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„... und weil der Himmel so blau war und die Wolken so weiß. Weil der Wind so sanft ging und das Wasser so leise gegen den Bootsrumpf schlug, so behutsam, als wäre es ausschließlich erschaffen worden, Verliebte zu wiegen ... Franka hatte recht. Man sucht etwas an Orten, die schwer zu erreichen, aber leicht zu meiden sind.“
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Seitenzahl: 471
Veröffentlichungsjahr: 2013
Autorin:
Karola Weibezahl, Jahrgang 1971, lebt in Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern. 2003 erschien ihr Debüt „Das Herbstkind“ bei btb. „Die Stille auf dem See“ ist ihr zweiter Roman.
Karola Weibezahl
Die Stille auf dem See
Roman
Impressum:
© 2013 Karola Weibezahl
E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung C&C Medienwerkstatt-Neustrelitz
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7284-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
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FÜR MATTHIAS
TAG EINS
DIE STILLE fuhr durch einen Kanal. Mücken tanzten im Schwarm und kreuzten ihren Weg. Erlen ließen ihre Zweige über dem Wasser schweben. Manchmal berührten sie die Schiffshaut, blieben an den Aufbauten hängen und wippten mit raschelnden Blättern zurück.
Unter den Bäumen war es schattig. Jan schlug nach einer Pferdebremse. In der Nähe mussten Viehweiden sein.
Sie überholten eine Gruppe junger Männer in Kanus, braun gebrannt mit Tüchern auf dem Kopf. Ihre Boote trieben mehr, als dass sie durch Muskelkraft bewegt wurden. Als DIE STILLE die nächste Biegung nahm, wusste Jan auch, warum sie es nicht eilig hatten. Kein Blätterdach schützte mehr vor der Helligkeit, und die Kanalufer waren kahl. Selbst das Wasser, auf dem sie schwammen, hatte der Hitze nichts entgegenzusetzen. Es sah braun aus und wirkte warm und zähflüssig.
Rainer saß vorne auf der Bugspitze. Er hatte die nackten Füße durch die Reling gesteckt und ließ sie vom Boot baumeln. Er trug eine Sonnenbrille, so wie Jan auch. Neben ihm lag ein Buch, in dem er manchmal blätterte, das aber doch meist geschlossen war. Er benutzte eine Sprühflasche Sonnenmilch als Lesezeichen, und Jan konnte auf die Entfernung die Fettflecken und den ausgeleierten Buchrücken erkennen. Jan hatte für sich ein bisschen gelästert: „Sieh mal an, Rainer kann lesen.“ Er war sich sicher, dass Rainer das Buch nur geborgt hatte. Aber er würde nichts dazu sagen. Er wollte Rainer nicht verärgern, schon gar nicht am Anfang der Fahrt.
Dieser Urlaub würde wundervoll werden. Das musste er auch, denn Jan hatte die Gesellschaft einer hinreißenden jungen Dame gegen die eines zwar alten, aber doch sehr anstrengenden Freundes getauscht. Und das wollte er auf keinen Fall bereuen. Das war während dieser einundzwanzig kommenden Tage wichtiger als das Wetter. Und wer schon einmal bei Regen, Sturm und Kälte auf dem Wasser gewesen war, wusste, dass es eigentlich nichts Wichtigeres gab als das.
Jan sah Rainer winken. Vor ihnen am Horizont, wenn der Blick dem Wasserlauf folgte, zeigte sich Baumbewuchs. Dort hätten sie wieder ein Schattendach über sich. Jan drückte den Gashebel durch, DIE STILLE reagierte mit einem Ruck. Jan fuhr viel schneller, als er durfte, aber bei diesen Temperaturen erlaubte er sich eine Ausnahme, auch wenn das sonst nicht seine Art war. Jan fand sich prinzipienfest. Eva hatte ihn oft kleinlich genannt. Und obwohl er gerne so sein wollte, wie es ihr am besten gefiel, konnte er doch nie aus seiner Haut, wenn es um Regeln ging.
Vor ihnen im Kanal tauchte ein Ruderboot auf, das zunehmend größer wurde. Jan ließ DIE STILLE langsamer werden, denn bei dieser Geschwindigkeit zog die Jacht eine Welle hinter sich her, die kleineren Booten gefährlich werden und sie zum Kentern bringen konnte. Im schlimmsten Falle gäbe es Verletzte und dann dürften sie nicht weiterfahren, was seine Pläne durcheinanderbringen würde. Jan wusste aus Erfahrung, was so eine Unachtsamkeit für Konsequenzen hatte. Dann wäre es aus mit dem fantastischen Urlaub auf dem Wasser, die schöne Zeit mit seinem alten Kumpel Rainer wäre vorbei, keine Gesänge im Rausch, kein Grillen am Abend, kein Schwimmen bei Nacht. Und auf ewig ein schlechtes Gewissen.
Jan rückte die Verbände an seinen Händen zurecht.
Das Ruderboot lag in der Mitte der Fahrrinne. Jan schaltete in den Leerlauf und ließ DIE STILLE treiben. Der andere Fahrer sollte Gelegenheit haben, zur Seite auszuweichen, um Jan und Rainer Platz zu machen, was er jedoch nicht tat. Und obwohl DIE STILLE ihrem Namen alle Ehre machte und tatsächlich bemerkenswert ruhig und leise laufende Motoren hatte, was unter anderem den Charterpreis ausmachte, war sie doch laut genug, um auf diese Entfernung gehört zu werden.
Rainer war aufgestanden. Er zog die Schultern hoch. Weil er tiefer stand als Jan, konnte er noch weniger sehen, aber selbst er bemerkte, dass niemand in dem Boot saß. Er holte mit dem gestreckten Arm aus und wies nach vorne und Jan navigierte DIE STILLE so gekonnt, dass Rainer problemlos mit dem Bootshaken nach dem Ruderkahn angeln konnte. Sie würden ihn einfangen und hinter sich her zur nächsten Schleuse ziehen, irgendjemand würde ihn vermissen.
Kaum jedoch hatte Rainer das Holz berührt, erklang vom Ufer ein: „He, Finger weg!“, und hinter wilden Holunderbüschen kam ein Mann hervorgesprungen.
„Das gehört uns, ist nur abgetrieben.“
Jan sah durch die Zweige hindurch eine Frau auf dem Rasen liegen, in einem Sommerkleid, das genauso hellrot war wie die Farbe ihres Gesichtes. Rainer grinste und stieß den kleinen Kahn in die Richtung des jungen Kerls, der ins knietiefe Wasser gesprungen war, um ihn besser fassen zu können.
„Viel Spaß noch“, sagte Rainer in einem anzüglichen Ton und wandte sich Jan zu, der nur dachte: „Ich hasse Verliebte.“ Er gab Gas. Hinter ihm wurden dem Mann vom Sog der Welle die Beine weggerissen. Auf Rainers Blick hin murmelte Jan: „Dann soll er doch auf sein Zeug besser aufpassen.“ Rainer legte ihm seine Hand auf die Schulter und sagte: „An Eva gedacht, was?“
Jan schüttelte Rainer mit einer einzigen Schulterbewegung ab. Und Rainer lächelte wieder auf die Art eines Mannes, der nie Probleme mit Frauen gehabt hatte und sagte: „Ja, wer schon Eva heißt …“
Jan drehte das Radio laut und Rainer ging an seinen Platz am Bug der STILLEN, fädelte seine langen Beine wieder durch die Reling und griff hinter sich nach dem fettfleckverschmierten Buch.
Jan schlug mit der flachen Hand auf den Lautstärkeknopf und die Musik verstummte. Rainer hatte er mit dem Lärm vertreiben können. Die Gedanken an Eva aber waren hartnäckiger.
Ausgerechnet jetzt musste sie ihn verlassen. Nach sieben Jahren, nach Heiratsanträgen, Liebesschwüren und immer wieder geäußerten Kinderwünschen. Ausgerechnet diesen Sommer, wo sie sich endlich ihren Traum vom Urlaub auf dem Wasser erfüllen wollten. Mit allem Luxus – und, natürlich gemeinsam.
„Du hättest von der Reise zurücktreten sollen“, sagte sich Jan nicht zum ersten Mal. Aber dann dachte er an die Wohnung mit Evas Sachen darin, ihren Möbeln, ihren Fotos, ihren Diätmüsliflocken. Und ihrem Geruch. Ihr Geruch war überall. Nachdem sie gegangen war, hatte Jan die Fenster aufgerissen, die Nacht in der Zugluft gesessen und darüber nachgedacht, was er denn nun machen sollte. Und als er beschloss, ohne sie zu fahren, war das auch, um etwas anderes als Eva zu riechen. Um dort zu sein, wo Wind wehte und die Erinnerung an Evas Parfüm nicht bestehen konnte. Aber als er die Tür hinter sich schloss, um Rainer abzuholen, wusste er auch, dass er immer noch da sein würde, dieser Duft einer kosmetikbegeisterten Sechsunddreißigjährigen. Er war in den Tapeten und in den Dielen und Teppichen und er würde ihn empfangen, wenn er nach Hause kam.
