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Sie sucht die Wahrheit. Und findet das Böse. Irenes Leben wird zum Albtraum, als ihr Sohn Jonas gewaltsam ums Leben kommt. Der Täter: ihr neunzehnjähriger Stiefsohn Martin. Die Tat: im Affekt. Angeblich wurde Martin Zeuge, wie Jonas einen kleinen Jungen ermordete. Zudem behauptet er plötzlich, von seinem eigenen Vater missbraucht worden zu sein. Das Gericht spricht Martin frei, doch Irene zweifelt. An Martins Aussage. Und an ihren eigenen Erinnerungen. Sie will die Wahrheit herausfinden, um jeden Preis. Erst recht, als Martin die Abiturientin Tina in seinen Bann zieht. Denn Irene ahnt, wozu ihr Stiefsohn fähig ist …
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Seitenzahl: 510
Veröffentlichungsjahr: 2010
Isolde Sammer
Die Stille nach dem Schrei
Psychothriller
Jetzt, am Ende meines Lebens, habe ich viel Zeit. Genug, um meinen kleinen Bruder zu retten. Ich muss es versuchen. Ich muss es schaffen. In drei Wochen werde ich neunzehn Jahre alt, und diesen Geburtstag werde ich nicht erleben. Mein Tod ist beschlossene Sache. Aber vorher muss ich das hier hinter mich bringen. Nehmen Sie es als mein Geständnis, Herr Schneider. Dabei will ich nicht um Verständnis betteln. Zum ersten Mal in meinem Leben geht es mir überhaupt nicht um mich. Ich bin nicht mehr wichtig. Ich habe nur noch ein Ziel: Benny darf nichts geschehen. Er ist erst sieben Jahre alt. Wem soll er denn trauen, wenn er nicht einmal mir trauen kann? Ich habe ihn im Stich gelassen. Bin einfach abgehauen, ohne Erklärung und ohne Abschied. Sie sind Polizist, da müssen Sie doch einen Weg finden, einen kleinen Jungen vor Menschen wie mir und Martin zu beschützen. Und wenn er erwachsen ist, wenn er genug Vertrauen in sich und die Welt hat, dann geben Sie ihm diesen Bericht. Geben Sie ihn nicht unserer Mutter, nie, die verhökert ihn doch nur an die meistbietende Illustrierte. Wenn Martin das hier liest, oder sein Freund, dann bedeutet das nicht nur meinen Tod, sondern vor allem, dass Benny weiter in Gefahr schwebt. Und nicht nur er. Deshalb treibe ich ein doppeltes Spiel. Die letzte Anstrengung meines verpfuschten Lebens. Die einzige, die einen Wert hat.
Ich weiß nicht, wann es angefangen hat schiefzulaufen. Vielleicht bei meiner Geburt. (Heute denke ich, es wäre besser gewesen, meine Mutter hätte mich abtreiben lassen. Aber das hätte nicht in ihre egoistische Lebensplanung gepasst.) Vielleicht hat es schon vor meiner Geburt angefangen, mit der falschen Kombination der Gene. Ganz sicher aber ist es seit meinem ersten Kuss schiefgelaufen.
Ich muss ein bisschen ausholen. Sicher sind Ihnen, Herr Schneider, die Narben in meinem Gesicht aufgefallen. Ich habe sie mir mit zwölf Jahren zugezogen, bei einem Küchenunfall. Waren ziemlich üble Brandwunden. Meine Mutter und ich haben verschiedene Ansichten darüber, wie es passiert ist. Sie sagt immer, es sei meine eigene Schuld gewesen. Weil ich beim Frittieren alles mit Fett vollgespritzt habe, auf dem glitschigen Boden ausgerutscht bin und mich, dämlich, wie ich bin, am Topf mit dem heißen Öl festhalten wollte. Ich sage, dass ich reflexartig nach dem Gitter oben auf dem Gasherd gegriffen habe, das schon lange kaputt und wackelig war und das meine Mutter aus Geiz und Faulheit nie hat auswechseln lassen.
Egal, wer schuld war, mir sind jedenfalls hässliche Male geblieben. Inzwischen sind sie etwas verblasst und nicht mehr so auffällig, aber damals sah ein Teil meiner linken Wange ziemlich übel aus, wie ein angefaulter Pfirsich, bräunlich rote Flecken, wulstige Narben. Ohr, Hals und Schulter hatten auch etwas abbekommen. Mit dreizehn, als die meisten Mädchen in meiner Klasse schon ihre ersten Erfahrungen mit Jungs machten, hat mich keiner angeschaut. Und wenn, dann nur, um sich schnell wieder mitleidig oder angewidert abzuwenden.
Zugegeben, ich war damals auch ein bisschen kratzbürstig. Wenn mich niemand mochte, dann mochte ich eben auch niemanden. Nur Martin hat sich von meinem Stacheldrahtcharme nicht beeindrucken lassen. Als mich einmal zwei Jungs aus meiner Klasse blöd angemacht haben, wegen meiner heruntergelatschten Turnschuhe und unmodernen Klamotten und weil ich meine Narben damals trotzig zur Schau gestellt habe, da hat Martin mich als Einziger verteidigt. Die haben mich Freak genannt, und er hat die Mistkerle verdroschen. Ohne Vorwarnung, ohne ein Wort, total cool. Er war fünfzehn, groß und kräftig gebaut, hübsches, freundliches Gesicht, blonde Haare, dunkelbraune Augen. Vielleicht war es diese ungewöhnliche Kombination von Haar- und Augenfarbe oder ein bestimmter Ausdruck, keine Ahnung, irgendwas Geheimnisvolles. Ich kann es nicht genauer beschreiben. Jedenfalls fand ich es sehr anziehend.
Es war Zufall, dass er vor unserer Schule aufgekreuzt ist. Er ging aufs Gymnasium und hatte bei uns nur seinen kleinen Bruder abholen wollen, Jonas, der zwei Klassen unter mir war. Nachdem die Mistkerle ordentlich bedient waren, hat mich Martin zum Eis eingeladen. Das heißt, eigentlich habe ich ihn einladen wollen, als Dank, aber dann hat er darauf bestanden, für mich zu bezahlen. Und dann hat er mich geküsst. Vor den zwei geprügelten Hunden und noch ein paar anderen Mitschülern von mir. Richtig geküsst. Auf den Mund und mit Zunge und allem. Ich schmolz schneller als das Eis in meiner Hand.
Ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben und nach seiner gefragt, aber er sagte, er sei gerade dabei, mit seiner Familie umzuziehen. «Ich ruf dich an», sagte er zum Abschied. Hat er aber nicht. Auch sein Bruder kam nicht mehr in meine Schule zurück. Es war leicht, seinen Nachnamen herauszukriegen, aber dann habe ich die Telefonauskunft doch nicht angerufen. Irgendwie verbot mir das mein Stolz. Ich habe Martin vier Jahre lang nicht mehr gesehen und ihn so gut wie vergessen. Bis sein Name im Fernsehen fiel. Ich saß gerade bei Benny am Bett, wie fast jeden Abend, und las ihm aus dem Herrn der Ringe vor. Meine Mutter hing wie üblich nebenan vor der Glotze. «Martin W.» Ich rannte hinüber, obwohl es eigentlich total verrückt war zu glauben, dass es mein Martin sein könnte. Aber er war es tatsächlich. Sie zeigten ihn bei seiner Festnahme.
MARTIN W.Der Name knallte in mein Leben wie ein Meteorit in die Wüste.
«Ich hätte ihn auch umgebracht», sagte Gunter.
Martin blickte überrascht vom Waschbecken auf, in dem er seine Socken wusch. In den drei Wochen, die sie nun die Zelle miteinander teilten, hatten sie kaum über ihre Taten gesprochen. Gunter Sand saß wegen eines Raubüberfalls in Untersuchungshaft. Als man ihn zu Martin in die Zelle brachte, erkannte er ihn sofort und beschwerte sich lautstark über diese Zumutung. Der Fall Martin Werneck war vor einem halben Jahr durch die Presse gegangen: Er hatte seinen vierzehnjährigen Halbbruder Jonas getötet. Das hatte er auch gestanden. Eine Tat im Affekt. Weil er Jonas beim Mord an dem zehnjährigen Joey überrascht hatte. Sagte sein Verteidiger. Es konnte aber ebenso ein kaltblütiger Doppelmord zur Vertuschung seiner eigenen sexuellen Straftat gewesen sein. Sagte der Staatsanwalt. Die Indizien waren spärlich und nicht eindeutig.
Gunter hatte, wie jeder Kriminelle, der auf sich hielt, nur Verachtung für Kindermörder und zeigte sie offen. Martin nahm es ihm nicht übel. «Ich bin unschuldig», beteuerte er. «Wäre ich es nicht, würde ich mich selbst verachten.» Er lächelte ein freundliches, offenes, selbstbewusstes Lächeln.
