4,49 €
Die Stille unter dem Eis
Thriller von Friedrich Falkenfels
Ein abgelegenes Dorf. Ein zugefrorener See. Und ein Geheimnis, das nie ans Licht kommen sollte.
Als der Ermittler Erik Brandt in das verschneite Fjellvik reist, um das rätselhafte Verschwinden eines Kollegen zu untersuchen, erwartet ihn mehr als nur ein gewöhnlicher Vermisstenfall. Unter dem endlosen Eis des Nordens ruht eine Wahrheit, die jahrzehntelang von Schweigen und Angst bedeckt wurde.
Die Dorfbewohner weichen aus, die Archive lügen – und je tiefer Erik gräbt, desto deutlicher wird: Hier wurde nicht nur ein Mensch verschluckt, sondern eine ganze Geschichte. Zwischen stillen Hütten, knirschendem Schnee und dem unaufhörlichen Wind entdeckt er Spuren, die zu einer verborgenen Forschungsstation führen – und zu einer Macht, die bereit ist, alles zu zerstören, um die Vergangenheit begraben zu halten.
Doch das Eis beginnt zu brechen. Und was darunter liegt, verlangt Opfer.
Atmosphärisch dicht, psychologisch fesselnd und mit einer eisigen Spannung, die bis zur letzten Seite anhält –
„Die Stille unter dem Eis“ ist ein Thriller über Schuld, Wahrheit und die Frage, wie viel Dunkelheit ein Mensch ertragen kann, bevor er selbst gefriert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1 — Ankunft im Nebel
Kapitel 2 — Der verschwundene Kollege
Kapitel 3 — Unter der gefrorenen Oberfläche
Kapitel 4 — Die Frau am Ofen
Kapitel 5 — Spuren im Pulverschnee
Kapitel 6 — Das verschwiegene Archiv
Kapitel 7 — Echos aus der Tiefe
Kapitel 8 — Der Fremde mit den blauen Augen
Kapitel 9 — Altes Holz, frische Angst
Kapitel 10 — Die Karte hinter der Wand
Kapitel 11 — Erinnerungen im Eis
Kapitel 12 — Die Suche beginnt
Kapitel 13 — Dunkelwasser
Kapitel 14 — Worte, die niemand ausspricht
Kapitel 15 — Der erste Verräter
Kapitel 16 — Alte Rechnungen
Kapitel 17 — Der verlorene Ton
Kapitel 18 — Schnee in der Nacht
Kapitel 19 — Hinter verschlossenen Türen
Kapitel 20 — Die nächteinsame Hütte
Kapitel 21 — Vertraute Feinde
Kapitel 22 — Die kleine Tochter
Kapitel 23 — Sinkender Mond
Kapitel 24 — Die Nacht der Gräber
Kapitel 25 — Bruchstücke der Wahrheit
Kapitel 26 — Zerbrochene Versprechen
Kapitel 27 — Das Gesicht im Eis
Kapitel 28 — Zu nahe am Feuer
Kapitel 29 — Die Akte „Nachtigall“
Kapitel 30 — Durch den Tunnel
Kapitel 31 — Der wahre Schuldige
Kapitel 32 — Blut auf dem Eis
Kapitel 33 — Der Atem der Tiefe
Kapitel 34 — Lügen der Macht
Kapitel 35 — Die Nacht der Entscheidung
Kapitel 36 — Eisbruch
Kapitel 37 — Der Fall fällt
Kapitel 38 — Nachhall
Kapitel 39 — Die Stille bricht
Kapitel 40 — Frühling unter dem Eis
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Der Bus stank nach feuchtem Wollstoff und Motoröl. Er roch nach langen Strecken, nach späten Schichten, nach Männern und Frauen, die das Leben in dicken Schichten trugen wie einen Panzer gegen die Kälte. Kommissar Erik Brandt zog den Kragen seines Mantels höher, obwohl das Fenster beschlagen war und die Scheibenwischer träge über das Glas strichen. Draußen verschmolzen Bäume, Leitpfosten und Schneehaufen zu grauen Zonen; einzig die Bremslichter vereinzelter Fahrzeuge stachen wie Wunden in das eintönige Grau.
Er hatte versucht, den Termin so spät wie möglich zu legen, damit die Dunkelheit den Auftritt verschleiern konnte: sein Anruf, das plötzliche Erscheinen, der Koffer mit zu wenig Hemden. Aber Verbrechen, dachte er bitter, warteten nicht auf den perfekten Zeitpunkt. Lukas war weg, sein Partner aus der Großstadt, der sich, vor ein paar Tagen, auf eigene Faust in dieses nördliche Kleinstädtchen begeben hatte. Ein Vermisstenfall auf dem Land: in den meisten Fällen nur Routine, ein schlecht verschlossener Wagen, ein One-Night-Stand, ein verpasster Zug. In diesem Fall hatte die zuständige Kollegin in der Behörde seine Stimme am Telefon gehabt — die Stimme, die unterdrückte Angst in einem Tonfall verpackt hatte, den Erik in all den Jahren gelernt hatte zu erkennen. Nicht Panik. Etwas anderes. Etwas Leises, das glitt und wieder verschwand.
Der Bus hielt mit einem Ruck in Fjellvik. Der Fahrer öffnete die Tür; kalte Luft strömte herein wie ein Tritt in die Rippen. Nebel lag über dem Ort wie ein Deckel. Häuser standen mit gesenkten Dächern; Dächer, die nach Schnee ächzten. Kein Laut, außer dem Knirschen seiner Stiefel im knirschenden Salz-Sand-Gemisch und einem entfernten Kläffen eines Hundes, der sofort wieder verstummte. Die Uhr in seiner Brust tickte langsamer. Er war es gewöhnt, dass Dörfer am Rande der Welt ihre Geschichten zunächst wie in einer Zange hielten — festbesessen und misstrauisch. Fjellvik hatte etwas zusätzliches: es schien, als hielte der Nebel auch die Zungen gefangen.
Erik stellte seinen Koffer ab, zog die Handschuhe aus, rieb die Finger, obwohl sie gleich wieder taub würden. Er blinzelte; die Luft schmeckte nach Eisen und kaltem Wasser. Vor ihm lag der See: eine matte Fläche, auf der das Eis eine dünne Kruste gebildet hatte, nicht stabil genug für Schlittschuhe, aber rau genug, dass jeder Schritt ein Knirschen verursachte, das sich in der dichten Luft verlor. Am Ufer, halb im Dunst, ragte ein Steg, dessen Bohlen von Moos und Alter gezeichnet waren. Auf dem Geländer war etwas eingeritzt — ein Zeichen, das Erik erst aus der Nähe als ein einfaches, aber ungewohntes Symbol erkannte: ein gekreuzter Kreis, halb von Rost verdeckt.