„Warum rast du denn so?“, fragte Rainer und Jan zuckte zusammen. „Wir haben Zeit. Jetzt kommt gleich ein See, lass uns da ankern. Da trinkst du erst mal ein kaltes Bier, und wir gucken uns das alte Mädchen hier mal genauer an.“ Rainer setzte sich auf den Platz neben Jan. Er rieb mit der Hand über das Holz der Armlehne. Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter auf die Salonbank, wo noch das Gepäck stand und meinte weiter: „Und die Betten müssen wir auch noch verteilen. Dein Fluchtinstinkt in allen Ehren, aber es sieht aus, als müssten wir heute schon wieder abpacken.“
Jan wäre lieber noch ein paar Stunden gefahren, weiter weg von Eva. Noch war das Motorengeräusch neu für ihn, noch musste er sich konzentrieren, um DIE STILLE zu steuern. Aber ein Blick auf die Reiseutensilien, die hinter ihm im Raum lagen, sagte ihm, dass Rainer zwar das Bier kalt gestellt und auch an das Grillfleisch gedacht hatte, Butter, Milch und Wasser jedoch seit der Abfahrt in der Hitze standen.
„Du kannst den Kram schon nach unten bringen“, sagte Jan, aber Rainer antwortete: „Wenn wir festgemacht haben. Ist mir sonst zu wackelig.“
Jan fand sich mit dem Gedanken ab, für die Reise den Küchendienst zu übernehmen und seinen Kaffee schwarz zu trinken.
Rainer legte die Hände verschränkt in den Nacken und grinste: „Mann, war das eine gute Idee, zusammen abzuhauen. Pass auf, das wird wie in den alten Zeiten, mein Freund.“
Jan nickte. Genau, das hätten seine Worte sein können. Und es war ganz einfach gewesen, sich auf Rainers Anwesenheit während der nächsten Wochen einzustellen. Jan hatte nur die Rotweinflaschen gegen ein paar Kästen Bier austauschen müssen, die er morgens noch schnell aus dem Supermarkt geholt hatte. Gut, es war umständlicher mit den verbundenen Händen und er spürte am Brennen der Wunden deutlich, dass sie nicht sauber waren, aber das war nicht schlimm. „Bis zur Hochzeit ist alles vorbei“, dachte er und lachte sich aus dafür.
Vor ihnen öffnete sich der Kanal und sie fuhren auf einen schmalen See, der von Wäldern komplett umschlossen war.
„Backbord oder steuerbord?“, fragte Jan Rainer, und der zeigte schräg nach vorn und meinte: „Da ist noch was frei.“
Jan beobachtete das Echolot und fuhr langsam an das Ufer heran.
„Ganz schön voll heute“, sagte Rainer.
Am gegenüberliegenden Ufer, das auf der Schattenseite lag, war jede Lücke im Schilfgürtel mit einem Boot belegt. Jan sagte: „Weil Wochenende ist.“ Er warf den Heckanker und sah zu, wie Rainer vom Bug aus an Land sprang und DIE STILLE an einem trockenen Ast festzurrte.
Jan trug die Lebensmittel und Getränkekisten in das Vorderschiff zur Küche. Er bemerkte am Schwanken der Jacht, dass Rainer wieder aufgestiegen war.
„Die Achterkajüte überlasse ich dir“, rief der nach unten, „du bist schließlich der Käpt’n. Es sei denn, du legst keinen Wert auf das schon bezogene Doppelbett.“
Jan war in die Hocke gegangen, um Konservendosen in den unteren Schrank zu sortieren. Als er Rainers Stimme hörte, richtete er sich auf und stieß sich dabei den Kopf am Küchentresen. Er ging in den Salon, nahm seine Reisetasche, die noch auf der Couch lag und warf sie vor Rainers Augen wütend auf die bunte Bettwäsche.
„Doch!“, sagte er, während er sich mit der Hand den Hinterkopf hielt.
Rainer griff sich ans Kinn und meinte schließlich: „Doppelbett, hä?“ Er schüttelte den Kopf: „An Eva gedacht, was? Ich sollte dich nicht alleine lassen.“ Jan drehte sich um und ging ins Freie.
„Ich nehme die Kabine hinter der Küche, ist ja auch keine andere mehr da“, rief Rainer ihm hinterher und fügte hinzu, als hätte er Jans Frust nicht bemerkt: „Und ich verspreche, das Wort ‚Doppelbett’ nicht mehr zu benutzen.“ Dann, später an Land, als weitere Biere den Ausschlag dafür gaben, an diesem Ort über Nacht liegen zu bleiben, fragte Jan Rainer: „Hast du gewusst, dass sie mich betrügt?“
Rainer sah in seine Flasche, schüttelte den Kopf und meinte: „Vergiss das doch endlich. Sieh nach vorne. Einundzwanzig Tage auf diesem Schlitten hier, das Wetter ist herrlich, es ist heiß, überall hübsches nacktes Fleisch. Ein paar Kästen Bier stehen unten, wir haben genug zu essen, um uns selbst zu versorgen und auch genügend Kleingeld in der Tasche, um andere das für uns tun zu lassen. Wir können machen, was wir wollen.“
Und Rainer stand auf, zog sich die Shorts aus, streifte sich die Sandalen von den Füßen und rannte nackt an der STILLEN vorbei ins Wasser. Er schwamm ein paar Züge, tauchte, kam prustend wieder zum Vorschein und winkte Jan zu, es ihm nachzumachen.
Aber Jan hatte keine Lust. Jan betrachtete die schmutzigen Binden, die provisorisch um seine Hände gewickelt waren. Blut hatte die Wunden darunter mit dem Mull verklebt. Während Jan versuchte, den Verband zu lösen, ohne sich wehzutun, waren seine Gedanken bei Evas nacktem Fleisch, das jetzt ein anderer berührte und dass das Bier nicht reichen würde, um den Kummer wegzutrinken und dass das Wetter eigentlich für Verliebte gedacht war, der leuchtend blaue Himmel mit den drei Zuckerwattewolken darauf. Und schließlich, er wusste plötzlich nicht mehr, was er sich dabei überhaupt gedacht hatte, war er mit dem unsensibelsten Menschen der Welt auf der STILLEN unterwegs, mit seinem Jugendfreund Rainer, der nur meinte: „Vergiss das doch endlich.“
Endlich? Vorgestern hatte sie ihm erst gesagt, dass sie gehen würde. Sie waren sieben Jahre zusammen gewesen und er hatte nicht gemerkt, was da hinter seinem Rücken passierte.
Seit wann war sie so abgebrüht?
Es müsste regnen, stürmen und hageln, das wäre das richtige Wetter für einen frisch verlassenen Achtunddreißigjährigen auf einer sauteuren Charterjacht. Auf seiner vorgezogenen Fasthochzeitsreise.
Wenigstens hatte er dafür gesorgt, dass der Betrug in SEINER Wohnung aufhörte und dass ihr Bett niemals wieder dafür benutzt wurde. Wenigstens hatte er dafür gesorgt, dass Eva einen Denkzettel erhielt, den sie so schnell nicht wieder vergessen würde. Wenn sie kam, um ihre Sachen zu holen, würde sie sehen, was er dort angestellt hatte. Und wenn sie zerstörte, was ihm so viel bedeutete, dann konnte er auch zerstören, was sie liebte. Jan tat sich Leid, weil er auf so ein primitives Mittel zurückgreifen musste, um ein letztes Mal mit ihr zu kommunizieren.
Rainer hatte die Flecke auf seinem Hemd und seiner Hose sofort gesehen, als Jan ihn abgeholt hatte, aber er hatte weiter nichts dazu gesagt, wohl aus Angst, Gründe zu entdecken, die die Reise doch noch platzen ließen. Zu Jans verbundenen Händen hatte er nur gemeint: „Kannst du damit fahren?“, und mit Jans Nicken war für Rainer das Thema erst mal erledigt.
Rainer brüllte draußen auf dem See: „Ich bin frei!“
Jan wünschte ihm und jedem, der heute glücklich war, die Pest an den Hals.
Vom anderen Ufer hörte Jan lautes Rufen. Er sah ein Pärchen von der Jacht gegenüber winken. Rainer kraulte mit großen Zügen zu ihm. Jan stand auf und kletterte auf DIE STILLE. Es dauerte nicht lange und Rainer kam zurück. Die Jacht schaukelte, als er die Badeleiter hochstieg.