Irgendwie sind ja immer alle unschuldig im Knast. Gunter glaubte ihm nicht. Er sprach nur das Allernötigste mit ihm, spielte lieber allein Karten. Martin blieb dennoch gut gelaunt. Wenn ihn die Zurückweisung ärgerte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
Vor Gericht würde sich schon herausstellen, dass er die Wahrheit sagte, betonte er immer wieder, ungefragt. Immer klang es ruhig und voller Vertrauen in die Weisheit des Gerichts. Gunters strikte Ablehnung bekam nach und nach Risse. Er wandte sich nicht mehr demonstrativ ab, wenn Martin versuchte, eine Unterhaltung zustande zu bringen, über den Knastalltag oder über das Radioprogramm. In der zweiten Woche las Martin seine «Fanpost» vor, Liebesbriefe, die ihm wildfremde Frauen jeden Alters ins Gefängnis schickten. Sie alle glaubten an seine Unschuld. Die blumigen oder ungelenken Formulierungen amüsierten ihn und rangen sogar Gunter manchmal ein Grinsen ab. Gelegentlich waren auch schamlose Angebote dabei, die an Pornographie grenzten, und sie lachten beide über diese seltsamen Wesen. Ein wenig großspurig begann Martin dann von seinen Affären mit Mädchen zu erzählen. Gunter hörte immerhin zu, wenn auch schweigend.
Martin schien sich auch ehrlich für das Leben seines Zellengenossen zu interessieren. Anfang der dritten Woche erzählte Gunter von seiner Frau und seinem Sohn und heftete ein Familienfoto an die Wand. Fragen nach seinem missglückten Raubüberfall beantwortete er nicht. Das tut man während der Untersuchungshaft einfach nicht, man weiß ja nie, wie weit man einem Mithäftling trauen kann. Außerdem war ihm die Erinnerung an sein Versagen peinlich. Er saß schon das zweite Mal. Fragen nach Martins Tat stellte er nicht, vielleicht, um ihn nicht bei einer Lüge zu ertappen. Das hätte die neue, entspannte Atmosphäre in der Zelle sofort zunichtegemacht. Er vermied es sogar, sich zu fragen, warum er keine Fragen stellte.
Am Tag vor der Urteilsverkündung, der Martin noch immer gleichmütig entgegensah, beschloss Gunter, an seine Unschuld zu glauben. Er bot ihm eine Zigarette an, zum ersten Mal. Martin trocknete sich erstaunt die Hände ab und nahm sie, obwohl er sonst nicht rauchte. Nur gelegentlich nahm er eine, wenn sie ihm von der richtigen Person angeboten wurde, weil es eine unverdächtige Art der Kontaktaufnahme war. Manchmal – draußen – hatte er auch selbst ein Päckchen in der Tasche, weil sich viele Jungs ernst genommen fühlten, wenn ihnen ein Älterer eine Zigarette anbot, und das konnte von Vorteil sein.
«Jeder würde reagieren wie du», sagte Gunter. «Das muss auch der Richter so sehen.»
Martin lächelte sein offenstes Bubenlächeln, aufrichtig dankbar für die Zigarette ebenso wie für das Vertrauen.
«Du sitzt sowieso bloß, weil deine Mutter, die Schlampe…»
«Stiefmutter», korrigierte Martin und zündete sich die Zigarette mit Gunters Feuerzeug an.
«Erst recht Schlampe. Sonst hätte sie dich nicht beschuldigt, nur um ihre eigene missratene Brut reinzuwaschen. Was glaubst du, was ich mit einem Kerl wie deinem Stiefbruder gemacht hätte, wenn ich ihn dabei erwischt hätte, wie er sich an einem Kind vergreift? Wenn jemals einer meinen Jungen anfassen sollte, Mann…!» Gunter schnaubte und überließ es Martins Phantasie, sich seine Rache auszumalen. «Ich wünsche dir morgen jedenfalls Glück.»
«Danke.» Martin blickte unwillkürlich zu dem Foto über Gunters Bett hinüber: Vater, Mutter, Kind, einträchtig. Eine Urlaubsszene am Strand. Die Frau sah aus wie eine echte Schlampe, fand Martin, aber natürlich würde er das nie sagen. Sie war 34, wirkte aber wie 40, mit blondierten Haaren und dunklen Schatten unter den Augen. Der sportliche Schnitt des einteiligen Badeanzugs konnte den ekligen Speckring um ihre Körpermitte nicht kaschieren. Sie drückte den hochaufgeschossenen elfjährigen Jungen in nassen Badeshorts an sich, und Gunter umarmte sie beide von hinten, das Kinn besitzerstolz auf den Kopf seines Sohnes gestützt. Alle drei lachten in die Kamera. Der Junge sah beiden Eltern ähnlich, war nur viel hübscher. Und zarter. Die schlanken langen Beine und die schmale Brust, vollkommen haarlos und in einem seidig schimmernden Karamellton. Jedes Mal, wenn sein Blick dieses Foto streifte, spürte Martin einen Stich.
Er wandte sich rasch wieder seinen Socken im Waschbecken zu, rubbelte sie, die Zigarette lässig im Mundwinkel. Morgen früh mussten sie trocken sein. Dann noch die Schuhe putzen und sich vom Gefängnisfriseur die Haare schneiden lassen; er wollte vor Gericht einen guten Eindruck machen. Vielleicht würde man ihn ja tatsächlich freilassen.
An diesem letzten gemeinsamen Abend lud Gunter seinen Kumpel zum Kartenspielen ein. Das einzige Spiel, das Martin kannte, war Canasta, er hatte es als Kind seiner Großmutter zuliebe gelernt.
«Genauso spielst du auch», grinste Gunter, «wie eine alte Dame, auf Nummer sicher. Riskier doch mal was.»
Martin riskierte etwas und verlor alle Zigaretten, die er vorher gewonnen hatte. Verlor, damit Gunter seinen Spaß hatte. Damit Gunter ihn mochte. Damit Gunters Vertrauen wuchs. Das Kartenspiel, Gewinnen und Verlieren waren ihm absolut gleichgültig. Seine eigenen Spiele – draußen – spielte er mit höherem Einsatz.
Später im Bett, als er endlich Gunters Schnarchen hörte, onanierte er unter der Bettdecke. Er stellte sich dabei Sebastian vor, Gunters Sohn, nackt. Er stellte sich vor, wie er dem Jungen die Füße mit den schlanken Handgelenken auf dem Rücken zusammenband, ein Stück Seil zweimal um den zarten Hals legte und mit den Fesseln verknüpfte, wie er ihm einen Gürtel unter den Schultern hindurchschlang, um ihn an einem Karabinerhaken aufzuhängen. Die erstickten Schreie, die Angst in den Augen des Jungen, das Zappeln, das Röcheln nach Luft. Als Martin das Messer an den Bauch seines Opfers setzte, kam es ihm. Die Vorstellung konnte sich mit der Intensität des realen Aktes nicht messen, im tiefsten Inneren blieb er kalt. Aber dass der reale Vater seines imaginierten Opfers zwei Schritte entfernt lag und quasi der Schlachtung seines Sohnes beiwohnte, das gab der Sache doch einen besonderen Reiz. Ein gewisses Machtgefühl. Befriedigt schlief Martin ein.
Irene Werneck schlief immer schlechter, je näher das Ende des Prozesses kam. In der Nacht vor der Urteilsverkündung fand sie überhaupt keinen Schlaf. Um vier Uhr früh beendete sie das sinnlose Herumwälzen und stand auf. Dabei hätte sie eigentlich gut schlafen müssen, sie hatte «nach bestem Wissen und Gewissen» ausgesagt. Woher kam dann dieses diffuse Schuldgefühl, das in der Wehrlosigkeit des Halbschlafs immer wieder in ihr hochkroch? Und die Scham?
Während der Abwesenheit ihres Stiefsohns hatte sie das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Das hatte die Polizei zwar auch getan, aber vielleicht hatten sie etwas übersehen. Wie unter Zwang suchte sie wieder und wieder nach Hinweisen, um zu widerlegen oder zu bestätigen, was Martin über seinen Vater ausgesagt hatte. Was er vor Gericht behauptet hatte, in der öffentlichen Verhandlung. Konnte es sein, dass ihr eigener Mann Martin jahrelang missbraucht und misshandelt hatte? Konnte es sein, dass Jonas später in die Fußstapfen seines Vaters getreten und noch weiter gegangen war? Ein Vierzehnjähriger? Konnte es sein, dass sie von alldem nichts mitbekommen hatte? Unmöglich. Irene fand keine Hinweise. Nichts, was ihr wenigstens im Nachhinein ein Licht hätte aufgehen lassen. Alles nur Schutzbehauptungen von Martin. Wenigstens standen Freunde und Kollegen, auch die von Joachim, auf ihrer Seite. Da ohnehin alles öffentlich breitgetreten wurde, verteidigte Irene ihren Mann und Jonas schließlich ebenfalls öffentlich, in einem Zeitungsinterview.
Martin schlug zurück. Nach ihrem Interview behauptete er in der Verhandlung (und alle Welt konnte es am nächsten Tag wortwörtlich in der Zeitung lesen): «Sie hat es gewusst. Ich habe genug Andeutungen gemacht, und ich hätte ihr alles genau erzählt, wenn sie nachgefragt hätte. Wenn sie nur ein einziges Mal direkt gefragt hätte. Aber nein, sie hat es vorgezogen, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich habe mich verraten und verkauft gefühlt. Dabei kann ich sie sogar irgendwie verstehen. Sie hätte sich dann wahrscheinlich scheiden lassen müssen, und das hätte ihr ganzes schönes, geordnetes, verlogenes Leben über den Haufen geworfen.»