Er stoppte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, kroch ihm den Nacken hoch. Aus den Fenstern der Häuser starrten Menschen: ältere Männer mit wettergegerbten Gesichtern, die Frauen mit den Schals bis unter das Kinn gebunden — Augen, die ihn untersuchten wie ein Tier, das an den Rand des Rudels geworfen worden war. Keine spontane Freundlichkeit, kein einladendes Winken. Nur diese reservierte Neugier, die in Orten wie diesem oft Freundlichkeit ersetzte.
„ Kommissar Brandt?“
Die Stimme war kratzig, wie Holz auf Holz. Sie kam von einer Frau, die zwischen den geöffneten Türen eines kleinen Kiosks stand, eine Mullwindel um die Hände geschlungen, eine Tasse Kaffee in der anderen. Sie war nicht die Wirtin; das merkte Erik sofort. Ihre Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden, die Augen wiesen auf Jahrzehnte harter Winter hin. „Ich bin Maren“, sagte sie. „Wir haben auf euch gewartet.“
Er nickte knapp. „Sie sind von der Gemeinde?“
Sie schnaubte, ein kurzes, trockenes Lachen. „Alle sind von der Gemeinde. Kom men Sie, wenn Sie im Gasthaus erwähnten, dass Sie den Kollegen kennen, dann werden die Leute so tun, als ob sie ihn nicht kennen. Das ist hier so.“ Sie deutete die Straße entlang, zur einzigen Ansammlung von Häusern, die man mit „Zentrum“ nennen konnte: die Kirche, die Schule, das Rathaus und das Gasthaus mit dem Namen „Zum Polarlicht“. „Dort wird die Wirtin auf Sie warten. Hilda. Sie redet nicht viel, aber sie weiß, was sie weiß.“
Erik spürte, dass das Knistern unter der Oberfläche nichts mit ihm zu tun hatte. Es war alt. Es war ein Dorf, das sich an Dinge erinnerte, die man in Städten vergisst — lange Gesichter, alte Schuld, vergrabene Sagen. Lukas, der Praktiker, der Ermittler, hatte vielleicht zu gierig gegraben. Oder zu naiv.
Am Gasthaus empfing ihn die Wirtin mit einer Mischung aus Schroffheit und einer merkwürdigen, fast mütterlichen Beobachtung. Hilda war kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte, aber ihre Präsenz war breit; ein Gesicht, von Wind und Sonne gefaltet, mit Linien um die Augen, die mehr sagten als jeder Satz. Sie führte ihn in einen Raum, dessen Fenster mit dicken Vorhängen gegen den Wind abgeschottet waren. Ein Ofen gluckste, und der Geruch von frischem Brot mischte sich mit dem Rauch des Holzes.
„ Sie sind also der Kommissar aus der Stadt“, sagte sie trocken. Ihre Stimme konnte Eis schneiden. Sie stellte ihm eine Kanne mit Kaffee hin, den sie nicht anrührte. „Sie haben einen guten Mann geschickt.“
„ Er ist kein Mann von mir“, erwiderte Erik. „Lukas hat—“ Der Satz blieb hängen. Lukas, dachte er, als wäre der Name eine Kerbe im Holz. Lukas, der vor einem Jahr noch Witze über schlechte Polizeiwürste gemacht hatte, der gern zu spät kam und pünktlich ging. Lukas, dessen Lächeln in Vernehmungszimmern mehr Waffen gehabt hatte als jede Aussage. „Er ist vermisst.“
Hilda nickte, kurz, ohne Mitleid. „Er kam hier an und hat Fragen gestellt. Zu viele Fragen, wenn Sie mich fragen. Die Leute reden nicht gern. Vor allem nicht über den See.“ Sie setzte sich, ihre Hände rau und immer etwas unruhig. „Wir hatten schon immer Geschichten. Früher war es der Ofenmann, dann der, der nachts im Nebel verschwand. Kinder. Aber das sind Geschichten. Geschichten, die man abends erzählt. Dann gibt es die Geschichten, die… naja.“ Sie brach ab, als würde ein Teil von ihr verschlossen.
Erik beobachtete sie. „Haben Sie ihn zuletzt gesehen?“
„ Am Abend. Er war an der Bar. Hat mit einem jungen Fischer gesprochen.“ Hilda zog die Stirn kraus und legte die Kaffeetasse auf den Tisch. „Er hat auch mit mir gesprochen. Hat gefragt, ob wir alte Karten hätten. Hat gesagt, er sei auf der Suche nach etwas, das hier nicht mehr begraben bleiben sollte.“
Die Worte trafen wie ein Stein im Wasser. Karten. Begraben bleiben. Seine Finger suchten in den Innentaschen nach dem Notizbuch, das er mitgebracht hatte. Er schrieb: Karten. Fischer. Letzter bekannter Ort: Gasthaus. Letzte bekannte Zeit: Abend. Dann hob er den Blick.
„ Hat er jemanden verärgert?“, fragte er.
Hilda lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. „Hier verärgert jeder jeden, auf die eine oder andere Weise. Manche Dinge palten die Menschen. Geld. Land. Der See hier hat viele von uns ernährt und einige von uns ruiniert. Manche Leute würden lieber nicht über die Vergangenheit sprechen, weil sie wissen, dass sie darin untergehen könnten. Aber erzähl mir: wie weit bist du gekommen, Erik Brandt?“ Sie nannte ihn beim Vornamen — ein Zeichen, dass sie wissen wollte, ob er einer von den harten, unerbittlichen Typen war, oder nur ein Bote.
Er überlegte, wie viel Wahrheit ein Fremder einem Ort schulde. „Weit genug, um nicht die Hände zu zählen, die mir die Wahrheit vorenthielten“, sagte er. Er vermied zu sagen, dass er Jahre in anderen Städten verbracht hatte, dass sein Blick durch viele Verhöre und mehrere Tote geschärft war. In Fjellvik konnte Erfahrung wie Zynismus klingen — und Zynismus wirkte hier wie unverzeihliche Arroganz.