„Alles klar?“, fragte er, aber weil er seine Beine mit dem Frotteehandtuch bearbeitete, sah er Jans Nicken nicht.
„Wir haben eine Einladung, mein Freund. Da drüben auf dem Boot. Mittelaltes Pärchen, sind beide ganz locker drauf. Sie werfen den Grill an und wir bringen das Bier mit. Wir schwimmen um sieben rüber zum Quatschen. Da kommst du auf andere Gedanken.“
„Keine Lust“, sagte Jan und ignorierte Rainers irritierten Blick. Der überlegte nur kurz und sagte: „Willst ein bisschen alleine sein, was? Ist auch okay, da störe ich dich nicht beim Grübeln. Wo ist meine Hose?“
Jan zeigte auf die Stelle an Land, an der sie vorhin gesessen hatten. Während Rainer ging, zog Jan die Tür zur Achterkajüte hinter sich zu und legte sich auf das Doppelbett. Er döste vor sich hin und als dann später am Abend Lachen und Rainers Stimme vom anderen Seeufer zu ihm schallten, umarmte er das Kopfkissen und drückte es, so fest er konnte. Er stellte sich vor, es wäre Eva. Er versuchte, dem Kissen die Luft abzuwürgen, doch an irgendeiner Stelle quoll es doch wieder aus seinem Griff heraus. Und als ihm klar wurde, dass er Eva zurückhaben wollte, sie und sein Leben und dass er ihr verzeihen würde und dass er alles vergessen könnte, prügelte er das Kissen mit der geschlossenen Faust so heftig, dass DIE STILLE anfing zu schwanken und der Schmerz in seinen zerschnittenen Händen ihm die Tränen in die Augen trieb. Er schämte sich für die Erkenntnis, dass er, hätte er die Wahl zwischen seinem Stolz und Eva, sich für sie entscheiden würde.
TAG ZWEI
Sein erster Griff galt der anderen Seite des Betts. Jans Hand tastete nach Eva. Erst als er die Kühle des Lakens spürte, fiel ihm wieder ein, dass sie nicht da war. Er wunderte sich, dass er überhaupt geschlafen hatte, wo doch seine Gedanken nur um sie kreisten und das mit einer Geschwindigkeit, dass ihm eigentlich schlecht davon werden müsste.
Die Morgenluft war frisch und kalt. Jan schlich nach unten. Rainer schnarchte in seiner Kajüte, die Tür stand offen. Er lag auf dem Rücken quer in dem unbezogenen Bett, das in den Raum eingepasst war. Die Bezüge für Kissen und Decken und das Laken hatte er unter sich verteilt. Der Raum roch dezent nach Alkohol. Jan zog die Kabinentür zu. Er suchte in der Küche nach einem Tuch. Rainer hatte die Seiten nicht geschlossen, als er nachts zurückgekommen war. Wahrscheinlich hatte Jan ihn deshalb nicht gehört. Jetzt lag der Morgentau auf der Einrichtung. Jan wischte die betroffenen Stellen trocken. Er horchte auf, als ein Vogel im Wald zu singen begann. Es war nicht das übliche Tschilpen und Kreischen, das er aus der Stadt kannte, sondern eine Melodie aus vier oder fünf Tönen. Jan sah über Bord, suchte den Sänger und fand ihn nicht in den Zweigen. Er blickte ins klare Wasser, in dem Stichlinge spielten. Ein Blesshuhn rief nach seinen Jungen. Die Sonne stieg hinter dem Waldrand empor, der See glitzerte. Es war Zeit, diesen Urlaub zu beginnen, spontan zu sein, Spaß zu haben, abzuschalten - Eva zu vergessen. Seinen Händen ging es auch schon besser. Er wickelte die Verbände ab und betrachtete den Schaden.
Die meisten Schnitte waren nur oberflächlich, bis auf einen am linken Handballen, aber selbst den fand Jan nicht problematisch. Viel hinderlicher als die Verletzungen selbst war, dass in einigen Wunden noch Glassplitter steckten. Jan spürte das Drücken der Fremdkörper.
Er zog sich aus, kletterte die Badeleiter hinunter, ignorierte die Kälte des Wassers, die ihm eine Gänsehaut bereitete und tauchte ein. Nach dem ersten Schock entspannte er sich und schwamm in den Lichtkegel, den die Sonne auf den See warf. Er fand eine flache Stelle, schräg vor der STILLEN, nahe beim Schilfgürtel, das Wasser ging ihm bis zum Hals. Er tastete mit den Füßen den Boden ab, er hatte schon als Kind dieses Gefühl geliebt, wenn ihm der Sand durch die Zehen quoll.
Paddler kamen vorbei, ein ganzer Tross. Als letztes und etwas abgeschlagen, so dass Jan sich nicht sicher war, ob es dazu gehörte, ein älteres, schwer bepacktes Faltboot mit drei jüngeren Frauen darin. Als sie vorbei waren, fiel ihm auf, dass er sich die Hände vor den Schritt hielt. Obwohl sie unmöglich sehen konnten, was sich unterhalb seines Kopfes befand und damit nicht wussten, dass er nackt war.
Er musste sich erst wieder an die Sitten auf dem Wasser gewöhnen. An das Grüßen, an den Small Talk und besonders an die Nacktheit, und zwar an seine eigene mehr als an die der anderen.
Dabei kannte er sich aus. Sein Elternhaus stand auf einem Seegrundstück. Als Kind und als junger Mann war er viel auf dem Wasser gewesen, hatte Nächte auf einem kleinen Boot verbracht und ganze Ferien und Urlaube beim Wandern mit seinem Kajak. Schließlich wurde die Zeit knapper, die Verpflichtungen immer größer und als er dann Eva kennengelernt hatte, hörte er ganz damit auf. Wahrscheinlich war er deshalb so schnell auf ihren Wunsch nach diesem Urlaub eingegangen. Ein bisschen in Erinnerungen schwelgen, ihr die Orte zeigen, an denen er sich aufgehalten hatte, sie selbst noch einmal zu betrachten, das hatte ihn gereizt.
Doch früher war noch alles anders. Damals waren alle mehr oder weniger nackt und ohne Scheu, weil alle selbstverständlich nackt und ohne Scheu deswegen waren. Heute ging es verkrampfter zu, seit diese großen Jachten auf den engen Seen schwammen und jeder versuchte, so viel Privatsphäre wie möglich zu ergattern. Und Jan hoffte, dass er selbst wieder dahin kam, die Intimität auf dem Wasser angenehm zu finden. Bis jetzt war sie ihm einfach nur peinlich.
Jan erkannte am Schwanken der STILLEN, dass Rainer aufgestanden war. Er fand ihn in der Küche, den Teekessel in der Hand.
„Woher hast du die Schnitte?“, fragte Rainer und zeigte auf Jans unverbundene und aufgequollene Hände.
Jan winkte ab und antwortete: „Frag’ nicht.“
Er wunderte sich einmal mehr über Rainers Timing, sich erst jetzt für seine Verletzungen zu interessieren. Er freute sich, dass das Wasser seine Haut aufgeweicht und die Glassplitter ausgespült hatte. Rainer meinte, dass Pflaster wohl reichen würden. Jan nickte. Tatsächlich waren Verbände bei dreißig Grad Celsius unangenehm.
„Schon was gegessen?“, fragte Rainer Jan, aber der war nicht hungrig.
„Lass uns erst durch die Schleuse sein, dann haben wir mehr Ruhe.“
Rainer nickte, gähnte noch einmal und sprang schließlich an Land, um die Leine zu lösen, die DIE STILLE hielt. Jan holte den Anker ein. Rainer gab der Jacht beim Aufsteigen den richtigen Schwung, um ohne größeres Manöver aus der Lücke rückwärts auf den See zu stoßen.
Im Kanal überholten sie mehrere Paddler, darunter auch das alte Faltboot mit den drei Frauen. Jan sah Rainer von seinem Platz am Bug aufstehen und ans Heck gehen. Er winkte, erzeugte aber nicht die erhoffte Gegenreaktion und setzte sich schließlich. Das Buch hatte er hinter sich gelegt und nahm es nicht wieder in die Hand. Als das kleine Boot kaum mehr zu erkennen war, kam er zu Jan, setzte sich in den Sessel neben ihm und meinte: „Hast du die gesehen? Nicht schlecht, was? Ich wette, die beiden Blonden sind Schwestern.“
Jan machte eine wegwerfende Geste, die zeigen sollte, wie egal ihm das war.