Das war zu viel. Irene wusste nicht, was sie diesen schamlosen Lügen entgegensetzen sollte, außer zu sagen, zu schreien, dass es Lügen waren. Sie spürte, wie wenig überzeugend das klang, spürte ihre Ohnmacht und ging einfach nicht mehr zu den Verhandlungsterminen. In der Öffentlichkeit schwieg sie jetzt wieder und überließ es dem Gericht, die Wahrheit – ihre Wahrheit – herauszufinden und zu verkünden. Sie bekam die Quittung: Die Stimmung kippte. Zuerst registrierte Irene nur kleine Veränderungen im Verhalten der Menschen um sie herum. Einige Freunde – viele hatte sie sowieso nie gehabt – riefen nicht mehr an. Irene weigerte sich zu glauben, dass Menschen, die sie selbst viel besser kannten als ihren Stiefsohn, plötzlich Martins Lügen für wahr hielten. Daher nahm Irene an, dass man sie als zu anstrengend empfand, weil ihr das Lachen vergangen war, seit ihre Gedanken immerzu um die Tat kreisten. Oder man wollte sie in Ruhe trauern lassen, sie hatte sich ja selbst sehr zurückgezogen. Irene musste sich in solche Erklärungen flüchten, wenn sie nicht in Bitterkeit versinken wollte.
Beim Nachbarehepaar war es eindeutig Ablehnung. Die beiden grüßten zwar noch, schienen aber immer in Eile, sobald sie Irene entdeckten. Zeit für ein Schwätzchen über den Gartenzaun hinweg, so wie früher, hatten sie nicht mehr. Der Verkäufer beim Bäcker war eine Spur reservierter, wenn sie ihre Frühstücksbrötchen holte, und er fragte nicht mehr, wie es ihr gehe. Die Postbotin, die ihr anfangs die dicken Briefbündel an die Haustür gebracht hatte, um ihr dabei Mut zuzusprechen, dieselbe mitfühlende Frau stopfte jetzt die Post, wenn es zu viel war, lieber gewaltsam in den Briefkasten und klingelte nur noch, wenn eine Lieferung Irenes Empfangsbestätigung erforderte. Selbst ihre andere Nachbarin, eine pensionierte Studienrätin, die früher oft und gern das Gespräch mit Irene gesucht hatte, hielt sich nun auffallend zurück. Und das, obwohl sie als Zeugin gegen Martin – und damit zu Irenes Gunsten – aufgetreten war. Von fremden Menschen bekam sie Briefe, Anrufe und E-Mails, in denen sie beschimpft wurde. «Rabenmutter» war noch die harmloseste Bezeichnung. Manche klangen krank, bedrohlich. Andere maßten sich eine Ferndiagnose ihres Geisteszustandes an. Einige wenige ergriffen Partei für sie und erteilten ihr ungebeten Ratschläge. Irene beantwortete nichts; das meiste war ohnehin anonym. Sie machte es sich zur Gewohnheit, bei Anrufen den AB laufen zu lassen, um festzustellen, wer dran war, bevor sie entschied, ob sie den Hörer abnehmen wollte oder nicht.
All diese Belästigungen hatten begonnen, nachdem einige Zeitungen Irenes Bild mit ihrem vollen Namen – nicht mehr nur Irene W. – veröffentlicht hatten. Von da an erkannten sie manchmal auch Fremde auf der Straße. Bei einer Bestellung im Laden oder beim Bezahlen mit der Kreditkarte reagierte hin und wieder jemand auf ihren Namen: Das verbindliche Lächeln gefror, das muntere Plaudern verstummte. Nicht dass man sie in solchen Fällen beschimpft hätte – von Angesicht zu Angesicht wagte das niemand. Man sprach sie auch nicht auf den Grund ihrer unfreiwilligen Bekanntheit an. Irene kam sich vor wie jemand mit einer auffälligen Behinderung, mit verkrüppelten Gliedmaßen oder einer roten Wucherung im Gesicht: Die Leute waren neugierig, wussten aber nicht recht, wie sie sich verhalten sollten, folglich starrten sie nur heimlich hin und wandten sich schnell ab, sobald man sie ertappte. Sie taten so, als hätten sie einen nicht bemerkt.
An halbwegs guten Tagen nahm Irene an, dass sie es aus Unsicherheit taten. Oder dass sie selbst nur übertrieben empfindlich war. An schlechteren Tagen, also meistens, vermutete sie, dass die Leute sie verabscheuten, weil ihre Abwesenheit im Gerichtssaal wie eine Bestätigung von Martins Behauptungen aussehen musste. Wie ein Schuldbekenntnis. Die fanatische Mutter, die ihren missratenen leiblichen Sohn über dessen Tod hinaus schützt und dafür den Stiefsohn opfert. Und die vor den Verbrechen ihres Mannes die Augen verschließt. Sie hatte zu verantworten, was aus ihren Söhnen geworden war: Jonas, ein psychisch kranker Kinderschänder, und Martin, ein impulsiver Totschläger. Unmerklich hatte sie sich in den Augen der Menschen vom Opfer in eine Täterin verwandelt. Hatten sie nicht recht, die Leute?
Nein, entschied sie wieder und wieder, Martin log. Er war schon immer ein notorischer Heimlichtuer gewesen, und wenn er überhaupt den Mund aufmachte, kamen Lügen heraus. Andererseits hatte sie drei Jahre nach Joachims Tod die meisten seiner Papiere weggeworfen, Kartons voller Ordner und loser Blätter, Werbeprospekte, Geschäftsunterlagen, die sie kaum oder gar nicht durchgesehen hatte. Was für die Steuerbehörden aufbewahrt werden musste, lag ohnehin bei den Leuten, für die Joachim gearbeitet hatte. Nur persönliche Dokumente und private Dinge hatte sie aufgehoben. An Joachims Stelle, dachte sie, hätte ich brisantes Zeug zwischen dem ganzen alten Firmenkram versteckt. Dann wäre es längst unentdeckt entsorgt und zu Klopapier verarbeitet worden. Das gab es doch, dass Ehefrauen nichts vom Doppelleben ihres Mannes bemerkten. Und im nächsten Moment schämte sie sich für diesen Gedanken, als ob sie Verrat an ihrem Mann begangen hätte. Die Zweifel brachten sie noch um.
Ein paar Wochen nach Jonas’ Tod, als sie noch empfindlich war wie ein Stück rohes Fleisch, als sie fast verrückt wurde in den Nächten, allein im Haus, stürzte sich Irene in die Arbeit, nur um nicht unentwegt zu weinen, zu grübeln und wieder zu weinen. Eine Zeitlang tat es ihr sogar gut, sich auf das Tagesgeschäft ihres Architekturbüros zu konzentrieren. Doch je näher der Verhandlungstermin rückte, desto unruhiger wurde sie auch am Schreibtisch. Sie machte Fehler bei den Statik-Berechnungen, vergaß Termine, verwechselte Auftraggeber oder fuhr bei Verabredungen zum falschen Treffpunkt. Und sie sah schlecht aus.
«Du bist momentan nicht gerade ein Aushängeschild für die Firma», sagte schließlich Sybille, ihre liebste Kollegin und beste Freundin, in ihrer rauen, aber durchaus herzlich gemeinten Art. «Bleib zu Hause und ruh dich aus, bis der Prozess gelaufen ist. Keine Widerrede», fügte sie streng hinzu, als Irene etwas einwenden wollte. «Wenn du dich erholst, ist allen Beteiligten mehr geholfen. Für eine Weile kommen wir auch ohne dich klar.»
Also blieb Irene zu Hause, verlängerte die Tage mit quälendem Grübeln und verkürzte sie mit fruchtlosem Stöbern in staubigen Winkeln. Von Erholung konnte keine Rede sein. Am Tag der Urteilsverkündung ließ sie den ganzen Vormittag über den Fernseher laufen, den Nachrichtensender. Da der Fall in den Medien für Wirbel gesorgt hatte, würde man sicher vom Prozessausgang berichten. Sie überlegte flüchtig, ob sie nicht besser persönlich im Gerichtssaal erscheinen sollte, aber schon der Gedanke daran, Martin zu sehen, war ihr unerträglich. Und sie hatte nicht die Kraft, sich den Blicken der Menschen und den Fragen der Journalisten auszusetzen. Sie war kein rohes Stück Fleisch mehr, aber immer noch dünnhäutig.
Am entscheidenden Tag meines Lebens schwänzte ich die Schule. In die Verhandlung durfte ich nicht hinein, ich war noch nicht volljährig. Ich wollte aber auch nicht zu Hause bleiben und mit meiner Mutter vor dem Fernseher sitzen, ich wollte Fragen vermeiden. Nicht nach dem Grund für mein Schuleschwänzen, da fiel mir immer etwas ein, und Mama war viel zu bequem, um nachzuhaken. Oder sie hatte längst resigniert, weil ihr klar war, dass ich meistens log, keine Ahnung, ist mir auch egal. Jedenfalls wollte ich an diesem Tag gar nicht erst gefragt werden. Die ganze Nacht hatte ich damit verbracht, mein Zimmer gründlich aufzuräumen. Ich wollte nicht frühstücken, weil ich vor lauter Zittern die Teetasse nicht richtig hätte halten können. Ausgerechnet an diesem Tag stand meine Mutter auch mal früh auf, wir trafen uns im Bad. Aber die Frage, warum ich so ruhelos und aufgeregt war, stellte sie mir zum Glück nicht. Ich hätte sie selbst nicht beantworten können. Die erste kindliche Verliebtheit lag ja schon Jahre zurück. Es war ein anderes, unklares, aber sehr intensives Gefühl. Etwas wie Sehnsucht.
