uns vorübergingen, und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Details, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Je näher wir jedoch dem Tempel der Flamme kamen, desto mehr schien sein Interesse an seinen Beobachtungen zu schwinden, desto verzückter wirkte er. Seine Kommentare wurden kürzer und dürftiger, bis er schließlich vollkommen in sich versunken schien und nicht einmal mehr meine Fragen hörte. Es war offensichtlich, dass er völlig dem Bann der Musik verfallen war.
Wie bei meinem vorherigen Besuch war eine Vielzahl an Pilgern unterwegs zu dem Schrein – und nur wenige kehrten zurück. Bei den meisten davon handelte es sich um evolutionäre Spielarten, die ich auch zuvor schon gesehen hatte. Unter denjenigen, die mir noch fremd waren, ist mir eine wundervolle Kreatur im Gedächtnis geblieben mit himmelblauen und goldenen Schwingen wie ein riesenhafter Schmetterling, die Augen juwelengleich schimmernd, dazu geschaffen, die Pracht einer paradiesischen Welt widerzuspiegeln.
Wie zuvor empfand auch ich den trügerischen Zauber, die Gewalt, die schleichend, heimtückisch meine Gedanken, ja, selbst mein Unterbewusstsein durchdrang, so als wirkte die Musik wie ein Alkaloid, das sich in meinem Gehirn breitmachte. Da ich meine übliche Vorsichtsmaßnahme getroffen hatte, war ich ihrem Einfluss bei Weitem nicht so sehr ausgesetzt wie Ebbonly; dennoch war diese Macht stark genug, um mich eine ganze Anzahl von Dingen vergessen zu lassen – darunter die anfängliche Sorge, die ich empfunden hatte, als mein Gefährte es ablehnte, die gleichen Vorkehrungen zu treffen wie ich. Ich dachte einfach nicht länger daran, dass es sowohl für ihn als auch für mich gefährlich werden könnte. Dies schien jetzt etwas sehr Fernes und Unwesentliches.
Die Straßen waren ein albtraumhaftes, verwirrendes Labyrinth. Doch zielstrebig folgten wir der Musik und waren stets von anderen Pilgern umgeben. Wie von einer starken Strömung mitgerissen, wurden wir von unserem Bestimmungsort angezogen. Während wir durch die Halle mit den riesenhaften Statuen schritten und uns dem Feuerbrunnen näherten, schoss mir für einen kurzen Augenblick durch den Kopf, dass wir uns in Gefahr befanden, und einmal mehr versuchte ich, Ebbonly zu warnen. Doch all meine Einwände waren vergebens: Er war taub wie ein Roboter und für nichts empfänglich außer der unerbittlichen Melodie. Sein Gesichtsausdruck war der eines Schlafwandlers und so bewegte er sich auch. Noch nicht einmal als ich ihn packte und mit aller Kraft schüttelte, nahm er von mir Notiz.
Die Schar der Betenden war größer als bei meinem letzten Besuch. Die gleißende, weißglühende Flamme war im Begriff, immer höher zu steigen, als wir eintraten, und sang mit der wahren Leidenschaft und Ekstase eines einsam durch den Weltenraum treibenden Sterns. Aufs Neue erzählte sie in unbeschreiblichen Klängen vom Verzücken der Motte, die in ihrem Lodern verging, davon, welch eine Freude, welch ein Triumph es sein würde, sich innerhalb eines einzigen Augenblicks mit ihr zu vereinen.
Die Flamme stieg zu ihrem Scheitelpunkt empor und selbst für mich war ihre hypnotische Anziehungskraft nahezu unwiderstehlich. Viele der um uns Stehenden erlagen ihr, und als Erstes brachte sich das riesenhafte Schmetterlingswesen als Opfer dar. Vier weitere, gänzlich andere Geschöpfe folgten ihm erschreckend rasch hintereinander.
Auch ich war der Musik wenigstens zum Teil verfallen und musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, ihrem tödlichen Lockruf zu widerstehen. Deshalb hätte ich Ebbonlys Anwesenheit fast vergessen. Als er losrannte, war es zu spät, auch nur daran zu denken, ihn aufzuhalten. In langen, feierlich getragenen und doch zugleich wie rasend wirkenden Sätzen, so als wollte er einen rituellen Tanz beginnen, sprang er nach vorn und stürzte sich kopfüber ins Feuer. Die Flamme umfing ihn und loderte einen Moment lang in einem gleißenden Grün auf – das war alles.