Er hatte DIE STILLE langsam an ihnen vorbeigesteuert, mit einem extra großen Abstand, um ihr Gefährt nicht zum Schaukeln zu bringen, denn es war nicht nur alt, sondern auch hoffnungslos überladen. Jan hatte genügend Erfahrung, um sich während des kurzen Momentes, den sie neben ihm fuhren, ein Bild von den Dreien und ihrem Untersatz zu machen.
Jan kannte diese Art Boote gut, er hatte selbst so eines, nur in einer kleineren Ausführung, das seit vielen Jahren auseinandergebaut sein Dasein im dunklen Keller fristete. Jede Lücke, die nicht für das Lebensnotwendige wie Kleidung, Schlafsack und Iso-Matten gebraucht wurde, war mit Konservendosen gefüllt. Zwischen den Paddlerinnen standen Packsäcke. Die graue Außenhaut des Bootes lag fast vollständig unter der Wasserlinie. Sie hatten in Folie gewickelte Gepäckstücke vorne und hinten mit Riemen aufgeschnallt. Der dunkelblaue Oberstoff darunter war dort, wo er sichtbar war, geflickt.
Obwohl sich Jan eher für das Gefährt als für seine Insassen interessierte, war ihm aufgefallen, dass es sich bei den dreien weniger um Frauen, sondern eher um zwei Frauen und ein Mädchen handelte. Aber vielleicht waren es auch drei Mädchen. Jan registrierte zwar ein paar Einzelheiten, war jedoch nicht annähernd so angetan von ihnen wie Rainer.
Wenn der einmal losgelassen und von seiner Frau unbeobachtet war, flirtete er an und nahm mit, was nicht rechtzeitig auf die Bäume flüchtete. Jan wusste, dass er diese Gelegenheit hier nicht auslassen würde und er ahnte auch schon, dass Rainer den Weg der STILLEN so zu lenken wusste, dass sie dem alten Faltboot noch häufiger begegnen mussten. Und es würde dann wie zufällig aussehen, denn man konnte es auf den Wasserstraßen gar nicht vermeiden, dass man sich immer wieder sah. Und die zwei Wasserstoffblondinen in dem alten Ding markierten es so, dass es auch am weit entfernten Ufer noch auszumachen war. Jan vermutete, dass genau zu diesem Zwecke diese Haarfarbe aus der Tube gewählt wurde, um aufzufallen. Die Dritte im Bunde war dunkelhaarig und diejenige, die er eher als Mädchen bezeichnet hätte. Sie trug ein Top, das entweder früher ein T-Shirt gewesen war, dem sie die Arme abgeschnitten hatte oder, Jan zog auch diese Möglichkeit in Betracht, bei dem Kleidungsstück handelte es sich um ein teures Designerstück aus einer namhaften, doch ihm unbekannten Outdoor-Kollektion. Er hatte keine Ahnung von solchen Dingen, Eva hatte es ihm immer wieder gesagt. Jedenfalls sah das Mädchen nicht schlecht aus in seinem abgerissenen Outfit, ein bisschen wie getarnt. Alles zusammengenommen wirkte die Truppe in dem schäbigen Boot mit den wasserdichten Packsäcken so, als hätte der Zufall sie zusammengeführt.
Die Schleuse war in ihre Richtung geöffnet und erst halb voll. Jan fuhr ein, gefolgt von einem Schwesternschiff der STILLEN, das sich auf die letzten Meter an sie angehängt hatte, was hieß, dass es zu schnell gefahren war. Obwohl die beiden Jachten baugleich waren und ihre Namen die Verwandtschaft und den gleichen Vercharterer erahnen ließen, war ihre Ähnlichkeit erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Während DIE STILLE in weißem Lack stand und alle Planen, Verdecke und Zierden mittelblau waren, hatte DIE SCHEUE eine tief dunkelblaue Außenhaut und marineblaue Aufbauten, was sie edler, teurer und auch größer aussehen ließ. Jetzt fuhr sie sehr, sehr langsam in die Schleusenkammer ein. An der Geschwindigkeit und an dem verbissenen Gesichtsausdruck des Schiffsführers erkannte Jan den ungeübten Fahrer.
Rainer stand auf der Schleuse und hatte DIE STILLE an der Leine, die durch die einbetonierte Metallöse gezogen war. Rainer hatte genügend Erfahrung, um sie gut und sicher zu halten, aber die andere Jacht brachte so viel Bewegung in das Becken, dass die Fender, die als Puffer zwischen Bootskörper und Schleusenwand dienten, laut quietschten. Jan suchte Rainers Blick. Der machte mit der flachen Hand eine zitternde Bewegung. Jan ging ans Heck, beeilte sich dabei, denn der Schleusenmeister hatte schon dreimal zur SCHEUEN gerufen: „Machen Sie den Motor aus!“, ohne eine Reaktion zu erzeugen. Kaum hinten angekommen, schaffte es Jan gerade noch, das auf sie zusteuernde Boot an der Reling wegzudrücken, sonst hätte es DIE STILLE gerammt. Just in diesem Moment ging der Motor endlich aus. Durch den Schwung, den Jan ihr versetzt hatte, trieb DIE SCHEUE gegen die gegenüberliegende Schleusenwand. Ein kurzes Schaben war zu hören, gefolgt von einem lauten Zischen. Einer der Fender gab unter dem Druck nach und endlich stand die dunkelblaue Jacht ordentlich an der Schleusenwand.
Der Schleusenmeister fluchte, der Schiffsführer fluchte, die anderen Bootsfahrer in der Schleuse verdrehten die Augen. Auf der SCHEUEN stand, bewegungslos, mit der Sicherungsleine in der Hand, die Ehefrau des genauso wütenden wie unfähigen Charterers und hörte sich seine Schimpftiraden an. Als wäre Frust ihr Treibstoff, geriet DIE SCHEUE wieder in Bewegung und drehte ihren Bug ein weiteres Mal auf ihr Schwesternschiff.
„Von wegen scheu“, lachte Rainer, sprang von Land mit einem Riesensatz auf DIE STILLE, von hier nicht weniger gewagt auf die andere Jacht, nahm der versteinerten Bootsfrau die Leine aus der Hand und warf sie dem Schleusenmeister zu. Der kam gerade erst an, da sein Weg über das Gelände und das Schleusentor wesentlich länger gewesen war. Obwohl ihm der Schweiß in die Augen tropfte, bekam er ein dankbares Zwinkern und ein genervtes Augenrollen auf einmal hin. Einen kurzen Moment war es so still, dass nur das leise Schlagen der Wellen zu hören war. Dann erklang das Geräusch klatschender Hände von den anderen Booten in der Schleuse und Rainer stand auf der SCHEUEN, als hätte er sie geentert und verbeugte sich. Als dann noch die gescholtene Ehefrau auf ihn zukam und ihn umarmte und sich an ihn drückte, als hätte er sie gerettet, wurde es dem Sonntagskapitän zu viel, und er begann wieder zu schimpfen. Aber mittlerweile waren die Kanus, welche DIE STILLE im Kanal hinter sich gelassen hatte, herangekommen und eingefahren, das Schleusentor wurde geschlossen und in dem Wasserrauschen gingen seine Worte unter.
Der Zufall wollte es, dass das Dreierboot direkt neben der STILLEN lag und Rainer überließ die gerade gerettete Bootsfrau, die seine Mutter hätte sein können, ihrem frustrierten Ehemann und sprang zurück auf die eigene Jacht. Er lehnte sich über die Reling, grinste nach unten und sagte: „Naaa?“
Die drei sahen nach oben.
Während das dunkelhaarige Mädchen, das hinten saß und steuerte, sich auf die Lippen biss, als wollte es verhindern, dass ihm unangebrachte Worte entweichen, verzog die vordere Fahrerin keine Miene und drehte den Kopf gleich wieder weg. Aber tatsächlich, die mittlere Blondine lachte Rainer an, so offen, dass der Wunsch zu flirten sehr deutlich zu sehen war. Jan konnte es kaum fassen, dass das dumme Wort von Rainer, das man noch nicht einmal als Spruch bezeichnen konnte, eine solche Wirkung erzielte. Dabei musste Rainer nicht mehr suchen, der war schon lange verheiratet und hatte zwei Töchter. Dazu einen guten Posten. Rainer führte genau das Leben, das Jan sich mit Eva vorgestellt hatte.
„Eva“, dachte er, als die Schleusenampel auf Grün sprang und er DIE STILLE losband, obwohl das Rainers Job während dieser Reise war. Aber der hing mit seiner Heldenbrust noch überm Wasser und hielt Blickkontakt mit seiner Paddlerin. Es schien darum zu gehen, wer zuerst wegsah. Zurzeit stand es unentschieden und konnte noch lange dauern.