Wie üblich brachte ich Benny morgens in den Kindergarten. In der Nähe gab es ein kleines Café, wo ich nach der Schule öfter eine Cola trank, ein Sandwich aß und Hausaufgaben machte, weil ich dort von Mamas ewig plärrendem Fernseher verschont blieb. Bis fünf Uhr nachmittags, dann holte ich meinen Bruder wieder ab. Im Café hatten sie zwar auch immer einen Fernseher laufen, aber meistens stumm. Nur wenn einen Gast etwas interessierte, machte die Bedienung den Ton an. Und heute interessierte mich etwas. Am frühen Nachmittag kam es: fast ein Freispruch für Martin Werneck. Verurteilt nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge, die Tat, die er gestanden hatte, eine Tat im Affekt. Dass es Mord war, wie seine Stiefmutter behauptet hatte, dafür gab es keine Beweise, sagte der Richter. Ich hatte es gewusst! Martin war kein eiskalter Killer. Er wurde zwar trotzdem verurteilt, aber wegen mildernder Umstände nur zu einem halben Jahr Gefängnis, und das war mit der Untersuchungshaft abgegolten. Martin war frei! Ich hätte es beinahe laut hinausgeschrien vor Freude. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, Herr Schneider, hätte er vermutlich lebenslang gekriegt, und das wäre besser gewesen. Auch für mich. Heute wünschte ich, Sie hätten damals mehr Erfolg gehabt.
Man zeigte Martin, wie er aus der Tür des Gerichtssaals zu den wartenden Presseleuten ging. Sein Gesicht in Großaufnahme: Komischerweise wirkte er nicht, wie es mir wohl an seiner Stelle gegangen wäre, grenzenlos erleichtert, sondern völlig gelassen. Selbstsicher. Überlegen. Ansonsten sah er immer noch so jungenhaft aus wie als Fünfzehnjähriger, nur hatte er mehr Bartschatten. Und dieses freundliche Lächeln, das mir schon früher so gut gefallen hatte. Der ganze Trubel um seine Person schien ihn überhaupt nicht zu stören. Warum auch, wo er doch unschuldig war. Auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen antwortete er: «Erst mal nach Hause gehen, zu meiner Mutter. Ich weiß, dass es nicht leicht werden wird. Aber ich habe sonst niemanden.» Dabei blickte er direkt in die Kamera.
Keine Ahnung, warum mir genau da Tränen in die Augen schossen. Ich rannte sofort los. In der Tür fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, wohin. Ich bat die Bedienung um ein Telefonbuch. Es gab nur eine Irene Werneck in Berlin.
Irene beobachtete die Heimkehr ihres Stiefsohns durch das Schlafzimmerfenster im ersten Stock. Die üppige Ravenea-Palme diente ihr als Sichtschutz.
In der sonst so stillen Seitenstraße herrschte lärmende Betriebsamkeit. Immer mehr Journalisten fuhren vor, packten ihre Kameras aus und blockierten den Weg für unbeteiligte oder nur scheinbar zufällig vorbeikommende Passanten. Ihre Stimmen drangen durch die geschlossenen Fenster, sie konnte die Worte nicht verstehen, aber das Gelächter zwischendurch kam ihr höhnisch vor. Wahrscheinlich stellten sie Mutmaßungen an, wie Martin es ihr heimzahlen würde. Das Telefon hatte sie gleich nach der Urteilsverkündung vorsorglich ausgesteckt.
Ein Volvo fuhr vor. Irene erkannte den Fahrer: der Reporter, der Martins Geschichte exklusiv in seinem Wochenblatt veröffentlicht hatte, zusammen mit ihrem spektakulären Interview, in dem sie ihren Stiefsohn des Doppelmords beschuldigte. Er hatte Martin offenbar vom Gericht abgeholt, trug seine Tasche und legte ihm dabei freundschaftlich ermutigend die Hand auf seinen Rücken, als wolle er ihn stützen. Auch die Gesichter der meisten Umstehenden ließen Anteilnahme erkennen. Für Martin.
Dieser Reporter – das konnte sie sogar aus der Entfernung erkennen – suchte sie hinter den Fensterscheiben, und sein Blick blieb an der Palme hängen. Irene fuhr zurück, obwohl es im Zimmer dunkler war als draußen, er konnte sie also kaum gesehen haben. Sie versteckte sich und fand sich lächerlich dabei. Also trat sie wieder näher, um Martin zu beobachten. Lächelnd schüttelte er Hände, wie ein heimkehrender Fußballstar nach dem Auswärtssieg. Fehlte nur noch, dass er Autogramme gegeben hätte. Zum Haus blickte er nicht ein einziges Mal. Ob Irene da war, ob sie ihn erwartete, schien ihm gleichgültig zu sein. Er öffnete das Gartentor, ging, gefolgt von Neugierigen und Presseleuten, zur Haustür und verschwand aus ihrem Blickfeld. Gleich würde er das Haus betreten. Ihr graute davor, aber sie konnte ihn nicht daran hindern. Es war auch sein Haus. Sie hoffte nur, dass er nicht all die Leute mit hereinließ.
Irene lief rasch die Treppe hinunter und in die Küche, gerade noch rechtzeitig, bevor sie die Haustür aufgehen hörte. Sie ließ die schweren Außenjalousien herunter. Seit Monaten schon lebte sie in all den anderen ebenerdigen Räumen hinter geschlossenen Jalousien und Vorhängen, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Dann schaltete sie das Licht an und füllte die Kaffeemaschine. Sich festhalten an alltäglichen Handgriffen, als sei alles beim Alten. Dabei horchte sie hinaus in den Flur. Die Haustür wurde wieder geschlossen, die Stimmen blieben draußen. Sie hörte nur Martin mit jemandem flüstern, vermutlich mit besagtem Reporter. Noch einmal wurde die Tür kurz geöffnet, um gleich wieder geschlossen zu werden. Anscheinend war der Reporter gegangen, denn jetzt waren Schritte von nur einer Person zu hören, vertraute Schritte. Zielstrebig und auf leisen Turnschuhsohlen kamen sie den Flur entlang zur Küche. Stopp. Stille. Irene sah auf, während sie den Deckel der Kaffeemaschine schloss, und begegnete Martins Blick.
Er lehnte lässig im Türrahmen und lächelte sie an. Das vertraute Lächeln. Es blieb in den Mundwinkeln stecken, wanderte nicht zu den Augen, und die Augen blinzelten nicht. Sie erwiderte seinen Blick, nur dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, ein Lächeln zustande zu bringen; ihre Miene blieb reglos. Sie wollte nicht, dass er Furcht und Unsicherheit in ihrem Gesicht las, schon gar nicht Schuldgefühle und Scham. Sie gönnte es ihm nicht.
«Hallo. Willst du Kaffee? Ich mache gerade welchen.» Sie hatte es sachlich sagen wollen und ärgerte sich, dass ihre Stimme verräterisch belegt klang.
«Gern. Hab monatelang nur diese Instantbrühe getrunken.»
Sie füllte schweigend Kaffeepulver und Wasser nach, wobei sie sich bemühte, das leichte Zittern ihrer Hand zu verbergen, und schaltete dann die Maschine ein. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Martin sie aufmerksam beobachtete.
«Du hast Angst», stellte er in dem sachlichen Ton fest, der ihr selbst nicht gelingen wollte.
«Vor dir etwa?», gab sie zurück und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen.
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. «Ich könnte zum Beispiel mit einer Axt auf dich losgehen, weil du mich angeschwärzt hast.»
«Willst du den Richter und all die Leute da draußen Lügen strafen? Du kannst doch niemandem ein Haar krümmen. Nur deinen Bruder erschlagen. Aber der war ja der Teufel höchstpersönlich, der hat’s verdient, nicht wahr?» Diesmal ließ sie ihrem Sarkasmus freien Lauf.
Er verlor nicht die Fassung, nur das Lächeln erlosch. «Ich will in Ruhe in meinem Haus leben, das ist alles.»
«Es ist auch mein Haus», sagte sie ruhig.
«Deswegen wäre es gut, wenn zwischen uns alles ins Reine käme», sagte er mit einem Gleichmut, um den sie ihn beinahe beneidete. «Ich trage dir jedenfalls nichts nach. Wahrscheinlich hast du als seine Mutter so handeln müssen. Vielleicht hätte meine leibliche Mutter das Gleiche für mich getan.»
Sie hat es vorgezogen, sich rechtzeitig umzubringen, dachte Irene, schwieg aber. Sie wich unwillkürlich aus, als er sich nun an ihr vorbeidrängte, eine Tasse aus dem Schrank holte und sich Kaffee einschenkte. Wieder ging er an ihr vorbei, dichter als nötig, beinahe drohend, aber diesmal wich sie nicht zurück. Im Gegenteil, sie blickte ihn herausfordernd an. Seine Hand streichelte flüchtig über ihren Arm. Er musste wissen, dass sie nach allem, was geschehen war, diese Berührung nur als Übergriff empfinden konnte, nicht als besänftigende oder gar zärtliche Geste. Aber sicher war sie sich dessen nicht. Wusste er wirklich immer, was er tat? Sie konnte nicht erkennen, ob Martin ihr absichtlich oder nur unbedacht zu nahe trat.
«Ich gehe dann mal rauf und schlafe eine Runde», sagte er freundlich. «Weck mich zum Essen.» Wie an einem gewöhnlichen Tag, als wäre er gerade aus der Schule gekommen.
Er holte seine Reisetasche, die er im Flur abgestellt hatte. Als er auf dem Weg zu seiner Mansarde noch einmal an der Küche vorbeikam, blieb er kurz stehen und sagte: «Ich bin dir wirklich nicht böse.»