Hilda steckte das Pfeifenrohr in den Mund, ohne anzuzünden. „Da gibt es diesen Ort“, sagte sie leise. „Am südlichen Ufer, wo der See flacher wird. Als Kinder sind wir dort gewesen. Es gibt eine Stelle, wo das Eis anders aussieht. Als würde es atmen.“ Sie sprach langsam, als würde sie ein altes schmerzhaftes Geheimnis abwiegen. „Wenn du nach Antworten suchst, fang nicht zu tief an, Kommissar. Manches, was im Eis liegt, will nicht gefunden werden.“
Erik notierte sich die Richtung. Südliches Ufer. „Wer ist der Fischer, mit dem Lukas gesprochen hat?“
Hilda zögerte diesmal nicht. „Jonas Mikkelsen. 28. Viel unterwegs, wenn er nicht fischt. Spricht wenig, aber seine Augen sprechen. Du findest ihn am Kai, wenn die Netze nicht voll sind. Sag ihm, er soll nicht lügen. Die Leute hier lügen nicht gut.“
Draußen peitschte der Wind die Nebelmasse gegen die Fenster. Eriks Augen folgten der Bewegung des Sees. Etwas sank in ihm, ein altbekanntes Ziehen, das mit jedem Fall kam: die Verantwortung, die Unruhe, die Ahnung, dass man mehr aufdeckte, als einem lieb war. Er dachte an Lukas’ letzten Bericht, an die kryptische Nachricht, die er auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte — etwas davon war unklar, gezogen wie ein Atemzug in der Kälte. Erik hatte den Abhörsatz mehrfach angehört, die Stimme analysiert, nach dem Hauch eines Lächelns, nach dem Zucken eines Lachens. Es gab nichts. Nur das Rauschen der Leitung und ein Wort: „Fjellvik.“
Als er später den Gastraum verließ, um die wenigen Straßen abzugehen, setzte der Nebel neue Masken auf die Dinge. Ein Laternenlicht wurde zu einem diffusen Hof, Bäume verwandelten sich in Silhouetten, und die Geräusche des Dorfes verschwammen zu einem entfernten Summen. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, folgte ihm mit den Augen, hielt Abstand wie ein schüchterner Beobachter. Auf dem Platz stand eine Statue, die ein Gesicht mit zerborstenen Augen zeigte — die Jahreszahl am Sockel verwittert: 1893. Es schien, als wäre jeder Gegenstand hier ein Haltbarkeitsdatum: Dinge, die durch Kälte konserviert worden waren.
Am Ufer, fast schon mechanisch, blieb Erik stehen. Das Eis dort sah anders aus, das hatte Hilda gesagt, und tatsächlich: in einem Band entlang des Ufers wirkte die Oberfläche matter, wie wenn jemand mit der Hand darüber gestrichen hätte. Ein schmaler Riss zog sich wie eine Narbe; darunter, im flackernden Licht der Taschenlampe, blitzte etwas Metallisches auf. Er kniete sich hin, der Schnee schälte sich unter den Fingern. Es war kein großer Fund — nur etwas, halb vergraben von Eis und einer dünnen Schicht Schlamm: ein Stück Metall, schwarz von Korrosion, mit Rändern, die von einer Maschine hätten stammen können. Ein Halbring? Ein Stück eines größeren Gerätes? Erik zog es heraus; das Metall fühlte sich kalt und fremd in seiner Hand an. Es trug Spuren — Spuren, die aussahen, als wäre etwas daran befestigt gewesen, vielleicht Draht, vielleicht ein Griff.
Er hielt es gegen die Lampe. Die Form war unscheinbar, und doch schien sie eine Art Zweck zu verraten. Jemand hatte es absichtlich hier gelassen. Ein Hinweis? Ein Fehler? Seine Finger suchten nach einem Namen, einer Nummer, einer Inschrift. Nichts. Nur das leise Knirschen des Eises und der Atem des Sees, der sich in der Nacht ausdehnte.
Hinter ihm knarrte eine Tür. Eine Gestalt trat hervor, in einen Mantel gehüllt, die Schultern von einer Kapuze geschützt. Jonas Mikkelsen trat auf ihn zu, langsam, als würde ihm jede Bewegung etwas kosten. In seinem Gesicht lag das rauhe Muster vieler Jahre Wind und Sonne, die Augen jedoch schienen jungen Alters zu sein — scharf, hell, wach. Er musterte das Metallstück in Eriks Hand, dann den Kommissar.
„ Sie sollten nicht so viel graben“, sagte Jonas mit einem Akzent, der den langen Nordwind in sich trug. Seine Stimme war ruhig, aber sie trug eine Schärfe, die schneidend war. „Manchmal lohnt das, was du findest, den Preis nicht.“
Erik stand auf, hielt das Fundstück wie einen Beweis zwischen den Fingern. „Vielleicht. Oder vielleicht ist der Preis der, dass wir herausfinden, was mit einem Mann passiert ist, der hierherkam und nicht mehr ging.“
Jonas schwieg. Für einen Moment sah Erik in seinem Blick keine Feindseligkeit, nur etwas, das zwischen Pflicht und Angst pendelte. „Komm morgen früh zum Kai“, sagte Jonas schließlich. „Wenn die Netze kommen, dann reden wir. Bis dahin: geh zurück ins Gasthaus. Fragen sind so heiß wie das Brot im Ofen. Lass sie abkühlen.“
Der Nebel schloss sich hinter ihnen wie ein Vorhang. Erik steckte das Metallstück in seine Innentasche; es machte keinen Klang. Er wusste, dass dies ein Anfang war: kein großes, dramatisches Beweismittel, kein offenherziger Hinweis — nur ein Fragment. Doch Fragmente hatten Macht. Sie konnten Türen aufbrechen oder verschließen. Er dachte an Lukas — an den Mann, der zu neugierig gewesen sein könnte — und an die Menschen, deren Gesichter sich bei seinem Namen nicht entspannten.
Als er zurück zum Gasthaus ging, fühlte er zum ersten Mal, wie die Kälte in sein Innerstes kroch. Nicht nur die Kälte draußen. Etwas anderes: eine Kälte, die Fragen festfrieren ließ, eine Kälte, die die Wahrheit unter einer glänzenden, ruhigen Oberfläche konservieren konnte. Fjellvik atmete leise, und die Stille war nicht leer. Sie war vorbereitet.
Am Morgen legte der Nebel eine noch dichtere Decke über Fjellvik. Die Welt schien langsamer zu atmen; selbst der See wirkte, als halte er den Atem an, als wolle er die Dinge, die vor ihm lagen, nicht verraten. Erik Brandt frühstückte mechanisch im Gasthaus, das Brot schmeckte nach Rauch und Salz, der Kaffee war stark genug, um an kalten Tagen Herz und Gedanken zu wärmen. Hilda saß ihm gegenüber, die Finger um eine Tasse gekrallt, als wäre sie bereit, sie jederzeit zu zerdrücken.