„Seid ihr Schwestern?“, fragte Rainer gerade und zeigte auf die vordere Fahrerin. Die Gefragte lachte hell auf und kicherte, sagte aber nichts.
Selbst Jan musste zugeben, dass Rainer eine auffällige Erscheinung war mit seiner blonden Sturmfrisur. Eigentlich dachte Jan sogar eher „prachtvoll“, aber dieses Wort war so ehrfürchtig, das hatte Rainer von ihm nicht verdient. Jan hatte die Leine eingeholt und strich sich mit der gespreizten Hand das verrutschte Deckhaar über seiner Halbglatze zurecht.
Man sah Rainer auch an, dass er guter Kunde eines Fitnessstudios war. Selbst seine Solariumsbräune wirkte echt. Und schließlich war er so groß, dass Jan, der auch einiges über einsachtzig war, sich mickrig neben ihm vorkam. Jan spürte Neid. Er hatte diese Jacht gechartert, die Rainer jetzt dazu benutzte, seinem Image den letzten Schliff zu geben. Dem eines Mannes von Welt, für den Geld keine Rolle spielte und der das Leben locker nahm. Und sein, Jans Traum war dank Eva und ihrem Liebhaber in unerreichbare Ferne gerückt. Eva lag jetzt mit jemandem dieser Sorte im Bett, dem Jan Rainers Gesicht gab.
Ein Hupen erklang hinter ihnen. DIE SCHEUE hatte es eilig. Jan sah nach dem Kanu der drei, bevor er den Motor startete. Das Mädchen am Steuer benutzte sein Paddel, um sich von der STILLEN abzustoßen. Es war eine geübte Bewegung, aber sie war unsanfter, als es nötig war. Außerdem schaufelte es mit dem ersten Schlag eine Ladung Wasser vor sich ins Boot. Jan hätte wetten können, dass das Absicht gewesen war.
„He, pass doch auf“, rief Rainers Blondine. Sie hatte ihren Blick von Rainer gelöst, und das kleine Faltboot fuhr vor der STILLEN aus der Schleuse. Jan fiel auf, dass sich die mittlere Fahrerin das Paddel quer über die Oberschenkel gelegt hatte. Sie ließ sich von den beiden anderen genauso chauffieren wie Rainer von Jan.
„Kein Wunder, dass die sich mögen, die passen zueinander“, dachte Jan sauer.
Ein weiteres Hupen erklang hinter ihnen und Jan, ohnehin wütend, weil er für Rainer den Fahrer spielen musste, drehte sich um und schrie: „Was soll ich tun? Schieben?“ Er zeigte auf die Menge der Paddelboote, die vor ihnen im Kanal die gesamte Breite einnahmen. Nach Jans Erfahrungen würde es auch noch eine Weile dauern, bis sie sich wieder so verteilt hatten, dass man gut an ihnen vorbeikam, ohne zu drängeln. Die andere Jacht fiel etwas zurück.
„Jetzt hast du ihn erschreckt“, sagte Rainer.
„Meine Güte“, knurrte Jan, „das ist ja wie auf der Straße hier.“ Und er setzte in Gedanken noch wütender hinzu: „Ich habe Urlaub!“
Als sie den Schleusenbereich verlassen hatten, holte Rainer sich ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte sich neben Jan. Er stemmte die Hand in die Hüfte und stieß die Flasche, von der Kondenswasser perlte, gegen Jans Wasser. Er trank mit großen Schlucken, setzte ab und stieß kurz auf.
„Gleich hat er uns“, sagte er und zeigte hinter sich auf die Jacht, die gerade zum Überholen ansetzte.
„Ja, schnell fahren können sie alle, aber wenn es ans Einparken geht, machen sie sich in die Hose.“ Jan hasste Hektiker, egal, wo er sie traf. Er drosselte die Geschwindigkeit und fuhr dichter an das Ufer heran, um DIE SCHEUE vorbei zu lassen. Ihr Fahrer sah starr geradeaus, sein öffentliches Scheitern in der Schleuse hatte sein Ego angekratzt. Jetzt wollte er so schnell wie möglich Jan und Rainer als Mitwisser seines Versagens hinter sich bringen.
„Wir sehen uns wieder“, dachte Jan, „die nächste Schleuse kommt bestimmt.“
Die Frau auf der blauen Jacht ließ ihre Beine vom Heck baumeln, winkte mit beiden Armen und schickte Küsschen mit vollen Händen zu Rainer. Der lachte und trank mit einem weiteren Zug das Bier leer.
„Natürlich“, dachte Jan, „er das Bier und ich das Wasser. Ich die Kosten, er den Spaß.“ Es war genauso wie vor zwanzig Jahren, als diese dumme Sache passiert war. Rainer ist gleich wieder auf die Füße gefallen, Jan spürte die Konsequenzen heute noch. Eva hatte zu diesem Thema gemeint, dass es Rainer an Gewissen mangelte.
Jan sah, wie Rainer die feuchte Bierflasche auf das lackierte Holz neben den Feldstecher stellte und biss sich auf die Unterlippe.
„Das hier ist der gemeinsame Traum von Eva und Jan, eine wundervolle Reise mit einer voll ausgestatteten Jacht der gehobenen Oberklasse, mit einer Überraschung am Schluss“, intonierte Jan in Gedanken, sein Ton war höhnisch. Er hatte es nicht mehr geschafft, Andeutungen zu machen. Eva wusste nichts von seiner Überraschung. Eva wollte seine Überraschung nicht. Eva wollte ihn nicht mehr. Eva …
Jan hatte sehr tief in die Tasche greifen müssen, um die Jacht zu chartern. Sie war groß und der Platz war der blanke Luxus für ein einzelnes Paar, musste aber sein, denn weil Eva gerne allein schlief, brauchten sie zwei Kabinen. DIE STILLE war eigentlich für vier Personen und zwei Kinder gedacht. Sie hatte zwei Bäder mit Dusche, jeweils üppige anderthalb Quadratmeter groß. Vorne war ein Raum mit einem eingepassten Doppelbett, dort war Rainers Schlafplatz. Der Küche gegenüber war ein Sitzplatz für vier Personen, der mit ein paar Handgriffen zu einem Bett umgebaut werden konnte, das durch Vorhänge vom restlichen Raum abgetrennt wurde. Darüber befand sich der Salon mit einer komfortabel großen Couch darin und einem Tisch davor mit dem integrierten unteren Steuerstand, der aus den üblichen zwei Hochsesseln bestand. Jeweils einer für den Fahrer und dem, der neben ihm sitzen wollte. Von hier ging nach hinten die Achterkajüte ab, ebenfalls mit Doppelbett und Bad. Vom Steuerstand aus konnte man links und rechts um die Kajüten laufen. Und mit ein paar Schritten erreichte man den oberen Fahrstand, der separat zu verschatten war und auf dem sich die Hitze am besten ertragen ließ, weil noch ein Hauch von Fahrtwind durchzog. Hier standen ebenfalls zwei Sitzgelegenheiten, Drehhocker ohne Lehne, die bei Bedarf auch umgesetzt werden konnten.
„Guck mal, da“, sagte Rainer, „nicht schlecht, was uns da entgegenkommt.“
Er zeigte auf ein kleines Motorboot, eher ein Angelkahn mit zwei Teenagerpaaren darin. Die Mädchen trugen so winzige Bikinis, dass sie sie eigentlich auch hätten weglassen können, es gab ohnehin nur wenig zu bedecken. Rainer stieß sich mit den Füßen ab und vollführte mit dem Hocker eine Drehung, so dass er der Bewegung des kleinen Bootes besser folgen konnte.
„Aber die anderen waren besser“, sagte er und Jan schloss die Augen, damit Rainer nicht seinen genervten Blick sehen konnte.
„Vielleicht sind die beiden Blondinen sogar Zwillinge.“ Rainer schnalzte mit der Zunge.
„Die auf dem Faltboot neben uns in der Schleuse“, betonte Rainer mit Blick auf Jan, als müsste er ihn an das Erlebnis vor gerade erst zehn Minuten erinnern. Dabei fuhren sie noch vor ihnen, höchstens fünfzig Meter. Jan hatte sich etwas zurückfallen lassen. Einerseits, weil es im Kanal noch Schatten durch die Bäume gab und nicht so heiß war wie auf dem See, der im Anschluss folgte. Andererseits, weil er keine Lust auf Frauen hatte, auf nichts, was mit ihnen zu tun hatte, denn er wollte nicht an Eva erinnert werden. Doch dazu reichte schon ein Blick oder ein Lachen oder ein Bikini. Jan wusste, dass er schon allein deswegen Urlaub brauchte und abschalten musste, weil er überall Eva sah.