Es klang wie Hohn; beinahe hätte Irene aufgelacht. Vermutlich hätte er sie am liebsten erschlagen. Aber er konnte charmant sein, wenn er etwas erreichen wollte. Irene wusste genau, wie gut er Menschen manipulieren konnte. Und wie wütend er werden konnte, wenn man ihm etwas verweigerte. Andererseits, waren nicht alle verwöhnten Kinder so? Vielleicht war er ja nur das: ein verwöhntes, egoistisches Kind, das die Beherrschung verloren hatte. Kein Mörder. Aber wer hatte ihm dann in der Scheune etwas verweigert? Jonas? Joey? Und was?
Oder hatte er vor Gericht doch die Wahrheit gesagt? All die Misshandlungen durch seinen Vater. Die vernarbten Spuren auf seinem Gesäß, von dem glühend heißen Grillgitter, auf das sein Vater – «mein Mann!», schrie sie innerlich verzweifelt zum tausendsten Mal – den zwölfjährigen Martin gesetzt haben sollte, um ihn für eine Verweigerung zu bestrafen. In ihren Augen passte das einfach nicht zu Joachim, zu dem Mann, mit dem sie verheiratet gewesen war, mit dem sie in einem Bett geschlafen hatte, der mit ihr geschlafen hatte, wenn auch nicht so oft, wie sie gewollt hätte, zugegeben. Aber nie hatte sie auch nur den geringsten Hang zu Gewalt gespürt. Im Gegenteil, nur große Zärtlichkeit.
Oder war es gerade das? Zu wenig Temperament im Bett? Verriet dies, dass Joachims Neigungen anderswo gelegen hatten? Warum hatte er dann aber seinen zweiten Sohn nicht auch misshandelt? Oder hatte er? Und Irene hatte auch das einfach nicht wahrgenommen?
Wieder einmal war sie am selben Punkt angelangt, wusste nicht mehr, was sie denken und wem sie glauben sollte. Gutachterin und Gericht hatten Martin immerhin für glaubwürdig befunden. Sie hatten sogar sein schnelles Geständnis und seine Leidensgeschichte für ihn in die Waagschale geworfen. Konnten sie sich alle so irren? Irene wusste nur, dass ihr Leben ein Scherbenhaufen war, wenn Martin die Wahrheit gesagt hatte. Ach was, die Scherben lagen ja auch so schon zu ihren Füßen. Wenn man niemandem mehr trauen kann, dachte sie, am wenigsten der eigenen Wahrnehmung, dann wurde es Zeit– Zeit, sich um den Alltagskram zu kümmern. Sie trank ihren Kaffee und begann, die Einkaufsliste zusammenzustellen.
Ich stellte mir vor, wie schrecklich es sein musste, mit dieser eiskalten Frau unter einem Dach zu leben. Bei seiner Rückkehr war ich dabei, hielt mich aber abseits im Schatten einer Gartenhecke, weil ich nicht zu den Gaffern oder den Presseleuten gezählt werden wollte.
Er tat mir so furchtbar leid. Wegen seines Schicksals. Sein grausamer Vater, seine kranke, früh gestorbene Mutter, die egoistische Stiefmutter… Ich spürte die ganze Zeit nur eines: überwältigendes Mitleid. Und Bewunderung für seine großartige Haltung. Im Fernsehen hatte ich gesehen, wie er sich beim Richter für das gerechte Urteil bedankte. Dabei hätte er einen kompletten Freispruch verdient, nicht nur mildernde Umstände, davon war ich fest überzeugt. Großartig, wie er auf das Haus zuging, selbstbewusst, freundlich zu allen, und wie er dann ohne Zögern hineinging, wo er doch dadrinnen die Hölle erlebt haben musste.
Später, als sich der ganze Auftrieb verflüchtigt hatte, suchte ich mir einen Platz gegenüber von seinem Haus, wo er mich sehen konnte. Ich traute mich nicht zu läuten, weil ich nicht aufdringlich wirken wollte und… keine Ahnung. Wahrscheinlich brauchte ich irgendein Signal, dass er mich erkannte. Mit der Kraft meiner Gedanken versuchte ich ihn an eines der Fenster zu locken, damit ich mich bemerkbar machen konnte. Ich dachte, mein Gefühl für ihn ist so stark, dass er es auf jeden Fall spüren muss. Gleich würde er ein Fenster öffnen und mir zuwinken.
Eine oder zwei Stunden vergingen, und nichts rührte sich. Unten waren die Jalousien sowieso geschlossen, und oben konnte ich auch niemanden erkennen. Ich fror, die Tage im April waren noch kühl. Der Himmel zog zu, es wurde dämmrig, aber nirgendwo im Haus ging Licht an. Nur bei einem der unteren Fenster drang durch die Ritzen der Jalousie ein wenig Licht. Vermutlich hatte er jetzt lange, unerfreuliche Gespräche mit seiner Stiefmutter. Aber ich hatte Zeit. Und plötzlich fiel mir ein, dass ich heute zum ersten Mal vergessen hatte, Benny vom Kindergarten abzuholen. Der arme Kerl. Über eine Stunde nach Torschluss. Ich radelte zur nächsten Telefonzelle und rief an. Benny war noch da. Die Kindergärtnerin hatte schon versucht, bei uns anzurufen, aber Mama war nicht zu Hause. «Ich habe jemanden getroffen und vergessen, auf die Uhr zu gucken», sagte ich zur Erklärung, als ich ihn aufs Fahrrad setzte, aber Benny war mir sowieso nicht böse. Er war mir nie wirklich böse, für nichts.
Später, als ich ihn ins Bett brachte und dabei ein wenig geistesabwesend war, sah er mich aufmerksam an und fragte: «Bist du verliebt?»
«Was?! Wie kommst du denn darauf?»
«Die Daniela ist in den Markus verliebt, und die guckt auch immer so.» Er schnitt ein Gesicht wie ein Grenzdebiler beim Empfang eines Riesenlollis. Ich musste lachen. Er freute sich über seinen Scherz und übertrieb die Grimasse noch mehr. «Mama! Mama!», krähte er und hüpfte im Bett auf und ab, dass der Lattenrost bedenklich krachte. «Die Tina ist verliebt!» Aber der Fernseher war zu laut, Mama hatte nichts gehört. War Benny auch nicht wichtig.
«Die Daniela guckt sogar so, wenn der Markus gar nicht da ist. Aber der Markus ist schon sechseinhalb und die Daniela erst fünf, die ist ihm zu klein.» Er erzählte weiter Kindergartengeschichten, lebhaft, wie es seine Art ist, und ich war froh, dass ihn das ablenkte von mir und meinem Ausnahmezustand. Ich hätte nicht gewusst, was ich ihm sagen sollte. Verliebt in wen? Und war der auch verliebt in mich? Mir ist erst durch Bennys Frage klar geworden, was mit mir passiert ist. Und er hatte es gleich gemerkt. Schneller als ich selbst. Und dabei war er gerade mal sechs Jahre alt.
So ist Benny, der süße Knubbel. So sensibel. So verständig. Deshalb habe ich es ein paar Monate später nicht fertiggebracht, mich von ihm zu verabschieden. Ich hätte es ihm erklären und zwangsläufig lügen müssen. Und er hätte es gemerkt. Er hat immer alles gemerkt. Fast alles.
Meine Mutter hat natürlich gar nichts gemerkt. Viel zu beschäftigt mit sich selbst. Überfordert wie immer. Weil sie ausnahmsweise mal einen Job hatte, kurzfristig, als Urlaubsvertretung in einer Boutique. Arbeit macht sie ganz schrecklich krank. Alle sagen, dass sie nicht besonders lebenstüchtig ist. Ich finde, sie ist sogar sehr lebenstüchtig. Sie hat sich ihr Leben total bequem eingerichtet. Mein Vater will zwar nichts von mir wissen, aber er zahlt für mich, mehr, als er müsste. Aus purem schlechten Gewissen. Sie waren nur kurz verheiratet, und sie hat heimlich die Pille abgesetzt, als er schon wieder auf dem Absprung war. Sie hat mit seinem Verantwortungsbewusstsein gerechnet. Das hat sie natürlich nicht mir gesagt. Ich habe es zufällig mitbekommen, als sie es einer Freundin erzählte, und sie hat sich keineswegs dafür geschämt. Ein paar Jahre lang hat er sich krummgelegt und auch für meine Mutter Unterhalt bezahlt, und zwar inoffiziell. Sie wollte es so, damit sie vom Staat auch noch Geld bekam. Überprüft hat zum Glück keiner was. Das ging ein paar Jahre so, bis mein Vater erfahren hat, dass sie mit einem neuen Mann zusammenlebte. Da hat er die Zuwendungen um ihren Anteil gekürzt. Und das war noch fair von ihm, er hätte sie auch beim Jugendamt verpfeifen können, und dann hätte der Neue von Gesetzes wegen für sie und mich sorgen müssen.