„ Er hat hier geschlafen“, sagte sie ohne Vorrede. „Zimmer drei. Er wollte am Morgen aufbrechen, sagte er. Hat hier nur wenig hinterlassen.“ Sie streckte die Hand aus, zog einen Zettel hervor, den sie ihm hinlegte: eine Telefonnummer, der Name eines Ansprechpartners in der Kreisstadt — und eine Notiz in Lukas’ kantiger Handschrift: „Süd Ufer — Karte — wenn nicht zurück, Suche.“ Die Buchstaben waren verwischt, als wäre die Kante des Stifts weggerieben worden.
„ Haben Sie die Polizei hier vor Ort informiert?“ fragte Erik.
Hilda nickte. „Ove war da.“ Sie nannte den Namen des örtlichen Polizisten, eines stämmigen Mannes, der sein Gesicht wie eine Wetterkarte trug. „Er sagt, er hat seine Runden gedreht. Hat Dutzende von Leuten befragt. Aber du weißt ja, wie das ist: die Leute verschließen sich. Sie wollen ihre Ruhe.“
Erik wusste, wie das war — und er wusste auch, wie schnell Routine in Gleichgültigkeit kippen konnte. „Ove?“ Er schrieb den Namen in sein Notizbuch. „Kannst du mich zu ihm bringen?“
Hilda hob die Augenbrauen. „Er wird nicht begeistert sein, dass ein 'Stadtkommissar' sich einmischt. Aber er weiß wenigstens, wo er die Dinge aufbewahrt.“ Sie deutete hinaus: ein kleines, hellblau gestrichenes Häuschen am Ende der Straße, vor dem ein alter VW-Bulli parkte.
Ove erwartete sie bereits. Er war größer als auf den Fotos, älter als sein Blick, mit einem Bart, der dem Weiß des Winters nahekam. Seine Uniform saß lose, als würde sie ihn nicht zwingen wollen, sich zu bewegen. Er reichte Erik die Hand, kurz, fast formal.
„ Haben Sie Hinweise?“, fragte Ove direkt, ohne Umschweife.
„ Ein Koffer. Eine Notiz. Ein Metallstück am Ufer.“ Erik legte die Fundstücke auf den Tisch zwischen ihnen. Ove betrachtete das Metallstück mit einem Ausdruck, der zugleich Neugier und vorsichtigen Respekt verriet.
„ Das ist nicht von uns“, sagte Ove schließlich. „Kein Fischerzeug. Könnte von einer Maschine sein; so etwas haben wir hier nicht oft gesehen. Lukas war neugierig. Sehr. Aber er war auch schlampig. Hat oft seine Recherchen nicht abgesichert.“ Ove wischte eine unsichtbare Krume von seinem Ärmel. „Ich habe sein Zimmer durchsucht. Keine Gewaltsachen. Kein Kampf. Sein Rucksack war noch halb voll. Sein Tagebuch fehlt.“
„ Fehlt?“ Erik spürte, wie seine Finger unbewusst die Innentaschen seines Mantels prüften, als suchten sie nach einem verloren geglaubten Faden. „Wer hatte Zugang zu seinem Zimmer?“
„ Niemand außer Hilda und mir. Wir hatten auch die Lichter in der Nacht an.“ Ove runzelte die Stirn. „Aber das ist ein Dorf. Viele Augen. Die Frage ist eher: wen hat Lukas getroffen? Warum ist er so plötzlich verschwunden?“
Erik sah Ove direkt an. „Hat er Feinde? Hat er jemandem gedroht, Informationen zu veröffentlichen?“
Ove schnaubte. „Feinde? In Fjellvik? Du würdest überrascht sein. Aber das hier… das ist anders. Einige haben Angst, wieder über den See zu sprechen. Andere versuchen, Dinge kleinzureden. Und dann sind da die, die zu viel wissen, aber nichts sagen.“ Seine Stimme verlor sich, als würde er die Worte nicht zu Ende sprechen wollen.
Sie machten sich auf den Weg zu Lukas’ Zimmer. Die Nummer drei war eine schmale Tür, die beim Öffnen ein leises Quietschen von sich gab. Der Raum war einfach: ein Bett, ein kleiner Schreibtisch, ein Stuhl, ein Spind. Auf dem Bett lagen ein zerknittertes Hemd, ein halb angefutterter Schokoriegel und eine Kamera, die wie von einem Profi wirkte. Auf dem Schreibtisch: ein Becher mit getrocknetem Kaffee, ein aufgeschlagenes Notizbuch — doch die Seiten, die er suchte, waren leer. Leerer als erwartet. Es roch nach Feuchtigkeit, Leder und etwas anderem, das sich nicht benennen ließ.
Er zog die Schubladen auf. Unterwäsche. Ein paar Karten mit Markierungen. Ein emsig gefalteter Stadtplan. Unter dem Bett — und hier erstarrte Erik kurz — lag ein fein genähtes Etui. Darin: ein Schlüssel, eine kleine Dose mit Filmstreifen, ein zusammengerollter Zettel. Auf dem Zettel stand: „Wenn mir etwas zustößt — in den Hafen, da, wo das alte Boot liegt. Jonas wissen.“ Die Handschrift war eindeutig Lukas’. Ein Kratzen, hastig, als wäre jeder Buchstabe teuer erkauft worden.
„ Jonas hat Kontakt gehabt“, murmelte Erik. „Er hat ihn gesehen. Warum hat Lukas das nicht laut gesagt? Warum diese Umwege?“
Ove zuckte mit den Schultern. „Manche Dinge notiert er nur für sich. Manche Menschen vertrauen nicht mehr so leicht.“
Bevor Erik weiterfragen konnte, wurde die Tür aufgestoßen. Eine Frau stürmte herein, die Augen rot vom Weinen, aber der Blick hart. „Ich bin Anna Weber“, sagte sie. „Lukas’ Schwester. Ich bin hergekommen, als ich erfahren habe, dass er verschwunden ist. Hat jemand etwas gehört?“
Erik stand auf und nahm ihre Hand. Sie war kalt, ihre Finger zitterten. „Wann haben Sie ihn zuletzt gesprochen?“
Anna verschränkte die Hände vor der Brust, als wolle sie ihre Fassung zusammenhalten. „Letzten Montag. Er klang… abwesend. Hat von einem Ort gesprochen, von dem er glaubte, dass er dort etwas finden könnte. Hat aber nicht gesagt, um was es geht. Ich dachte, er macht wieder eines dieser Streifzüge für seine Geschichten.“ Ihr Lachen war schief. „Er schreibt ja immer. Aber er hat nie davon erzählt, dass er Angst hat.“
„ Haben Sie Zugang zu seinen Passwörtern? Seinem Laptop? Seinem Telefon?“ Erik wusste, dass solche Fragen verletzten, aber sie waren nötig.