„Oder?“, erinnerte ihn Rainer daran, dass er immer noch auf eine Antwort von Jan wartete und der meinte schließlich „Ja“, obwohl er nicht mehr wusste, was Rainer als letztes gefragt hatte.
„Weißt du noch?“, sagte Rainer und Jan stöhnte auf, denn jetzt würde Rainer die Erinnerungen an seinen, Jans größten Verlust hervorrufen, indem er so tat, als wäre das damals eine tolle Zeit gewesen. Aber was hieß hier schon Niederlage, eigentlich war die Katastrophe mit Eva viel schlimmer, denn das andere lag weit zurück und vielleicht hatte Rainer Recht damit, es einfach als gewesen abzutun.
„Du weißt doch, was ich meine, oder?“, fragte Rainer und Jan versuchte noch abzuwehren, indem er sagte: „Ich wüsste lieber nichts mehr davon.“ Aber Rainer war nicht mehr zu bremsen.
„Das waren noch Zeiten, mein Freund. Als wir zwei noch auf dem Wasser unterwegs waren, meine Güte, ist das lange her. Zwanzig Jahre oder? Das hier“, er breitete seine Arme weit aus und drehte eine Runde auf seinem Hocker, „das hier ist die Jan-und-Rainer-Revival-Tour. Wir sind zurück, Mann! Keine Frau, keine Kinder, nur du und ich. Und heute ist es noch besser. Wir haben eine Jacht und müssen selbst so gut wie nichts mehr tun, und wenn es regnet, haben wir ein Dach über dem Kopf und im Notfall eine Heizung. Mein Freund, das Leben ist großartig.“ Rainer verschränkte die Hände im Nacken und Jan fragte sich: „Wir? Was heißt hier ‚wir’“? Und was heißt hier ‚besser’? Damals war die Welt noch in Ordnung und Evas Betrug noch weit.“ Jan fand sein Leben heute ungewisser denn je.
Der Kanal öffnete sich in einen großen See mit weiten Ufern. Jan führte DIE STILLE in der Spur der Richtungstonnen. Die Kanus und Faltboote bewegten sich nicht mehr im Pulk, sondern peilten vereinzelt die unterschiedlichen Ziele auf dem Wasser an. Segelboote kamen der STILLEN entgegen, die Masten umgelegt, denn es war windstill.
„Aber früher“, Rainer unterbrach Jans Gedanken. Er hatte die Arme sinken lassen und baumelte mit ihnen hin und her, „früher waren irgendwie mehr Nackedeis unterwegs oder?“ Rainer stand auf und griff sich den Feldstecher, der vor Jan auf der Ablage stand und zur Standardausrüstung jedes besseren Charterbootes gehörte. „Vielleicht“, sagte er und setzte das Gerät vor die Augen, „vielleicht“, er verstellte die Schärfe, „vielleicht finde ich hiermit etwas.“ Und während er den See absuchte, Jan wurde schon wieder grimmig, plauderte Rainer weiter. „Früher waren alle viel freizügiger auf dem Wasser, da war es gang und gäbe, nackt unterwegs zu sein. Das hatte nichts Sexuelles, das war einfach neutrale Freikörperkultur, so selbstverständlich, dass niemand darüber nachdachte. Deswegen war das Leben auch leichter, weil man ständig von nackter Haut umgeben war, das schafft eine positive Stimmung. Heute siehst du nur noch Hängetitten und Hängeärsche von denen, die es seit fünfzig Jahren nicht anders kennen, als nackt auf dem Wasser zu sein. Von den jungen Hübschen zieht sich kaum jemand aus. Und wenn doch, sagt es etwas über deren Charakter. Wir sind eben alle schamhafter geworden. Da!“ Rainer verharrte, den Feldstecher vor den Augen. „Da hinten sind sie.“
„Verklemmter“, sagte Jan, und Rainer reagierte mit einem abwesenden „Häh?“
„Wir sind nicht schamhafter geworden, sondern verklemmter“, meinte Jan, dachte dabei an sich selbst und daran, dass diese Behauptung auf Rainer nicht zutraf. Aber der hatte überhaupt kein Interesse an Jans Erklärungen und gab sich seinem Voyeurismus am Feldstecher hin.
„Hinterher!“, sagte Rainer und zeigte in die Richtung der drei Frauen, ohne das Gerät von den Augen zu nehmen.
„Wozu?“, fragte Jan. Rainer schielte kurz zu ihm rüber und antwortete: „Um uns zu unterhalten natürlich.“ Jan wusste, dass Rainer das sagte, um ihn zu veralbern und reagierte nicht auf dessen beschlossene Kursänderung.
„Ich will mich nicht mit denen unterhalten“, murrte er.
Rainer wartete einen Moment, versuchte sich von dem Fernglas loszureißen, schaffte es aber nicht und meinte: „Du sollst nicht immer nur an Eva denken. Die denkt jetzt auch nicht an dich. Eva ist Geschichte, mein Freund.“
Jan zuckte zusammen. Er zögerte noch etwas, dann drehte er in die gewünschte Position.
„Mist“, sagte Rainer und setzte endlich den Feldstecher ab, „jetzt fahren sie in diesen Seitenarm rein, da verlieren wir sie.“ Er nahm die Karte und faltete sie auseinander.
Er studierte sie eine Weile. Jan war inzwischen so weit an das Boot der Frauen herangekommen, dass er sowohl die beiden Blondinen leuchten als auch das Verbotsschild für Motorboote am Ufer stehen sah. Rainer legte die Karte wieder zusammen und sagte zu Jan: „Wir fahren ihnen hinterher.“
„Wie bitte?“, fragte Jan.
„Na los, da kommen wir durch. Wäre doch schade drum, so ein Angebot sausen zu lassen.“ Rainer rutschte aufgeregt auf seinem Sessel herum.
Jan machte den Motor aus, der noch ein letztes Mal tuckerte, bevor er verstummte.
„Was?“, fragte Rainer, drehte sich zu Jan, sah dessen Gesicht und meinte: „Das wird lustig, glaube mir.“ Jan dachte: „Nicht schon wieder!“, und sagte langsam: „Ich habe gerade ein Déjà-vu.“
Rainer stutzte, Jan konnte an seinem Gesicht sehen, wie schwer das Nachdenken ihm fiel angesichts der Möglichkeit, diese Blondine näher kennenzulernen. Jan wusste auch, dass dieses offene Flirten in der Schleuse eine Einladung gewesen war und dass Rainer wie kein anderer Mensch, den er kannte, seine Selbstbestätigung aus der Bewunderung und dem Neid anderer Leute bezog. Jan selbst gehörte oft genug zu diesen anderen Leuten. Vielleicht hielt Rainer ihm auch deswegen die Treue.
Eine Blondine für den blonden Rainer. Natürlich würden sie alle Blicke auf sich ziehen. Eigentlich könnte es Jan egal sein, eigentlich sollte er seinem alten Freund ein bisschen Abwechslung von seiner langen Ehe gönnen. Eigentlich. Aber andererseits: Betrug war Betrug. Und Jans Sympathien galten Rainers Frau Svenja, sie war das potenzielle Opfer. Wer weiß, wie oft Rainer schon …
Jan sah an Rainers Gesicht, dass endlich der Groschen gefallen war und er wusste, woran Jan ihn erinnern wollte. „Das kannst du doch gar nicht vergleichen“, sagte er laut und fügte leise an: „Das war doch alles ganz anders.“
Jan startete schweigend den Motor, drehte DIE STILLE um neunzig Grad und fuhr langsam nicht allzu dicht am Ufer entlang. Rainer legte sich auf die Bugplattform und zog sich seine Mütze ins Gesicht. Jan sah in der Ferne eine Anlegestelle und steuerte darauf zu.
„Warum bist du nicht zurückgetreten?“, fragte er sich ein weiteres Mal, und was Eva wohl denken würde, wenn sie nach Hause kam und die Schweinerei sah. Jan spürte, wie sich seine Mundwinkel nach oben bewegten, obwohl sein Verstand ihnen befahl, unten zu bleiben. Ja, das hatte er gewollt in diesem Moment vor drei Tagen, er wollte, dass sie sich Vorwürfe machte und sich fragte, was ihn dazu bewogen hatte. Er wollte sie erschrecken, so wie sie ihn erschreckt hatte, noch schlimmer sogar. Nur dass sie es ernst gemeint hatte und er auf einen Trick zurückgreifen musste, trotzdem, er würde noch einmal im Mittelpunkt ihres Lebens stehen – ein einziges Mal, einen kurzen Moment. Und er wusste, dass sie mit einer solchen Reaktion von ihm nie im Leben gerechnet hätte.