Mein Zweitpapa war Künstler, ansonsten aber vom gleichen Schlag wie meine Mutter. Er hat nicht gern geteilt, und als ihr Geld knapper wurde, hat er das Interesse an ihr verloren. Pech für ihn, dass seine Bilder gerade anfingen, sich gut zu verkaufen. Mama sorgte noch schnell für Nachwuchs, Maya, und drohte mit einem Hinweis ans Finanzamt, falls er nicht zahlte. Er zahlte, das kam ihn billiger. Das arme Würmchen hatte aber epileptische Anfälle und verunglückte beim Spielen tödlich. Mit fünf Jahren. Fiel in eine gläserne Schranktür, zerschnitt sich im Krampf die Halsschlagader – aus. Ich war damals zehn und in der Schule, ich konnte sie nicht retten. Und meine Mutter, bis die das Telefon gefunden und den Notarzt gerufen hatte…
Der Maler hat sofort nach der Beerdigung aufgehört zu zahlen. Zwei Jahre später kam Benny. Er ist das Ergebnis einer Affäre mit einem verheirateten Mann aus München, der schon zwei Kinder hatte. Und – was für ein glücklicher Zufall! – auch reichlich Geld. Und Skrupel. Weshalb er immer dafür gesorgt hat, dass es meiner Mutter und Benny und mir an nichts fehlte, solange seine Frau nichts von unserer Existenz erfuhr. Das war der Deal. Offiziell gibt es ihn gar nicht, meine Mutter hat im Krankenhaus angegeben: Vater unbekannt. Sie treffen sich gelegentlich, wenn er beruflich in Berlin ist, und so hat Benny wenigstens einen Gelegenheitspapa. Wir haben ihn immer gemocht, Benny und ich, und ich bewundere und bemitleide ihn zugleich für die zärtliche Nachsicht meiner Mutter gegenüber. «Frauen haben ein Recht auf Kinder», hat er einmal zu mir gesagt, «und wenn Männer nicht aufpassen, müssen sie eben dafür geradestehen.» Er passte haargenau in Mamas Beuteschema. Und weil die großzügige Versorgung zusätzlich zur Staatsknete für die arme arbeitslose Alleinerziehende hereinkam, haben wir all die Jahre ziemlich gut gelebt. Zumindest Benny wird es auch später an nichts fehlen, weil er von seinem reichen Vater was erben wird, ob der nun will oder nicht. «Wozu gibt’s heutzutage den genetischen Vaterschaftsnachweis», sagt meine liebe Mutter. Sie bewahrt in ihrer Schmuckschatulle vorsorglich ein paar Haare von ihm auf. Wenn das nicht lebenstüchtig ist…
Und wo stand ich an jenem Tag im Vorfrühling, dem Tag, der mein Leben veränderte? Elfte Klasse und vor der Wahl: schwaches Abitur oder guter Realschulabschluss, mit dem man bei der heutigen Arbeitslosigkeit sowieso nichts mehr anfangen kann. Keine Ahnung, wofür ich mich entscheiden sollte. Ich habe keine ausbaufähige Begabung mitbekommen, weder wissenschaftlich noch künstlerisch. In Fremdsprachen bin ich nur mittelmäßig. Ich bin gut gebaut, sehr zierlich, aber Models mit markanten Schönheitsfehlern liegen wohl auch nicht gerade im Trend. Und in die Fußstapfen meiner Mutter treten, mich von Männern und vom Staat aushalten lassen, da hätte mir vor mir selbst gegraust. Meine paar Freunde gingen mir auch zunehmend auf die Nerven, die Mädchen hatten nur Jungs und Partys im Kopf, und die Jungen wollten entweder nichts oder zu viel von mir.
Ich hatte also keine richtigen Freunde und keine richtige Familie. Nur Benny. Aber der wurde jedes Jahr ein bisschen selbständiger, und spätestens mit der ersten festen Freundin würde er mich nicht mehr brauchen. Hätte mich damals jemand gefragt, wie es mir ginge, hätte ich sagen müssen: nicht schlecht. Aber eben auch nicht richtig gut. Eigentlich, wenn ich zurückdenke, ging es mir überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was es war. Irgendwie hatte ich nie das Gefühl, richtig zu sein. Am richtigen Platz in der richtigen Welt. Ein richtiger Außenseiter war ich aber auch nicht. Mein Leben versteckte sich hinter einem grauen Schleier. Die einzige leuchtende Gestalt in dieser Fadheit war mein Bruder. Er war der Einzige, der nie an mir herumgemäkelt hat. Für ihn war ich immer die Größte. Zugegeben, ein Kind hat noch nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten, aber trotzdem ist es ein gutes Gefühl, zumindest für einen einzigen Menschen etwas Besonderes zu sein. Etwas, das er nie in seinem Leben verlieren möchte. Und es gab tatsächlich Momente, in denen ich selbst glaubte, dass die Zukunft mir noch Großes bringen würde, eine echte, eine bedeutende Aufgabe – ich wusste bloß nicht, welche.
All das ging mir in jener schlaflosen Nacht durch den Kopf, und obwohl es eigentlich eine traurige Bilanz war, deprimierte sie mich nicht. Im Gegenteil, ich war seltsam euphorisch. Ich kann für einen Menschen richtig sein, sagte ich mir, ich bin es doch auch für Benny. (Ich hoffe inständig, dass Benny jemanden an seiner Seite hat, wenn er seinen Irrtum erkennt. Vielleicht seinen Vater. Oder Sie, Herr Schneider. Das ist der einzige Wunsch, den ich noch habe.)
Am nächsten Tag war Samstag, keine Schule und kein Kindergarten. Benny und Mama schliefen am Wochenende immer bis mittags. Ich stand früh auf, schlich hinaus und fuhr mit dem Fahrrad zu Martins Haus.
Wie fast immer in den vergangenen Monaten war Irenes Schlaf störanfällig. Zweimal ließ ein leises Geräusch sie hochschrecken, aber ihre Schlafzimmertür war verriegelt und das Fenster geschlossen. So muss sich ein Urzeitmensch vor der Erfindung des Feuers gefühlt haben, dachte sie, wenn er im Dunkeln allein in einer Höhle lag und Angst vor dem Säbelzahntiger hatte, der draußen herumschlich. Sie machte das Licht an. Vor Morgengrauen stand sie auf.
In den Wochen nach Martins Verhaftung und Jonas’ Beerdigung war sie manchmal aus einem bleiernen Tablettenschlaf hochgefahren, weil sie meinte, Jonas in seinem Zimmer schreien zu hören. Einmal war sie in ihrer Benommenheit sogar ans Ende des Flurs getapert, bis ihr, die Türklinke schon in der Hand, einfiel, dass ihr Kind nicht da war. Nie mehr da sein würde. Zitternd war sie in ihr Bett zurückgekrochen.
Selbst jetzt, bei der bloßen Erinnerung daran, erschauderte sie. Es war nicht gut, den Schrecken immer wieder heraufzubeschwören. Aber wie hätte sie es verhindern sollen, jetzt, wo der Feind so nah war? Wenn sie nur gewusst hätte, was er dachte und fühlte. Man konnte in seinem Gesicht schwer etwas lesen. Vielleicht konnte aber auch nur sie es nicht.
Nach einer kurzen Dusche ging sie hinunter in die Küche und zog die Jalousien hoch. Oben in der Mansarde und auf der Straße vor dem Haus war es noch still, nur ein paar Vögel zwitscherten. Irene betrachtete den kupferfarbenen Sonnenaufgang. Er beruhigte sie. Der Nachbar von gegenüber, auch ein Frühaufsteher, fuhr mit seinem Auto weg, wie häufig am Wochenende, vermutlich um seine Freundin in Magdeburg zu besuchen; er hatte sie einmal bei einer flüchtigen Begegnung vorgestellt, als die junge Frau Irenes prachtvoll blühenden Garten bewunderte.
Alltag. Halte dich am Alltag fest, Irene, redete sie sich gut zu. Heute Vormittag einkaufen und am Nachmittag ins Kino, morgen Bekannte besuchen, bei denen sie zum Essen eingeladen war, und am Montag wieder zur Arbeit. Es hatte während des vergangenen halben Jahres eine Zeit gegeben, da war ihr der Sinn ihrer Arbeit – außer der Notwendigkeit, Geld zu verdienen – abhandengekommen. Die Diskussionen mit irgendwelchen Bauherren, ob die Böden nun mit weißem, grünem oder kariertem Marmor belegt sein sollten, das zähe Ringen mit sturen Baubeauftragten um Neigungswinkel von Dächern oder Fenstergrößen, das Hickhack mit Denkmalschützern wegen optischer Veränderungen und notwendiger Modernisierungen – all die Luxusprobleme anderer Leute ertrug sie nicht mehr.
Sybille, ihre Freundin und Kollegin im gemeinsamen kleinen Architekturbüro, stärkte ihr den Rücken, wo sie nur konnte. Auch Lothar, den sie erst vor einem Jahr eingestellt hatten, kurz nach seinem Studium und ohne große Berufs- und Lebenserfahrung, bewährte sich in der heiklen Phase nach dem Drama. Es hatte sich noch nicht so etwas wie Freundschaft entwickelt, doch sie schätzten einander, und er bewies Loyalität und Geduld, wenn Irene arbeitsunfähig war. Ohne Murren hatten er und vor allem Sybille Irenes Arbeit wochenlang mit erledigt. Inzwischen hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie den ganzen privaten Mist ausblenden konnte, wenn sie sich dazu zwang, sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch sobald die Konzentration nachließ, schwappte alles wieder in ihr Bewusstsein. Und die Begeisterung für ihren Beruf war nicht wirklich wiedergekehrt. Trotzdem freute sie sich jetzt auf Montag, auf den ablenkenden Arbeitsstress und vor allem auf die Kollegen.
Die zwei Tage bis dahin kriegst du schon rum, dachte sie. Also ran an die Kaffeemaschine. Aus dem Augenwinkel sah sie gerade noch die Zeitungsbotin mit ihrem Fahrrad hinter dem Rhododendron am Gartentor halten, dachte flüchtig, dass es eine andere zu sein schien als sonst, beachtete sie aber nicht weiter.