Anna nickte. „Er hatte ein Tablet. Es ist in seinem Rucksack. Aber ich… ich wollte nicht an seinen Sachen herumwühlen. Ich dachte, die Polizei würde es tun.“ Ihre Stimme brach. „Bitte finden Sie ihn.“
Erik legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wir tun, was wir können. Aber ich möchte ehrlich sein: in kleinen Orten wie diesem dauern Ermittlungen anders. Menschen schützen sich. Geheimnisse sind wie Vorräte — sie werden rationiert.“ Er ließ die Metapher stehen; er spürte, wie sie Anna ein kleines Stück beruhigte.
Sie verließen das Gasthaus und gingen zum Kai. Jonas war bereits da, nur dass er nun nicht mehr mit dem üblichen Tun beschäftigt war. Er saß auf einem Stapel Netzsäcke, den Blick starr auf das Eis gerichtet. Als er sie bemerkte, stand er auf, ging ein paar Schritte auf sie zu. In seiner Hand hielt er etwas — ein Lumpen, ein Handschuh? Erik konnte es nicht genau sehen.
„ Jonas“, begann Erik, „du hast Lukas zuletzt gesehen?“
Jonas nickte. „Er hat Fragen gestellt. Über das Eis. Über Karten. Er war den ganzen Morgen am See. Hat mich gefragt, ob das Eis hier anders wäre. Ob ich jemals Schatten unter der Oberfläche gesehen hätte.“ Er machte eine kurze Pause, als suchte er nach dem richtigen Wort. „Er hat gesagt, er hört etwas unter dem Eis. Hört jemand anderes das auch, dachte er.“ Seine Stimme war rau.
„ Hört das jemand?“, fragte Erik.
Jonas lachte kurz, ohne Vergnügen. „Kinder hören oft Dinge. Hunde. Alte Männer mit zu viel Zeit. Aber niemand, der erwachsen ist, würde zugeben, nachts Stimmen zu hören.“ Er blickte auf die Netze unter seinen Füßen. „Weißt du, Erik, es gibt Dinge, die man besser nicht zugeben sollte. Du fragst nach Feinden — vielleicht sind die Feinde nicht Personen, sondern Dinge, die man einmal geweckt hat. Lukas hat irgendetwas hochgezogen, das sich nicht wie das Meer verhält. Es ist… anders.“
Erik spürte, wie etwas unter seinen Rippen pochte — nicht nur Neugier, sondern Sorge, persönliches Verantwortungsgefühl, ein Gefühl, das ihn dazu trieb, nicht loszulassen. „Hast du gesehen, in welche Richtung er gegangen ist?“
Jonas deutete. „Er ging Richtung Süden. Entlang des alten Deichs. Dort, wo das Eis dünner wird. Ich dachte erst, er würde alleine aus Neugier stumpfsinnig werden. Aber er kam nicht zurück.“
Erik kniete sich an die Kante des Kais, beugte sich über das Eis und suchte nach Spuren. Der Schnee war ungewohnt ungestört, aber dort, wo der Wind den Belag dünner gemacht hatte, waren Abdrücke — Fußspuren, die von der Dorfstraße zum Ufer führten und dann in die Richtung verschwanden, in der das Eis eine andere Beschaffenheit aufwies. Nicht viele Spuren; eher ein Versuch, etwas zu verbergen. Doch eine Spur wurde deutlicher: die eines Stiefels mit einem speziellen Profil — Lukas’ Profil. Seine Kehle zog sich zusammen.
„ Er war nicht allein.“ Erik stand wieder auf, den Blick hart. „Jemand hat den Weg gekreuzt. Jemand, der sich auskannte.“ Sein Verstand begann, wie ein Motor, die Möglichkeiten durchzugehen: ein Streit, eine Entführung, ein Unfall. Jede Möglichkeit spannte den Druck weiter an.
Jonas sah ihm in die Augen. „Wenn jemand ihn mitnahm, dann nicht weit. Es ist zu kalt, um ihn lebend lastlos in die Wildnis zu werfen. Und wenn er gestürzt ist… würde das Eis es zeigen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will nicht glauben, dass jemand aus dem Dorf… Aber du kennst das ja: wenn man zu tief gräbt, findet man Dinge, die in Ordnung sind, solange man sie nicht berührt.“
Erik dachte an das Metallstück in seiner Manteltasche, an die Worte Hildas, an das gekreuzte Kreiszeichen am Steg. Alle Fäden fügten sich zu einem Geflecht, das dunkler war als die Oberfläche des Wassers. Er wusste, dass er die nächsten Stunden damit verbringen würde, jede Spur zu verfolgen: Gespräche, Vergleiche, das Prüfen von Mobilfunkaufzeichnungen — wenn es Signal gab — und das systematische Abtasten des Ufers.
Bevor sie zurückkehrten, um weitere Zeugen zu befragen, sah Erik noch einmal auf das Eis hinaus. Etwas funkelte in der Ferne, wie ein entferntes Licht. Ein Boot? Nein — zu still. Ein Reflex? Vielleicht. Sein Blick war wie ein Detektor geworden: er suchte nach Unregelmäßigkeiten, nach Schatten, nach der kleinsten Abweichung, die einen Menschen verraten konnte. Er spürte, dass dieser Morgen mehr war als der Beginn einer Suche nach einem Verschwundenen. Es war der Anfang eines Puzzles, dessen Randstücke bereits angelegt waren — und dessen Mitte niemand kannte.
Als sie zum Gasthaus zurückkehrten, um die nächste Spur zu verfolgen, blieb unter Eriks Zuhören ein leises Versprechen: Er würde nicht zulassen, dass Lukas in der Stille verankerte. Nicht ohne Antwort. Und noch ehe er es dachte, wusste er, dass diese Antwort ihn tiefer führen würde als zu einem einfachen Vermisstenfall — tiefer, in ein Geflecht von Absprachen, Ängsten und etwas, das in der Tiefe des Sees schlummerte und nun, offenbar, zu träumen begonnen hatte.
Der Himmel war bleich, als würde ihm das Licht fehlen; es war ein mattes, abgeblasstes Weiß, das selbst die härtesten Konturen weich zeichnete. Fjellvik atmete in kleinen, flachen Zügen — als wäre die ganze Gemeinde damit beschäftigt, Energie zu sparen. Erik schnürte seine Stiefel fester, zog die Mütze tiefer ins Gesicht und tastete mit den Fingerspitzen die Kälte, die wie Schmirgelpapier an der Haut zerrte. Er spürte das Gewicht der Uhr an seinem Handgelenk, die Jahre von Fällen und vergehenden Nächten, die sich wie Narben anfühlten: sichtbar, nicht immer heilsam.