Allmählich überkam mich das Grauen. Es kroch aus meinen betäubten Hirnzentren, breitete sich in meinem Bewusstsein aus und half, den tödlichen Bann zu brechen. Noch während zahllose andere Ebbonlys Beispiel folgten, wandte ich mich um und floh aus dem Tempel, aus der Stadt. Doch unterwegs – ich weiß nicht, warum – wich das Entsetzen von mir, und mehr und mehr beneidete ich meinen Gefährten um sein Schicksal. Ich fragte mich, was er wohl in dem Augenblick, in dem er im Feuer verging, empfunden haben mochte …
Nun, da ich dies niederschreibe, wundere ich mich, weshalb ich wieder in die Welt der Menschen zurückgekehrt bin. Es gibt keine Worte, um auszudrücken, was ich gesehen und erlebt und wie sehr ich mich verändert habe angesichts des Widerstreits unvorstellbarer Kräfte in einer Welt, von der kein weiterer Sterblicher etwas ahnt. Die Literatur ist nichts als ein Schatten, das Leben mit seinen langwierigen, eintönigen, sich ständig wiederholenden Tagen unwirklich und bedeutungslos, verglichen mit dem herrlichen Tod, der mir um ein Haar vergönnt gewesen wäre – jenem wundervollen Schicksal, das immer noch auf mich wartet.
Ich habe nicht länger den Willen, mich der immer eindringlicheren Melodie zu erwehren, die ich in meiner Erinnerung höre. Und es scheint auch überhaupt keinen Grund zu geben, weshalb ich mich dagegen wehren sollte … Morgen werde ich wieder in die Stadt zurückkehren.
JENSEITS DER SINGENDEN FLAMME
Selbst nachdem ich, Philip Hastane, das Tagebuch meines Freundes Giles Angarth veröffentlicht hatte, hegte ich noch immer meine Zweifel, ob es sich bei den darin geschilderten Ereignissen nun um wirkliche Vorkommnisse handelte oder um Fiktion. Angarths und Ebbonlys Reise zwischen den Dimensionen, die Stadt der Flamme mit ihren seltsamen Einwohnern und Pilgern, Ebbonlys Opfertod und, im letzten Eintrag des Tagebuchs, die Andeutung, dass auch der Verfasser wieder dorthin zurückkehren wollte, um sich dem gleichen Schicksal zu ergeben – all dies war genau der Stoff, den Angarth für einen seiner fantastischen Romane erdacht haben könnte, mit denen er zu Recht berühmt geworden war.
Berücksichtigt man überdies, dass die ganze Geschichte unmöglich und unglaublich klingt, wird jeder meine Zurückhaltung verstehen, sie als wahr hinzunehmen.
Andererseits jedoch blieb immer noch das rätselhafte, sich hartnäckig jeder Erklärung widersetzende Verschwinden der beiden Männer. Beide waren sie weithin bekannt, der eine als Schriftsteller, der andere als Künstler; wirtschaftlich ging es ihnen gut, keiner von ihnen hatte ernsthafte Sorgen oder Schwierigkeiten. Genau genommen gab es keinen vernünftigen Grund für ihr Verschwinden, es sei denn, man akzeptiert die merkwürdige Erklärung, die das Tagebuch liefert.
Zunächst hielt ich das Ganze, wie bereits in meinem Vorwort erwähnt, für einen ausgeklügelten Streich. Doch als Wochen und Monate vergingen und allmählich ein Jahr daraus wurde, ohne dass die beiden mutmaßlichen Scherzbolde wiederauftauchten, ließ sich diese Annahme nicht mehr aufrechterhalten.
Nun bin ich zumindest in der Lage zu bestätigen, dass alles, was Angarth schrieb – und noch weit mehr –, der Wahrheit entspricht. Denn auch ich weilte in Ydmos, der Stadt der singenden Flamme, und habe die überirdische Pracht und die Verzückung der Inneren Dimension kennengelernt. Davon muss ich berichten, auch wenn es sich kaum in menschliche Worte fassen lässt, ehe die Vision verblasst. Denn diese Dinge wird niemand, weder ich noch sonst ein Mensch, jemals wieder erleben oder zu Gesicht bekommen.
Ydmos liegt in Trümmern, es ist eine Ruinenstadt, der Brunnen der singenden Flammen an seinem Quell leckgeschlagen und der Feuertempel gesprengt, nur die Grundmauern im gewachsenen Fels stehen noch. Die Innere Dimension ist Vergangenheit, geborsten wie eine Blase in dem großen Krieg, mit dem die Herrscher der Außenregionen Ydmos überzogen …
Nachdem ich Angarths Tagebuch endlich aus der Hand gelegt hatte, war ich nicht mehr in der Lage, die eigentümlichen, quälenden Fragen, die es aufwarf, zu vergessen. Angarths Geschichte war zwar vage genug, doch was er andeutete, eröffnete völlig neue Perspektiven, eine Ahnung halb enthüllter Geheimnisse, die meine Fantasie nicht mehr losließen. Mir bereitete Sorgen, dass hinter alldem etwas Großes, Mystisches stecken könnte, eine kosmische Gegebenheit, von der unser Erzähler wohl lediglich die äußersten Schleier und Randbereiche wahrgenommen hatte. Die Zeit verstrich, und ich ertappte mich dabei, wie ich ständig darüber nachdachte. Mehr und mehr bemächtigte sich meiner ein Gefühl der Ehrfurcht, und ich begriff, dass kein Schriftsteller, nicht einmal in seinen wildesten Fantasien, sich ein solches Garn hätte ausdenken können.