Martin schlief noch tief. Er genoss die erste Nacht in seinem bequemen Bett, in seiner geräumigen Dachwohnung mit eigenem Bad, dem Computer mit Internet-Anschluss und all den vertrauten Dingen um ihn herum. Allerdings war ihm nicht entgangen, dass nicht alles exakt an seinem Platz war. Jemand hatte herumgeschnüffelt. Das war nicht mehr die Unordnung, die die Polizei damals hinterlassen hatte. Das war seine Stiefmutter. Er war in den Keller gegangen, um sich ein paar Flaschen Mineralwasser und Fruchtsaft zu holen, und hatte festgestellt, dass auch hier gründlich umgeräumt worden war. Selbst Kisten mit irgendwelchem Ramsch von seinem Vater standen nun anders gestapelt als früher.
Natürlich hatte er gestern nicht gleich geschlafen. Stattdessen hatte er seine Tür abgeschlossen und war ins Internet gegangen. Er hatte die alten Chatrooms gesucht und feststellen müssen, dass es sie nicht mehr gab. Dafür hatte er einen neuen vielversprechenden Chat gefunden, sich aber noch nicht daran beteiligt. Vorsicht. Dann Abendessen mit Irene, Call-Pizza, das erste Bier seit sechs Monaten und Schweigen. Anfangs hatte er ihr gut gelaunt von seinem netten Zellengenossen, dem erfolglosen Räuber, erzählt, und sie hatte höflich zugehört, aber kaum etwas gesagt. Sie sah ihn nur immerzu an. Provozierte ihn. Belauerte ihn. Studierte ihn. Es ärgerte ihn. Aber er blieb ruhig und freundlich, aß seine Pizza mit Appetit und schwieg am Ende wie Irene. Streit konnte er jetzt nicht brauchen. Er brauchte Frieden. Er half sogar beim Aufräumen der Küche. Nur eine Frage konnte er sich nicht verkneifen: «Warum bist du nicht mehr zur Verhandlung gekommen?»
«Ich konnte deine Lügen nicht mehr ertragen», hätte sie am liebsten geantwortet, aber sie sagte nur: «Ich wollte nicht immer wieder alles aufwühlen.»
«Wirklich?» Ein spöttisches Lächeln flog über sein jungenhaftes Gesicht und gab ihm etwas sympathisch Verschmitztes. Jedenfalls hätten es andere als Irene sicher so empfunden.
«Apropos wühlen», fuhr er scheinbar sachlich fort. «Hast du inzwischen gefunden, was du gesucht hast? Ich meine Beweise, dass mein Vater nicht der Unschuldsengel war, für den du ihn gehalten hast.»
Sie fuhr auf. «Danach muss ich nicht suchen. Es gibt nichts zu finden.»
«Ach nein?» Er lächelte sanft. «Warum hast du dann das ganze Haus auf den Kopf gestellt, von meiner Mansarde bis zum Keller? Auch die Kisten mit Papas Sachen.»
Martin sah die sonst so sichere Frau rot werden. Sie hatte keine Antwort parat.
«Die Polizei war das», fiel ihr dann ein. Aber er wusste, er hatte sie ertappt. Stiller Triumph erfüllte ihn.
Es war dieses Gefühl der Überlegenheit, das er beim Aufwachen am nächsten Morgen nachschmeckte. Gegen zehn Uhr stand er auf, zufrieden mit sich und der Welt. Er stellte die Lamellen der herabgelassenen Jalousie schräg, sodass er auf die Straße schauen konnte. Nichts los. Als er sich wieder abwenden wollte, nahm er auf der anderen Straßenseite eine Bewegung wahr: Ein dunkelhaariges weibliches Wesen in trendigen Klamotten stand dort neben einem Fahrrad im Schatten eines blühenden Forsythienstrauchs, genau gegenüber von Martins Haus. «Gestylt wie für ’ne Castingshow», dachte er belustigt. Das Fahrrad war mit Satteltaschen und einem Kindersitz auf dem Gepäckträger ausgestattet. Eine junge Mutter also. Vermutlich die Freundin von dem Ingenieur gegenüber, er erinnerte sich dunkel, sie einmal mit dickem Bauch gesehen zu haben. Er ging ausgiebig duschen und vergaß die junge Frau wieder.
Ich wartete Stunde um Stunde, bis mein Hunger unerträglich wurde, weil ich vor Aufregung natürlich nicht an Frühstück gedacht hatte. Ich fuhr zu einem Supermarkt in der Nähe, kaufte Bananen, Cola und Schokolade und spurtete zurück, einen einzigen Gedanken im Kopf: Hoffentlich habe ich ihn nicht verpasst. Irgendwann musste er ja aus dem Haus kommen.
Aber nicht Martin kam, sondern seine Stiefmutter. Sie ging zur Garage und fuhr mit dem Auto heraus. Sie stoppte und musterte mich neugierig. Ich wandte mich schnell ab, fummelte an meinem Fahrrad herum, als ob etwas daran kaputt wäre. Mit diesem Weib wollte ich nicht in Berührung kommen. Schließlich fuhr sie weg, und ich sandte ihr meine bösesten Wünsche hinterher. Als sie um die Ecke verschwand, fiel mir ein, dass ich ja positive Gedanken zu Martin schicken wollte. Und genau dieser Impuls, als ich all meine Kraft sammelte und mich – voll auf Sendung sozusagen – wieder seinem Haus zuwandte, genau diese Sekunde muss die entscheidende gewesen sein. Die Minuten bis zu diesem Moment und die darauffolgenden habe ich bis heute ganz genau im Kopf. Wie einen Film. Denn da war ER. Er hatte eines der Fenster unter dem Dach geöffnet und schaute heraus. Genau in meine Richtung. Ich wollte ihm zuwinken, ließ die Hand aber auf halbem Weg in der Luft hängen, weil ich unsicher wurde, und zog nur ein paar Haarsträhnen über meine hässliche Gesichtshälfte. Vermutlich konnte er mich auf diese Entfernung sowieso nicht richtig erkennen, zumal ihn die Sonne blendete. Da schirmte er die Augen mit der Hand ab, eindeutig, um mich besser sehen zu können.
Das war das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Ich rannte über die Straße, so blind, dass ein Autofahrer schimpfend eine Vollbremsung hinlegen musste. Martin war vom Fenster verschwunden. Ich läutete. Nichts. Mich verließ schon wieder der Mut, da hörte ich den Türöffner summen. Als ich das Gartentor aufdrückte und hinter mir schloss, wusste ich, dass in diesem Augenblick ein neues Leben begann. Ein seltsames Hochgefühl erfasste mich, während ich den Weg entlang zur Haustür ging, jetzt ohne Zögern. Keine Ahnung, warum ich meiner Sache so sicher war. Ich meine, Martin hätte mich auch auslachen oder zum Teufel jagen können. Tat er aber nicht. Er öffnete mir die Haustür, lächelte und forderte mich mit einer Handbewegung zum Eintreten auf, als hätte er mich erwartet. Ich nahm an, dass er mich erkannt hatte, dass er sich an unseren Kuss erinnerte. Mein Herz klopfte bis zum Hals, und ich bekam kein Wort heraus.
«Danke für deinen Brief», sagte er.
Das brachte mich total aus der Fassung. Ich hatte ihm tatsächlich einen Brief geschrieben, vor ein paar Wochen, zu Beginn des Prozesses, in dem ich ihm versicherte, dass ich an seine Unschuld glaubte. Aber woher konnte er das wissen?
«Ich habe ihn gar nicht abgeschickt», sagte ich verwirrt.
«Oh.» Jetzt war er verwirrt. Er musterte mich genauer und führte mich in die Küche. «Ich dachte, du wärst eine von den Frauen, die mir Briefe in den Knast geschickt haben.» Er hatte mich also doch nicht erkannt. «Eine in deinem Alter war auch dabei. Wie alt bist du? Achtzehn?»
«Siebzehn. Erinnerst du dich nicht an mich?» Ich strich das Haar aus meinem Gesicht, sodass er die Narben sehen konnte. «Tina Mahlbach. Du hast mich schon mal geküsst. Da war ich allerdings erst dreizehn.»
Ich sah, dass es ihm dämmerte. «Tina. Ja, klar.» Er lachte. «Habe ich dich damals nicht vor zwei bösen Jungs beschützt?»
Ich nickte glücklich.
«Und jetzt bist du gekommen, damit ich dich wieder küsse.» Er sagte es irgendwie sachlich und blickte dabei auch noch aus dem Fenster – er brachte mich so aus dem Konzept, dass ich zu stottern begann.
«Ich – ich wollte dir nur sagen, dass ich dich – dich nicht vergessen habe. Und dass ich an dich glaube. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann… Ich meine, du – du hast mir ja auch geholfen.»
Er schien nicht zuzuhören. Ich verstummte. Das Schweigen kam mir endlos vor.
«Ja… dann geh ich jetzt wieder.»
Er wandte sich um. «Hast du ein Kind?»
Das Muster unserer Beziehung war vorgegeben: Er brachte mich dauernd durcheinander.
«Nein. Wieso?»
«Der Kindersitz auf deinem Fahrrad.»
«Ach so. Für meinen kleinen Bruder.»
«Wie alt?»
«Sechs.»
Er kam zu mir zurück. «Willst du einen heißen Tee? Du musst ja ziemlich durchgefroren sein nach dem stundenlangen Rumstehen draußen. Warst du gestern nicht auch schon da?»