Der Kai war ein Sammelpunkt aus Gestalten, die in dicken Jacken, mit Schals und Kapuzen bis zu den Augen gewickelt waren. Jonas stand da, starr wie ein Denkmal, das Meer hinter sich zu einer silbernen Fläche verfestigt. Neben ihm waren zwei Männer: ein jüngerer Taucher, der in einer Nass-Taucherausrüstung steckte, und Ove, der örtliche Polizist, der sich mit einem Paar Arbeitshandschuhe die Hände wärmte. Hilda war auch da, mit verschränkten Armen, ihr Gesicht fahl und geschlossen. Anna, Lukas’ Schwester, hielt eine dicke Decke um sich geschlungen, ihr Blick gelegentlich auf den See geheftet wie auf eine Uhr, die jede Minute einen Schlag ausließ.
„ Wir haben eine kleine Crew zusammengebracht“, sagte Jonas, als Erik näherkam. „Sigvard — der Taucher — hat Erfahrung mit den Flüssen nördlich des Fjords. Und Ove hat einen Schlitten organisiert. Wir gehen nach Süden, zu der Stelle, wo das Eis anders aussieht. Wenn er gefallen ist oder das Eis unter ihm nachgegeben hat, dann ist das der Ort.“
Erik nickte. Die Entscheidung hatte er ohnehin schon in sich getroffen; das Warten war für ihn wie Gift. „Wie dick ist das Eis dort?“
Sigvard, ein Mann mit dickem Hals und Augen, die wie aufgerissen wirkten, antwortete: „Zwischen 8 und 12 Zentimeter im Durchschnitt. An manchen Stellen dünner. Ich will nicht lügen: das ist kein empfohlenes Eis für Tauchgänge. Aber wir können mit Leinen arbeiten, wir haben Bojen und alles, was man braucht. Wir bereiten ein Loch. Ich werde zuerst runtergehen. Zwei Minuten. Wenn etwas nicht stimmt, ziehst du mich hoch, Erik. Keine Heldenakte.“ Er grinste, ein kurzes, raues Lächeln, das mehr Mut als Humor barg.
Ove nickte. „Ich binde die Leine an deinen Hüftgurt. Wir markieren die Stelle rundherum. Jonas, du bleibst an Land und passt auf, dass niemand die Stelle stört. Anna, bleib hier. Und Hilda — wenn jemand etwas Falsches sagt, dann gib mir Bescheid.“ Die Anweisungen fielen knapp aus, wie ein Mantel, der nicht zu viel Wärme trug, aber wenigstens einen Schutz bot.
Erik zog die Handschuhe aus, die Finger röchelten in der Kälte, als hätten sie kurzzeitig kein Blut mehr. Er nahm die Leine, prüfte die Knoten, setzte das Funkgerät an die Jacke. Seine Einbildung malte Bilder: Lukas unter dem Eis, die Kälte, die Hände, die versuchen, sich an etwas festzuhalten. Er dachte an all die Fälle, in denen Menschen zu schnell gingen, zu sehr vertrauten und nicht mehr zurückkehrten. Er dachte an die Nachricht im Notizbuch: „wenn nicht zurück, Suche.“ Die Verzweiflung in dieser Anweisung war greifbar wie Salz.
Sigvard kroch in den Anzug, das Material knisterte wie trockenes Laub. Der Kälteschleier legte sich über die Szene, und als sie die Säge ansetzten, vibrierte der Moment. Der erste Schnitt in das Eis war stumpf und final zugleich. Geräusche konzentrierten sich in das Metall und gaben das Gefühl, als ritze jemand in das Herz des Sees. Funken sprangen nicht — nur weiße Flocken, die wie Konfetti in die Luft stoben. Das Loch wuchs, wurde erst rund, dann rau, und schließlich eine dunkle Pupille, in der sich das matte Licht des Tages spiegelte.
Sigvard beugte sich über die Öffnung, prüfte mit dem Gerät, nickte. Dann senkte er sich. Die Leine schlang sich in seine Hände wie ein Lebensfaden. Für einen Moment war er verschwunden; nur die Leine bewegte sich, ein Seil von Zeit und Hoffnung. Der Wirt stand neben Erik, als würde er ebenfalls eine Leine halten, die ihn verankerte. Niemand sagte ein Wort. Das Geräusch des Windes allein war in diesen Sekunden zu laut.
Unter der Oberfläche war die Welt anders. Luft blähte sich in kleinen Kristallen, das Wasser trug ein eigenartiges Leuchten. Sigvards Körper war eine dunkle Silhouette, die durch die trübe Kälte schnitt. Sein Helm reflektierte das spärliche Licht, während sein Atem kleine Blasen formte, die in einer merkwürdig formelhaften Ruhe nach oben stiegen. Erik lehnte sich nach vorne, das Funkgerät ans Ohr gepresst, wartete. Sekunden dehnten sich. Minuten waren Bleistücke.
„ Zwei Meter“, kam Sigvards Stimme gedämpft. „Ich sehe eine Kante. Etwas Metallisches. Es sieht aus wie ein... Rahmenteil. Halte die Leine leicht. Ich nähere mich.“ Die Stimme war ruhig, aber Erik konnte das Zittern darin hören.
Das Funkgerät knackte, und unter Wasser wurde alles langsamer, als würde die Welt dort ein anderes Gesetz kennen: ein Gesetz aus Dunkelheit und Geduld. Sigvard tastete weiter, führte die Taschenlampe nach vorn. Lichtfächer schoben sich durch das Wasser, enthüllten eine Struktur, die eben nicht natürlich war: gerade Kanten, fast maschinell glatt, stellenweise mit Rostblüten überzogen. Es war ein Fragment, groß genug, um Fragen aufzuwerfen. Ein Rahmen, ein Schacht, der aus dem Boden ragte wie das Skelett eines Schiffes, oder vielleicht die Außenhaut eines Behälters.
„ Ich habe etwas, das aussieht wie ein Deckel“, flüsterte Sigvard. „Es ist aufgeschweißt oder angefroren. Ich kann Spuren von Schnitten sehen. Es gibt Kabel. Viele Kabel, die in die Tiefe führen.“ Seine Stimme wehte wie eine dünne Fahne durch das Funkgerät.
Die Leine zog sich, als wollte sie einem unsichtbaren Widerstand folgend. Erik fühlte, wie der Knoten an seinem Zeigefinger reibte. Er dachte an Lukas, an das Metallstück, das er am Abend zuvor gefunden hatte, an das gekreuzte Kreiszeichen am Steg. Alles setzte sich zusammen wie Puzzleteile, die sich langsam zusammenschoben und ein Bild ergaben, das nicht beruhigte.