Im Frühsommer 1939 – ich hatte gerade einen neuen Roman fertiggestellt – war ich endlich in der Lage, mich freizumachen, um ein Projekt in Angriff zu nehmen, das mir schon längere Zeit durch den Kopf ging. Ich ordnete meine Angelegenheiten, klärte noch ein paar Kleinigkeiten meiner literarischen Arbeit und erledigte für den Fall, dass ich nicht zurückkehren sollte, meine Korrespondenz. Anschließend verließ ich mein Zuhause in Auburn unter dem Vorwand, eine Woche Urlaub zu machen. Tatsächlich jedoch begab ich mich nach Summit in der Absicht, die Umgebung, wo Angarth und Ebbonly verschwunden waren, genauer in Augenschein zu nehmen.
Mit einem sonderbaren Gefühl suchte ich die verlassene Blockhütte südlich von Crater Ridge auf, die Angarth bewohnt hatte, und erblickte den aus Kieferbrettern roh gezimmerten Tisch, an dem mein Freund sein Tagebuch geschrieben und anschließend das fest verschlossene Päckchen zurückgelassen hatte mit der Verfügung, es nach seinem Abschied an mich zu senden.
Über der Hütte lastete eine merkwürdige, unheimliche Einsamkeit, fast so, als ob die Unendlichkeit den Ort bereits für sich beanspruchte. Die Last der Schneewehen hatte die unverschlossene Tür im Winter nach innen gedrückt und über die Schwelle waren Tannennadeln gerieselt, die nun auf dem schon lange nicht mehr gefegten Boden verstreut lagen. Ich weiß nicht, weshalb, aber als ich so dastand, erschien mir die bizarre Erzählung mit einem Mal irgendwie wesentlich realer und glaubhafter, so als hafteten der Hütte noch immer übersinnliche Spuren all dessen an, was dem Verfasser widerfahren war.
Dieses rätselhafte Gefühl wurde stärker, als ich schließlich zum Crater Ridge aufbrach, um inmitten der Meilen pseudovulkanischen Gerölls nach den beiden Findlingen zu suchen, die den Sockeln eingestürzter Säulen ähnelten und die Angarth so ausführlich beschrieben hatte. Da sein Tagebuch jedoch keine Angaben über ihren Standort machte, durchkämmte ich das gesamte Gebiet vom einen Ende zum anderen. Dazu folgte ich dem nordwärts führenden Pfad, den er von seiner Hütte aus genommen haben musste, und versuchte, Angarths Weg über den lang gestreckten, kahlen Hügel nachzuvollziehen. Nachdem ich zwei Vormittage auf diese Weise verbracht und noch immer keinen Erfolg gehabt hatte, stand ich kurz davor, meine Suche aufzugeben und die beiden merkwürdigen, grünlich-grauen, specksteinartigen Säulenstümpfe als eines von Angarths provokanten, irreführenden Hirngespinsten abzutun.
Es muss wohl jenes ungewisse, nagende, vage Gefühl gewesen sein, von dem ich sprach, was mich am dritten Morgen dazu veranlasste, die Suche erneut aufzunehmen. Diesmal – nachdem ich die Hügelkuppe mehr als eine geschlagene Stunde lang kreuz und quer abgesucht und mir einen Weg durch die von Zikaden wimmelnden wilden Johannisbeersträucher und Sommerblumen auf den staubigen Hängen gebahnt hatte – kam ich schließlich an eine offene, kreisrunde, vom Fels umgebene Fläche, die mir völlig fremdartig erschien. Bei all meinen bisherigen Streifzügen war ich noch nie hierher gelangt. Es war der Ort, von dem Angarth berichtet hatte; mit einer nur schwer in Worte zu fassenden Erregung erblickte ich die beiden abgerundeten, reichlich mitgenommen aussehenden Findlinge, die sich genau im Mittelpunkt des Kreises befanden.
Ich glaube, vor lauter Aufregung zitterte ich ein bisschen, als ich vorwärts ging, um die eigenartigen Felsblöcke näher in Augenschein zu nehmen. Indem ich mich vorbeugte – allerdings ohne die freie, steinige Fläche zwischen ihnen zu betreten; das wagte ich nicht –, berührte ich einen von ihnen mit der Hand. Er fühlte sich unnatürlich glatt und kühl an. Letzteres war unerklärlich, wenn man berücksichtigte, dass die beiden Felsblöcke und der Boden rings um sie herum schon seit Stunden ohne jeden Schatten der drückenden Augustsonne preisgegeben waren.
Von jenem Moment an war ich fest davon überzeugt, dass Angarths Bericht keinen Hirngespinsten entsprang. Weshalb ich mir dessen so sicher war, vermag ich nicht zu sagen. Ich hatte den Eindruck, an der Schwelle eines die Grenzen dieser Welt überschreitenden Geheimnisses zu stehen, am Rand des leeren, noch unerforschten Raums. Ich blickte mich um, betrachtete die vertrauten Berge und Täler der Sierra und wunderte mich, dass sie noch immer so aussahen wie eh und je, unberührt von der unmittelbaren Nähe fremder Welten und der strahlenden Pracht geheimnisumwobener Dimensionen.