Den Abend verbrachten Jan und Rainer auf dem Campingplatz, zu dem der Anleger gehörte, den Jan anvisierte. Sie ließen sich von der Besatzung einer Segeljacht, der MARIANNE, überreden, sich zu ihnen zu setzen. Das waren sechs Herren zwischen sechzig und achtzig, von denen drei lieber im gemieteten Wohnwagen schliefen als auf dem Boot.
„Da ist es mir zu eng“, sagte einer, „mir reicht es, wenn sie mir tagsüber auf den Geist gehen. Bei so was gehen Freundschaften kaputt.“ Jan nickte.
„Und dabei schnarchst du am lautesten“, sagte ein anderer und alle lachten.
„Wenn man die Frauen schon zu Hause lässt, dann muss es auch gut werden“, meinte ein dritter und Rainer nickte. Tagsüber segelten sie, erzählten sie, wenn der Wind es zuließ. Sie hätten genug Wasser in ihrem Leben gesehen, ihnen reiche der eine See vollkommen, sie brauchten nicht mehr die große weite Welt. Rainer ließ sich die MARIANNE zeigen und kam beeindruckt zurück.
Sie hockten nach Einbruch der Dunkelheit zu acht am Lagerfeuer und tranken Rum. Jemand spielte Akkordeon und sie sangen mit ihren tiefen Stimmen Shantys dazu. Es fühlte sich wie Urlaub am Meer an und selbst der See rauschte, dass es fast wie Ozeanwellen klang. Für Jan war es unwesentlich, dass das Wasser hier süß war.
Es kam leichter Zug auf und trieb reihum den Männern den Rauch in die Augen.
„Morgen wird es stürmisch“, meinte einer der sechs und zeigte auf das Wolkenband, das sich am Horizont bildete. Jan sagte: „Aha“, und nickte, obwohl es ihm egal war, denn DIE STILLE hatte Motoren und keine Segel.
Sein Gegenüber tippte sich an die Nase und sagte: „Erfahrung.“ Die anderen stimmten ihm zu, dass man den Sturm schon riechen könne. Jan beobachtete den freien Himmel über sich und wartete auf eine Sternschnuppe. Dann würde er sich wünschen, dass Eva zurückkäme. Das musste doch einfach in Erfüllung gehen, ein so schlichter Wunsch in so einer vollkommenen Nacht. Aber dann müsste sie ihm das Massaker im Schlafzimmer verzeihen. Und er ihr den Betrug. Eigentlich, dachte Jan, waren sie quitt.
Es war nur eine fast perfekte Nacht, denn er hatte an Eva gedacht.
Manchmal, wenn Jan in die Runde blickte, fiel ihm Rainer auf, der sich immer wieder umdrehte und den Campingplatz absuchte.
„Wartest du auf jemanden?“, fragte einer der Männer, denn von Rainer ging eine spürbare Unruhe aus, die auch den anderen nicht verborgen blieb.
Rainer lächelte und sagte: „Nichts gegen eure Gesellschaft, aber mir ist heute jemand begegnet, der wesentlich besser aussah als ihr alle zusammen.“
Die Männer grinsten und meinten, Frauen hätten auf einer Männertour nichts zu suchen.
„Jaa“, sagte Rainer und dehnte das Wort, „aber ihr habt sie nicht gesehen.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Und eine blonde Schwester für meinen Freund Jan hier hatte sie auch gleich dabei.“
Jan fühlte sich übergangen. Er hoffte, dass sie das Boot mit dem Subjekt Rainers Begierde nicht wiedersahen, wusste auch, dass die Wahrscheinlichkeit trotzdem groß war und freute sich, dass die drei Frauen wenigstens nicht heute Nacht aufgetaucht waren.
TAG DREI
Der Wind fuhr in kräftigen Schüben durch die Baumkronen des Waldes, an dessen Rand der Campingplatz lag. Das Wasser schmatzte unter dem Anleger. DIE STILLE schaukelte in den Wellen und zog die Leinen stramm. Das war der Sturm, den die Segler vorausgesagt hatten.
„Sieh mal an“, sagte Jan zu Rainer, „sie hatten also recht.“ Jan konnte sich vorstellen, eine weitere Nacht hier zu liegen, denn die alten Herrschaften gaben eine weit bessere Gesellschaft ab als Rainer.
„Wir sollten abwarten und erst fahren, wenn der See ruhiger geworden ist“, meinte er.
„So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, sagte Rainer, der sichtbar keine Lust auf weitere Shantys und Ruhe und Besinnlichkeit hatte.
„Wir kommen nicht aus der Lücke raus“, behauptete Jan. „Der Wind weht doch eher in Böen“, sagte Rainer, „wir warten, bis die nächste endet. Du startest schon den Motor und ich stoße die Jacht ab und springe auf.“
Jan nickte zögerlich. Er ärgerte sich, dass er gestern darauf bestanden hatte, rückwärts an den Anleger heranzufahren. Stünde das Boot andersrum, könnte er einfach sagen, das Ablegen wäre ihm zu schwierig. Er gestand sich ein, dass er nicht mit Rainer alleine sein wollte. Er wollte an Eva denken, ohne dass ihn jemand darauf hinwies, dass alles aus und vorbei war. Er wollte sich noch ein paar kleine illusorische Oasen schaffen, indem er sich vorstellte, Eva wäre mit ihm auf der STILLEN, alles wäre perfekt, sie läge in der vorderen Kajüte und schlief.
Vor einer Woche war seine Welt noch in Ordnung gewesen.
Jan überlegte kurz, dass er Rainer zurücklassen könnte, wenn er nur genug Gas gab. Dann würde Rainer im Wasser landen, weil er den Abstand zwischen Boot und Ableger nicht überbrücken könnte. Jan lächelte über sich bei diesem Gedanken. Er beobachtete Rainer, wie er die letzte Leine aufs Boot warf, DIE STILLE aus der Parktasche des Anlegers herausschob und schließlich die letzten Meter auf dem Holzbohlensteg noch Schwung nahm, um aufzuspringen. Die Wellen ließen die Jacht so stark schaukeln, dass Jan den Ruck nicht spürte, als Rainer sich über die Reling schwang.
Jan hatte sich in den unteren Fahrstand zurückgezogen. „Lass uns bloß weiter“, sagte Rainer missmutig. Er hatte sich damit abgefunden, seine Blondine nicht wiederzusehen. „Auf der Karte ist hier eine Gaststätte eingezeichnet. Ich habe Hunger, wir sparen uns das Frühstück und verlegen das Mittag vor.“
Bei dem Lokal handelte es sich um ein rustikales Gebäude mit einer Terrasse, von der man den Kanal beobachten konnte. Jan war zufrieden. Es war elf Uhr. Sie hatten beide Matjes mit Bratkartoffeln bestellt. Der Wind hatte schon nachgelassen, nur ab und zu fing er sich noch unter den Sonnenschirmen und ließ sie flattern.
Ein altes überladenes Faltboot schob sich in Jans Sichtbereich.
„Da sind sie wieder“, sagte er lahm.
Rainer sah auf, fing an zu winken, stand auf, eilte an den Zaun, der die Terrasse umgab, rief, aber sie waren schon vorbei.
„Zu spät“, sagte Jan.
Rainer setzte sich wieder, sah auf seine Uhr und meinte:
„Auf dem See kriegen wir sie.“
Jan schüttelte resigniert den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was das Fangenspielen sollte.
Die Wellen auf dem offenen Wasser waren noch kräftig. Rainer stand am Steuer der STILLEN, weil Jan sich weigerte, hinter Rainers Blondine hinterherzufahren. Sie hatten die Fahrrinne bereits verlassen. Er brauchte den Feldstecher nicht, um zu sehen, was sie vorhatten. Sie bewegten sich auf einen kurzen Sandstrand am gegenüberliegenden Ufer zu. Nach Jans Meinung mussten die drei gemerkt haben, dass der Seegang ihrem Gefährt gefährlich werden konnte. Wahrscheinlich hatten sie die Nacht irgendwo am Kanal gezeltet und waren aufgebrochen, ohne daran zu denken, dass sie auf dem offenen See dem Wetter ungeschützt ausgesetzt waren.
„Wenigstens kann der STILLEN nichts passieren“, dachte Jan, „sonst hätte ich das Steuer nicht hergegeben.“ Er faltete die Karte wieder zusammen. Sie würden auch nahe am Ufer genügend Wasser unter sich haben. Jan schielte auf das Echolot. Noch wusste er nicht, welches Geräusch es von sich gab, wenn es bei Untiefe ansprang. Jan kannte Rainer gut genug, um zu befürchten, dass der eine Grundberührung mit allen denkbaren Konsequenzen riskieren würde, um das Faltboot zu kriegen. Rainer war auf der Jagd. Er hatte den Schirm seiner Mütze zur Seite gedreht und den Hocker weggeschoben, weil er stehend mehr sehen konnte.