„ Deckel öffnen?“, fragte Erik, obwohl er wusste, dass er damit die Hebel betrat, die Dinge in Bewegung setzen würden. „Kannst du es öffnen?“
„ Ich…“, begann Sigvard, und im Funkgerät war ein kurzes Kratzen, als würde etwas in seinem Helm schlagen. „Es ist fest. Ich kann zwar den Rand freilegen, aber das Öffnen könnte...“ Seine Stimme verlor sich. Ein Klick, dann: „Es ist schwer. Ich brauche mehr Hebel. Und Zeit.“
„ Wir geben dir Zeit“, sagte Erik. „Du trägst die Leine. Wir sorgen dafür, dass niemand stört. Sag, wenn du etwas findest, das lebendig aussieht.“
Sigvard schwang sich gegen einen Widerstand, die Gelenke knirschten, und unter den Stimmen am Ufer entstand ein flüsterndes Geräusch — das Murmeln von Gebeten, Befehlen, Versprechen. Minuten später, die Kälte kratzte an ihnen allen, kam die Stimme: „Hier ist etwas. Ein Behälter. Ein rundes Etwas. Es ist teilweise offen.“ Dann, abrupt: „Verdammt — was ist das?“ Ein kurzer Fluch, ein Ruck in der Leine, dann Stille.
Ein aus dem Fundament gerissenes Geräusch wie das Klirren von Glas in der Luft. Sigvard wurde hektisch, die Leine spannte sich wie eine Harfe. „Ich glaube, da ist ein Körper. Ich kann etwas sehen. Ein Arm, vielleicht. Kleidung. Ein Rucksack.“ Sein Ton war mechanisch, wie jemand, der versucht, das Menschliche aus der Bewegung zu halten. „Ich mache eine Sicherung. Einen Griff. Haltet die Leine fest. Wir ziehen.“
Der See wurde auf dem Kai zu einem Hauch von Erwartung. Ove stemmte sich gegen das Seil, Jonas kniff die Hände um eine Boje, die Zähne zusammengebissen. Anna hielt die Decke fester, als müsse sie einen inneren Ausbruch damit zähmen. Erik befahl, ohne laut zu werden: „Hebt ihn langsam. Kein Ruck. Wenn es ein Leichnam ist, behandeln wir ihn respektvoll. Wenn er lebt, dann geben wir ihm Luft.“ Die Worte waren nüchtern, aber in seinem Inneren stürmten Erinnerungen an viele Körper, die er auf diese Art an Land gezerrt hatte. Der Geruch des Eises und des Todes mischte sich zu einem Ton, der wie ein Fremdkörper in seinem Magen vibrierte.
Die Leine bewegte sich, erst langsam, dann schneller, als die Masse, die sie hielt, den Widerstand verlor. Ein dunkler Umriss glitt aus dem Loch, die Kälte zog an ihm, als würde sie die Wärme aussaugen. Wasser schoss in feinen Strahlen, funkelte kurz wie kleine Sterne, dann brach die Form durch die Oberfläche. Ein Körper. Ein Mensch, zusammengesunken, die Farbe der Haut bereits von der Kälte getäfelt, Augenlider geschlossen. Die Kleidung war durchnässt, Haare angeklebt, und der Rucksack hing halb geöffnet an der Schulter.
Sie zogen ihn an Land, vorsichtig wie bei einem verletzten Tier. Sigvard keuchte, als die Leine letzten Widerstand verlor. Die Menschen am Kai standen in einer Reihe, die Hände wie stumme Zeugen. Als der Körper auf dem Holz lag, wurde die Stille schwer: ein Tuch, das die Luft dämpfte.
Erik kniete, legte seine Hand auf die Brust des Mannes, spürte das kalte Tuch unter seinen Fingern. Kein Herzschlag. Keine Hoffnung, die ein pochendes Zeichen hinterließ. Er grübelte, dann öffnete er den Mantel. Die Kleidung war einfach, ein Paar robuste Stiefel, Jeans, ein dicker Pullover. An der Tasche des Pullovers steckte etwas, das ihm bekannt vorkam: ein kleines, abgenutztes Notizbuch. Sein Herz machte einen Sprung, und gleichzeitig hielt es an. Er griff nach dem Notizbuch, öffnete es mit einer Routine, die gleichzeitig respektvoll und mechanisch war. Die Handschrift war hektisch, viele Striche, kleine Karten, Namen. Und auf der ersten Seite, in großen Buchstaben: „LUKAS“.
Sein Name. Die Bestätigung schnitt wie ein Messer, und die Enttäuschung kam sofort, eine kalte Flut. Anna, die sich geräuschlos neben ihm niedergelassen hatte, schluchzte leise, die Decke um das Gesicht gedrückt. „Nein“, flüsterte sie. „Nicht so. Er kann nicht—“
Erik hob den Blick. „Wir müssen ihn identifizieren lassen. Wir müssen das Notizbuch sichern. Und wir müssen herausfinden, was ihn hierher geführt hat.“ Seine Stimme war tonlos, die Pflicht gab seiner Trauer Form. „Sigvard, zieh ihn in den Schlitten. Ove, benachrichtige die Behörde. Keine Bilder. Kein Spektakel. Hilda, du kümmerst dich um Anna. Jonas, sag den Leuten, dass sie Abstand halten sollen.“
Die Stunden verwandelten sich in eine Prozedur: der Körper wurde aufgebahrt, die Notizen eingesammelt, die Leine aufgerollt. Ein Notfallfahrzeug aus der Kreisstadt werde kommen, hieß es. Auf dem Weg zum Wagen bemerkte Erik etwas, das ihm zuvor entgangen war: ein kleines Medaillon, fein gearbeitet, das am Hals des Toten hing, halb verdeckt vom nassen Stoff. Er hob es vorsichtig mit Handschuhen an. Auf der Innenseite war eine Gravur — die Buchstaben waren winzig, aber lesbar: „Für L.“ Eine Initiale. Ein Hinweis auf eine Beziehung, ein Motiv, eine Erinnerung.
Später, am Gasthaus, als die Nachricht durch Fjellvik wie ein Tropfen in einen dunklen See hallte, sammelten sich Menschen. Manche weinten, die meisten starrten. Niemand bildete Worte, die aus der Gemeinschaft stachen; sowas war in kleinen Orten nicht üblich. Erik saß mit Hilda in der warmen, aber jetzt irgendwie schlaffen Gaststube. Der Ofen gluckerte, verteilte eine trügerische Wärme. Er dachte an Lukas: an sein Lachen, an seine Tollkühnheit, an die Art, wie er bei Verhören einmal die Stimme senkte, um Verdächtige einzulullen. Er dachte daran, wie das Wort „Vermisst“ sich in den Tagen zuvor in „Verschwunden“ verändert hatte — und wie viel schneller „Tod“ folgen konnte.