Dieser Satz machte mich noch glücklicher. Er hatte mich also doch wahrgenommen. Ich muss wie eine Bekloppte dreingeschaut haben, so wie gestern an Bennys Bett. Jedenfalls schnippte Martin belustigt mit den Fingern vor meinem Gesicht.
«Hallo. Aufwachen. Reicht Tee dazu, oder brauchst du was Stärkeres?»
Ich musste lachen. «Tee reicht. Bin nur ein bisschen durch den Wind. Weil ich hier etwas mache, was ich noch nie zuvor gemacht habe, einfach so hereinplatzen und…» Ich wusste nicht weiter.
«Und?», fragte er mit einem herausfordernden Grinsen. Dann holte er eine Tasse aus dem Schrank und schenkte mir Tee ein. «Ist schon in Ordnung. Einer muss ja den ersten Schritt tun. Setz dich.»
Ich war erleichtert. Und dann sprudelte es aus mir heraus:
«Ich glaube keine Sekunde, was deine Stiefmutter gesagt hat. Du kannst den anderen Jungen nicht umgebracht haben und dann deinen Bruder, weil der dich dabei erwischt hat. Du bist kein Sadist. Sonst hättest du mich damals nicht beschützt. Die zwei Jungs in der Schule, das waren Sadisten. Und du bist auch nicht schwul, sonst hättest du mich nicht geküsst. Und das andere Mädchen auch nicht. Deine Freundin, meine ich, die für dich ausgesagt hat.»
«Ach die. Ich habe mit ihr geschlafen.»
«Ich weiß. Das macht doch keiner, der auf Jungs steht, oder? Das ergibt doch keinen Sinn.»
Martin nickte. «Meine Rede.»
Er setzte sich neben mich an den Küchentisch, strahlte mich an und streichelte mir sanft mit einem Finger über die Narben auf meiner Wange. In diesem Moment hat es gefunkt. Und zwar auch im wörtlichen Sinn. Sie kennen das ja sicher, Herr Schneider, der Schlag, den man bei Berührungen bekommt, wenn man aus irgendwelchen Gründen elektrostatisch geladen ist. Passiert mir oft. Aber in diesem Moment war das so passend, dass wir beide lachen mussten.
«Du hast meinen Prozess ja anscheinend ziemlich genau verfolgt. Warst du auch unter den Zuschauern?»
«Die haben mich nicht reingelassen. Aber ich hab die Zeitungsberichte gelesen. Ich bin sicher, deine Stiefmutter will die Wahrheit bloß nicht wissen. Wenn sie nur einen Funken Gefühl hat, dann wird sie irgendwann verstehen, dass du ausrasten musstest, bei dem, was dein Bruder in der Scheune getan hat.»
Ich denke, Herr Schneider, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich zutiefst von dem überzeugt war, was ich da gesagt habe. Und Martin war offensichtlich dankbar dafür. Er sah mich mit so viel Zuneigung an. Und dann küsste er mich auch noch ganz zart auf die Lippen.
«Danke», sagte er. Einfach nur «danke» und sah mir dabei in die Augen. Dann leckte er sich über die Lippen und lächelte: «Ja, jetzt erkenne ich den Geschmack wieder.» Am liebsten hätte ich vor Freude und Glück geschrien, aber so etwas Kindisches erlaubte ich mir natürlich nicht. Und dann bat er mich zu gehen, weil seine Mutter jeden Moment zurückkommen könne. «Ich will nicht, dass sie dich blöd anmacht», erklärte er. «Jeder, der mich mag, ist automatisch genauso ihr Feind wie ich selber. Das zwischen uns beiden soll unser Geheimnis bleiben.»
Einverstanden. Ich schrieb ihm meine E-Mail-Adresse auf, er mir seine, dann brachte er mich hinaus. In der Tür nahm er meine Hand und streichelte sie sanft mit dem Daumen, während er mir in die Augen blickte, mit einer solchen Intensität, dass ich mich wie in glühende Lava getaucht fühlte. Natürlich hatte ich gehofft, er würde mich umarmen. Aber so weit waren wir noch nicht. Egal. Ich fuhr beschwingt nach Hause. Der Nebel über meinem Leben hatte sich gelichtet und den Blick auf ein weites, spannendes Land freigegeben.
Am Montag hatte Martin einen Termin beim Berufsberater. Sein Anwalt hatte ihm das nahegelegt und in sein Plädoyer auch den dringenden Wunsch seines Mandanten nach einem Ausbildungsplatz, nach geregelter Normalität einfließen lassen, weil es sich gut machen würde. Richter hören so etwas gern. Mit Vorstrafe und ohne Schulabschluss, dachte Martin gleichgültig, waren seine Möglichkeiten bestimmt nicht berauschend. Die U-Haft hatte ihn dummerweise ein paar Monate vor dem Abitur erwischt. Er überlegte, ob er es nachholen sollte, statt irgendwelche dämlichen Jobs anzunehmen. Allerdings hatte er nicht die geringste Lust, an seine alte Schule zurückzukehren, wofür jeder Verständnis haben musste, sogar seine Stiefmutter. Jonas war an derselben Schule gewesen. Martin würde automatisch zum misstrauisch beäugten Außenseiter werden, selbst wenn er sich untadelig benehmen würde und äußerst freundlich wäre. An jeder anderen Schule würde sicher das Gleiche geschehen. Die Verantwortung dafür trug seine Stiefmutter, sie allein. Selbst wenn ihn viele Schüler und Lehrer genau wie das Gericht für schuldlos halten sollten, würden immer noch genügend andere übrig bleiben, bei denen die blöde Kuh Zweifel gesät hatte. Und es gab die Moralapostel, die grundsätzlich gegen Gewalt und Selbstjustiz waren und die auch kein Kindheitstrauma und keinen Blackout als Motiv für Totschlag gelten ließen. Auf jeden Fall würden ihm irgendwelche Idioten immer das Leben vermiesen. Aber er musste sich dem nicht aussetzen, er konnte das Abitur ja auch in Fernkursen machen. Und dann studieren, vielleicht im Ausland, wo ihn keiner kannte. Geld genug hatte er, die Lebensversicherung, die sein Vater für ihn abgeschlossen hatte, war vor ein paar Monaten auszahlungsfähig geworden. Bis jetzt hatte er davon nur den Feuerwehreinsatz an der Scheune bestreiten müssen, weil er den Brand selbst gelegt hatte. Und die Anwaltskosten würden noch auf ihn zukommen. Trotzdem würde eine Menge übrig bleiben. Wenn er sparsam war, konnte er damit im Ausland zwei, drei Jahre über die Runden kommen. Oder noch länger, wenn er im Haus seines Vaters blieb oder sich irgendwo in Berlin eine billige Wohnung mietete. Wenige Wochen vor seiner Verhaftung hatte er mit Fahrstunden begonnen, jetzt würde er den Führerschein machen und sich ein gebrauchtes Auto leisten. Morgen würde er seine Zukunftsperspektiven mit dem Berater besprechen, wenn es denn sein musste. Heute konnte er sich schon einmal im Internet umsehen, welche Möglichkeiten für ihn in Frage kamen.
Wie zufällig geriet er wieder in den Chatroom, den er gestern gefunden hatte. Sofort spürte er das vertraute erwartungsfrohe Kribbeln im Bauch. Aber er loggte sich nicht ein. Beherrschte sich. Versagte sich das Vergnügen, heroisch, wie er fand. Er schaltete den Computer aus, und augenblicklich überkam ihn die ebenso vertraute Leere. Mehr oder minder gleichgültige Gedankenpartikel drangen an die Oberfläche. Der diffuse Verdacht, dass andere Menschen etwas hatten, was ihm fehlte. Eine bestimmte Empfindung. Oder der Sinn für ein Gefühl. So wie dieses Mädchen vorhin. Wie sie ihn ansah, mit diesen glänzenden Augen, fast ein wenig weggetreten und zugleich erwartungsvoll. Oder so ähnlich. So hatten sein Vater und Irene einander manchmal angesehen und sich dabei umarmt und geküsst. Martin hatte nie verstanden, was dieser Blick bedeutete. Er hatte sich dann jedes Mal ausgeschlossen gefühlt, und das kränkte ihn. Nicht dass er auch hätte umarmt und geküsst werden wollen. Im Gegenteil, diese Art Berührung war ihm immer unbehaglich gewesen. Er hatte mit den Jahren nur gelernt, sie aus Höflichkeit zu erwidern. So wie er sich auch häufig bemühte, mit Worten und Gesten Gefühle auszudrücken, die man von ihm erwartete. Er schaute sie den anderen ab, lernte sie wie eine Fremdsprache. Damit die anderen nicht ständig enttäuscht von ihm waren. Damit sie besser funktionierten oder ihn in Ruhe ließen. Und doch gab es Momente, in denen er sich wünschte, die anderen wären nicht so anders als er. Wie in dem Moment, als Tina ihn auf diese eigenartige Weise ansah.
Eine unklare Sehnsucht überfiel ihn, und wie aus einem Nebel tauchte das Bild von Gunters elfjährigem Sohn in nassen Badeshorts auf. Verführerisch samten glänzte die makellos glatte Knabenhaut. Die Eltern auf dem Foto konnte Martin in seinem Kopf mühelos ausblenden. Und jetzt sah der Junge ihn an, nur ihn, als wäre Martin der einzige Mensch auf der Welt. Als wäre er Gott. Als warte der Junge auf eine Offenbarung. Er forderte Martin heraus.