Jan war nicht klar, was Rainer machen wollte, wenn er die drei eingeholt hatte. Aber er wusste, dass Rainer erfinderisch war. Woran der aber bestimmt nicht dachte, war, dass sie nicht aufhören konnten zu paddeln, sonst würde der Wind sie zurück auf den See treiben. Wie sollte man sich so verständigen? Aber es war wieder typisch für Rainer, kein Plan wurde zu Ende gedacht.
„Was willst du denn überhaupt zu ihnen sagen?“, fragte Jan, aber Rainer antwortete nicht mehr, denn sie waren jetzt hinter dem Faltboot.
„Kommst du?“, fragte er Jan stattdessen. Er hielt das Steuer nur noch mit einer Hand. Jan griff widerwillig zu. Er versuchte, DIE STILLE vorsichtig neben das Faltboot zu bringen.
„Steuern für Fortgeschrittene“, dachte er wütend.
Rainer hatte sich wie in der Schleuse über die Reling gebeugt und sagte, weil es schon einmal funktioniert hatte: „Naaa?“
Jan konnte leider nicht hören, welche Antwort diesmal zurückkam, dafür waren die Außengeräusche zu laut, aber er konnte seine Rückschlüsse aus Rainers Reaktion ziehen.
„Was heißt hier, ‚Hau ab’?“, fragte Rainer. Das hatte das Mädchen gesagt. „He, wir sind gekommen, um euch zu helfen. Ihr könnt in unserem Windschatten fahren, da habt ihr es leichter.“
Die mittlere Blondine nickte heftig, die vordere hatte sich umgedreht und zog die Schultern hoch. Das Mädchen am Steuer schüttelte den Kopf. Es formulierte ein weiteres Mal „Hau ab!“ Rainer reagierte mit „Häh?“ Er legte sich die Hand hinter das Ohr, um ihm zu zeigen, dass er es nicht verstehen konnte, obwohl es eindeutig war, was es meinte. Eine kräftige Bö trieb den Dieseldunst der beiden Schiffsmotoren zu den Frauen hin.
Tatsächlich war Rainers Idee, die anderen mit dem Bootsrumpf vor dem Wind zu schützen, nicht schlecht. Aber Jan sah die Dunkelhaarige mit Nachdruck den Kopf schütteln. Als er etwas wie „Eure Welle“ von ihren Lippen ablas, wusste er auch, wovor sie sich fürchtete. Wenn das kleine Boot ins Heckwasser der Jacht kam, wurde es noch unruhiger und gefährlicher für die drei als durch den Wind allein. Jan hatte sich nicht geirrt, sie war die Einzige, die Erfahrung auf dem Wasser hatte und das Problem erkannte. Aber wenn Jan so langsam wie möglich fuhr und die Frauen weiterhin gut durchzogen, war das Risiko vertretbar und der Vorteil durchaus gegeben.
Im Windschatten der viel größeren STILLEN kam das Faltboot dem hohen Bootsrumpf näher. Die beiden vorderen Fahrerinnen legten die Paddel quer, um sich auszuruhen. Jan wurde nervös. Was machten sie da?
Da das Mädchen jetzt nur noch alleine das Gefährt vorantrieb, wurde es zunehmend langsamer. Jan kuppelte die Motoren aus, um die Fahrt der Jacht zu verringern, aber das reichte nicht als Notbremse. Wenn sie hinter der STILLEN hervorkämen, würde der Wind sie direkt erwischen … Das wusste die Dunkelhaarige offensichtlich auch. Sie formulierte einen kurzen Satz an ihre Mitfahrerinnen nach vorne. Sofort duckte sich die erste Blondine und begann angestrengt wieder mitzupaddeln. Die mittlere jedoch richtete sich empört auf, drehte sich schwungvoll um und verlagerte damit ihr Gewicht so plötzlich, dass das Boot sich zur Seite legte.
Zwei Paddel wurden noch einmal mit ganzer Kraft bewegt, nur war dort schon kein Wasser mehr, sondern nur noch Luft. Das Schicksal des kleinen alten Bootes war besiegelt - es kippte.
Jan sah den Schreck in den Augen des Mädchens, bevor es wie die beiden anderen im See verschwand.
Jan stoppte sofort. Er sah Rainers Hechtsprung über die Reling, selbst in diesem Moment machte der eine gute Figur. Er hatte sich blitzschnell das T-Shirt über den Kopf gezogen und in den Salon geworfen. Jan ließ sowohl Bugals auch Heckanker ab, um DIE STILLE zu fixieren. Ein fester Punkt auf dem See war das Einzige, was er den Schiffbrüchigen bieten konnte. Er hakte die Badeleiter ein.
Von den drei Frauen war Rainers Blondine der STILLEN schon am nächsten gekommen. Das dunkelhaarige Mädchen tauchte ein paarmal und versuchte, die festgeklemmten Packsäcke aus dem kieloben treibenden Faltboot zu ziehen. Die Dritte hatte zwei der kleinen Plastiktonnen in den Armen, die aus dem Boot gespült worden waren und in denen man die Dinge aufbewahrte, die auf keinen Fall nass werden durften. Im ersten Moment dachte Jan, dass sie die beiden Gegenstände mit zur Jacht bringen wollte, bis er an ihrem panischen Gesichtsausdruck erkannte, dass sie sich an ihnen festhielt.
„Nichtschwimmeralarm!“ Jan brüllte, doch wie wahrscheinlich war es, dass Rainer ihn in der ganzen Aufregung hören konnte? Jan stürzte zum Rettungsring und riss ihn aus seiner Halterung an der Heckreling. Er warf ihn, so weit er konnte, in die Richtung der jungen Frau, aber Rainer war schon bei ihr, nahm sie in den Arm und schwamm mit ihr zurück. Das Faltboot lag in sich verdreht im Wasser und trieb durch den Wind weiter auf den See hinaus. Etwas Schweres im Bug begann es nach unten zu ziehen. Dort wäre es dann für sie unerreichbar, denn der Grund befand sich hier in über sechs Meter Tiefe.
Die Dunkelhaarige schwamm auf dem Rücken und zog etwas unter Wasser hinter sich her. Jan sah sie hantieren. Sie griff den Rettungsring. Es sah aus, als band sie zwei Packsäcke an ihm fest. „Clever“, dachte Jan, der wusste, wie anstrengend jede Schwimmbewegung war, wenn man Gewichte bei sich hatte und sich nicht frei bewegen konnte. Sie drehte sich nach dem Boot um, als überlegte sie, ob sich noch mehr bergen ließe, dann aber kam sie doch zur STILLEN. Sie schob den Rettungsring vor sich her. Rainer half den beiden Blonden die Badeleiter hoch und kraulte dem Mädchen entgegen, um ihm zu helfen. Es übergab Rainer den Rettungsring und fing die beiden Plastiktonnen ein, die ihre Mitfahrerin losgelassen hatte. Jan winkte die nassen Frauen in den Salon. Er holte Handtücher aus seiner Kajüte und warf Rainers Blondine eines zu, das sie mit einer Hand lässig aus der Luft griff.
„Ich dachte immer, Frauen können nicht fangen“, sagte er nebenbei, während er der Nichtschwimmerin etwas zum warm werden um die Schultern legte.
Die Angesprochene begann breit zu lächeln und antwortete ihm sanft: „Werfen. Frauen können nicht werfen.“ Dann betrachtete sie die Einrichtung der STILLEN und sagte zu der anderen: „He Britt, ich glaube, wir haben uns verbessert.“ Sie grinste Jan an.
Rainer wuchtete den Rettungsring mit den Packtaschen auf die Badeplattform und nahm dann dem dunkelhaarigen Mädchen die kleinen Plastiktonnen ab, bevor er ihm die Badeleiter hoch half.
„Ich glaube Franka ist sauer“, sagte die so genannte Britt mit immer noch klappernden Zähnen und die andere zog die Schultern hoch. „Vielleicht solltest du sie besser nicht noch mehr reizen, Elena.“
Elena nickte und lächelte dabei fein.
Rainer und die Dritte im Bunde betraten den Raum.
Das Mädchen Franka hatte blaue Lippen und zitterte.
Franka war mit Abstand am längsten im Wasser gewesen und hatte sich dabei am meisten anstrengen müssen. Zwar waren weder Wasser noch Luft kalt, aber der Wind trug einen beträchtlichen Teil zur Unterkühlung bei.