Anna kam herein, blass und vom Weinen erschöpft. Sie setzte sich, und für einen Moment war die Welt nur die beiden Schwestern — eine Schwester, die nicht mehr zurückkommen würde, und die andere, die wissen wollte, an welchen Stellen ihr Bruder sein Ende gefunden hatte. Anna zog das Notizbuch an sich, als gehöre es einzig ihr. Erik ließ es ihr. Respekt war ein Band, das er nicht zerschnitt.
„ Was hat er gesucht?“, fragte Anna leise.
Erik atmete aus. „Er hat Karten gesucht. Vielleicht etwas, das mit dem See zu tun hat. Wir haben Unterwasserstrukturen gefunden, Anna. Eine Art Behälter, vielleicht technisches Gerät. Es stand unter dem Eis. Es war nicht natürlich.“
Anna zog die Augen zusammen. Ein Flackern von Verstand in ihrem Blick. „Er hat letztes Jahr über eine alte Fabrik geschrieben, die vor Jahrzehnten hier war. Er hat gesagt, dass die Firma etwas vergraben hat. Dass es Dinge gab, die nie publik gemacht wurden.“ Ihre Stimme war brüchig, aber darauf lag ein roter Atem: Entschlossenheit. „Er hat das oft erwähnt. Ich dachte, es wären nur Anekdoten.“
„ Manchmal sind Anekdoten Fäden“, sagte Erik. „Und manchmal ziehen sie jemanden in ein Netz, das tiefer ist, als man erwartet.“ Er lehnte sich zurück. Gedanken rasten. Wer hatte ein Interesse daran, diese Struktur im See zu verbergen? Gab es Menschen, die davon profitierten — damals oder jetzt? Waren die Kabel, die Sigvard gefunden hatte, Teil eines aktiven Systems? Und am dringlichsten: War Lukas Opfer eines Unfalls, oder hatte ihn jemand zum Schweigen gebracht?
Die Fragen häuften sich wie Schneeflocken vor einem Sturm. Erik wusste, dass Antworten Geduld und genaue Arbeit verlangten. Zuerst würden sie die Identität formal sichern lassen, obgleich das Notizbuch und die Kleidung es kaum bezweifelten. Dann würden sie die Fundstelle weiter untersuchen — mit Spezialisten, besserer Ausrüstung, vielleicht einem Unterwassersensor. Sie würden Mobilfunkdaten prüfen, Kontakte, Bankbewegungen. Und sie würden, sagte eine Stimme in seinem Inneren, aufhören, Dinge als Legenden abzutun.
Draußen schob sich der Nebel wieder dichter, als würde er die Szene abdecken. Fjellvik war still. Drinnen war die Welt laut: das Rattern der Gedanken, das Scheppern von Erinnerungen, das leise, beharrliche Geräusch von Menschen, die trauerten und gleichzeitig Fragen stellten. Erik setzte sich, zog das Foto aus seiner Tasche — ein altes Bild von ihm und Lukas bei einer Verhandlung, auf Lächeln frierend — und betrachtete es, als sei es ein Anker, der ihn an die Pflicht erinnerte: nicht aufzugeben, nicht zu übersehen. Er nahm eine Tasse Kaffee, die wärmer schien als alles andere, und dachte an das, was unter der gefrorenen Oberfläche lag. Es war mehr als ein Körper. Es war ein Zeugnis. Und Zeugnisse forderten Antworten — durch jede Jahreszeit, durch jeden Nebel.
Der Ofen war das Herz des Hauses, ein massiver Korpus aus Gusseisen, schwarz vom Ruß, mit einem kühlen Griff aus Messing, der von unzähligen Händen poliert worden war. Hilda setzte ihre Tasse auf dem kleinen Tischchen ab, streifte die Schürze ab und setzte sich so, dass das Feuer ihr Gesicht warm umspielte. Ihre Züge wirkten weicher im Schein; die Falten, die draußen wie Schutzwälle gegen Wind und Wetter standen, schienen hier eher Kartenlinien ihres Lebens zu sein — Wege, die erklärten, warum sie schweigsam und zugleich so beobachtend war.
Erik hatte sie gebeten, noch einmal mit ihm zu sprechen. Es war spät; die Gäste im Gasthaus hatten sich verzogen, ihre Gespräche waren zu gedämpftem Klirren und gelegentlichem Gelächter geworden — Geräusche, die nicht zu dem passten, was draußen war. Im Haus roch es nach Brot, nach altem Holz und nach einem Hauch von Kiefernharz, der von den Scheiten im Ofen stammte. Hilda zog die Decke um die Schultern, als habe Wärme eine Greifbarkeit, die sich auch auf das Herz legen konnte.
„ Sie sagten, Lukas habe Sie etwas gefragt“, begann Erik, ohne das Tablett mit Notizen sofort auf den Tisch zu legen. Er wollte nicht so klingen wie jemand, der in Schuld sucht, nur wie jemand, der Bruchstücke zusammensetzt.
Hilda nickte. Ihre Hände polierten mechanisch die Tasse. „Er hat nach alten Karten gefragt. Und nach dem Ofen.“ Sie lächelte kurz, ohne Humor. „Nicht unserem Ofen. Dem Ofen dort drüben.“ Sie deutete durch das Fenster in Richtung des stillen Hügels, wo die Reste einer alten Industrieanlage von Rost und Zeit besetzt waren. „Den Ofen, in dem die Leute früher Dinge verbrannten, die man lieber vergessen wollte.“
Erik schob das Notizbuch näher. „Was genau hat er über diesen Ofen gesagt?“
„ Er sagte, dass manche Dinge im Feuer nur verkohlen — aber nicht verschwinden. Dass das Eis den Rest aufbewahrt. Er fragte mich, ob ich die alte Geschichte kenne. Ich habe ihm gesagt, ich kenne sie. Dann hat er gelacht, so ein kurzes, unsicheres Lachen, und hat gesagt: ‚Dann zeig mir, wo es begann.‘“ Hilda ließ ihre Hand auf dem Tisch liegen, als wäre das Erinnern eine kleine Anstrengung.
„ Er kannte die Legenden also?“ Erik spürte den Druck in seiner Stimme. Legenden in kleinen Orten sind oft Wegweiser zu echten Taten; sie geben ein Muster, das sich leicht mit Fakten überlagert.
